Kurt Faber
Tausend und ein Abenteuer
Kurt Faber

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Insel der Seligen

Ein durstiges Handwerk / »SwellsStutzer, Stadtfrack tipple« / Ein empfehlenswertes Gasthaus / Unterwegs nach Sydney / In die »Blauen Berge« / Der Schnee als Weltwunder / Ein politisches Gespräch / Noch einmal in New Castle / Schlechte Zeiten / Hans der Bierbrauer macht seine Erfahrungen / An Bord der »Sierra« / Ankunft auf den Fidschiinseln / Australisches Indien / Die Tongainseln / Auch ein Königreich / Allerlei Bekanntschaften / Das Schwein auf der königlichen Veranda / Insel der Seligen

Die Nacht war vorüber, und noch immer keuchte der schwere Wollwagen weiter durch die sandige Straße. Toby, der Fuhrmann, hatte seine liebe Not mit den zehn müden Pferden. Mürrisch saß er auf dem hohen Bock und verfluchte jedes einzelne der Tiere gewissenhaft vom Schwanz bis zu den Ohren.

»Oh, Sandy – verdamm' deine Augen! – Get up,Auf! Los! Bill! – oh woh! Alle miteinander. – Der Teufel hole eure schwarzen Seelen!«

Wie Flintenschüsse hallten seine Peitschenschläge. Zwischendurch fand er aber immer noch Zeit, sich rückwärts nach den Wollballen zu wenden, um mit mir eine Unterhaltung zu führen.

»Schlimmes Handwerk, das!« sagte er zwischen langen Zügen aus seiner Pfeife, »fast noch schlimmer als Pferdestehlen. Ein durstiges Handwerk, ein verdammt durstiges Handwerk, kann man wohl sagen!«

»Das glaube ich«, sagte ich nachdenklich.

»Ja, aber mit dem Glauben allein ist's nicht getan«, fuhr er fort, »man muß auch danach handeln. – Wie Sie z. B. dort drinnen in der Hütte bei den Känguruhs, den Raben und den Dingos waren – wer weiß, ob Sie nicht noch dort säßen, wenn nicht Toby gekommen wäre mit seiner Karre. Und wovon hätten Sie da wohl gelebt? – Etwa von dem toten Känguruh? Oder von den Raben? Die muß man erst erwischen, und dann schmecken sie auch nicht gerade wie junge Hühner. – Well, und darauf wollen wir nun einen heben, wenn wir wieder unter Menschen kommen.

– Ho, Bossy! Ich werde dir Beine machen!«

Wieder knallte die Peitsche, wieder zogen die Pferde an, von der Angst beflügelt.

Aber schon blinkte in der Ferne das Wellblech der »Stadt«, die sich um die Eisenbahnstation baute. Sie trug den Namen »Ivanhoe«, und so war doch etwas Poetisches an ihr, wenngleich sie im übrigen ebenso langweilig war wie jedes andere Buschdorf. Schon waren wir mitten im Orte, und während die Pferde ihren Durst mit langen Zügen in einem trüben, sumpfigen, fröschequakenden, seltsamerweise noch nicht ausgetrockneten Teiche löschten, eilten Toby und ich ins nahe Wirtshaus, um auch für unseren zu sorgen.

Toby ließ sich dort nicht lange bitten und bestellte eine Flasche »swells tipple« auf meine Kosten. Ich wunderte mich, was das wohl wäre in dieser unendlich langen Reihe von verschieden etikettierten Flaschen, die alle ungefähr dasselbe Gift enthielten. Ein »swell« ist in Australien etwa das, was man anderwärts auf dem Lande einen Stadtfrack nennen würde, doch ein »swells tipple« –

Aber siehe, der Wirt schloß ein Fach unter dem letzten Winkel der Bar auf und holte eine Flasche hervor, die er aus einer dicken Strohhülse herausschälte und uns präsentierte mit einem so freundlichen Lächeln, wie das bei seinem Galgengesichte immer nur möglich war.

»Champaigne« stand darauf.

Kalt lief es mir über den Rücken, als ich den Abstand zwischen solcher Etikette und den vier Pfund ermaß, die ich für meine Karre bekommen hatte. Aber Toby hatte sich schon der Flasche angenommen. Der Pfropfen flog bis zur Decke. Mit einem Zug, der von echtem Fuhrmannsdurst zeugte, jagte er den halben Inhalt der Flasche glucksend durch die Gurgel. Ein Glas ließ er mir übrig. Das Zeug schmeckte wie Apfelwein mit sehr viel Schwefelsäure, außerdem war es lau wie Spülwasser, aber Toby fand es göttlich.

»So«, sagte er, indem er sich aufblähte wie ein Frosch beim Regenwetter, »das wäre der Anfang!«

In diesem Augenblick aber gab es draußen ein furchtbares Stampede. Die zehn Pferde, die wahrscheinlich ein vorüberfahrendes Lastauto erschreckt hatte, rannten in voller Karriere über die Straße und der schwere Wagen hinterher wie ein Handkarren. Toby stürzte zur Tür hinaus. Ich habe ihn an dem Tag nicht wiedergesehen. –

Ivanhoe liegt zwar an der Eisenbahn. Dennoch ist ein abfahrender Zug keineswegs ein alltägliches Ereignis. Wer Glück hat wie ich, der kann immerhin nach knapp vierundzwanzig Stunden auf eine Abfahrt rechnen. – Aber wie diese langen Stunden totschlagen in Ivanhoe? Der Tag war rauh und frostig, wie nur ein Wintertag auf dem australischen Hochland sein kann. Alle Gäste hockten eng zusammen um den kalten Kamin, in dem nur weiße Asche und ein Atom von Feuer zu sehen war. Aber bequem wie sie waren, fiel es keinem ein, für die nötige Heizung zu sorgen, dem Wirt am allerwenigsten. Als ich reklamierte, drückte er mir vertrauensvoll eine Holzaxt in die Hand und hielt mich zwei Stunden lang mit Holzhacken beschäftigt, was ihn freilich nicht hinderte, mir am anderen Tage eine gesalzene Rechnung für Kost und Logis vorzulegen; und kurzum, ich müßte heucheln, wenn ich sagen wollte, daß mich irgendwelcher Trennungsschmerz erfaßte, als ich endlich meinen Swag in dem Eisenbahnzug verstauen konnte, der gemächlich nach besseren Zonen rollte, während draußen ein blutiges Abendrot zum letztenmal den Busch in glühende Farben tauchte. –

Ostwärts ging die Reise durch die lange Nacht und einen darauffolgenden Tag, der auch kein Ende nehmen wollte. Erst jetzt, nach dieser fünfhundert Kilometer langen Eisenbahnstrecke, sollte ich herausfinden, daß der Darling denn doch noch nicht ganz Australien ist. Immer weiter blieb der graue Busch zurück, an seine Stelle traten junge Weizenfelder, die eben frisch und grün aus dem Boden sproßten, und darüber hingen schwere Wolken an einem regendrohenden Himmel. Langsam keuchte der Zug hinauf in die »Blauen Berge«, durch dichte Wälder mit seltsamen Farnbäumen und wiederum vorbei an steilen Schluchten zu einem winterlich anmutenden Hochland, das mit seinen blau verdämmernden Höhen an deutsche Mittelgebirge erinnerte. Die Felder lagen grau, braun und tot unter dem trüben Himmel, und wirklich, da wirbelte etwas Graues von oben herunter. – Es war wahrhaftig Schnee.

So etwas ist auch zur Winterszeit ein sensationelles Ereignis in Neusüdwales. Der ganze Zug geriet in Aufregung. Man füllte Hüte und Reisetaschen, um die seltene Gottesgabe den Freunden und Nachbarn in Sydney zu zeigen. Ein neben mir sitzender lieber alter Herr polsterte damit seine Aktentasche, ehe er das begonnene politische Gespräch über die deutsch-australischen Beziehungen fortsetzte.

»Ja«, meinte er nachdenklich, »das kann ich nie verstehen, daß der Kaiser uns den Krieg erklärt hat. Und ich kann es ihm auch nicht vergessen. Denn sehen Sie, ich bin Engländer, und wenn ich keiner wäre, so wollte ich wohl einer sein. Ich könnte mir das gar nicht anders denken. Aber wenn es schon einmal nicht anders ginge, hätte ich wohl Deutscher sein mögen, ehe uns der Kaiser den Krieg erklärt hat.«

»Soweit ich mich erinnere, hat König Georg dem Kaiser den Krieg erklärt«, wandte ich ein.

»Ja, aber er hat angefangen!«

Da konnte ich denn doch nicht umhin, ihn zu fragen, ob er überhaupt informiert wäre über die Vorgänge, die zum Kriege führten.

»Freilich«, rief er aus, »wo doch die verdammten Preußen den belgischen Kronprinzen ermordeten!«

Solche Information nahm mir einen Augenblick den Atem weg. Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, daß das nicht ganz mit den geschichtlichen Tatsachen übereinstimme, aber damit forderte ich nur den Protest der anderen Reisenden heraus.

Ob ich das wohl besser wissen wolle als Leute, die schon lange in Australien sind? Über die Mörder des belgischen Kronprinzen entspann sich freilich ein Argument. Die einen meinten, es wären Österreicher gewesen, die anderen schoben sie den Türken in die Schuhe. Aber ermordet mußte man ihn doch haben, denn wie sonst wäre der Krieg zustande gekommen? Nachdem solchermaßen das Gespräch mitten in die Kriegsereignisse geglitten war, mischte sich ein wohlgekleideter Herr hinein, der eine bronzene Feldzugsmedaille im Knopfloch trug:

»Der Kronprinz«, sagte er mit zornbebender Stimme, »der deutsche Kronprinz hat in einem Schloß zu Verdun im Elsaß einen goldenen Becher gestohlen. Aus dem hat er an jedem Tag einen Tropfen Blut im Champagner auf den Untergang Englands getrunken.«

Bei dieser erstaunlichen Behauptung zogen die Bremsen des Zuges an, und über holperige Weichen fuhren wir – keinen Augenblick zu früh – in den Bahnhof von Sydney ein. – –

Die Stadt Sydney war von jeher das Mekka der Australier und wird es auch in Zukunft bleiben. Man muß sie im Sonnenglanze eines australischen Wintertages gesehen haben, und dann ist jedes Wort zu ihrem Preise zuviel. In einem Leben der Wanderungen habe ich alle Welthäfen gesehen, von denen man ein Geschrei macht in den Touristenbüros: Konstantinopel, Rio de Janeiro, Neapel, Colombo, San Franzisko – aber die Bai von Sydney kann sich mit diesen allen messen. In mancher Hinsicht ähnelt sie der Kieler Föhrde. Aber es ist eine Föhrde, an der die Palmen stehen und wunderliche Wolkenkratzer in einen dunkelblauen Himmel ragen, der sich in dem ebenso blauen Wasser spiegelt. Im nahen Botanischen Garten sieht man die wilde Majestät der zerzausten Norfolktannen, die Palmen in der Sonne. Von dorther kommt die weiche Luft, die wie eine Ahnung der Tropen mit dem salzigen Seewind zieht.

Ja, Sydney ist schön; eine von den Städten, die wie ein Vampyr leben auf Kosten anderer Plätze, die zum Geldverdienen und nur zum Geldverdienen da sind. Ein solcher ist der einige sechzig englische Meilen weiter nordwärts gelegene Hafen New Castle, wohin ich gleich weiterreiste, gerade nur um der alten Zeiten willen. – Ach, immer ist das Tier im Menschen lebendig und zieht und zieht ihn nach dem alten Stall. Vor zwanzig Jahren war ich als ganz junger Matrose zum erstenmal durch diese enge Hafeneinfahrt gekommen mit einem englischen Segelschiff, das von San Franzisko kam. Nun ging ich wieder durch die Gassen, die mir noch enger, noch schmutziger, noch rußiger wie damals vorkamen, zwischen Häusern, aus denen das Elend noch häßlicher herausschaute. Damals – da war doch alles ganz anders. Da war der Fluß weithin übersät mit einem Wald von Masten der stolzen Segelschiffe, da drängten sich die breiten Trampdampfer vor den Kippkähnen der Kohlenbunker, da widerhallten allabendlich die Gassen vom Lärm der Matrosen, und man war reich mit den fünf Schilling, die einem der Kapitän am Samstagabend auf Vorschuß gab.

Nun war es wieder Samstagabend, aber die Schenken waren leer, die Wirte gähnten gelangweilt vor den Türen, im Hafen lag ein einziger, armseliger Küstendampfer. Streik in den Bergwerken, Streik der Seeleute. In Australien ist der Seemannsstreit eine ständige Einrichtung. So oft ich hingekommen bin, habe ich es doch niemals anders gesehen. Nebst den Scherern sind die Matrosen in ihrer Begehrlichkeit eine Zielscheibe des Spottes für den »Mann in der Straße«. Ein Matrose der australischen Handelsmarine erhält eine Heuer von neunzehn Pfund, also rund 400 Mark pro Monat bei vollkommen freier Station und einer streng gewerkschaftlich festgelegten Minimalarbeitszeit an Bord. Die von der Bundesregierung während des Krieges mit beschlagnahmten deutschen Dampfern eröffnete Dampferlinie nach Europa war jahrelang das Schlaraffenland der Seefahrer. Guter Verdienst, wenig Arbeit und immer einmal pro Reise ein Streik der Stewards auf hoher See, wobei dann die Passagiere selbst ihr Geschirr waschen und den Tisch decken mußten unter den feindseligen Blicken der Mannschaft, die sie als Streikbrecher beschimpften. Legte der Dampfer in einem fremden Hafen an, so gingen die Herren Matrosen an Land und kamen zurück, wenn es ihnen Spaß machte.

»The ship can wait!« – Das Schiff kann warten!

Und es wartete! –

Ersatz war keiner zu finden, da man zur Anmusterung ein australisches Gewerkschaftsbuch benötigte.

Das ging, solange es gehen konnte bei einer internationalen Monatsheuer von acht Pfund und weniger idyllischen Verhältnissen auf anderen Schiffen. Im Jahre 1928 verkaufte der Staat die Schiffe an eine englische Gesellschaft, und die arbeitslosen Matrosen saßen nun in langen Reihen an den Kais von New Castle und baumelten mit den Beinen und schauten blinzelnd auf das glitzernde Wasser und auf die Kormorane, die auf den grün bewachsenen Molenköpfen saßen. Früher, meinte einer, da hätten sich die Heuerbase hier die Beine abgelaufen nach jedem Grünhorn, und ein richtiger Matrose sei geradezu ein Objekt der Anbetung gewesen; aber jetzt sei alles vorbei. Englische Kohlen würden in Sydney billiger angeboten wie die aus New Castle. Den südamerikanischen Markt und den von Singapore habe man schon lange verloren, und die wenigen Schiffe, die sich hier noch herwagten, scheuten sich sogar Bunkerkohlen einzunehmen, aus Angst vor den Kaigebühren – ja, und was habe man nun von den fabelhaften Löhnen? Kein Mensch wußte darauf eine Antwort von allen denen, die da weiterdösten im Zwielicht, während der Wind den Hafenlärm herüberbrachte und die verlaufende Flut in den Bojen rasselte; eine betrübte Gesellschaft, die in den sinkenden Tag hineinstarrte. Dachten sie an die glitzernden Versprechungen der lockenden Reklamen?

»Australia calls you! – Geh nach Australien und wachse mit dem Lande!«

Ach, es war doch alles nur Druckerschwärze!

Noch dachte ich über diese Dinge nach, als eine Gestalt vor mir auftauchte, die mir bekannt vorkam.

Hans, der Bierbrauer!

Vor wenig mehr als einem Vierteljahr waren wir noch auf der »Bendiga« zusammengewesen. – Aber was bringt ein Vierteljahr mit sich an Erleben für einen armen Auswanderer! Hans hatte es daran offenbar auch nicht gefehlt. Er war magerer geworden, von brauner, australisch anmutender Gesichtsfarbe, mit einem bösen, harten Zug um den Mund und einem müden, gehetzten Ausdruck in den Augen. Und kein Wunder, denn es war ihm, wie er mir erzählte, keineswegs immer gut ergangen »bei uns in Australien«. Zwar hatte er gleich zu allem Anfang das Glück, eine Stelle in seinem Beruf zu bekommen bei einer Bezahlung, die er sich zu Hause nicht hätte träumen lassen. Aber nach acht Tagen kam der »union boss«Gewerkschaftsführer und fragte nach seiner Gewerkschaftskarte.

»Die muß ich mir erst anschaffen«, meinte Hans, der sich inzwischen schon in John umgetauft hatte.

»Und Australier bist du nicht?« meinte der Gewerkschaftsbeamte. »Nein«, sagte Hans.

»Engländer natürlich auch nicht.«

»Nein.«

»Etwa gar von Germany

»Ja«, antwortete Hans kleinlaut.

»Dann kannst du mal gleich deinen Plunder wieder zusammenpacken. Wir haben genug an unseren Arbeitslosen.«

Das war der Anfang einer bösen Geschichte, die sich in Fortsetzungen wiederholte, bis nach New Castle. Eine Weile noch lief er in Melbourne von einer Arbeitsmöglichkeit zur anderen, zu verschlossenen Glastüren, zu Leuten mit den großen, bronzenen Feldzugsmedaillen, die ihn gleichgültig anschauten und müde mit dem Kopfe schüttelten.

»Nix deutsch!«

Überall war er ein Hans im Glück gewesen und hatte den Goldklumpen verhandelt. Das teure Fahrgeld war umsonst ausgegeben, die vierzig Pfund Landungsgeld waren fort. Wir gingen in ein Restaurant, und nach der Art, wie er das Beefsteak verzehrte, konnte man schließen, daß er schon lange nichts Ordentliches mehr gegessen hatte.

»Wenn nur wenigstens Neuguinea oder Samoa noch unser wären«, sagte er, indem er noch ein Beefsteak nahm, »dann wüßte man wenigstens, wo man hingehen könnte! – Oh, die Dummköpfe in Deutschland! – Morgen soll ja die »Mosel« hier ankommen.«

»Möglich«, sagte ich. »Aber was kann das helfen?«

»Ich meine man bloß. Wenn ich da an Bord gehe und dem Kapitän meine Lage auseinandersetze, da wird er mich wohl meine Passage nach Hamburg abarbeiten lassen. Meinst du nicht auch?«

Ich nickte nur mit dem Kopf. Aber ich dachte mir meinen Teil, und es ging mir so durch den Sinn, wie gut es doch für so manchen verträumten Hans oder Michel wäre, wenn er ein klein wenig nach Australien reiste. –

 

Drei Tage später sah mich die Sonne der Südsee an Bord des amerikanischen Dampfers »Sierra« wieder einmal auf der Reise – aber auf der wievielten in den letzten sechs Monaten? – nach fernen Gestaden. Für die Südsee habe ich immer eine Schwäche gehabt. Oft schon, wenn ich in früheren Jahren auf langsamen Trampdampfern oder geruhsamen Segelschiffen durch diese Gewässer fuhr, wenn ringsum die weißen Vögel über die dunkelblaue Meeresfläche segelten, wenn das Wasser eintönig rauschte vor dem Bug und der frische, gewürzige Passatwind im Tauwerk summte und kühl von den geblähten Segeln herunterfegte wie ein süßes, unbegreifliches Etwas, das einem alles in Erinnerung rief, was man einmal gehört und gelesen hatte von den Wundern und Abenteuern verschlagener Schiffe und unfaßbarer Robinsonaden – in solchen Zeiten mochte es mir als das schönste aller Erlebnisse erscheinen, wenn man einmal Zeit und Gelegenheit hätte, hier herumzuzigeunern auf der blauen, unendlichen Weite, mit Meer und Wind und Sternen, zwischen Riff und Palmen auf verschwiegenen, windgepeitschten Inseln. Wie göttlich müßte das sein!

Ja, und nun war es beinahe soweit. Und doch nicht so. –

Gute, alte »Sierra«! Ich erinnerte mich an sie noch aus der Zeit, da ich – ein halbes Kind noch an Jahren, ein Dreiviertelkind an Verstand, ein ganzes auf dem Gebiete der Phantasie – mit leerem Geldbeutel, aber mit einer Seele voll Abenteuerlust, im Hafen von San Franzisko eben diese selbe »Sierra« auf eine Gelegenheit zum Verstauen für eine glorreiche Schwarzfahrt nach fernen Ländern musterte. Damals war sie noch das letzte Wort eines zeitgemäßen Schiffbaues. Aber auch das Neueste wird mit der Zeit altmodisch, und die Frage, wie lange sie es noch mitmachen würde, gab Stoff zum großen Rätselraten für den müßigen Bordklatsch von Sydney bis San Franzisko.

Wie ich schon erwähnte, fuhr die »Sierra« unter amerikanischer Flagge. Sie war also ein »trockenes« Schiff. Nur Eiswasser bekam man reichlich zu trinken, ein kümmerlicher Ersatz bei 25 Grad im Schatten. Was aber tat man zur Hebung der Stimmung? – Da war an Bord auch eine Gesellschaft von jungen Leuten, deren Väter es sich leisten konnten, ihre Sprößlinge auf einen jener heute in Amerika schon zum Bestandteil der allgemeinen Bildung gehörigen »trip around the world«Reise rund um die Welt zu schicken. Es waren durchweg Studenten, junge Geschäftsleute bzw. Volontäre, Söhne von großen Kaufleuten, Industriellen, hohen Regierungsbeamten. Und was taten nun diese beneidenswerten Jünglinge? Schon in der ersten Stunde an Bord kramten sie mächtige Trommeln, Saxophone, Kindertrompeten und sonstige Spektakelinstrumente hervor, taten sich zusammen zu einer Jazzband und fortan widerhallten die stillen Südseenächte von sechs Uhr abends bis drei Uhr morgens von dem infernalischen Lärm, während immer abwechselnd eine Gruppe ihre Glieder verrenkte in geradezu besessenen Niggertänzen. So etwas nennt man auf amerikanisch »a jolly good time«.Eine wirklich großartige Zeit Aber bei aller Verjazzung unseres Jahrhunderts möchte ich vorerst doch noch bezweifeln, ob auch junge Leute anderer als angelsächsischer Nationen, von gleichem sozialem Herkommen, sich dazu bereit finden würden, Abend für Abend solchen Exhibitionismus mit ihrer Geistlosigkeit zu treiben. –

Freilich gab es auch noch andere an Bord. Da war z. B. Mr. Müller, der sie nie erfassen konnte, die Suggestion des modernen Amerika.

»Keep smiling!«

Mr. Müller, der von San Franzisko auf dem Umweg über Australien und Honolulu nach Shanghai fuhr. Auf blauen Dunst nach Shanghai mit 45 Jahren! Eigentlich hätte Herr Müller so etwas nicht nötig gehabt, denn es war ihm recht gut ergangen auf seinem ruhigen und gesicherten Buchhalterposten in Deutschland. – Aber ging es nicht den Leuten in Amerika unendlich viel besser? Hatten die nicht den Krieg gewonnen? Verdienten die nicht in Dollars, sogar jetzt, im Jahre des Unheils 1923? Fuhren dort nicht die Waschfrauen per Auto auf Kundschaft? Hatte nicht jeder Arbeiter sein Huhn im Topfe und seinen Ford in der Garage? Und war es nicht das Land der Freiheit, in dem die Zeitungsjungen Präsidenten zu werden pflegten, wenn sie sich nur ein bißchen anstrengten? – Und also verschleuderte man den Plunder zu Hause um jämmerliche Papiermark, die die Überfahrt bezahlte; sie war so gut wie eine Eintrittskarte ins Paradies.

Aber auch in New York wird mit Wasser gekocht, wie Herr Müller bald herausfand. Die Straßen sind dort lang, die Straßenbahnfahrpreise hoch, und Mister Müller stand an jedem Tage vor einem anderen Office, vor einer anderen Glastür mit goldener Inschrift, vor harten Tatsachen und noch härteren Yankeegesichtern. So war es ein Glück, daß wenigstens die nunmehrige Missis Müller ein Job in einem OfficeBüro, Geschäftsstelle bekam, eben das, was man ihm selbst vorenthielt. Dafür bekam er ein solches als Officeboy und fortan lebten sie beide in einem »Flat«, zwischen Normalmöbeln, die man irgendwo in Millionen herstellt und die überall dieselben sind, in einem FlatMietwohnung mit Zentralheizung, Staubsauger, kaltem und warmem Wasser und allem modernen Komfort und oh! nicht einem Atom von Wärme für die hungrige Seele. Da sagte Mr. Müller in seinem schönsten Deutschamerikanisch: »Ich gleiche dieses Officeboyjob nicht mehr. Wir wollen muhwenUmziehen (lautnachahmende Schreibweise) nach Chikago.« – Aber Chikago war nur eine Wiederholung von New York, und es wurde auch nicht besser, als sie weiter nach San Franzisko muhwten. – Von wegen Auto! Man konnte von Glück reden, wenn es einmal in der Woche für die Movies reichte und ab und zu zu einem verschwiegenen Glase Bier bei boot-leggersAlkoholschmuggler und Mondscheinern. Nicht daß Bier sich Glück buchstabiert, aber die Freiheit tut's. – Ja, und dann ging es immer schneller bergab, und die Missis machte eine divorce,Ehescheidung und eine fremde junge Dame, an die er einmal in aller Unschuld ein Auge gewagt hatte, verklagte ihn wegen breach of promise.Bruch des Eheversprechens Die Advokaten wurden Stammgast im Hause, man träumte nachts von beschworenen Affidavits,Bescheinigung, eidliche Versicherung und Australien war da gerade weit genug, um vor solchem Schrecken zu fliehen. Besser wurde es aber dort auch nicht, und so raffte er das letzte Geld zusammen, das er mit Swag und Billy im Busch verdient hatte, und Shanghai war das Ende. –

Warum ich die sonderbare Geschichte dieses Mister Müller erzähle? Ach, er ist nur einer unter hunderttausend Deutschen, die heute in ihren besten Jahren erbarmungslos zum alten Eisen geworfen werden in fernen Ländern unter kalten, fremden Menschen.

»Die ihr nicht wißt, was deutsche Liebe,
Nicht ahnt, was deutsche Narrheit ist.«

Das Wetter war übrigens während der ganzen Überfahrt keineswegs ideal. Die See ging hoch, die Seekrankheit ging um wie ein Gespenst, und so war es für jedermann an Bord eine rechte Erlösung, als endlich die hohen Berggipfel der Fidschiinseln aus dem Meere auftauchten. Es war ganz ein Bild, wie man sich das Erscheinen einer Südseeinsel gewöhnlich nicht vorzustellen pflegt. Kein blauer Himmel, kein blaues Meer, keine weißen Korallenriffe. Düster und trübselig war alles ringsum. Die Wolken hingen schwer über dem Wasser. Zwischen zerrissenen Nebelstreifen sah man nur gelegentlich einige Fetzen eines hohen, finsteren Landes, das ebensogut die Alaskaküste sein konnte.

Zwischen Riffen, um die das klare Wasser seltsam smaragdgrün schimmert, kommt man in die weite Bai, deren Schönheit man nur ahnen konnte. Vor uns lag der Hafen von Suva, tropisch schwül, unter hohen Kokospalmen, umhüllt von einem dicken Dunst, der dampfend aus den Bananenhainen aufstieg. Suva ist einer der wenigen guten und ausgebauten Häfen des Stillen Ozeans. Auch die größten Schiffe können direkt längsseit gehen am Kai, auf dem es von Fidschiinsulanern wimmelt, die mit ihrer sehr dunklen Hautfarbe, den seltsam gemeißelten Gesichtern und den ungeheuer hoch aufgebauten Wuschelfrisuren wahrlich eine beachtenswerte Erscheinung sind. An jenem Tage war alles in höchster Feiertagsstimmung, zum Empfang der beiden japanischen Kreuzer, die schwarz und drohend an der Landungsbrücke lagen. Eben war der Gouverneur in vollem Staat aufgefahren, und hinter einer lärmenden Musikbande marschierte die erstaunlichste Polizeitruppe, die die Welt je gesehen. Barfuß, den Kopf nur bedeckt mit der gewaltigen Frisur, dunkle, seltsame Gesichter und statt der Hosen weiße Spitzenröcke, die an einer Filmdiva vielleicht totschick aussehen würden, für einen Polizeibeamten aber kaum das richtige Bekleidungsstück sein dürften.

Ein wollköpfiger Fidschijunge, dessen bloßes Auftreten schon eine erste Nummer wäre in einem europäischen Varieté, hatte sich schon an Bord des Dampfers meiner angenommen und trug nun meinen Swag vor mir her durch die Gassen von Suva, zwischen niedrigen Häusern, die ganz Veranda waren, und hohen, windzerzausten Kokospalmen, die abenteuerlich-romantisch über die Hausdächer hinausragten. Der Himmel war grau, und es regnete ein wenig; gerade das Wetter, in dem sich südliche Städte am unvorteilhaftesten präsentieren. Aber er machte seine Sache gut und brachte mich nach einer Pension, die meinem Geldbeutel angemessen war. Da saßen wir denn bald beim Lunch und aßen Beefsteak und tranken glühend heißen Tee, als ob wir in Schottland säßen, als ob nicht die Kokospalmen zum Fenster hereinschauten, als ob nicht ein Tropenregen bei dreißig Grad im Schatten auf die Palmblätter trommelte, als ob nicht da, drei Schritte vom Hause, das tropische Meer und die Brandung wäre, die donnernd vom Riff herüber hallte. Steif saßen sie am Tisch und machten Konversation, und die Pensionsmutter fragte die üblichen Fragen.

»Did you have a pleasant voyage?Hatten Sie eine gute Überfahrt?Oh, I'm so glad you did!«

Es war ein langes Martyrium bei solcher Hitze, aber endlich wurde man doch entlassen, um sich die Sehenswürdigkeiten Suvas anzuschauen.

Doch ehe ich davon erzähle, muß ich zum besseren Verständnis leider noch einmal einen Seitensprung machen in das Gebiet der hohen Politik.

Die Engländer sind ein sehr rassestolzes Volk, oder gelten wenigstens dafür. Das hindert jedoch nicht, daß sie in allen den Kolonien, die sie selbst nicht mit ihren Landsleuten besiedeln können, die billige Rolle des Schirmherren der Eingeborenen spielen und die Interessen der weißen Rasse mit Füßen treten. Wo immer die britische Flagge über einer Kronkolonie weht, da werden die Einwohner herangepäppelt zu nachgemachten Engländern, zu einem Haufen von dumm-frechen Hosenniggers, die den weißen Ansiedler langsam, aber sicher zum Lande hinaustreiben. Dort, wo es angebracht erscheint, schiebt man die Stämme und Völker auch durcheinander wie Steine auf einem Schachbrett – divide et impera!Teile und herrsche! Grundsatz durch Zersplitterung der Gegner über sie zu herrschen – oder man rottet sie ganz aus wie die nordamerikanischen Indianer und die unglückseligen Ureinwohner Australiens. Hunderttausende, nein Millionen sind im Laufe der letzten hundert Jahre vom Erdboden vertilgt worden durch Pulver und Blei, durch Gift und Meuchelmord und die Hungerpeitsche derer, die mit frommem Augenaufschlag uns unsere Kolonien wegnahmen, weil sie auf Grund ihres makellosen Vorlebens sich selbst nur für würdig erklärten, als Mandatsträger ein »zurückgebliebenes« Volk zu wahrer Höhe der Zivilisation zu führen.

Fidschi ist ein lebendiger Anschauungsunterricht dafür, Suva eine Lektion des britischen Imperialismus.

Wer sich in Indien auskennt, der fühlt sich auch in Suva zu Hause. Die gleichen engen Gassen, die gleichen dunklen Läden, vor denen sie das lockende Süßfleisch anbieten. Die gleichen dunkelhäutigen Jünglinge, auf deren pechschwarzen Haarschöpfen die Pomade fingerdick steht, und überall an den Läden Inschriften in den seltsamen Buchstaben der hindustanischen Sprache. Indien ist nach den Fidschiinseln ausgewandert und hat von ihnen Besitz ergriffen mit all seinen Krankheiten, Leidenschaften und seinen Problemen. Und dazwischen gibt es noch Japaner und Chinesen als Rosinen im Teig; erstere meist im edlen Barbierhandwerk, letztere oft schon in hohen Sphären, die auf bronzenen Bürotafeln ihre Wichtigkeit in die Welt hinausschreien:

»Kwong Tiy Co. Ltd
»Sun yat sun Ltd.«

Es gibt sogar einen Kuomintang mit allem Zubehör.

Von der Vielseitigkeit der Menschenmenagerie in dieser kaum 10 000 Einwohner zählenden Stadt gibt die letzte Statistik im Fidschijahrbuch Aufschluß: Europäer 1755, Mischlinge 785, Fidschiinsulaner 2000, Inder 7000, Polynesier 569, Chinesen 343, Japaner 159, Samoaner 182, Tonganesen 39, andere Insulaner etwa 300. Zu alledem kommen noch die phantastischen Mischungen von Menschen, die bald wie Chinesen, bald wie Malaien, bald wie Weiße aussehen, je nach dem Gesichtswinkel, unter dem man sie betrachtet.

Das alles lebt mehr oder minder einträchtig beisammen. Selbst die stolzen Sikhs mit den wunderschönen Bärten und den Turbanen, die groß wie Storchennester sind – selbst diese Aristokraten, die zu Hause in Indien jede andere Beschäftigung als die eines Soldaten oder Polizisten mit Entrüstung abgewiesen hätten, tragen hier Holz am hellichten Tage oder machen sich sonst nützlich. Fidschi mag ein lockender Name drüben in Indien sein, eine Art Insel der Seligen, wo man sich alle Tage satt essen kann. Und es ist es auch, für die Weißen nicht weniger als für die Farbigen. Länger als andere polynesische Inseln war Fidschi von Weißen besucht und bewohnt, und das hatte seine guten Gründe. Denn nicht allzuweit entfernt liegt Botany Bay, wo England seine unerwünschten Untertanen unterbrachte. Und noch etwas näher Noumea auf Neukaledonien, dem französischen Sibirien. – Die man erwischte, kamen nach Botany Bay, die anderen gingen nach den Fidschiinseln, dem schönen, sonnigen Lande, das so angenehm weit weg war von allen Armen der Gerechtigkeit, mit einer eigenen Regierung ohne Auslieferungsgesetze und einem dunkelhäutigen Herrscher von Strandläufers Gnaden.

Ach, die Zeiten sind nicht mehr so romantisch wie damals! Aus dem Königreich wurde eine Kronkolonie, regiert und verwaltet von tennisspielenden Exzellenzen an Stelle der dunklen Ehrenmänner, die einst zwischen Meer und Menschenfressern ein herrisches Dasein führten. Aber Fidschi ist noch immer ein gelobtes Land.

Hier endlich ist das sagenhafte Land, wo man einen Spazierstock in die Erde stecken könnte, um ihn zum fruchtbaren Baum ersprießen zu lassen. Wohin man schaut, ist alles ein Chaos der Pflanzenwelt, die im Eifer ihres Wachstums über die Zügel schlägt. Die schleimigen Mangroven am Meeresstrand, die windgepeitschten Kokospalmen, die knorrigen Bäume der Dschungel und die alles überwuchernden Schmarotzerpflanzen, die an ihrem Lebensmark saugen. Es gibt hier Seen, Wasserfälle und große Flüsse, in denen die herrlichsten Fische leben.

Am ehesten ließe sich das Land mit Ceylon vergleichen. Selbst auf der Hauptinsel Viti Levu geht die »Kultur« nicht weit über den engen Umkreis von Suva hinaus. Weiter landeinwärts ist alles Busch und Negerpfade, die von Dorf zu Dorf führen. Ein solches Dorf sieht nicht viel anders aus wie im Barotseland. Die Grashäuser der Häuptlinge sind groß und geräumig wie niedersächsische Bauernhäuser. Im Innern sind sie mit schönen Matten belegt und unter dem Dach sieht man zuweilen viele Grasstreifen dicht nebeneinander. Das war die sinnige Art, mit der man in vergangenen bösen Zeiten Kontrolle geführt hat über die gefressenen Menschen. Fidschi war das Land der Menschenfresser par excellence. Kein anderes Volk hat diese edle Sitte so andauernd und so andächtig betrieben wie die Fidschis. Von einem Häuptling, der sich darin zu einem Gourmand entwickelt hatte, erzählt man sich, daß er als sorgsamer Hausvater zur Kontrolle für jeden gefressenen Menschen einen Stein beiseite legte. Nach seinem Tode zählte man 800 Stück.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Das Christentum und mehr noch die englischen Gewehre haben den alten Adam ausgetrieben. Heute geht der Fidschiinsulaner friedlich seinen Geschäften nach, ein Betrogener, Ausgeplünderter, ein Fremdling fast in seinem eigenen Lande. Nur auf dem Gebiete der Seefahrt haben ihn die zugereisten Mitbewerber noch nicht zu verdrängen vermocht. Wie alle Südseeinsulaner sind die Fidschileute amphibiale Wesen, die auf dem Wasser ebenso zu Hause sind wie auf dem Lande. Kühne, furchtlose Seefahrer, die in ihren Nußschalen von Kanus von Insel zu Insel segeln und auch auf größeren Schiffen im Dienste der »Papalangis« (Weißen) recht brauchbare Matrosen abgeben. Wohl lohnt es sich, einen Tag zu sitzen und zu träumen an der Hafenfront von Suva, wo alle Wunder der Südsee sich ein Stelldichein geben. Der Sonnenschein liegt gleißend auf den weißen Segeln. Das Wasser plätschert leise gegen die grünbewachsenen Molenköpfe. Die Luft ist erfüllt von dem wunderlichen Geruch der Kopra und allenthalben sieht man die mächtigen, muskulösen Gestalten, die die schweren Säcke wie Spielballen handhaben.

Häfen bieten immer ein buntes Bild, selbst wenn sie klein sind wie der von Suva. Aber ein Südseehafen ist ein Ding für sich: lebendig gewordene Romantik aus den süßen Träumen unserer Kindertage, Erfüllung alles dessen, was je uns berauschte in unseren wildesten Wachträumen. Hier könnte man tage-, nein, wochen-, nein, monatelang an der Landungsbrücke sitzen im Kommen und Gehen der Kopraschoner und darüber Zeit und Stunde vergessen, während der Wind mit den Wellen spielt und die großen Segel sich im Wasser spiegeln. Bei Tag die glitzernde Sonne, die schwüle Wucht der Tropengewitter, bei Nacht die klaren, unwahrscheinlich großen Sterne, unter denen die hellen Hafenlichter blitzen. Und immer bei Tag und Nacht die drückende Treibhausluft, die zum Träumen verlockt und die seltsam wunderliche Welt, die von fernen, fremden Ländern erzählt.

Und was brauchte man mehr, um sich als Robinson Crusoe zu fühlen?

Aber so sind die Menschen: wenn es einem irgendwo wirklich gefällt, so ist man am meisten besessen nach dem Anblick anderer Länder, die noch schöner sein sollen.

Und also machte ich mich schon nach acht Tagen auf die Weiterreise nach den benachbarten Tongainseln.

Benachbart ist eigentlich nicht der richtige Name, selbst gemessen an diesem Meer der großen Entfernungen. Zwar lagen da und dort noch andere Inseln am Wege, aber die Entfernung von den Fidschiinseln zu der nächstgelegenen Ostgruppe der Tongainseln beträgt immerhin einige 300 bis 400 Seemeilen. Es war ein Glück, daß der Wind auffrischte, sobald die Flut uns aus der schwülen Landnähe hinausgeführt hatte, denn so traumhaft schön das Reisen auf einem Südseeschoner ist, so muß man sich doch erst daran gewöhnen, denn erstens wird man bei Tag und Nacht gepeinigt von den großen, schwarzen Käfern, die zu einem Kopraschoner gehören wie das Amen zur Predigt, zweitens ist da der seltsam süßliche, dem Neuling zu Kopf steigende Geruch der Ladung und drittens duften die dort angestellten Fidschimatrosen auch nicht nach Rosen.

Mitten in der Nacht kamen wir vor der Hauptinsel Nukualofa an. Ganz plötzlich fiel der Wind. Die See war glatt wie Glas und hob und senkte sich wie unter dem Atem eines Riesen in einer mächtigen Dünung, die unser kleines Fahrzeug wie einen Spielball umherwarf. Ganz in der Nähe hörte man den Donner der Brandung, die gegen die Korallenriffe tobte. Bis zum Morgengrauen drehten wir bei in der hellen Mondnacht, die die Ränder der Wolken versilberte und vor den dunklen Mangrovenstrand einen blendend weißen Streifen zauberte, als ob das Meer dort von Quecksilber wäre.

Ganz plötzlich kam der Tag und die Sonne. Vor uns lag das Land greifbar nahe. Doch ist es nicht leicht, an eine Südseeinsel heranzukommen. Ringsum ist sie gepanzert mit einem Gürtel von vorgelagerten Korallenriffen, gegen die das ewig unruhige Meer in nimmermüdem Anlauf anstürmt. Nur da und dort sind kleine Lücken im Wall, durch die man mit viel Geschick und Kühnheit hindurch laviert, ungefähr so, wie durch die Stromschnellen des Sambesi. Ganz hoch hebt sich plötzlich die Flut. Links und rechts sieht man das Leuchten der todbringenden Korallenriffe im klaren Wasser. Ein paar scharfe Kommandos. Schon ist man in der blauen Lagune, die still wie ein Mühlteich ist. Vor uns lag weit ausgestreckt das flache Land mit dem weißen Strand vor dem palmenbesetzten Ufer. Das ist Tongatabu, die größte Insel der Tongagruppe, bei deren Anblick es uns zum Bewußtsein kommt, daß wir hier in der Tat am Weltende angelangt sind. Kein »Hauch der aufgeregten Zeit« erreicht diese Ufer. Aller Lärm und alles Getue der großen Welt kommt nur gedämpft, wie der Wellenschlag des breiten Meeres, der müde an diesem Strande verebbt.

Insel der Seligen!

Auch beim Näherkommen sieht man nichts als Sand und Palmen, zwischen denen allmählich die weißen Häuser herauskommen. Hinter hohen Norfolktannen, die seltsam fremd und nordisch anmuten in dieser Umwelt, steht ein Haus, das etwas anspruchsvoller als die anderen, doch keineswegs königlich aussieht: der Palast der Königin von Tonga. Nebenan flattert an einem hohen Mast die rote Flagge des freien Landes von Englands Gnaden. Der Hafen Rukualofa ist nicht schlecht, und die Tonganer haben sich seine Herrichtung etwas kosten lassen.

Eine solide zementierte Landungsbrücke gestattet das direkte Anlaufen von Schiffen, die allerdings nur seltene Gäste sind. Einmal im Monat kommt ein Postdampfer mit Briefen und den neuesten Zeitungen aus Neuseeland, und im übrigen ist man angewiesen auf das Kommen und Gehen solcher kleinen Seezigeuner, wie wir es waren und die auch einer ausgiebigen Begrüßung gewärtig sein dürfen, weil man ohnehin sonst nichts zu tun hat in Tonga. Bei unserer Ankunft leuchtete die ganze Landungsbrücke von bunten Lendentüchern und fabelhaften Sonnenschirmen. Im Triumph wurden wir nach dem Strande gebracht, wo die ganze Regierung des Königreichs Tonga sozusagen auf einem Klumpen sitzt. Ein Zaunkönigreich mit wenig Verwaltungsorganen. Die Post, das Zollgebäude, die Finanzverwaltung sind alle in einem Hause untergebracht, das, wenn auch klein, so doch ganz modern eingerichtet ist. Der erste, der mich an Land begrüßte, war ein herkulisch gebauter Schutzmann in Lava-Lava (Lendentuch) und fabelhaft schönem, mit silbernen Knöpfen besetztem Uniformrock, der einmal für ein anderes Klima hergestellt wurde. »Alofa!« sagte er, indem er freundlich grüßend die Hand ausstreckte. – Nichts von Paß, nichts von Zoll, nichts von Quarantäne. Wo sonst ist noch so etwas möglich außer in Tonga?

Ein junger Tonganese begrüßte mich mit einer sehr artigen Verbeugung.

»You my flem?«

Das verstand ich nicht gleich, bis es mir einer verdeutlichte. – Ob ich sein Freund sein wollte?

»Ja«, sagte ich leichtsinnig.

Von diesem Augenblick an betrachtete er mich als sein persönliches Eigentum. Keinen Augenblick ließ er sich abschütteln während meines Aufenthaltes in Rukualofa. Aber er war der beste und hilfsbereiteste aller Ciceronen. In der Hitze des frühen Tages gingen wir durch eine endlos lange, mit sauberem Korallensand gepflasterte Straße, an der hinter Vorgärten kleine Holzhäuser standen, ganz vergraben unter rotem Hibiskus und dunkelvioletten Bougainvilleblumen. Überall standen hohe, windzerzauste Kokospalmen, die mächtigen, breitblätterigen Brotfruchtbäume. Wohin man schaute, wimmelte es von schwarzborstigen Schweinen, die frei auf der Straße herumspazierten; ein kleines Schlaraffenland. Kaum irgendwo aber sah man einen Menschen. Denn es war Sonntag, und der wird in Tonga mit puritanischer Strenge gehalten.

Die Religion ist hier noch das alles durchdringende Element des Daseins. Und es fehlt nicht an Auswahl der Religionen für jeden erdenklichen Geschmack. Jeder religiöse oder auchreligiöse Sonderling, der mit seinen Lehren zu Hause keine Jünger mehr zu erwerben vermag, kommt früher oder später auf die Idee, die Südseeinsulaner zu beglücken. Während des ganzen Sonntags ist es ein ständiges Läuten der Glocken, Singen von Hymnen und ein Getrippel von und zu den Kapellen, von denen es fast so viel wie Einwohner gibt. Vom ersten Morgenstrahl bis zu sinkender Nacht und weit noch bis in diese hinein sitzen sie auf den harten Bänken oder auf dem bloßen Fußboden und ruhen nicht, bis sie das Gesangbuch von hinten bis vorne ausgesungen haben in einer Intonierung, die weniger von musikalischem Gefühl als von heidnischem Temperament zeugt.

Wenn man durch diese Straßen wandert, so hat man den Eindruck, daß hier der Kampf ums Dasein in unserem Sinne ein unbekannter Begriff ist. Die schönen, gesunden Hütten aus Gras und aus Matten sind freilich meist verschwunden und an ihre Stelle trat die traurige Oede des häßlichen englischen Normalholzhauses, das man im australischen Busch ebenso finden kann wie in einer Vorstadt von London und das irgendwo serienweise hergestellt und nach Maß abgeschnitten wird.

Auch der »Palast« der Königin sieht ganz so aus, als ob er eben von London hierher geflogen wäre; ein zweistöckiges Holzhaus, wie es sich jeder pensionierte Bankbeamte in den Vorstädten von Liverpool baut. Nichts Königliches, aber doch ein Wunderwerk für Tonga. Heute lag der Palast sonntäglich still in dem großen, schlecht gehaltenen Garten hinter den hohen Norfolktannen. Auf der Veranda lag ein fettes Schwein, das faul in die Sonne blickte und blinzelnd dem auf und abgehenden Posten nachschaute, als ob er zu seiner persönlichen Bedienung da wäre.

Das alles wirkt, wie schon gesagt, nicht eben königlich, aber das Königreich Tonga ist trotz allem eine Realität. Trotzdem das Land auf der Karte rot angestrichen ist, hat es seine vollständige innere Selbständigkeit bewahrt, ohne britische »Residenten«, die die afrikanischen Schattenkönige und die indischen Radschas bevormunden. Im eigenen Recht nahm das Land seinerzeit die britische Schutzherrschaft an und duldet auch bis heute keine britischen Hoheitszeichen, weder in der Flagge, im Wappen noch auch in den Briefmarken. In Tonga gibt es keine Armut, keine Analphabeten, keinen Landwucher, keine öffentliche Schuld, sondern im Gegenteil ein erhebliches Staatsvermögen, das in neuseeländischen Papieren angelegt ist.

So liegt das Königreich Tonga am fernen Weltende zwischen unendlichen Weiten von Meer und Himmel. Aber es ist nicht alles so christlich, wie es aussieht, trotz der roten Flagge mit dem Kreuz.

Mein neuer Freund erklärt mir diesen Zwiespalt der Natur:

»Sunday all e same missionary; other day all e same tonga man.« Das war Pidgin-EnglischMischsprache besonders der Chinesen im Verkehr mit Ausländern und heißt etwa auf deutsch:

»Es ist genug, daß ein jeder Tag seine eigene Plage habe.«

Wir gingen zum Strande, wo alle versammelt waren zu einem nächtlichen Feste. Junge Männer und Frauen von prachtvoller Gestalt und pechschwarzen, üppigen, gar nicht negerhaft gekräuselten Haaren, die mit roten Hibiskusblüten geschmückt waren. Die hellbraune Hautfarbe schimmerte beinahe weiß im Lichte des Mondes. Aus braunen Gesichtern lachten sie mit Zähnen, die so weiß wie die Brandung waren.

Schon begann der Tanz.

– Aber wer vermochte je mit Worten dem Zauber eines Tanzes in den Mondnächten einer Tongainsel gerecht zu werden? Er ist in vieler Beziehung wie ein Hula-Hula der Eskimos, er hat ganz den mitreißenden Rhythmus der Negertänze, aber es ist alles so viel süßer und einschmeichelnder, keine Bewegung ohne Eleganz, keine Miene ohne Zweck, bald lockend und gurrend, bald feierlich gemessen oder wild aufbrausend zu phantastischen Kriegstänzen. Würde man solche Truppe nach Europa bringen, so könnte man damit das Geld in Scheffeln heimsen in den Varietés unserer großen Städte. Und doch fehlte alles, was diesem hier den Hintergrund gibt: die Schwüle der Tropen, der Wind in den Palmkronen und der Zauber des mondbeschienenen Meeres.

Wenn Südseeinsulaner einmal angefangen haben zu tanzen, so finden sie so schnell kein Ende.

Bis zum frühen Morgen dauerte das Hula-Hula. Ich aber ging lange am Strande und sah das Wasser, das leise murmelnd den weißen Sand bespülte, und sah die hohen Palmen und hörte auf den Wind, dessen Stimme sich mit dem Donner der fernen Brandung mischte.

Mir war, als ob ein Zauberer mich weit hinweggetragen hätte aus dem nüchternen Dasein in eine Welt der Unwirklichkeiten. Der Mond zog silberne Straßen in das nachtschwarze Meer. Immer kräftiger rauschte der Wind in den Palmkronen. Nachtvögel kreischten in den nahen Mangrovebüschen. Das Wasser lärmte lauter am weißen Sand. –

Der Strand, der Wind und das Meer. – Das sind die drei Dinge, die hier alles beherrschen und alles verklären wie der milde Mond über dem Wasser: das Land, das Meer, die Menschen und alle menschlichen Schwächen und Gebrechen und selbst das Schwein, das auf der königlichen Veranda schlief.

Es ist wirklich eine Insel der Seligen!

 


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