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14. Aller Anfang ist schwer

Das war ein Anfang! Hu!! Auf dem Dachboden!

Brechtle drehte die Kurbel der rostigen Winde, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand, obgleich ein kalter Herbstwind den Regen durch die offene Giebelluke von Zeit zu Zeit bis zu ihm herüberwarf. Blasen, reif zum Aufspringen, hatte er schon seit einer Stunde an beiden Händen. Der mit Holz gefüllte Korb, der langsam an der Außenwand des hohen, schmalen Hauses emporstieg, war schwerer als je. Gretle, das arme Ding, das ihn unten auf der Gasse zu füllen hatte, konnte ja nicht anders, denn die schrille Stimme der Meisterin hatte eben wieder aus dem Fenster heraus gescholten, daß man das faule Paar an den Ohren aufziehen würde, wenn sie bis zehn Uhr nicht fertig wären. Die Rathausuhr hatte aber schon das erste Viertel geschlagen und der Holzhaufen, der die enge Gasse versperrte, wollte noch nicht kleiner werden.

Der Korb, in schwindelnder Höhe bedrohlich schwankend, tauchte jetzt vor dem Giebelfenster auf. Nickel, der ältere Lehrjunge, hatte dem sehnlichst erwarteten Nachfolger die Behandlung der Winde mit überlegenem Lächeln erklärt und ihn zum Schluß gutmütig ermahnt: »So! Mach keine Dummheiten, Studentle, wenn du die Arme nicht brechen willst. Du könntest sie noch brauchen, denn jetzt bist du der Allerweltsbub, Gott sei Dank!«

Brechtle hatte die Sache rasch begriffen. Er warf die Klinke ein, die den Rücklauf der Winde verhindert, schwang den Korb herein, hakte ihn vom Seil los und stürzte ihn um. Auch einige Übung hatte er sich schon erworben. Dann wurde der Korb wieder angehängt, hinausgeschwungen und die Klinke ausgehoben. Wie toll drehte sich jetzt die Kurbel von selbst, während der Korb wieder nach unten wanderte, wo die kleine Magd, unterstützt von dem überaus eifrigen vierjährigen Zwillingspaar, das gleichzeitig ihrer Obhut anvertraut war, mit dem Füllen des zweiten Korbes gerade fertig geworden war. Brechtle sah hinab, ärgerte sich, daß sie drunten so fleißig waren, und seufzte, als die klare Stimme der kleinen Magd zum zweitenmal »Auf!« rief. Man hatte ja kaum Zeit, ein wenig aufzuatmen. Dann aber begann die Arbeit an der krächzenden Winde aufs neue, mühevoll, langweilig. Allerdings konnte er fünf Minuten lang alles mögliche dabei denken, um sich die Zeit zu vertreiben. Die letzten zwölf Stunden gaben ihm Stoff genug dazu.

Da war der Abschied vom Pestilenziarius unter der Haustüre. Warum hatte ihm der gute Mann die Hand auf den Kopf gelegt und ihn dann geküßt, als ob sie sich im Leben nie wieder sehen sollten? Er gehe auf vier Wochen nach Geislingen zu einem Vetter, der dort Beinschnitzer sei, hatte er wohl gesagt. Er könne es nicht mitansehen, wie die Bayern die alte lutherische Reichsstadt in den Sack steckten. Brechtle brauche sich nicht nach ihm umzusehen, bis er selbst nachfrage. Dann war er rascher als gewöhnlich das Taubengäßchen hinabgegangen, und der Junge fühlte, daß er jetzt allein war in der Welt; mutterseelenallein mit seinem Waschkistchen.

Stolpernd in pechschwarzer Dunkelheit suchte er sich die schmale, ausgetretene Treppe hinauf, bis er am Boden durch eine Spalte einen grellen Streifen Licht sah. Er klopfte, zuerst an der Wand, dann an einer Türe. Eine schneidende Stimme rief: Herein! und er trat in eine niedere, überhitzte Stube, in deren von einer blechernen Ampel spärlich erhellten Dämmerung er sich kaum zurechtgefunden hätte, wäre er nicht unmittelbar aus der Nacht des Stiegenhauses herausgetreten. Es war ein langgestrecktes Zimmer, das die ganze Tiefe des Hauses einnahm, so daß sich an beiden Enden Fenster befanden. Durch eine mit Schnitzereien geschmückte schwarze Holzsäule, die einen Querbalken der Decke stützte, war es in zwei Teile geteilt, die sichtlich verschiedenen Zwecken dienten. Entlang der ganzen Fensterwand der hinteren, in Dunkel gehüllten Zimmerhälfte lief ein breites, tischartiges Gestell, während sich an beiden Längsseiten schmale Tische hinzogen. In der Mitte der Längswand, der Türe gegenüber, stand ein gewaltiger Kachelofen, der zugleich als Kochherd dienen mochte. Die zweite, vordere Hälfte der Stube schien der Wohnraum der Familie zu sein. Hier stand in einer Ecke ein großer altertümlicher Tisch, an zwei Seiten von an der Wand befestigten Bänken umgeben. Den größeren Teil der gegenüberliegenden Wand nahm das einzige schmucke und wertvolle Zimmergerät ein, das die Familie besaß: ein schwarzbrauner, prachtvoll geschnitzter Schrank im Renaissancestil, in dessen Ornamente Symbole und Werkzeuge des Schneiderhandwerks kunstvoll eingeflochten waren. Es war der letzte Rest aus der Glanzzeit der Bockelhardt, wenn man von einem allzu abgenutzten Großvaterstuhl absah, der am Mauerpfeiler zwischen den beiden Fenstern stand.

Die Familie schien das Abendessen zu erwarten. Zwei Plätze am Tisch waren jedoch nicht besetzt. Meister Bockelhardt fehlte, und seine Frau war damit beschäftigt, eine dampfende Schüssel Haferbrei aus dem Kachelofen zu ziehen, als Berblinger eintrat. Erwartungsvoll, die Holzlöffel in der Hand, saßen drei männliche und ein weibliches Wesen schweigend vor ihren irdenen Tellern: in würdiger Haltung der Altgeselle, ein schwerer, fetter Mann, der wohl fünfzig Jahre zählen mochte und sein kahles Haupt grämlich hin und her wiegte, neben ihm ein blutjunger Bursche mit rosigem, stets lachendem Gesicht – oder war es nur ein ungewöhnlich großer Mund, der ihm diesen freundlichen Ausdruck gab? –, ihnen gegenüber ein halberwachsenes Mädchen mit großen blauen Augen und zerzausten blonden Haaren, in einem Rock, der ihr viel zu groß war, damit beschäftigt, ein Kind von zweifelhaftem Geschlecht auf ihrem Schoß und ein zweites auf dem neben ihr stehenden Stuhl zu halten, die beide verzweifelte Anstrengungen machten, sich völlige, lebensgefährliche Bewegungsfreiheit zu sichern. Am unteren Ende des Tisches endlich saß ein großer, eckiger Junge, der in Berblingers Alter sein mochte und mit seinem Löffel bald dem einen, bald dem andern der Kleinen einen regelrechten Fechterhieb beizubringen suchte, was beide mit zornigem Angstgeschrei erwiderten.

»Was soll's, Bub?« fragte die Meisterin in keineswegs einladendem Ton. »Einen neuen Schulmantel? Der Meister ist nicht zu Haus.«

»Ich möchte – ich soll – ich soll hier schlafen«, stotterte Berblinger.

Die Meisterin starrte ihn an; der lachende Geselle lachte laut, die beiden Kleinen hörten plötzlich auf zu schreien, und alle drehten die Köpfe wie auf Kommando nach der Türe.

»Das müßte ich doch selbst erst wissen«, sagte die Meisterin scharf. »Er ist bei seinem Abendschoppen und kommt erst um neun Uhr heim, leider Gottes.«

»So will ich solange warten«, versetzte Berblinger.

»Seht einmal, der Bub!« rief die Meisterin erstaunt. »Na, meinetwegen. Dort hinten steht ein Stuhl. Setz dich.«

Brechtle setzte sich in den Winkel hinter dem großen Schrank und konnte von dort aus, fast ohne gesehen zu werden, die Gesellschaft betrachten, die sich über den Haferbrei hermachte, ohne sich des weiteren um ihn zu kümmern. Niemand sprach ein Wort. Der Altgeselle grunzte zuweilen, der Junge lachte manchmal, worauf die Meisterin beide gleich zornig ansah. Die Kleinen versuchten von Zeit zu Zeit in ein Geschrei auszubrechen, das aber sofort in einem Löffel Brei erstickte, und der Junge am unteren Tischende begnügte sich schließlich damit, seinen Teller so rein als möglich auszukratzen und gierige Blicke nach der fast leeren Schüssel zu werfen.

Berblinger beobachtete all dies mit klopfendem Herzen. Er wußte noch nicht, was er aus jeder der einzelnen Figuren machen sollte: der noch jungen, aber schon recht verärgert dreinsehenden Meisterin mit der schrillen Stimme, dem vierschrötigen Altgesellen, der den Löffel mit seinem Taschentuch abwischte, ehe er ihn in den Brei steckte, und sich sichtlich auf seine Weltkenntnis und seine Lebensart etwas einbildete, dem gierigen, eckigen, halbverhungerten Lehrling mit einem Wolfsgesicht, ebenso bereit, mit den Zähnen um sich zu hauen, als mit eingezogenem Schwanz heulend davonzulaufen. Selbst das lachende Gesicht des zweiten Gesellen, in dessen großem Mund der Löffel bis ans Stielende verschwand, konnte den Geist grämlicher Unbehaglichkeit nicht bannen, der über dem trüb erleuchteten Bilde zu hängen schien.

Die Schüssel war leer. Das Mädchen, das elf bis zwölf Jahre alt sein mochte, stand auf und sprach mit gleichgültiger Stimme ein altgewohntes kurzes Dankgebet, während dessen sich die drei männlichen Tischgenossen ebenfalls erhoben und, ohne ein Wort zu sagen, zur Türe gingen. Sie schien in diesem Augenblick von selbst aufzugehen. Bockelhardt trat ein.

»Schon!« rief seine Frau erstaunt, mit einem zornigen Blick auf die Schwarzwälderuhr, unter der Berblinger saß. Zorn war sichtlich die Grundstimmung ihrer Seele.

Bockelhardt schien größer zu sein als bei Tag und hatte noch die Miene, mit der er aus dem Schwarzmannschen Hause getreten war; wenn möglich war sie sogar selbstbewußter, weltbesiegender. Auch hatte er noch den Frack unter dem Arm, den er jetzt mit einer kühnen Bewegung in den hinteren Teil der Stube schleuderte.

»Ist er da, Theres?« fragte er, ohne irgend jemand zu grüßen.

Die Frau antwortete nur mit einer Handbewegung, indem sie nach der Wanduhr wies. Berblinger stand auf.

»Komm nur hervor und zeig dich!« lachte Bockelhardt nicht unfreundlich. »Endlich hab' ich wieder einmal einen Extraschoppen getrunken, dir zur Ehr'. Ist schon verdammt lang nicht mehr vorgekommen. Aber einen von Schwarzmanns in die Lehr' zu kriegen, das verträgt's, wenn er auch zehnmal Berblinger hieße. Siehst du sein Gymnasialmäntele, Weib? Respekt vor deinem Mann! Wir haben jetzt einen Studierten im Haus, freilich nicht größer als einen Fingerhut; aber wir werden ihn schon ausbügeln.«

Der Meister war in der besten Laune, deren er fähig war, und erzählte in abgerissenen Sätzen, wie das alles gekommen war, wie er endlich den vermaledeiten Frack losgeworden und den Buben dafür eingetauscht habe und wie eben bei einem Schoppen Söflinger alles mit dem Oberzunftmeister Knöppel besprochen worden sei. Danach sollte das Studentle morgen um zehn Uhr aufgedungen und als ehrsamer Schneiderlehrling eingestellt werden, was mehr wert sei, als wenn er allen Blödsinn der Welt ausstudiert hätte. Denn Kleider machen Leute, und selbst ein Prälat ohne sie sei ein erbärmlich Ding, beim Licht betrachtet. Das habe sogar einer der hochgelehrten Professoren in Blaubeuren eingesehen, der in Ulm arbeiten lasse, und zwar bei einem gewissen Bockelhardt, dem größten, wenn auch verkanntesten Schneider des neuen Jahrhunderts. Ein Mann von seltenem Verstand, der Professor!

Dabei fing Bockelhardt im hinteren Teil der Stube zu tanzen an, worauf seine Frau etwas von Bockssprüngen murmelte und Gretle mit den Kindern sehr energisch zur Türe hinausschob.

Vorderhand aber, fuhr der Meister fort, müsse man dem Jungen ein Nest zurichten. Die Gret möge sich tummeln. Hinter dem Holzstoß in der Gesellenkammer sei noch Platz genug für einen Spatzen wie den Berblinger. Sei kein Strohsack mehr da, so seien alte Flecke genug vorhanden, aus denen man ein Bett machen könne, gut genug für den Kurfürsten von Bayern. Ob das Bürschle beim Haferbrei mitgegessen habe?

»Nein«, sagte die Meisterin; »was weiß ich, wo du deine Lehrjungen aufgabelst. Hergelaufene Studentchen brauche ich nicht zu füttern.«

»Na, dann auch gut«, sagte Bockelhardt beruhigt und begann wieder zu tänzeln. »Je bälder er sich sein üppiges Klosterleben abgewöhnt, um so besser. Mit dem Haferbrei kann er auch morgen früh anfangen. Er schmeckt dann um so besser.«

»Wie heißt der Bub?« fragte die Meisterin.

»Was gaffst?« wandte sich der Meister an das Mädchen, das wieder unter der Türe stand und Brechtle neugierig betrachtete. »Willst machen, daß dem Studentle sein Bett gemacht wird. Rechtsumkehrt, marsch! – Wie er heißt? Brechtle heißen sie ihn bei Schwarzmanns. – Wie?«

»Albrecht heiß' ich«, sagte der Junge kleinlaut.

»Feiner Name, Albrecht«, nickte Bockelhardt und blieb stehen. Dann wandte er sich an den Altgesellen: »Na, Joseph, das überlaß ich dir, ihm den auszuklopfen. Albrecht! Feiner Name für einen Schneidersjungen. Die ehrsame Zunft kann noch stolz auf dich werden mit der Zeit. Vorläufig, beim heiligen Ziegenbock, bleibt nichts übrig, als ihn dir auszuklopfen. Brechtle tut's für die Lehrzeit auch nicht; klingt zu sehr nach dem Mutterschweinchen. Na, das Richtige wird sich finden. Macht jetzt, daß ihr ins Nest kommt, die ganze Bagage. Morgen um vier Uhr ist auch wieder ein Tag.«

Enderle, der heitere Gesell, der des Meisters Witze grinsend angehört hatte, nahm Brechtle am Arm und zog den leise Widerstrebenden gewaltsam zur Türe hinaus. Er wußte aus Erfahrung, daß bei derartigen Veranlassungen ein plötzlicher Umschlag der Stimmung des Meisters in Aussicht stand und es dann rätlicher war, dies aus sicherer Entfernung zu beobachten. Sie stiegen zwei Stockwerke höher, wo sich in einer Dachkammer inmitten beträchtlicher Vorräte von Brennholz zwei gebrechliche Bettstellen und ein auf dem Boden aufgebautes Bett vorfand, auf das sich bereits Nickel, der Lehrjunge, geworfen hatte und die Beine, eine Art Lufttanz aufführend, in einem Paroxysmus von Vergnügen gen Himmel streckte.

»Na, was soll das heißen?« brummte der Altgeselle, packte mit einem raschen Griff eines der zappelnden Beine, riß den Lederschuh vom Fuß und gab ihm einen klatschenden Schlag auf die nackte Fußsohle.

»Au!« schrie Nickel, den Fuß zärtlich ins Gesicht drückend – Schneider können das – »Soll ich nicht auch einmal fidel sein, wie der Meister? Juvivallera! Von heut an bin ich nicht mehr der Jüngste. Jetzt hab' ich einen, an den ich's weitergeben kann, was ihr mir gebt. Dazu ein Studentle! Juvivallerallerallera!«

Darüber kam die kleine Magd hinter dem Holzstoß hervor.

»Macht's nicht zu toll mit ihm«, sagte sie, »oder ich schrei' um Hilf'. Dein Bett ist dort hinten, Brechtle. Schlaf wohl und träum was Gutes. Das alte Haus kann's brauchen.« Damit verschwand sie durch die Falltüre, von der aus eine steile Treppe nach unten führte.

Hinter dem Holzstoß unter dem schräg abfallenden Dach fand Berblinger denn auch eine Art Lager, ähnlich dem, das sich ein Rehbock im Wald zurechtmacht, wenn es Winter werden will. Allein Natur und Jugend verlangten jetzt ihr Recht mit Gewalt. Er warf sich halbentkleidet auf die Lumpen, die den Boden bedeckten, drückte den Kopf auf ein mit Stroh gefülltes Säckchen, zog eine zerrissene Pferdedecke über die Ohren und glaubte, den schweren Tag mit einer schlaflosen Nacht beschließen zu müssen. Nach fünf Minuten jedoch schlief er fest, traumlos, die Welt und all sein Elend vergessend, bis ihn ein kleines Holzscheit an den Kopf traf. Es kam von der Hand Nickels und es war vier Uhr; Zeit zum Aufstehen. »Feuer machen! Werkstatt kehren!« schrie der Junge hinter der Holzbeige. Der erste Tag seiner Lehrjahre war angebrochen.

Nickel war übrigens so unfreundlich nicht, als er sich anstellte, wenn er auch die Freude nicht unterdrücken konnte, jemand zu haben, dem er antun konnte, was ihm zwei Jahre lang angetan worden war. Er erklärte unter fortwährendem Hinweis auf das fürchterliche Schicksal, das dem Neuling bevorstehe, der sich irgendwelche Pflichtvergessenheit zuschulden kommen lasse, was man von ihm erwarte. Da die Meisterin zu faul sei, die Kinder zu warten, sei die Gret beständig mit dem unnützen Gewürm beschäftigt. Der Meister habe als älterer Mann wieder geheiratet und die Meisterin, um Zeit zu gewinnen, habe mit Zwillingen angefangen, die das Gretle noch umbringen würden. Der jüngste Lehrjunge müsse deshalb in nachtschlafender Zeit hinunter, Feuer anmachen, Wasser holen, Holz tragen und habe des Teufels Dank dafür. »Jetzt, Studentle, zeig mal, was dein Studieren wert ist!« sagte er zum Schluß lachend und gab Brechtle einen Besen und einen Kübel in die Hand, die er aus einem Loch unter der Treppe hervorgeholt hatte.

Mit diesen Hausgeräten beschäftigt, fand ihn eine halbe Stunde später die Meisterin, nahm ihn, ohne ein Wort zu sagen, am linken Ohr und stieß seinen Kopf in eine Ecke, wo ein Röllchen Zwirn und drei Schnipsel schwarzen Tuchs lagen, die er im Dunkel der Morgendämmerung übersehen hatte. Etwas später erschien auch der Meister, gab ihm im Vorübergehen gähnend einen freundschaftlichen Stoß und bestieg den Arbeitstisch, auf dem die zwei Gesellen und Nick schon seit einiger Zeit die Nadeln tanzen ließen. Dann wurde er mit Gretle in den Hof geschickt. Sie sollten das Holz, das Nickel im Lauf der letzten Woche zerkleinert hatte, nach der Gasse tragen, von wo es auf die Bühne gezogen werden konnte. Berblinger wunderte sich, was all dies mit der Schneiderei zu tun habe, und freute sich fast, soweit dies bei seinem wütenden Hunger möglich war, daß er einen Zusammenhang nicht entdecken konnte.

Sie gingen beide sichtlich nicht ungern und begannen zusammen das Holz in einen Korb zu beigen, ihn, wenn er voll und schwer genug war, nach der Gasse zu tragen und vor der Haustüre zu entleeren. Es war ein trüber Morgen und regnete sanft. Gretle schlug ein Tuch über den Kopf und schien sich nichts daraus zu machen.

Sie war kaum kleiner als Brechtle, obgleich sie erst zwölf Jahre zählte, so daß beide gut zusammen arbeiten konnten. Auch wäre sie trotz ihrer ärmlichen Kleider ein ganz nettes Mädchen gewesen, hätte eine hochgeschwollene Backe das bleiche Gesichtchen nicht gar zu sehr verzogen. Das sei aber nur vorübergehend, meinte sie, und komme von einer Maulschelle, die ihr die Tante gegeben habe, weil das Fritzle die Treppe hinuntergefallen sei, während sie Bier habe holen müssen. So kamen sie ins Plaudern, und Berblinger erfuhr von seiner Mitarbeiterin manches, das ihm zu wissen nützlich war. Gretle war eine Waise, das Kind eine Schifferknechts, der im Strudel bei Grein ertrunken war. Da sei die Mutter auch in die Donau gegangen und niemand habe von den Kindern etwas wissen wollen. So sei sie und ihr Bruder Gotthilf im Fundelhaus Die alten Protokolle Ulms nennen die Anstalt, in welcher von seiten der Stadt für Waisen und verwahrloste Kinder gesorgt wurde, ›Fundelhaus‹, obgleich sie als Findelhaus natürlich höchst selten Dienste zu leisten hatte. am Gänstor untergebracht worden, bis sie letzt' Lichtmeß ihre Tante in Dienst genommen habe. Lohn bekomme sie freilich nicht, und die Tante habe keine leichte Hand, aber der Onkel sei gut zu ihr, wenn er nichts getrunken habe. Sie wollte gerne zufrieden sein, wenn nur die kleinen Buben, der Fritz und der Franz, nicht immer ins Wasser oder ins Feuer oder die Treppe hinunter fielen. Dann gehe es ihr schlecht. Schlimmer habe es freilich ihr Bruder, der bei dem Schirmmacher Knoblauch in der Herrenkellergasse in der Lehre sei, wegen der Fischbeine. Auch sei er nicht gesund und könne nicht viel aushalten. Das sei anders bei ihr. Sie halte alles aus, und Brechtle solle sich nur nicht einbilden, man könne nicht alles aushalten. Es sei trotz alldem recht nett auf der Welt. Hinten im Hof stehe ein Gaishirtlesbaum; ganz voll. Wenn nur die Spatzen nicht wären.

»Oder wenn man selber ein Spatz wäre!« seufzte Brechtle, in dem es plötzlich wie eine alte Erinnerung aufstieg.

Gretle lachte laut auf. Das war ein Gedanke! Dabei wurde ihr geschwollenes Gesicht so krumm, daß auch Brechtle lachen mußte; zum erstenmal seit – seit – Es war so lang her, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wann. Vielleicht in Blaubeuren vor der Feuersbrunst. Und nun kam es immer schlimmer, so viel war ihm heute schon klar geworden.

Aus den Gesellen und dem Nickel brauch' er sich nicht allzuviel zu machen, erklärte Gretle, während sie den nächsten Korb füllten. Der Joseph, der Altgesell, sei wohl ein Grobian und habe dem vorvorigen Lehrling einmal einen Finger abgeschlagen. Aber er habe ihn auch wieder verbunden, so daß er fast gerade geworden sei. Er sei nicht boshaft, der Joseph; man muß nur immer Herr Joseph zu ihm sagen. Der Nickel sei wohl ein Lausbub, ein Günzburger Schifferssohn, der seinem Vater zweimal durchgegangen und nach Ulm gelaufen sei, bis man ihn hier in die Lehre getan habe. Dafür sei der Enderle immer lustig und tue niemand etwas zuleid. An den müsse er sich halten, dann werde es schon gehen.

»Ich hoffe, du wirst auch lustig werden mit der Zeit«, meinte das Mädchen, während sie den zehnten Korb mit einem energischen »Hupp!« umstieß. »Warum machst du ein so verdrießliches Gesicht hin? Kriegst du schon Blasen?«

»Ich habe Hunger«, sagte Brechtle aufrichtig.

»Ich habe auch Hunger, oft genug«, erklärte Gretle, »aber Hunger kann man aushalten; das hat man mich im Fundelhaus gelehrt. Ihr lernt nichts in euern Klosterschulen. Komm!«

Und munter, als ob sie nachgerade warm würde, zog sie den Korb und Brechtle hinter sich her nach dem Hof zurück.

Gerade als sie das letzte Häufchen in die Gasse hinaustrugen, rief die Meisterin zum Essen. Berblinger hatte in Blaubeuren einen besseren Haferbrei nie zu schmecken bekommen, obgleich ihm das Frühstück durch ein kleines Zwischenspiel versalzen wurde. Der Meister, der die Ärmel am Frack des Rats Schwarzmann wieder eingenäht hatte, war in gehobener Stimmung und ließ Berblinger zwischen sich und den Altgesellen sitzen, was diesen sichtlich verdroß. Als nun Brechtle den Versuch machte – nach Klostersitte, solange die Schüssel nicht leer war –, seinen Teller zum zweitenmal zu füllen, traf zum erstenmal die große fleischige Hand des alten Joseph derart mit seinem Hinterkopf zusammen, daß er mit der Nase in den Teller stieß, worüber Enderle, so sehr er sich Mühe gab, nicht umhin konnte, laut zu lachen, und Nickel förmlich aufjauchzte. Ja, selbst Gretle, bei der er ein weicheres Herz zu finden gehofft hatte, verzog ihr krummes Gesicht noch etwas krümmer. Nur der Meister blieb ernst, obgleich etwas Brei an Brechtles Nase hing, den er nicht abzuwischen wagte.

»Joseph Breithuber!« sprach er feierlich, »wenn der hier anwesende Albrecht Berblinger einmal Lehrjunge ist, kannst du ihn prügeln nach Handwerksgebrauch; ich habe nichts dawiderzusagen. Nunmehr ist er aber dieses Standes und solcher Würde noch nicht teilhaftig geworden und ist hier sozusagen unser Gast und Hausfreund. Diese Ohrfeige hat er demnach zu Unrecht oder vielmehr zu frühzeitig bekommen und soll ihm deshalb als Ersatz und Entschädigung noch ein Teller Brei vergönnt sein. Greif zu, Brechtle!«

Des Altgesellen Gesicht wurde so lang, daß selbst Enderle ernsthaft auszusehen für gut fand und das Frühstück in der üblichen grämlichen Mißstimmung sein Ende erreichte.

Nach aufgehobener Tafel – dies war einer von Enderles Hauptwitzen, den er einem Wiener Kunden abgelernt hatte – wurde Berblinger mit Nickel auf die oberste Bühne geschickt, um in der Behandlung der Winde unterrichtet zu werden. Gretle mußte mit den Zwillingen auf die Gasse hinunter, um abwechslungsweise die zwei Körbe zu füllen, in denen das Brennholz nach oben gewunden werden sollte. Doch war die einförmige Arbeit nicht halb beendet, als Berblinger gegen zehn Uhr abgerufen wurde. Es war Zeit, verabredetermaßen nach der Meisterherberge zu gehen, um den neuen Lehrling aufzudingen, wofür Bockelhardt am Abend zuvor die nötigen Vorbereitungen getroffen hatte. War er auch nicht mehr Obermeister der Zunft, wie es sein Vater und Großvater gewesen waren, so taten die andern dem ›jungen Bockelhardt‹, der seinerzeit ein lustiger Kollex gewesen war, aus alter Gewohnheit gern einen Gefallen, sonderlich als man vernahm, daß der Rat Schwarzmann der Vormund des neuen Lehrburschen und dieser ein Studentle aus Blaubeuren sei. Da lohnte sich's schon, obgleich nicht ganz nach Handwerksgebrauch, eine Extrasitzung vor offener Lade einzuberufen.

Berblinger mußte Nickels Konfirmationsrock anziehen, der ihm wohl etwas zu groß war, aber in seinem blauen Gymnasialmäntelchen durfte er bei dieser feierlichen Gelegenheit nicht mehr erscheinen. Nachdem ihn sämtliche Hausgenossen, selbst der alte halbblinde Korbflechter im Erdgeschoß, beguckt und belacht hatten, verließ Bockelhardt ebenfalls in festlichem Gewand und in feierlicher Gangart das Haus, Brechtle zwei Schritte hinter ihm mit klopfendem Herzen und hängendem Kopf, wie ein Kälbchen, das zur Schlachtbank geführt wird.

 

Zuerst ging's in die Herbelgasse. Schwarzmann hatte sie erwartet. Es war auch bei den Schiffern Brauch, daß beim Aufdingen des Lehrjungen der Vater oder der Vormund anwesend sein mußte, obgleich der künftige Meister das Wort für den Jungen führte. Auch hatte Schwarzmann den Geburtsschein vorzuzeigen, da Brechtle kein Meisterssohn, noch ein geborener Ulmer war. Gravitätisch schritten die beiden Herren über den Markt und schienen den Kleinen kaum zu sehen, der wie an einer unsichtbaren Kette hängend hinter ihnen her lief. Die Welt war damals noch voll solcher Ketten, von denen man heutzutage nichts mehr weiß oder wissen will. Dann verloren sie sich in dem winkligen Viertel an der untern Blau, wo im ›Wilden Mann‹ in der Schwilmengasse die Schneidermeister ihre Herberge hatte.

Es war eine geräumige, aber düstere Stube, deren getäfelte Holzwände mit den Schätzen und Kunstwerken der Zunft geschmückt waren. Eine gewaltige Schere hing hinter dem Lederstuhl des Altmeisters. Auf einem mit reichen altertümlichen Kleidungsstücken behängten Seitenbrette stand ein Dutzend zinnerner Trinkgefäße, wohl die Form, aber keineswegs die Größe von Fingerhüten nachahmend. An der entgegengesetzten Wand glänzte auf einer den Kopf eines Ziegenbocks darstellenden Konsole ein riesiges versilbertes Bügeleisen, auf dessen glänzendem Türchen ein von der Zunft hochgeschätzter Vers eingegraben war, der also lautete:

Der erste Schneidermeister war Gott
Unser Herr im Paradies,
Der unser sündig Elternpaar nicht
Unbekleidet laufen ließ.

In einer Ecke stand ein reichgesticktes, aber sehr verstaubtes Fähnlein, um das sich in früherer Zeit die tapferen Schneider von Ulm mutig geschart hatten, wenn es galt, die Feinde der freien Reichsstadt abzuwehren. Sie zogen es noch immer gelegentlich hervor, aber nur bei festlichen Veranlassungen und selbst dann nicht mehr sehr willig. Denn das Publikum erlag einem unerklärlichen Drang, zu lachen, so oft das Fähnlein mit dem Ziegenbock auf der Spitze durch die Gassen zog.

Es zeigte sich, daß Bockelhardt und seine Begleiter erwartet wurden. Die Lade der Zunft, eine uralte, etwas unansehnliche Holztruhe, mit den Wappenschildern längst verstorbener Meister bemalt und mit drei schweren Schlössern versehen, stand bereits auf dem Tisch. Neben ihr lag ein in Leder gebundenes Buch mit eisernem Beschlag, auf der andern Seite stand ein altertümliches Tintengeschirr. Hinter dem Tisch, von der Lade fast verdeckt, saß in der Mitte der Obermeister der Zunft, Herr Knöppel, rechts und links je zwei Beisitzer, am unteren Ende stand der Handwerksschreiber. Knöppel war keineswegs einer der ältesten der Zunft, die zur Zeit über achtzig Meister zählte, war aber gewählt worden, weil er besser als irgendein andrer die alten Zunftgebräuche kannte und trotz alles Rüttelns unruhiger Köpfe, an denen es in der Zunft nicht fehlte, mit Strenge daran festhielt, auch vergessene Bestimmungen und Sitten wieder einzuführen sich bemühte. Das war notwendig, meinte er und viele mit ihm, in einer Zeit, in der der Umsturz selbst die Hoftracht der guten alten Zeit in Fetzen zu reißen drohte.

Von andere Meistern waren nur fünf erschienen und hatten auf den Stühlen entlang der Seitenwände Platz genommen. Die Sitzung war allen doch gar zu überraschend über den Hals gekommen. Gesichter wie aus Holz geschnitzt, aber meist magere, kleine Gestalten, denen man das körperlich wenig anstrengende Handwerk anmerkte.

Knöppel erhob sich, als der Obermeister der Schifferzunft eintrat, und begrüßte ihn mit einer feierlichen Verbeugung, jedoch ohne ein Wort zu sagen. Im allgemeinen standen die Schneider und die Schiffer nicht auf dem besten Fuß. Die Schneider warfen den Schiffern Mangel an Lebensart vor; die Schiffer behaupteten, die Schneider seien keine Männer. Dann wies er mit einer Handbewegung, die einem reichsunmittelbaren Fürsten Ehre gemacht hätte, auf einen Armstuhl, der in Erwartung des hohen Gastes neben dem Tisch aufgestellt war. Schwarzmann ließ sich dröhnend nieder und begann mit seiner silbernen Uhrkette zu spielen. Er wollte diesen Schneidern zeigen, daß die Schiffer doch eine andre Klasse von Menschen waren. Bockelhardt blieb mit Berblinger, den er an seine linke Seite gezogen hatte, vor dem Tisch stehen; Knöppel räusperte sich und begann:

»Gott segne das Handwerk... Amen. – So, mit Verlaub und Gunst tue ich die günstigen Herren Beisitzer fragen, ob sie alle zur Stelle seien, also daß ich die löbliche Lade öffnen möge nach Handwerksgebrauch.«

»Dank dir Gott willkommen!« sagten die vier fast einstimmig. »Wir sind alle da.«

»Dank euch Gott um und um; so komm' ich schnell herum«, fuhr der Obermeister fort. »So mit Verlaub und Gunst, ihr günstigen Meister, lasset uns die Lade öffnen im Namen Gottes des Vaters –«

Dabei zog er einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das mittlere der drei Schlösser, die an der Truhe hingen.

»Und des Sohnes«, sagte der rechtssitzende Meister Glöcklen und steckte einen zweiten Schlüssel in das ihm zunächst hängende Schloß.

»Und des heiligen Geistes!« rief mit dünner Stimme Meister Schlumperger, einen dritten Schlüssel hervorziehend.

»Amen!« sprach Knöppel feierlich, und alle drei drehten gleichzeitig ihre Schlüssel um, worauf der Altmeister den Deckel der Truhe aufschlug und sich die beiden andern wieder setzten.

»Mit Gunst, ihr Meister«, begann Knöppel aufs neue, »so wir nun versammelt sind bei offener Lade nach Handwerksgebrauch, tu' ich Euch fragen, Meister Bockelhardt. Sprechet mit Bescheidenheit. Was ist Euer Begehr?«

»Mit Verlaub und Gunst!« erwiderte der Angeredete sehr feierlich. »Vor offener Lade tu' ich euch kund und zu wissen, löbliche Meister, daß ich gewillt bin, diesen hier anwesenden Albrecht Ludwig Berblinger auszudingen, also daß er mein Lehrjung' sei für drei Jahre und drei Tage nach Handwerksbrauch.«

»Mit Gunst«, fuhr der Obermeister fort, »ist der Junge ehrlicher Leute Kind?«

»Ich weiß nicht anders«, versetzte Bockelhardt. »Da er aber nicht der Sohn eines Meisters der Zunft, auch nicht als Bürger unserer freien Reichsstadt Ulm geboren, auch weder Vater noch Mutter leben, ist an ihrer Stelle erschienen sein Vormund, der Obermeister der Schifferzunft, der ehrenwerte Herr Rat Schwarzmann, für ihn gutzustehen und seinen Geburtsbrief vorzulegen.«

Schwarzmann glättete ein zerrissenes Papier auf seinen Knien und legte es auf den Tisch.

»Woraus zu ersehen«, fuhr Bockelhardt fort, »daß der Junge erzeugt und geboren ist zu Ochsenwang im Württembergischen, woselbst sein Vater Schulmeister, seine Mutter aber, Rosa Schwarzmann von Ulm, dessen ehelich angetrautes Weib gewesen. Item ist zu ersehen, daß die Berblinger, seine Vorvordern, freie Ulmer Bürger gewesen, also daß der Junge leichtlich als in Ulm zuständig anzusehen wäre. Item, daß der Junge evangelischen Glaubens geboren, getauft und erzogen wurde. Item ist wohlbekannt, daß seine Sippe niemals kein unehrlich Gewerb betrieben, so da sind Schäfer, Türmer, Trompeter, Henker, Abdecker und dergleichen, wie solches des weiteren erwiesen ist durch das Zeugnis seines Vormunds, des hochachtbaren Herrn Rats Schwarzmann, sowie auch durch das meinige, das ich bezeuge als ehrsamer zünftiger Meister vor offener Lade.«

»Was dünket euch, ehrsame Beisitzer und Meister?« fragte Knöppel, indem er eine große Hornbrille aufsetzte und das Dokument zu studieren begann, es dann aber dem Zunftschreiber zuschob, der es mit näselnder Stimme verlas.

»Mit Gunst, was dünket euch, soll der Junge entweichen?« fragte der Obermeister noch einmal.

Die Herren Beisitzer verharrten in nachdenklichem Schweigen.

»Nachdem solches bekanntgegeben und wohl erwogen«, fuhr nach einer Pause Knöppel fort, »auch von dem Jungen seinen Eltern und seiner Sippe niemand nichts weiß als alles Liebe und Gute, so weiß ich auch nichts und tu' dich fragen, Albrecht Ludwig Berblinger, ob du den ehrsamen Meister Bockelhardt zu deinem Meister erwählet hast und willst ihm untertan sein und ihm dienen fleißig, fromm und verschwiegen, auch ehrlich sein, von diesem Tag an drei Jahre lang, wie sich einem ehrlichen Lehrbursch geziemt?«

»Sag ja!« sagte Bockelhardt halblaut, Berblinger einen Stoß versetzend.

»Willst ja sagen!« brummte der Onkel, sich halb, aber drohend von seinem Stuhl erhebend.

»Ja«, sagte Brechtle.

»Und willst unsere Herrgott sowie den hochedeln und hochweisen Magistrat dieser weltberühmten freien Reichsstadt Ulm, auch Kaiser und Reich ehren und dienen, recht und schlecht, wie es eines guten Christen Pflicht ist?« fragte der erste Beisitzende.

»Ja«, sagte Brechtle.

»Und willst die ehrsame Zunft der Schneider zu Ulm und ihre Meister hochhalten, von ihren Sitten und Bräuchen nichts dazutun noch abschneiden, auch ihre Rechtsame schützen mit Herz und Hirn, mit Nadel und Zwirn?«

»Ja«, sagte Brechtle.

»So mit Gunst, ihr günstigen Meister!« fuhr jetzt Knöppel wieder fort, »maßen ihr solches aus seinem Munde gehört und vernommen, soll nunmehr der Zunftschreiber den Namen Albrecht Ludwig Berblinger einschreiben in das Handwerksbuch, so hier auflieget, und soll besagter Berblinger gebunden sein für drei Jahre und drei Tage nach Handwerksgebrauch Jung und Lehrling des wohllöblichen und ehrlichen Meisters Bockelhardt zu bleiben. Auch soll er das übliche Aufgeld in die Lade legen nach Handwerksgewohnheit, nämlich zwei Gulden und achtundvierzig Heller Ulmer Münz.«

Schwarzmann zog mit grimmiger Miene einen mächtigen Lederbeutel aus der Tasche und zählte das Geld auf den Tisch, das Bockelhardt in die Lade warf, während der Zunftschreiber mit vieler Umständlichkeit das Handwerksbuch aufschlug und Berblingers Name, Geburtsjahr, Eltern und was sonst dazu gehörte, in das Lehrlingsregister eintrug. Dann bat er zuerst Schwarzmann, sodann Bockelhardt und schließlich auch Berblinger, seinen Namen unter das Dokument zu setzen.

»Kannst du schreiben, Bub?« fragte ihn Knöppel, der vergessen hatte, woher er kam, nicht unfreundlich.

Berblinger warf zum erstenmal, seitdem er das Zimmer betreten hatte, einen Blick tiefer Entrüstung auf den Zunftmeister.

»Er ist ein Württemberger«, erklärte Meister Glöcklen, der erste Beisitzende; »das sind Gelehrte, ehe sie auf die Welt kommen. Glauben wenigstens, sie seien's.«

»Lateinisch!« rief Meister Schlumperger, der zweite Beisitzende, der aufmerksam zusah, während der Junge unterschrieb. »Er hat seinen Namen lateinisch eingeschrieben! Geht das?«

»Es ist wider Zunftgebrauch, ihr Herren«, sagte Knöppel sehr ernst. »Kannst du nicht deutsch schreiben, verflixter Bub, deutsch wie dir der Schnabel gewachsen ist?«

»Doch!« sagte Berblinger, nach echt Ulmer Art; »aber – ich dachte –«

»Was brauchst du da zu denken; unterschreiben hättest du sollen wie jeder andre«, erklärte der Zunftmeister mit gerunzelter Stirne. »Wir wollen's übersehen um des Herrn Rats willen. Ein guter Anfang ist es nicht, aber zu hoffen, daß Meister Bockelhardt dir die gelehrten Faxen austreiben und dafür etwas vom ehrlichen Handwerk in den Kopf treiben wird, eh' deine drei Jahre um sind. Nun aber mahne ich Euch, Meister Bockelhardt, nach Handwerksgebrauch, daß Ihr den Jungen haltet recht und schlecht, ihn christlich nähret und pfleget, ihm nichts nachlasset noch auch zuviel fordert, und ihn lehret Gottes Gebote zu halten und alles, was sonst einem ehrlichen Schneidersjungen zu erlernen geziemet, also daß er heranwachse zu Ehren seines Meisters und des Handwerks. – Nun aber, günstige Meister, nachdem mit Gottes Hilfe alles gesagt und vollbracht ist, was dieses Ausgeding verlangt, frage ich, ob noch jemand etwas weiß, so etwas geschehen oder vergessen sei wider Handwerksgebrauch. – So aber niemand nichts weiß, weiß ich auch nichts und schließe die Lade im Namen der heiligen Dreieinigkeit, Amen.«

Und wieder zogen die drei Meister ihre drei Schlüssel hervor und verschlossen die Truhe mit dem Bewußtsein, eine hochwichtige Amtspflicht würdig erfüllt zu haben, worauf Bockelhardt in einem etwas weniger feierlichen Ton vorschlug, daß sie alle nach Handwerksgewohnheit in die Wirtsstube hinuntergehen und zu Ehren des Herrn Rats den üblichen Trunk tun sollten. Berblinger, dem jeder die Hand gegeben und Glück zur Lehre gewünscht hatte, wurde, nicht zu seinem Leidwesen, nach Hause geschickt. Er möge sich dem Altgesellen zeigen, der ihm schon sagen werde, was nun zu tun sei.

 

Glücklich, dem beängstigenden Kreis der würdigen Zunftmeister entrinnen zu können, lief der Junge nach dem Taubengäßchen zurück, etwas bange, wie gestern das Nachtessen, so heute das Mittagessen zu versäumen. Auch fand er den Tisch bereits gedeckt, die Gesellen und Nickel jedoch noch an der Arbeit. Herr Joseph beschäftigte sich am Ofen, abwechslungsweise in die Bratpfanne sehend, aus der sich ein vielversprechender Geruch gerösteter Kartoffeln verbreitete, und die ›Stähle‹ von drei Bügeleisen hin und her schiebend, die nicht heiß genug werden wollten. Das Wichtigere waren ihm sichtlich die Kartoffeln. Es war Handwerksregel, daß das Aufdingen eines neuen Lehrlings wenigstens mit einem häuslichen Festessen gefeiert wurde.

Barsch rief er Berblinger zu sich heran. Zögernd gehorchte der Junge.

»Näher, näher!« befahl der Altgesell. »Ist's abgemacht?«

»Was, Herr Joseph?« fragte Brechtle.

»Dummkopf! Das Aufgeding.«

»Was?« wiederholte Berblinger, der noch nicht wußte, wie man in der Zunftsprache hieß, was mit ihm geschehen war.

»Esel, ob du Lehrbub geworden bist, regelrechter Lehrbub nach Handwerksgebrauch.«

»Ich glaube, ja«, versetzte der Junge zögernd. Er hatte in zu kurzer Zeit zuviel erlebt, um ganz sicher zu sein, welche Lebensstellung er augenblicklich einnahm. Kaum aber hatte er das Ja ausgesprochen, so klatschte eine Ohrfeige, daß ihm der ganze Kopf brummte. Der Altgeselle war trotz seiner Jahre von blitzartiger Gewandtheit.

»Wo–wofür?« fragte Brechtle, nach Luft schnappend.

»Hat nicht der Meister gesagt, ich habe dir heute vormittag eine zu früh gebacken?« sagte Herr Joseph sehr ruhig. »Er hat recht gehabt; die galt nichts. Nun hast du sie zur richtigen Zeit und kannst zufrieden sein. Was der Bengel rote Ohren hat; förmlich einladend! Komm her!«

Er führte ihn an den Arbeitstisch, eine wohl sechs Fuß breite Platte, die die ganze hintere Schmalseite der Stube einnahm und ihr Licht von den zwei Fenstern empfing, die nach einem hinter dem Haus liegenden Hof und Gärtchen sahen, das niemand in dem Häusergedränge vermutet hätte. In der Platte waren acht runde Löcher. Das hinterste, links vom Fenster, sollte des neuen Jungen Platz sein; doch sollte er es nicht benützen, ehe er nach Schneidersart auf dem flachen Tisch sitzen könne. Wie man zu sitzen habe, zeigte ihm der Altgeselle, indem er ihm das linke Bein fast abdrehte, was seinen Nachbar Enderle, den Unmenschen, höchlich belustigte.

»Jetzt aufgepaßt!« sagte Herr Joseph, indem er dem neuen Lehrling ein Stück Tuch, einen Fingerhut und eine eingefädelte Nadel in die Hand gab, das Tuch aber sogleich wieder zwischen die eignen Finger nahm, es mit großer Gewandtheit etliche dreißigmal durchstach und dann selbstgefällig gegen das Licht hielt.

»Hast du mich gesehen?« sagte er selbstgefällig. »Das heißt der Schneider überwendlings nähen. So wird's gemacht! Nicht zu eng, nicht zu weit, nicht zu fest, nicht zu los. Immer gleichmäßig! Die Fasern einschlagen und hübsch einnähen. Auf dem Knie, nicht in der Luft nähen, wie wenn du ein Weibsbild wärest. Die Nadel vorn halten und fest auf den Fingerhut setzen! Und gerade sitzen; stramm wie ein Grenadier! Für all das gibt es ein Ellenmaß, mit dem wir den krummsten Buckel geradbügeln, daß du dich wundern wirst!«

Brechtle machte seine ersten Stiche, verlor beim dritten Stich den Fingerhut, machte beim siebenten eine Schleife mit dem Faden und suchte vergeblich rückwärts zu arbeiten, um das Unding aus der Welt zu schaffen. Enderle und Nickel sahen ihm aufmerksam zu. Enderle wackelte vor unterdrücktem Vergnügen. Nickel fragte: »Sag mal, Junger, sind alle Studenten so dumm?« Brechtle zog und zerrte, verlor den Fingerhut, der ihm viel zu weit war, zum zweitemal, stach sich tief in den Finger, zog und zog, bis ihm der Faden aus dem Nadelöhr schlüpfte und er verzweifelnd das Tuch sinken ließ.

Jetzt sah auch der Altgeselle nach.

»Heidenschockschwerenot!« sagte er mit einer gewissen Befriedigung in dem grimmigen Wort. »Da sieht man, wohin die Gottesgelehrsamkeit führt. Ist das überwendlings genäht auf dieser Welt? Gut, daß du deine erste Ohrfeige schon weg hast und daß es Essenszeit ist. Nachher kannst du mehr haben. Milldonnär, wie der Franzose sagt. Guckt einmal her, ihr andern! Das heißt man im geistlichen Leben überwendlings nähen!«

Er hielt Brechtles erste Arbeitsleistung in die Höhe und wurde mit einem schallenden Gelächter Nickels belohnt. Enderle lachte diesmal nicht.

»Im Ansbachschen haben sie's vor vierzig Jahren um kein Haar anders gemacht«, sagte er, »und doch zum Altgesellen gebracht.«

Das war ein furchtbarer Stich. Enderle hüpfte aus seinem Arbeitsloch und vom Arbeitstisch herunter wie eine junge Heuschrecke, um dem Ellenmaß zu entgehen, nach dem der Altgeselle griff, der rot vor Zorn geworden war.

Allem aber machte der schrille Ruf der Meisterin ein Ende. »Lumpenpack! Wollt ihr ruhig sein? Die Suppe steht auf dem Tisch.«

 

Trotz aller Bitternis, die er heute erfahren mußte – die zweite Hälfte des Tags war nicht weniger reich an neuen Eindrücken – wurde Brechtle an diesem seinem ersten zünftigen Ehrentag um eine tröstliche Lebenserfahrung reicher. Das Unglück, das uns verfolgt, mag noch so schwer, der Jammer noch so groß sein, eine gütige Vorsehung sorgt dafür, daß auch die schwärzeste Wolke gelegentlich ihren silbernen Saum zeigt und uns daran erinnert, daß hinter dem Gewölk der ewig blaue Himmel liegt. Nur müssen wir die Augen aufmachen und den lächelnden Sonnenblick nicht ungenutzt vorübergehen lassen.

Über Tisch – es war eigentlich Brechtles Lehrjungenfestmahl, das die andern mit großem Appetit genossen –, hatten sie seinen Jungennamen gefunden. Enderles Schwager, der Klosterschneider von Blaubeuren, hatte ihm gelegentlich erzählt, daß der Höchste dort draußen Prälat betitelt wurde. Er meine deshalb, man könne dem Studentle keine größere Ehre antun, als ihn Prälätle zu heißen. Das gefiel dem Altgesellen nicht übel, und selbst Gretle fand den neuen Namen handlicher als Brechtle, sonderlich wenn man ihn abkürze und Prätle daraus mache. Nickel schmatzte mit den Lippen und fand dies zu gut für den Knirps. Herr Joseph bestimmte jedoch, daß Nick als Lehrling das Maul zu halten habe und daß die Frage von Berblingers Jungennamen hiermit erledigt sei.

Nach Tisch nahm ihm der Altgeselle alles Geld ab, das sich in seinen Taschen fand. Das sei – an seinem Ehrentag – Handwerksgebrauch. Es war nicht viel: der Rest des Zehrgeldes, das ihm sein guter Zeller beim Abschied gegeben hatte. Nickel, mit dessen Hilfe schon gestern sein Waschkistchen in die Gesellenkammer geschafft worden war, untersuchte es heute gründlich, fand jedoch seinen Inhalt so unbefriedigend, daß er nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, den Euklid zum Dachfenster hinauszuwerfen. Eine halbe Stunde lang, bis die Arbeit wieder begann, hatte Berblinger das Gefühl, unter Räuber und Mörder gefallen zu sein.

Doch es ging wieder ans Geschäft. Herr Joseph erklärte, für Oberwendlingsnähen fehle es dem Prätle sichtlich noch an Intelligenz. Ohrfeigen seien hier nutzlos. Er möge damit anfangen, einen alten Rock zu zertrennen, der gewendet werden müsse. Damit warf er ein großes schwarzes Kleidungsstück auf den Nebentisch, halb Rock, halb Talar, und zeigte dem Jungen, wie Schere und Pfriemen zu handhaben seien, um die verschossenen rotbraunen Fäden aus dem vor Alter glänzenden Tuch zu ziehen. Berblinger hatte sich kaum an die Arbeit gemacht, als ihn ein jäher, ein fast freudiger Schrecken durchschoß. War es möglich? Den Rock kannte er! Immer energischer, immer boshafter handhabte er Schere und Pfriemen. Alle Zweifel schwanden, als er in einer Seitentasche ein Stückchen Papier fand, auf dem in lateinischer Sprache eine Notiz stand, die sich auf das ›heute endlich erfolgte Geständnis des Alumni Berblinger in betreff des Erwerbs von einem Quart Aquae vitae‹ bezog, ›welches Geständnis eine mildere Beurteilung des verbrecherischen Treibens des Inkulpaten unter keinen Umständen zulasse‹. Es war ein Rock, den er hundertmal gesehen, dessen Knöpfe er zitternd gezählt, dessen abgeriebene Ellbogen er mit Abscheu betrachtet, dessen breiten Rücken er mit unnatürlichem Haß verfolgt hatte. Es war Professor Gaums Kollegrock.

Ein wilder Gedanke durchzuckte das erregte Gehirn des armen Jungen. Er richtete die erste geschäftliche Bitte an den Altgesellen. Der Rock sei sehr staubig. Würde der Herr Joseph erlauben, daß er ihn ausklopfte, ehe er mit dem Zertrennen weitergediehen sei? Der Altgeselle, der diese Bemerkung des Eintägigen allerdings für eine Frechheit hielt, nickte trotzdem und zeigte in einen Winkel, wo ein kräftiges spanisches Rohr stand. Brechtle ergriff es gierig und ging mit dem Rock zur Stube hinaus. Dort am Treppengeländer hing er ihn auf, und dann begann eine Exekution, die durch das ganze Haus schallte. Die Schöße flogen wie verzweifelt nach rechts und links, die Ärmel krümmten sich zu flehenden Gebärden; namentlich aber auf den breiten Rücken sausten die Hiebe, die in dem schwarzen Tuch deutlich erkennbare Striemen hinterließen. »Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!« stöhnte es in dem wunden wehen Herzen des Jungen. Wie schade, wie jammerschade, daß es nur der Rock war, daß nicht der Mann drinstak, der vor allen andern sein Unglück auf dem Gewissen hatte und nichts davon spürte!

Der Racheakt war noch nicht zu Ende, als sich die Zimmertüre öffnete und der Altgeselle mürrisch herausrief:

»Na, wird's bald? Soll ich dich aufhängen und ausklopfen, verflixter Bengel?«


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