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In der Großen Johannisstraße, der Börse und dem neuen Rathhaus gegenüber, befindet sich die Buchhandlung von Johannes Roth u. Co., eine der ältesten Buchhandlungen Hamburgs. Von außen sieht man der Handlung ihr Alter nicht an. Das Haus, in dessen Parterrelokalitäten, rechts der Diele, schon über ein halbes Jahrhundert ein bücherkaufendes Publikum ein- und ausgeht, war seit kurzem neu angestrichen worden.
Ungern hatte Justus Mieck, der jetzige Inhaber der Buchhandlung, in diese Neuerung gewilligt. Das alte verwaschene Schild, das alte schmutzige Kleid des Hauses waren ihm im Laufe von vierzig Jahren lieb geworden. Sein Laden kam ihm von außen jetzt so fremd vor.
Um seinen Kummer über diese äußere Veränderung der Firma Roth u. Co. zu erhöhen, 6 mußte auch im Innern eine Neuerung vor sich gehen, ein Gehilfenwechsel. Sein langjähriger Mitarbeiter war einem plötzlichen Krankheitsanfall erlegen. Seine Stelle nahm jetzt der Sohn eines Kollegen und früheren Freundes ein, ein junger Mann von hübschem Aeußern und weltmännischen Manieren. Da Justus Mieck sonst mit seinem Gehilfen durchaus zufrieden sein konnte, ertrug er dessen ein wenig vordringliche Höflichkeit, die ja eigentlich nur seinen persönlichen Gefühlen zu nahe trat, dem Publikum gegenüber aber als eine seinem Verkäufer wohlanstehende Eigenschaft von Vorteil war.
Noch einen andern Grund hatte Justus Mieck, seine kleinen Einwände gegen Herrn Kunkel zu unterdrücken. Klemens Kunkel war der einzige Erbe einer angesehenen Berliner Buchhandlung und Justus Mieck der Vater einer einzigen bis dato leider noch immer sehr wenig angesehenen Tochter. Fräulein Maria Mieck war zweiundzwanzig Jahre alt und Herr Klemens Kunkel siebenundzwanzig. Der Jahresunterschied war 7 somit kein Hinderungsgrund. Herr Mieck war zweiunddreißig und seine Mathilde achtundzwanzig, als sie sich verheirateten. Er hatte auch die Tochter seines Prinzipals zur Frau genommen und hatte ebenfalls, das durfte er sich eingestehen, nur durch seine feinen, weltmännischen Manieren Eindruck auf das Herz der einzigen Erbin der Firma Roth u. Co. gemacht. Fünfzehnjährig war er als Lehrling in die Handlung eingetreten und hatte ihr ununterbrochen in treuer Pflichterfüllung gedient.
Der kleine Mann mit dem stark ergrauten Krauskopf, dem länglichen, bartlosen Gesicht, dem das vorgeschobene Kinn und die große Nase etwas Schnüffelndes gaben, zählte jetzt fünfundfünfzig Jahre. Er spürte zwar noch keine Abnahme seiner Kräfte, aber die Augen wollten nicht mehr ohne Brille ihren Dienst versehen, und mit diesem ersten leisen Anzeichen des nahenden Alters meldeten sich auch häufiger die Gedanken, was nach ihm aus dem Geschäft werden würde, da er ohne männlichen Erben war. 8
In diesen Sorgen um die Zukunft seiner Tochter und die seines Geschäftes hatte Justus Mieck auch ein Auge auf Herrn Klemens Kunkel geworfen, der ja beides sicherstellen konnte. Dieser ahnte freilich noch nicht, was Herr Mieck mit ihm vorhatte. In dem halben Jahr, seitdem er in der Mieckschen Familie verkehrte, die einem alten Herkommen nach ihre Gehilfen regelmäßig zur Sonntagsmittagstafel zog, hatte er auch nicht einmal den Gedanken gefaßt, Fräulein Maria könnte eine Frau für ihn sein. Diese sonntäglichen Mittagsbesuche mit ihren »gebildeten« Tischgesprächen waren ihm überhaupt mit der Zeit mehr eine Strafe als eine Auszeichnung geworden. So war er denn froh, für diese sonntäglichen »Strafverschärfungen«, wie er es nannte einen Leidensgenossen, einen »Mitsträfling« erhalten zu sollen. Justus Mieck hatte sich nach langem Ueberlegen entschlossen, einen Lehrling anzunehmen.
Um diesen jungen Mann bei seinem Antritt persönlich zu empfangen, war der alte Herr am 9 Mittwoch nach dem Osterfest eine ganze Stunde früher ins Geschäft gekommen, wodurch er sich die stille Mißbilligung seines Gehilfen zugezogen hatte.
Herr Mieck hatte gerade seinen schwarzen, etwas bestaubten Gehrock mit einem bequemen, grauen Geschäftskleid vertauscht, als sich der Erwartete pünktlich einstellte. Eine sehr korpulente, ältere Frau mit einem weiß und schwarz karierten Umschlagtuch, einem vormodischen Kapotthut mit nickender, gelber Feder und einem etwas verschossenen, schwarzgrünen Regenschirm in der mit schwarzem Zwirnhandschuh bekleideten Hand zwängte sich durch die ziemlich schmale Ladentür. Erst als sie eingetreten war, wurde hinter ihr ein schmächtiger blasser Junge in langschößigem Konfirmationsrock sichtbar.
»Hier bring' ich ihn,« sagte sie, ohne sich weiter auf zeremonielle Begrüßung einzulassen, mit mütterlichem Stolz und freudestrahlendem Gesicht. 10
Herr Mieck rückte mit beiden Daumen und Zeigefingern seine goldene Brille zurecht und gab dann dem schüchtern dastehenden jungen Mann die Hand.
»Seien Sie mir willkommen, Herr Leidig.«
»Freude will er Sie machen, das hat er mich versprochen,« sagte die Mutter. »Und er is ja auch ümmer 'n gutes Kind gewesen.«
Justus Mieck wandte sich an den jungen Mann.
»Wollen Sie nur inzwischen ablegen, lieber Leidig, der Hausknecht wird Ihnen zeigen, wo.«
»Jawohl,« erwiderte Adolf mit so höflicher und devoter Betonung und Dehnung der letzten Silbe, daß es ihm selbst auffiel.
Frau Leidig stellte, während Adolf ablegte, Vergleiche an zwischen dem eleganten Gehilfen und dem schlichten Prinzipal, die natürlich zu gunsten Justus Miecks ausfielen.
»Sein Sie man 'n büschen streng mit ihm, daß er ordentlich was lernt. Ich bin man 'ne 11 einfache Frau,« sprach Mutter Leidig weiter. »Aber ich hab' meine beiden Kinder ordentlich erzogen. Das is das Beste, was man sie mitgeben kann.«
»Da haben Sie recht, liebe Frau Leidig. Sie haben also noch einen Sohn oder –«
»Ein Mädchen,« unterbrach sie ihn. »Meine Helene, auch 'n gutes Kind. Gut sind sie beide.«
Mit Stolz nahm Frau Leidig sodann von ihrem Adolf Abschied, der ihr über den Ladentisch herüber die Hand reichte.
»Nun paß auch man recht auf, mein Sohn, was dein Herr dich sagt und mach' mir Ehre. Adieu, Herr Mieck, sein Sie man recht streng mit ihm.«
»Adieu, Frau Leidig, ich hoffe, Ihr Sohn wird gern bei uns sein und noch einmal ein tüchtiger Buchhändler werden.«
Er schüttelte der guten Frau kräftig die Hand. Herr Kunkel erwiderte ihre etwas zurückhaltende Kopfneigung mit einer sehr schnellen und sehr 12 tiefen Verbeugung, und Adolf wurde sehr rot und sagte gar nichts. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
* * *
Frau Leidig, glücklich, ihren Adolf bei seinem Prinzipal abgeliefert zu haben, hatte zehn Pfennig Pferdebahngeld daran gewandt, um schnell wieder zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Am Mittwoch hatte sie immer die gewaschenen, noch feuchten, zusammengeknüllten Tüllstreifen der auseinandergetrennten Mädchenmützen zu zupfen und zu glätten, damit sie rechtzeitig an eine andere Frau geliefert werden konnten, die im Besitz einer für Frau Leidigs Verhältnisse zu kostspieligen Maschine zum Falten und Tollen dieser Streifen war.
Der Weg in die Stadt hatte die wohlbeleibte Frau etwas angegriffen. Sie hatte den Hinweg, um den »Jung« nicht zu verwöhnen, zu Fuß 13 gemacht. Nun war sie vor der Zeit hungrig geworden und hatte sich ihr Frühstück früher als sonst bereitet. Sie trocknete sich die Finger, schob das Faß mit dem Tüll zurück und wollte sich's gerade recht behaglich beim Essen machen, als leise an die Tür geklopft wurde.
»Herein!« rief sie, den ersten Bissen im Munde. Aber es trat niemand ein. Statt dessen wurde noch einmal geklopft.
Sie legte das Butterbrot auf den Teller zurück, leckte ihre etwas eingefetteten Finger ab und öffnete.
»Sie, Herr Schmüser? Bitte, treten Sie doch näher.«
Ein kleiner, kaum mittelgroßer Mann von vielleicht dreißig Jahren, mit glattem, fettem Gesicht, trat ein. Er hatte die kurzen, dicken Glieder in einen schwarzen Leibrock gezwängt, der ihm etwas Komisch-Feierliches verlieh. Die wasserblauen, hervorstehenden Augen sahen im Zimmer umher, als wollten sie sich vergewissern, ob noch werterer Besuch anwesend sei. Der etwas große 14 Kopf mit den weißblonden, ölgetränkten und glatt nach hinten gekämmten Haaren saß auf einem kurzen, fetten Hals. Der Besucher kam ohne Hut, da er im gleichen Hause, in dem Frau Leidig wohnte, eine Fettwarenhandlung betrieb und also nur die Treppe hinaufgegangen war.
»Störe doch nich, Frau Leidig?« fragte er mit einer hellen, etwas verschleierten Stimme.
»Nein, bitte, Herr Schmüser, womit kann ich dienen? Woll'n Sie nich Platz nehmen?«
»Danke.«
Er setzte sich auf den nächsten Stuhl.
»Mal schönes Wetter heut', Herr Schmüser.«
»Ja, wenn es so bleibt, wird es recht schön.«
»Das wird es, jawoll. Sie sünd auch woll all 'n büschen ausgewesen?«
Herr Schmüser grinste nur etwas.
»Unsereins kann ja nich ümmer so weg. Da leidet denn gleich das Geschäft unter,« meinte er.
»Aber Sie haben sich ja so fein gemacht,« rief Mutter Leidig aus. »Das seh ich ja jetzt erst. Sie woll'n ja woll Hochzeit geben?« 15
Herr Schmüser wurde sehr rot.
»Ja, Frau Leidig, wenn Sie mich das nich übelnehmen wollen,« sagte er entschlossen. »Ihre Lene! – Sehen Sie, ich kenn ihr ja nu schon so lange.« Er zeigte mit der Hand, wie klein er seine Auserwählte schon gekannt hatte. »Nu is sie ja recht staatsch geworden und ich hab' mich ümmer gedacht, das is nix für dich, die nimmt dir nich. Aber wenn ich ihr dann wieder so seh, wie heute morgen, als sie den grünen Käse bei mich kaufte, denn –«
Hier stockte er. Frau Leidig hatte begriffen.
»Ja, lieber Herr Schmüser,« sagte sie etwas stockend, »das is ja allens recht schön un 'ne große Ehre für mich und auch für meine Lene. Aber sehen Sie, wir müssen ihr am Ende ja doch erst man mal vor allem selber fragen, sie is ja doch die Nächste dazu. Haben Sie ihr denn schon mal angefragt?«
»Das könnt' ich nich, Frau Leidig, nich um allens in der Welt. Wenn sie nun Nein sagt?«
»Ja, denn gibt es ja noch so viele Mächens 16 in der Welt, die alle froh sind, wenn sie 'n guten Mann kriegen. Das lassen Sie sich man nich anfechten. Aber ich will Sie was sagen. Ich will mit mein Tochter sprechen, und denn warten Sie man 'n paar Tage. Denn seh'n wir ja, was sie sagt.«
Herr Schmüser reckte sich sichtlich erleichtert und schlenkerte mit der Hand.
»Wenn Sie so gut sein woll'n, dann bin ich Sie sehr dankbar, Frau Leidig.«
»Verlassen Sie sich darauf, Herr Schmüser, und sein Sie nu man ganz ruhig.«
Sie reichte ihm die Hand und klopfte ihm gutmütig auf die Schulter. 17
* * *
Helene Leidig war erste Verkäuferin bei der Firma Burmeister u. Masch, die in der Nähe der Rothschen Buchhandlung ein Damenmäntel-Geschäft betrieb. Das hübsche und anstellige Mädchen hatte wohl schon manchem gefallen, ehe Herr Schmüser ihr sein Interesse zuwandte. Da Helene sicher war, daß sie noch einmal einen Bräutigam, wie ihn ihr Herz sich wünschte, finden würde, nahm sie, als sie abends nach Hause kam und Mutter Leidig ihr die große Neuigkeit erzählte, die Nachricht von Schmüsers Antrag zunächst mit lautem Lachen auf.
Aber bei nüchternem Bedenken verging ihr der Humor, und sie fand es empörend, daß dieser Mensch, dieser »Käsekrämer«, diese »Fettwurst« sich einredete, sie könne ihn zum Manne nehmen.
Mutter Leidig kam es ja selbst ungeheuerlich 18 vor, daß Willy Schmüser sich hatte einreden können, ihre Lene würde ihn nehmen. Aber wissen mußte er ja schließlich, woran er war. So kam sie denn kurz entschlossen am andern Morgen zu Herrn Schmüser hinabgestiegen, der im Keller, unter ihrer Parterrewohnung, ein einträgliches Fettwaren- und Delikatessengeschäft betrieb.
Der Lehrling war allein im Laden, und da sie seinen Herrn selbst unter vier Augen zu sprechen wünschte, wies er sie ins Privatzimmer, wo Herr Schmüser frühstückte. Er saß auf einem niedrigen, sehr abgenutzten, grünen Plüschsofa, das er irgendwo auf der Auktion erstanden hatte, wie das ganze spärliche, bunt zusammengewürfelte Meublement seines Wohnzimmers. Vor ihm auf dem runden Tisch, über dem eine rot und blau gemusterte, mit Kaffeeflecken verunreinigte Decke gebreitet war, stand eine angeschänkte Flasche Lagerbier, Butter, Brot und eine große Bauernwurst.
Er hatte es sich möglichst bequem gemacht. Er war in Hemdsärmeln, den kurzen, dicken Hals 19 hatte er von jeder Einengung befreit und den etwas gelbgeränderten Papierkragen und den kleinen, schwarzen Knotenschlips auf die Fensterbank gelegt.
Schmüser, der ahnte, weshalb Frau Leidig kam, bot ihr stumm einen Stuhl, da er durch das Kauen am Sprechen verhindert war.
»Ja, Herr Schmüser,« sagte Mutter Leidig ohne lange Umschweife, »ich muß Sie leider auch 'n kleines Butterbrot bringen. Ich hab' mit mein Tochter gesprochen und sie will nich.«
Schmüser griff hastig nach dem Bierglas, spülte den letzten Bissen hinunter und trat ans Fenster. Der alten Frau den Rücken kehrend, sah er auf die Straße hinauf, wo sich gerade vor seinem Fenster zwei ruppige Sperlinge um eine Brotrinde balgten.
»Es tut mich selbst sehr leid,« sagte Frau Leidig.
»Ja, mich auch,« sagte Schmüser ganz niedergeschlagen und wandte sich um. »Zwingen kann ich ihr ja nich.« 20
Als Frau Leidig gegangen war, saß er eine ganze Weile in der Sofaecke und brütete vor sich hin. Mechanisch langte er dann wieder nach dem Butterbrot.
* * *
Helene schwankte währenddessen im Geschäft, ob sie ihren Kolleginnen von dem lächerlichen Antrag erzählen sollte oder lieber schwiege. Es prickelte sie, die Geschichte zum besten zu geben, aber ihre Eitelkeit siegte zuletzt. Sie schämte sich doch dieses Verehrers zu sehr.
»Dieses Unglückswurm!« Es war zu lächerlich. Nein, der sie haben wollte, müßte denn doch noch etwas anders aussehen. Vor allem müßte er groß und schlank sein, und hübsch. Blond oder schwarz war ihr gleich, Sie hatte kein bestimmtes Ideal. Aber da war zum Beispiel Adolfs Kollege, der junge Mann mit dem aufgewirbelten, blonden Schnurrbart, dessen Kopf sie oft beim 21 Vorübergehen im Schaufenster der Buchhandlung gesehen hatte, wenn er ein neues Buch hineinlegte oder eins zum Verkauf herausnahm. Der gefiel ihr, der hatte Eindruck auf sie gemacht. Nicht mehr als hundert andere auch. Aber er war ihr gerade heute morgen eingefallen, als sie bei Roth u. Co. vorbeiging, noch immer nicht beruhigt über Schmüsers Frechheit und mit dem Gedanken beschäftigt, wann wohl mal ein anderer kommen würde, und wen sie wohl einmal kriegen würde.
* * *
Einige Tage später saß Herr Kunkel auf dem hohen Schreibbock des Prinzipals und sah den Werkleuten drüben beim Rathausbau zu oder musterte durch eine freie Spalte in der Schaufensterauslage die Vorübergehenden, als Helene gerade vor dem Fenster stehenblieb, anscheinend mit einem Entschluß kämpfend. Sie konnte ihn 22 von draußen nicht sehen, er aber konnte sie von seinem verdeckten Sitz aus gut beobachten.
Das war ja die Kleine wieder, die er häufig vorbeigehen sah, und die irgendwo in der Nähe im Geschäft sein mußte. Hübsches Mädel. Was sie nur haben mag?
Gleich darauf klingelte die Ladentür und Helene trat ein.
»Guten Morgen. Ach, entschuldigen Sie, ist mein Bruder wohl zu sprechen?«
Kunkel war aufgesprungen.
»Ah, Fräulein Leidig, wenn ich nicht irre? Sehr erfreut! Ihr Herr Bruder wird sofort kommen.«
Absichtlich kam er noch einmal zurück und schob ihr einen Stuhl hin. »Ich werde sogleich Ihren Bruder rufen lassen, bitte, nehmen Sie nur so lange Platz. Sind Sie auch schon so früh unterwegs? Geschäft, wenn ich fragen darf?«
Helene, die anfangs nicht ganz unbefangen war, hatte schnell ihre Gewandtheit wiedergewonnen. Sie merkte wohl, daß er sich absichtlich 23 langer mit ihr zu schaffen machte, und empfand nach der Schmüserschen Kränkung ihrer Eitelkeit seine Aufmerksamkeiten als doppelt wohltuend.
Sie stand ihm unbefangen Rede, erzählte, daß sie bei Burmeister u. Masch im Geschäft sei, was er übrigens schon von Adolf wußte, und daß sie täglich viermal hier vorbeiginge.
»Ich erinnere mich; o gewiß, gnädiges Fräulein, ich sehe Sie häufig. Um so angenehmer, nun auch Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen.«
Herr Kunkel wurde immer liebenswürdiger und Helene immer entzückter von ihm. »Aber ich vergesse ganz. Entschuldigen Sie einen Augenblick, liebes Fräulein.«
Er ging einige Schritte nach hinten und rief nach Adolf.
Adolf war überrascht, Helene zu sehen.
»Nanu, was willst denn du?« fragte er ziemlich burschikos, ohne weitere Begrüßung, aus dem unwillkürlichen Drang heraus, Herrn Kunkel 24 gegenüber eine männliche Ueberlegenheit über die Schwester herauszukehren.
»Du hast Dein Butterbrot vergessen, mein Jung,« belehrte ihn Helene und zog aus ihrer Manteltasche ein kleines Paket, dessen fettige Hülle, eine »Fremdenblatt«-Beilage, den Inhalt schon verriet.
Adolf wurde flammend rot.
»Ach so, weiter nichts? Deswegen brauchtest du auch nicht zu kommen,« stieß er heraus. In dem Bestreben, seine Verlegenheit zu bemänteln, wurde er ungezogen.
»Ihr Herr Bruder ist so fleißig, daß er essen und trinken vergißt,« scherzte Herr Kunkel. »Na, bleiben Sie doch, wo brennt's denn?« hielt er Adolf zurück, der sich entfernen wollte.
Alle drei lachten gezwungen.
Helene erhob sich, sie hatte Eile und verabschiedete sich. Sie ging mit dem Bewußtsein, Eindruck gemacht zu haben. Herr Kunkel zog sich an sein Pult zurück. 25
Famoser Käfer – dachte er –, den mußt du näher kennenlernen.
* * *
Adolf sollte zum erstenmal in die Familie seines Prinzipals eingeführt werden. Miecks speisten Sonntags um zwei Uhr. Von acht bis ein Uhr war das Geschäft geöffnet; es wurden in diesen Stunden die mit dem Sonnabendsballen von dem Leipziger Kommissionär gekommenen Journale, Zeitungen und Lieferungen an die Kunden expediert. Herr Mieck selbst kam am Sonntag selten ins Geschäft. Die Post brachte ihm Christian, mit der »Gartenlaube« und dem »Bazar« für seine Damen und den Blättern, die er selbst las.
Herr Kunkel war seit der Begegnung mit Helenen Adolf gegenüber von gewinnender Liebenswürdigkeit. Er behandelte ihn kameradschaftlich und hatte ihn sogar zu heute nachmittag, 26 »wenn die Abfütterung beim Alten vorüber wäre«, zu einem Glas Bier eingeladen. Sie wollten den Abend angenehm verbringen.
Adolf war voller Erwartung und Erregung. Erst die Mittagstafel beim Chef, dann ein Nachmittag mit Herrn Kunkel, als Kollege mit dem Kollegen. Er fühlte sich zum erstenmal als Erwachsener, als Herr Adolf Leidig, Mitarbeiter der Firma Roth u. Co,
So bestieg denn Adolf mit allerlei unbestimmten Vorstellungen von großartigem Amüsement mit Herrn Kunkel um halb zwei Uhr auf dem Rathausmarkt die Hammer Straßenbahn, um sich zu Miecks zu begeben. Diese bewohnten in Borgfelde am Mittelweg, der an der Ecke der Alfredstraße gelegenen Kapelle gegenüber, ein hübsches einstöckiges Häuschen mit einem kleinen Hintergarten.
Herr Kunkel kannte das Haus bis zur Dachkammer. Auch Adolf mußte, nach der Begrüßung der beiden Damen, unter Herrn Miecks Führung sämtliche Räume in Augenschein nehmen und 27 pflichtschuldigst bewundern. Selbst in Fräulein Marias Stube wurde ihm ein flüchtiger Blick vergönnt.
Fräulein Maria selbst, die ihnen bei ihrem Eintritt ins Haus die Tür geöffnet hatte, hatte er in seiner Verlegenheit kaum recht gesehen. Ihm war nur ihre blendend weiße, gestickte und mit Spitzen besetzte Küchenschürze aufgefallen. Sie war auch sofort wieder verschwunden, als Papa Mieck kam, seine beiden Gehilfen zu begrüßen.
Nun konnte er sie bei Tisch um so ungestörter betrachten, da sie ihm gerade gegenüber saß. Maria Mieck war nicht schön. Sie hatte die große, hagere Gestalt der Mutter und war über die erste Jugendblüte hinaus. Ihr Teint war gelblichblaß, die Nase klein, an der Spitze mit einer leichten kugeligen Anschwellung. Der große Mund mit den schmalen Lippen zeigte beim Sprechen eine tadellose Reihe schöner weißer, nur etwas großer Zähne. Das aschblonde, etwas gekräuselte Haar war hinten zu einem schlichten Knoten aufgesteckt. Einzelne kleine Löckchen 28 hingen in die niedrige Stirne, unter der die blaßblauen Augen sanft und unschuldig in die Welt sahen.
Frau Mieck war ganz das ältere Ebenbild der Tochter, nur einen halben Kopf größer. Sie hielt sich trotz ihrer Länge sehr steif und würdevoll und ließ es auch Maria gegenüber nicht an lauten und versteckten Ermahnungen fehlen, sich gerade zu halten.
Die Unterhaltung war zwanglos. Herr Kunkel war überaus gesprächig, vielleicht in der Absicht, Adolf zu zeigen, wie sehr er sich hier zu Hause betrachten durfte. Frau Mieck sprach von ihrem Eingemachten und fragte Adolf, ob seine Mutter auch viel eingemacht hätte, worauf sie von Herrn Mieck einen verweisenden, vorwurfsvollen Blick und von Adolf ein verlegenes Nein erntete. Herr Kunkel schwärmte dann für Eingemachtes, gerade für diese Art, wie Frau Mieck ihre Früchte einmache, worauf Fräulein Maria Adolf ganz unvermittelt fragte, ob er auch musikalisch sei. 29
Auch das mußte Adolf verneinen. Herr Kunkel unterhielt sich mit Fräulein Maria über Chopin, obgleich er nichts von Musik verstand.
Justus Mieck beteiligte sich nur mit gelegentlichen Zwischenbemerkungen an der Unterhaltung. Bei Tisch sprach er nicht gern. Er war dann immer sehr beschäftigt.
Nach dem Essen ruhte Herr Kunkel nicht, bis Fräulein Maria ans Klavier ging und ein Musikstück zum besten gab.
»Aber nicht so etwas Ernstes, Mimi,« bedeutete Frau Mieck. Ihr Mann war nicht dafür.
Adolf war entzückt. Er hörte mit offenem Munde zu. Er hatte nie so Klavier spielen hören, hatte nie ein Konzert besucht.
Herr Mieck, der befürchtete, es könne noch ein Musikstück geben, führte die Herren in den Garten. Er war nicht für das viele Geklimper, namentlich nicht nach dem Essen.
Nach pflichtschuldiger Bewunderung des kleinen Gartens, wo gerade die ersten Krokus und 30 Schneeglöckchen zum Vorschein kamen, nahm man in der Veranda noch stehend eine Tasse Kaffee. Dann verabschiedeten sich Herr Kunkel und Adolf.
* * *
Kunkel, dem es schon leid getan hatte, sich für den ganzen Abend an diesen »grünen Jungen« gebunden zu haben, war im Augenblick ratlos, was er jetzt mit ihm unternehmen sollte. Er schlug einen Spaziergang längs der Bille vor: nach der »Blauen Brücke«.
Es war ein sehr schöner Märztag, einer der frühen Sommertage, die sich in diesem Monat einzustellen pflegen. Die Luft war ruhig und fast warm. Einzelne Sträucher waren schon grün, besonders die Syringenbüsche schlugen üppig aus.
Eine große Menge Spaziergänger belebte die Straße, die Straßenbahnwagen waren dicht besetzt. An der Endstation in Horn liegt eine große 31 Gartenwirtschaft mit Tanzsalon: »Zum letzten Heller«. Hier ist jeden Sonntag Tanz und Volksbelustigung, hierher flutete die große Menge.
Etwas weiter, einige Schritte über dieses Etablissement hinaus, biegt nach rechts ein schmaler Steindamm ab, der zwischen alten Weiden an die Bille hinunterführt. Die sich über das schmale Flüßchen wölbende Brücke trägt den Namen »Blaue Brücke«, der sich auch allmählich im Mund der Leute auf das am jenseitigen Ufer gelegene große Gartenetablissement übertragen hat, das eigentlich »Billwärder Park« heißt.
Hierher wollte Kunkel, weil das Publikum hier nicht so »gemischt« sei.
Er hatte während des Spazierganges allmählich seine gute Laune wiedergefunden. Der Anblick der vielen sonntäglich geputzten Mädchen aus dem Volke, meistens aus dem dienenden Stande oder Fabrikarbeiterinnen, Schneiderinnen und Ladenmädchen, die ihr Sonntagsvergnügen auf dem Tanzboden im »Letzten 32 Heller« suchen wollten, hatte ihn in Stimmung versetzt.
Eine kleine Gesellschaft beiderlei Geschlechts kam etwas lärmend in den Garten, junge Leute niederen Standes ihrem Gebaren nach. Vier noch sehr junge, kräftige Burschen im Rudersportkostüm, mit weiß und blau gestreiften Mützen, die sie weit in den Nacken geschoben hatten, und mit erhitzten Gesichtern, gingen voraus. Ihnen folgten zwei Zivilisten und drei junge Frauenzimmer in auffallendem Sonntagsstaat. Sie zogen ungeniert durch den Garten und kamen auf der Suche nach einem Platz auch in die Nähe der beiden Buchhändler. Plötzlich zog Adolf den Hut. Neun Köpfe wandten sich dem Grüßenden zu und einer der Zivilisten, ein kleiner, dicker Mann, der Aelteste von allen, der eines der Mädchen am Arm führte, grüßte zurück, worauf die anderen nachlässig an ihre Kopfbedeckung griffen und tuschelnd die Köpfe zusammensteckten.
»Wer war denn das?« fragte Kunkel etwas 33 indigniert über die Bekanntschaft seines Genossen.
»Ach, ein Herr Schmüser,« gab Adolf Auskunft. »Er wohnt bei uns im Hause. 'ne Delikatessenhandlung, mehr so'n Käsegeschäft.«
»Schmüser? So sah er auch aus,« meinte Kunkel. »Der Mann kann nur Schmüser heißen. Und wer waren die Damen?«
Er betonte die »Damen« sehr maliziös. Adolf kannte sie nicht. »Nette Pflanzen,« spottete Kunkel.
Nach einigen Minuten kam eine zweite, ähnliche Gesellschaft, ein ganzer Ruderklub mit seinen Damen, pfeifend, singend, in heiterster Stimmung.
»Nun wird's gut,« rief Kunkel, verfolgte aber aufmerksam den kleinen Zug der aus zwölf Paaren hestehenden Gesellschaft; es waren hübsche Mädchen darunter.
»Adolf!« rief plötzlich eine weibliche Stimme.
Adolf schrak zusammen, und Kunkel sah ihn verdutzt an. Ein junges Mädchen hatte sich von 34 dem Arm ihres Begleiters losgemacht und war einige Schritte auf den Tisch der beiden jungen Leute zugeeilt, dann aber einen Augenblick verlegen stehengeblieben. Jetzt kam sie zögernd näher. Es war, wie Adolf zu seiner Ueberraschung sah, Helene. Er ging ihr entgegen; Kunkel, der nun auch die Schwester seines Begleiters erkannte, folgte ihm.
Helene war von einer Freundin, deren Bruder diesem Ruderklub angehörte, unerwartet zu dieser Ausfahrt abgeholt worden. Man fand dieses Zusammentreffen doch »zu drollig«, und namentlich Kunkel konnte nicht genug versichern, wie angenehm es ihm sei.
Helenes Begleiter, der etwas abseits stehengeblieben war, und dem die Unterhaltung zu lange dauerte, näherte sich unentschlossen.
Helene winkte ihn heran.
»Darf ich die Herren bekanntmachen? Herr Möller, Herr Kunkel, mein Bruder.«
Herr Möller machte nicht viel Umstände. Er lud die Herren ein, sie sollten sich mit an den 35 gemeinsamen Tisch der Gesellschaft setzen, Kunkel nahm an.
Eifersüchtig schien dieser Herr Möller nicht zu sein, denn er ließ es ruhig geschehen, daß Helene sich an Herrn Kunkels Seite hielt, als sie sich, langsam vorwärtsschlendernd, der anderen Gesellschaft anschlossen. Diese empfing die beiden neuen Gäste lärmend, ohne ein besonderes Zeichen, ob ihr dieser Zuwachs angenehm sei oder nicht. Man hatte einige Tische zusammengerückt und die vier Nachzügler fanden noch so eben einen Platz an einer unteren Ecke.
Oben, am anderen Ende, saß Willy Schmüser mit seiner Dame, einer gewöhnlich aussehenden Person, deren rotes, volles Gesicht an Küche und Kochherd erinnerte.
Er gewahrte Helene früher, als sie ihn. Beide hatten keine Ahnung, daß sie sich hier treffen würden; Helene wurde überhaupt erst von Adolf aufmerksam gemacht. Als sie Schmüser erkannte, war ihr einziger Gedanke: ›Wie kommst du wieder hier weg?‹, während sie sich mit 36 krampfhafter Lebendigkeit mit Herrn Kunkel unterhielt, dem ihre Aufgeregtheit endlich doch auffiel.
Sie rieb sich nervös die Finger, betupfte alle Augenblicke ihre Stirn mit dem Taschentuch und fächelte sich Kühlung zu. Da sie so eng saßen, daß es ihr unmöglich war, noch den Stuhl zu rücken, war sie gezwungen, wenn sie Schmüsers Blicken ausweichen wollte, gerade vor sich in den Schoß zu sehen oder sich ihrem Nachbar zuzuwenden. So saß sie beständig mit einer halben Kopfwendung Herrn Kunkel zugewandt, der ihr seltsames Gebaren anfangs auf Rechnung seines persönlichen Zaubers setzte, bis er dahinter kam, daß hier andere Ursachen mitsprächen.
Da mußte jemand in der Gesellschaft sein, dessen Anwesenheit ihr peinlich war. Vielleicht ein Verhältnis, ein Zerwürfnis, dachte er. Eine kleine Affäre von vorgestern, die heute geniert. Diese Meinung setzte sich bei ihm fest, und er war überzeugt, daß Helene nicht mehr »so ohne« wäre. Um so besser. Um so leichteres Spiel würde er mit ihr haben. 37
Und er begann gleich, sein Benehmen ihr gegenüber nach seiner neuen Erkenntnis umzumodeln. Seine Reden wurden vertraulicher, seine Scherze gewagter, so daß Helene nun auch von dieser Seite her in Verwirrung gebracht wurde.
Willy Schmüser beobachtete die beiden mit grenzenloser Eifersucht. Er goß ein Glas Bier nach dem andern hinunter, bis er in eine wilde Seligkeit geraten war, seine Nachbarin um die Taille faßte, daß sie aufkreischte, mit dem Seidel umherfuhr, daß die Nächstsitzenden fürchteten, begossen zu werden, und allerlei Possen trieb. Auf einmal wurde er stiller. Die Hände um sein Seidel gefaltet, lächelte er stillvergnügt vor sich hin.
»Was wir lieben,« lallte er und hob sein Glas. »Was wir lieben, Fräulein Leidig,« rief er über den Tisch und ließ mit schwerem Aufschlag das Glas wieder sinken.
Alles wieherte vor Vergnügen.
»Willy is duhn. Prost Willy. Prost Fräulein Leidig. Lene soll leben!« 38
So schrien und johlten sie durcheinander. Helene hätte vor Scham versinken mögen. Sie verlor alle Besinnung, und statt die Situation mit einem Scherz zu beherrschen, fing sie vor Wut und Scham an zu weinen. Dann sprang sie auf und stieß den Stuhl wie ein eigensinniges Kind von sich.
»Hier bleib' ich nicht länger«, schluchzte sie. »Das ist ja empörend. Er ist ja duhn, der Kerl!«
Da niemand in der Gesellschaft eine Ahnung von dem hatte, was zwischen ihr und Schmüser vorgefallen, konnte man sich ihr Gebaren nicht erklären. Kunkel war ebenso überrascht als peinlich berührt.
»Wie albern«, »Nu weine man nich«, »Gott, was 'n Anstellerei«, »Er ist ja doch man duhn«, so schwirrte es durcheinander.
Bertha Möller kam, die Freundin zu trösten, und Willy Schmüser, von seinen Freunden in der besten Absicht, Frieden zu stiften, geführt, schwankte heran, mit vollem Seidel.
»Das is ja man Spaß,« lallte er, »Prost.« 39
»Lassen Sie mich zufrieden«, zischte Helene und stieß ihn mit dem Ellenbogen von sich, daß er sich über und über mit Bier begoß.
»Na, pfui! Das is nich nett«, schrien nun wieder alle auf Helene ein, während man an Willy Schmüser herumwischte und trocknete.
Der Unglückliche ließ taumelnd alles mit sich geschehen. »Ge–mein–heit«, lallte er kaum verständlich. »Gemein–heit.«
Helene sah, daß sie dieser Gesellschaft gegenüber den kürzeren zog. Nach dieser Szene konnte sie unmöglich noch bleiben. In Adolfs und Kunkels Gesellschaft verließ sie den Garten, froh, als sie durch die Menge der auf den Lärm natürlich aufmerksam gewordenen Gäste das Freie erreicht hatte.
Herr Kunkel war sehr indigniert und wußte nicht den rechten Ton zu treffen. Adolf, der sich erlaubt hatte, Helene Vorwürfe zu machen, war so heftig von ihr angefahren worden, daß er nicht zum zweitenmal eine Bemerkung wagte. Aber Helene war doch eine Erklärung schuldig. Was 40 mochte Herr Kunkel von ihr denken? Sein Schweigen belehrte sie, daß er ihr Benehmen zum mindesten eigentümlich fand.
»Was denken Sie nur von mir«, sagte sie, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Nie gehe ich wieder in diese ordinäre Gesellschaft. Dieser Mensch, dieser Schmüser – ich muß Ihnen ja – was werden Sie von mir denken.«
Und dann erzählte sie Schmüsers Antrag und sie war in ihrer Entrüstung so drollig, daß zuletzt alle drei lachten. Herr Kunkel, der nun alles begriff und im rechten Lichte sah, war sehr froh, Helenen wieder seine ungetrübte Sympathie zuwenden zu können.
»Lassen Sie sich diese dumme Geschichte nicht weiter anfechten, liebes Fräulein,« tröstete er sie. »Rohe, ungebildete Leute. Es tut mir nur leid, daß Sie so um Ihren schönen Sonntag kommen. Aber das sollen Sie nicht. Wenn ich mir erlauben darf, Sie einzuladen, so bleiben wir noch etwas beisammen.«
»Ich weiß! Was meinen Sie zu Kiel?« fragte 41 Kunkel. »Da ißt man vorzüglich, und das Bier ist auch gut.«
Die Geschwister waren mit allem einverstanden.
Es war inzwischen Abend geworden; die Dunkelheit, die in dem kleinen Weidenstieg herrschte, hatte Herrn Kunkel veranlaßt, Helenen den Arm zu reichen. Diese Galanterie erfreute auch Adolfs Herz. Er fühlte etwas wie Verehrung für den Kollegen und Vorgesetzten, dessen der Schwester erwiesene Aufmerksamkeiten auch ihm wohltaten.
Die Straßenbahn hatte sie schnell ans Ziel gebracht. Sie traten in Kiels Restaurant an der Ecke vom Steindamm und Pulverteich ein und fanden oben auf der Galerie einen gemütlichen Platz. Es war etwas heiß hier. Aber da sie fast versteckt vor den Blicken der anderen Gäste saßen, hielten sie aus.
Herr Kunkel war sehr freigebig. Der Krebssuppe folgte Entenbraten, dem Entenbraten Butter und Käse. So lukullisch hatten beide 42 Geschwister noch nie soupiert. Schließlich kaufte Herr Kunkel noch von einer kleinen Vierländerin einen Veilchenstrauß für Helenen. den er vorher ganz leicht an seine Lippen führte. Dann hob er sein Seidel, um mit ihr anzustoßen.
»Aber nein,« rief er und setzte es wieder hin. »Das ist doch zu plump. Das Wohl der Damen soll man nur in Wein trinken,«
Er winkte dem Kellner. Helene suchte ihn zurückzuhalten, aber er ruhte nicht, bis eine Flasche Schaumwein in einem zierlichen, blanken Eiskübel auf dem Tisch stand und er das schlanke Spitzglas mit Helenens zusammenklingen lassen konnte. Wortlos sahen sie sich dabei in die Augen, während Adolf mit einem etwas schläfrigen Lächeln sein Glas in die Höhe hielt, wartend, bis an ihn die Reihe käme. Der gute Junge war von all dem Trinken recht müde geworden. 43
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