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Die neue Direktrice der Firma Burmeister u. Masch war mit ihrer Verkäuferin Helene Leidig nicht zufrieden. Ihre Ermahnungen zur Pünktlichkeit fruchteten nicht viel. Der Grund für Helenes Unaufmerksamkeit und ihr geringes Geschäftsinteresse wurde der neuen Direktrice klar, als sie eines Abends ihre Verkäuferin am Arme des jungen Burmeisters sah. Nun war es für sie keine Frage mehr, daß dies leichtfertige Mädchen aus dem Geschäft müsse.
Helene ahnte diese Absicht und wollte der Kündigung zuvorkommen. Als sie aber eines Mittags nach Hause kam, empfing die Mutter sie mit wichtiger Miene.
»Du Lene, es is'n Brief für dich abgegeben.«
»Für mich? Wo ist er?«
»Auf der Kommode, Kind.«
Helene ging nach dem Brief, bevor sie Hut und Mantel ablegte. 137
Sie erkannte sofort Burmeisters Handschrift und ahnte mit einem Schlage alles.
Hastig erbrach sie den Brief. Da stand es, kurz, mit der schlanken Kaufmannsschrift Burmeisters:
Fräulein Leidig!
Zu unserem Bedauern sind wir gezwungen, Sie zu entlassen. Nicht nur haben Sie trotz wiederholter Ermahnungen in Ihrem Pflichteifer ungebührlich nachgelassen, sondern es liegen auch andere Sachen vor, die es uns unmöglich machen, Sie länger zu beschäftigen.
Dieses sage ich Ihnen als Ihr Chef. Als Vater verbiete ich Ihnen hiermit jeden weiteren Umgang mit meinem Sohn und vertraue Ihrer Ehrenhaftigkeit, daß Sie diesem Folge leisten.
Sie wollen sich gefl. nicht wieder ins Geschäft bemühen. Ihr Gehalt für das kontraktliche Vierteljahr wird Ihnen noch heute zugehen.
Johannes Burmeister,
in Fa.: Burmeister u. Masch. 138
Entlassen, weggeschickt! Mit Schimpf und Schande.
Helene ließ den Brief in den Schoß fallen und starrte wie abwesend vor sich hin. Es war ihr nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Jeden Augenblick konnte die Mutter kommen. Eine namenlose Angst lähmte sie.
Da hörte sie die Mutter auf der Diele. Eine Schranktür knarrte. Das war die Tür zum Wäscheschrank, die knarrte immer so.
Helene fuhr hastig vom Stuhl auf und steckte den Brief zusammengeknüllt in ihre Manteltasche.
Nur jetzt nicht sprechen, nur jetzt keine Szene.
Es war Helene unmöglich gewesen, etwas zu essen. Sie hatte vom Tisch aufstehen und sich ins Bett legen müssen, so elend fühlte sie sich. Sie mochte nicht reden und antwortete kaum auf die besorgten Fragen der Mutter.
»Laß mich doch, laß mich doch!« wehrte sie fast weinerlich ab.
Frau Leidig schüttelte den Kopf. Sie packte 139 Helene warm in die Kissen und fragte, ob sie Tee machen solle, Kamillentee.
»Das sollst du man tun, Kind, das is so gut.«
Aber Helenen wurde schon bei dem Gedanken an Kamillentee elend zumute.
»Laß mich doch, laß mich doch!« rief sie heftig und legte sich auf die Seite, das Gesicht der Wand zukehrend.
Mutter Leidig ging kopfschüttelnd hinaus, leise, auf den Zehen.
»Was is das nur, was is das nur? Sie gefällt mich gar nich mehr.«
Die alte Frau ängstigte sich, obgleich sie sonst nicht empfindlich war und ihre Kinder nie verzärtelt hatte. Aber Helene war immer so gesund gewesen. Sie hatte erst einmal im Geschäft gefehlt. Damals hatte sie noch Adolf hinschicken können und sich entschuldigen lassen. Heute war kein Bote zur Hand.
›Na, sie werden das ja nich übelnehmen. Sie sind ja so nett ümmer mit Lene‹, dachte Mutter Leidig. Von Zeit zu Zeit ging sie leise an Helenes 140 Tür und horchte. Aber sie hörte nichts. ›Sie wird wohl schlafen‹, dachte sie. ›Sie schläft sich wohl wieder zurecht.‹ Und sie suchte nach Ursachen zu Helenes Unwohlsein.
›Sie hat auch wohl 'n büschen viel in'n Geschäft. Sie is nu mit die Oberste. Das is doch auch eigentlich nich recht, daß sie das Kind so anstrengen. Ich hab' das all die letzte Zeit ümmer gefunden, daß sie eigentlich man schlecht aussieht. Und das alte warme Wasser. Sie trinkt auch ümmer so hastig. Adolf sieht auch man pewerig aus. Uemmer mang die vielen Bücher, das muß den Geist ja auch angreifen. Das hat Helene doch nich nötig. Afzupassen hat sie ja auch genug, das hat sie ja. Leicht hat sie das auch nich.‹
So bewegten sich ihre mütterliche Gedanken in buntem Durcheinander sorgenvoll um ihre Kinder. Indessen lag Helene und fieberte. Die Aufregung der letzten Zeit war groß. Ihre Widerstandskraft war gebrochen. Der Fieberfrost schüttelte sie. Wild jagten ihre Gedanken 141 durcheinander. Ihr Kopf schmerzte, das Blut hämmerte in ihren Schläfen. Unruhig warf sie sich hin und her, daß die Bettstelle knackte und knarrte.
Dieses Geräusch hörte Mutter Leidig beim abermaligen Horchen. Sie sah durchs Schlüsselloch, konnte aber die Seite des Zimmers, wo das Bett stand, nicht übersehen.
Jetzt glaubte sie ein tiefes Seufzen zu hören.
Mutter Leidig ging auf den Zehen zu ihr. Helene lag mit offnen, starren Augen. Die Hände lagen auf der Bettdecke.
»Lene, was is dich? Kind!« rief die alte Frau ängstlich.
Sie legte ihre Hand auf die kalte, feuchte Stirn der Tochter, fühlte ihre Hände.
»Du hast ja das Fieber, Kind.«
Helene bewegte die Lippen.
»Wie bin ich durstig«, hauchte sie.
Mutter Leidig sah sich nach Wasser um. Es war keins vorhanden. 142
»Gleich, Kind, gleich, ich bring' dich was.«
Sie lief in die Küche und machte Zitronenwasser zurecht.
Während sie dabei beschäftigt war, klingelte jemand an der Tür. Sie öffnete, das Glas Zitronenwasser in der Hand.
Draußen stand ein Botengänger von Burmeister u. Masch. »Ich soll hier man das Geld abgeben«, sagte er.
»Was für Geld?«
»Für Fräulein.«
Mutter Leidig machte ein sehr dummes Gesicht und nahm zögernd das Kuvert an.
»Was is das für Geld?« fragte sie nochmal.
»Herr Burmeister sagt, ich solle das hier abgeben. Weiter weiß ich auch nichts.«
Der Junge hatte sich schon halb abgewandt. Jetzt setzte er seine Mütze auf und ging mit kurzem »Adieu« ab.
›Was war das nun wieder? Geld für Lene? Vom Geschäft? Von Herrn Burmeister?‹ 143
Auf einmal kam ihr eine Ahnung, ein Aufdämmern. Ein Zittern überfiel die alte Frau, daß der Löffel im Glase klirrte. Lene wollte ja trinken, ach ja, das wollte sie ja. Sie mußte ihr doch erst das Wasser bringen. Sie steckte das Kuvert in die Tasche und ging zu Helene hinein. Die Kranke hatte sich wieder auf die Seite gelegt und rührte sich nicht.
»Lene.«
Keine Antwort.
»Schläfst du?«
Helene antwortete nicht.
Leise stellte Mutter Leidig das Glas auf den Nachttisch vorm Bett und beugte sich über die Kranke.
Helene schien zu schlafen.
Die alte Frau fuhr noch einmal behutsam mit den Händen über das Deckbett, um sich zu vergewissern, daß Helene auch warm lag. Dann ging sie, sich noch einmal umsehend, hinaus. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf ihren 144 Fensterplatz. Hier zog sie das Kuvert aus der Tasche und besah es von allen Seiten. Ob sie es öffnete? Helene war eigen in solchen Sachen und konnte gleich so heftig werden.
Aber sie war die Mutter, sie mußte wissen, was das hier eigentlich zu bedeuten hätte. So kämpfte sie mit sich. Zuletzt legte sie das Kuvert unerbrochen auf die Kommode unter die Fruchtschale.
»Was heißt das nu allens, was heißt das nu allens?« fragte sie laut und war ratlos.
* * *
Gegen Abend kam ein Brief von Ludwig. Frau Leidig besah sorgenvoll die unbekannte Handschrift und legte den Brief seufzend zu dem Geldkuvert unter die Fruchtschale.
Ludwig hatte nach einer heftigen, aber sehr kurzen Szene mit seinem Vater trotzig versichert, er ließe nicht von Helene. 145
›Gut,‹ hatte Burmeister merkwürdig ruhig gesagt, ›meine Pflicht ist es, dich vor Dummheiten zu schützen, und so werde ich dafür Sorge tragen, daß du noch in diesem Monat nach London gehst, wie es schon meine Absicht war. Kannst du nachher nicht von dem Mädchen lassen, so läßt sich ja wieder darüber reden.‹
Ludwig war nicht allein froh, daß das Gewitter so gnädig vorüberging, sondern die Londoner Pläne seines Vaters kamen geradezu seinen Wünschen entgegen. Er war selbst schon zu dem Entschluß gekommen, daß es das beste sei, er ginge auf einige Zeit von Hamburg weg, auf eine Probe- und Prüfungszeit für sie beide, wie er sich einredete.
Noch am selben Vormittag, nach der Unterredung mit seinem Vater, benutzte er eine unbeaufsichtigte Stunde im Kontor und schrieb an Helene, in zärtlichen, leidenschaftlichen Ausdrücken, und stellte ihr alles so am besten vor.
Er war danach sehr mit sich zufrieden. Er war aber auch sehr gespannt, was Helene auf diesen 146 Brief antworten würde. Aber er wartete vergeblich auf Antwort. Es vergingen Tage, und er bekam auch auf einen zweiten Brief keine Antwort.
Ihr Schweigen kränkte ihn mehr und reizte seinen Trotz, als daß es ihn ängstigte. Sollte er nach diesen Briefen noch hinter ihr herlaufen.
Aber vielleicht war sie krank? Er mußte Gewißheit haben. Er wollte sie direkt aufsuchen.
Mutter Leidig, die ihn nicht erkannte, empfing den elegant gekleideten jungen Mann sehr devot und nötigte ihn ins Wohnzimmer.
Ludwig fühlte bei seinem Eintritt doch etwas von seinem Mut weichen. Aus der Küche war ihm Waschgeruch entgegengekommen, von Chlor und grüner Seife. Mutter Leidig war nicht in bester Toilette und machte einen unvorteilhaften Eindruck auf ihn. Nichts in dieser kleinen, dicken Frau mit den nassen Händen, die sie verlegen an der Schürze abtrocknete, erinnerte ihn an Helene.
Als er nun im Wohnzimmer ihr gegenüber saß, war das erste, daß er sich ihr vorstellte. 147
»Mein Name ist Burmeister.«
»Ach, Herr Burmeister? Nu kenn ich Sie erst. Ach ja woll, nein, daß ich das nich gleich gesehn hab'! Sie kommen wohl wegen Lene, nich wahr? Ja, sagen Sie mal, was is das für 'ne schreckliche Geschichte.«
Ludwig wurde sehr rot.
»Ja, es tut mir unendlich leid«, stotterte er.
»Aber wie is das denn nur alles so gekommen. Wie, um allens in der Welt, da hab' ich ja doch keine Ahnung davon gehabt. Auch nich so viel.«
Sie machte einen schwachen Versuch, mit den Fingern zu knipsen.
Ludwig wußte wirklich nicht, was er sagen sollte. Er war ganz dumm. Er hatte sich die schönste Rede ausgedacht und hatte es sich so leicht gedacht, mit dieser einfachen Frau fertig zu werden, und nun wußte er in den ersten fünf Minuten schon nicht mehr, was er sagen sollte.
»Und nu liegt sie mich da krank«, jammerte Frau Leidig. »Der Dokter geht gerade weg. Es is'n Nervenfieber, sagt er.« 148
»Das tut mir leid«, sagte Ludwig.
Die Nachricht erschreckte ihn und seine aufrichtige Teilnahme klang in diesen einfältigen Worten durch.
»Ja, Sie können ja auch nichts dafür. Aber wenn Ihr Herr Papa man 'n Wort mit mir darüber gesprochen hätte. Ich hätt' ihr ja schon zurecht gekriegt. Sie is ja doch sonst willig und so'n gutes Kind und tut alles, was sie soll.«
Ludwig sah sie verdutzt an. Was war das? Er verstand sie nicht.
»Aber so mir nichts dir nichts entlassen. Mit Schimpf und Schande. Und jetzt, um die Weihnachtszeit, wo sie es doch so hilde im Geschäft haben.«
Ludwig merkte, daß die alte Frau auch jetzt noch nur die Hälfte wußte. Er atmete auf und fand seine Haltung wieder. Ob er sie in Ungewißheit ließ? Oder sollte er gerade mit der Sprache herausrücken? Einmal erfuhr sie es ja doch. Aber dann erführe sie es ja auch noch früh genug. Wie sollte er es ihr auch beibringen? Er konnte 149 ihr doch nicht selbst die ganze Geschichte erzählen. – Aber warum war er denn hier? Was würde sie denken, was er eigentlich wolle? »Ja,« sagte er, »ich habe eben gehört, daß Ihr Fräulein Tochter krank ist. Da wollte ich doch mal nachsehen. Ich war gerade hier in der Nähe. Hoffentlich erholt sie sich bald wieder.«
»Das is sehr gütig von Sie«, sagte Mutter Leidig, und Tränen traten ihr in die Augen. »Ihr Herr Vater hat Sie gewiß geschickt. Das is mir doch sehr lieb, das is mir doch 'n Trost. Ich war schon bange, daß sie sich irgend was Schlechtes zuschulden kommen gelassen hat.«
»Aber ich bitte Sie, Frau Leidig«, protestierte Ludwig.
»Ja, ich konnte es doch auch nich denken, das wär' auch mein Tod gewesen. Sie is ja ümmer gut gewesen und ümmer reell. Meine beiden Kinder sind reell, das sind sie. Ich hab' sie so erzogen, daß sie mir keine Schande machen, das hab' ich.«
»Aber ich bitte Sie, Frau Leidig«, sagte 150 Ludwig noch einmal. Er wußte wirklich nichts Gescheiteres zu sagen.
»Ja, nein, ich bin ja nu ordentlich leicht ums Herz, daß Sie bei mich gewesen sind. Das sagen Sie man Ihren Herrn Vater. Grüßen Sie man ihn von mich, und es wär' mich sehr leid, daß Lene nich mehr ins Geschäft wäre, und sagen Sie ihn man, wie krank sie is.«
Ludwig stand auf. Es wurde ihm doch ungemütlich bei der alten Frau. Alle ihre rührenden, unbeholfenen Worte, die von einer so tiefen Liebe zu ihrer Tochter zeugten, waren ja ungewollte Anklagen gegen ihn. Er sah nicht mehr ihre etwas unordentliche Küchengarderobe, empfand nicht mehr den Chlorgeruch, der aus ihren Kleidern strömte. Er sah nur die Tränen in diesen hellen, guten Augen und die wiederholten Bemühungen der runden, roten Arbeitshand, deren Rücken jedes hervorquellende Naß sofort wegwischte.
Eine ungekannte Rührung überkam ihn. Und fast wäre er der Versuchung erlegen, der alten 151 Frau alles zu gestehen und ihr zu sagen, wie er für Lene sorgen wollte, daß er sie nie verlassen wollte, und allerlei Edelmütiges, was plötzlich in ihm aufwallte. Aber Mutter Leidig hatte sich auch erhoben, als er aufstand, und hatte ihm bei ihren letzten Worten die Hand gereicht.
»Es is ja denn alles woll am besten so«, sagte sie. »Und wir müssen ja denn nu sehen, wie das allens werden wird. Der liebe Gott wird mich ja nich verlassen.«
So ging denn Ludwig unverrichteter Sache wieder weg.
»Was is das doch für'n netten Menschen«, sagte Frau Leidig. »Das hätt' ich gar nich gedacht.« 152
* * *
Helene lag lange in schwerem Nervenfieber. Mutter Leidig rieb sich in Pflege auf. Es waren ja nicht nur die körperlichen Strapazen, denen wäre sie noch gewachsen gewesen. Aber der seelische Kummer machte sie mürbe.
Bei der täglichen Pflege der Kranken, in nächstem Verkehr mit ihr, konnte dem Mutterauge der Zustand Helenes nicht lange verborgen bleiben. Diese Entdeckung hatte ihr plötzlich Licht über alles gebreitet. Mit einem Schlage ahnte sie den wahren Zusammenhang. Jetzt war auch ihr Bedenken geschwunden, Helenes Briefe zu öffnen. Sie erinnerte sich des ersten Briefes, nach dessen Empfang Helene plötzlich krank wurde. Sie suchte ihn, suchte alle Kleider durch und fand ihn in der Manteltasche. Da stand es schwarz auf weiß. Und der Vater wußte darum, alle wußten darum, das ganze Geschäft. 153
Diese Schande. Die alte Frau war mit dem Brief in der Hand zusammengesunken und hatte bitterlich geweint.
Was sollte nun werden?
Und sie konnte sich nicht einmal aussprechen. Von der Kranken mußte jede Aufregung ferngehalten werden. Mit Adolf konnte sie doch nicht darüber sprechen.
Einen Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, zu Ludwigs Eltern zu gehen. Aber was wollte sie da? Vorwürfe machen? Oder Vorwürfe über Helene hören? Sie war ja die Mutter, sie hätte ja die Hüterin ihres Kindes sein sollen. Ach, ihr armer alter Kopf!
Und dieser junge Mensch hatte noch den Mut gehabt, die Frechheit, Helene zu besuchen und ihr, der Mutter, unter die Augen zu treten. Und wie sanft und mitleidig hatte er ausgesehen. Und er hatte sie alle zugrunde gerichtet, sie alle in Schande gebracht. Aber das war die Strafe. Das hatte sie nun davon. Warum war sie nicht strenger gegen Helene gewesen. 154
Wohl zehnmal las sie den Kündigungsbrief Burmeisters. »Ob er schon weiß, wie es mit Lene steht?« Aus dem Brief ging nichts hervor.
Wenn er es nun nicht wüßte, und wenn sie zu ihm ginge und es ihm sagte, und daß es eine Schande wäre, und was er tun wollte, um ihr Kind wieder ehrlich zu machen?
Und sie las Ludwigs Briefe wieder, die sie im ersten Zornesanfall zerrissen und zusammengeballt hatte. Sie hatte die einzelnen Teile wieder geglättet und vor sich auf den Tisch gelegt und zusammengeschoben, bis sie das Ganze wieder hergestellt hatte. Und sie las wieder und wieder diese jugendlich überschwänglichen Liebesausbrüche und Treueschwüre, bis sie ihr armes Herz damit beruhigt hatte. Wenn er es wirklich so meint! Wenn er ihr treu bleibt! Es kann ja vielleicht noch alles gut werden. Er sah doch so ehrlich aus, als er so vor ihr saß.
Aber da kam ein neuer Brief von Ludwig, den sie öffnete, wie die anderen. 155
Liebes süßes Herz!
Warum läßt Du gar nichts von Dir hören? Bist Du immer noch krank? Ich leide unendlich darunter, nichts von Dir zu hören. Wie oft war ich auf dem Wege zu Dir, aber ich fand nicht zum zweitenmal den Mut, vor Deine alte Mutter zu treten. Und nun steht mir das Schwerste bevor. Wir müssen uns trennen, das heißt, nur auf Zeit. Für immer kann uns nichts trennen.
Ich soll nach London. Ich sagte Dir schon früher davon. Mein Vater will es so, und ich darf ihn nicht noch mehr erzürnen.
Wie gern möchte ich Dich vorher noch mal sehen. Soll es aber nicht sein, so sei überzeugt, daß ich Dich nicht vergesse. Ich werde schreiben, oft schreiben, und diese Korrespondenz soll unser größtes Glück sein, bis wir uns wieder haben. Und dann hoffe, süßes Herz, und baue auf meine Liebe. Ich verlass' Dich nicht, und alles, alles wird noch gut. Brauchst Du Geld, schreibe es nur. Alles was ich habe, gehört Dir. 156
Lebe wohl, Geliebte, es muß noch alles gut werden. Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, erhältst Du aus London Brief.
Tausendmal küßt Dich in Liebe und Treue
Dein Ludwig.
Mutter Leidig hatte nie Liebesbriefe gelesen, geschweige denn geschrieben. Sie und ihr Mann waren Nachbarskinder gewesen, und es hatte sich alles mündlich bei ihnen abgespielt.
Der Ton dieses Briefes imponierte ihr.
›Was er für'n hübschen Brief schreibt‹ dachte sie in all ihrem Zorn und Kummer darüber, daß er nun wegging und Helene sitzen ließ. Denn das wußte sie, aus den Augen aus dem Sinn.
Sie war noch mit diesem Brief beschäftigt, als die lange Berta kam. Das war die einzige von Helenes früheren Kolleginnen, die sich um sie bekümmerte.
Die Berta hatte so eine eigene Art, alles leicht zu nehmen. Es kam ja wohl nicht sehr tief her, was sie sagte, aber es tröstete doch augenblicklich, es war doch Teilnahme. »Man immer 157 'n Kopf hoch.« »Es wird schon alles gut werden.« »Das muß man nicht gleich so schlimm nehmen.« »So was kommt in den besten Familien vor.«
Das waren so ihre Lieblingsworte, mit denen sie sehr freigebig war.
Als sie nun hörte, daß Ludwig nach London ging, rief sie ganz bestimmt und in einem Ton, als ob es sich um etwas sehr Harmloses handelte: »Dann is es aus. Aus den Augen aus dem Sinn.«
»Das sag' ich ja, das sag' ich ja«, jammerte Frau Leidig.
»Heiraten tut er Lene doch nicht«, meinte Berta.
»Aber was soll denn werden, was soll denn werden?«
»Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Das sagen Sie woll. Aber die Schande, die Schande, Fräulein. Er will ihr ja treu bleiben, und Geld will er auch schicken. Aber das weiß man ja, jung ist jung, und wenn er mal weg is –« 158
»Wenn Sie das schriftlich haben, dann heben Sie es man ja auf. Wenn er ihr die Ehe versprochen hat, dann können Sie ihn immer darauf anfassen.«
»Ja gewiß!«
»Von solche Leute is doch nichts zu holen. Und mit die Gerichte? Das wissen Sie ja. Wenn man nur Geld hat.«
»Ja. Na, wissen Sie, das Monatliche muß er ihr ja geben, das muß er. Und das seh' ich auch nich ein, warum sie das nich nehmen soll. Das kommt ihr zu.« 159
* * *
Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen. Es war am Morgen vor dem heiligen Abend. Mutter Leidig saß zum erstenmal längere Zeit vor Helenes Bett. Sie hielt die magere Hand der Kranken und sprach tröstend auf sie ein.
»Warum hast du mir das allens nich gleich gesagt, Kind. Ich bin doch deine Mutter und hab' es doch immer nur gut mit dich gemeint.«
Sie strich ihr zärtlich die verweinten Wangen und die Stirne.
»Aber nu haben wir uns ja ausgesprochen. Nu woll'n wir allens gut sein lassen. Wenn du nu man erst wieder ganz gesund bist, dann wird sich alles finden.«
Helene wollte wieder anfangen zu weinen, aber die Mutter ermahnte sie. 160
»So, so, Kind, nu laß aber auch das alte Weinen sein, das hilft zu nichts. Du darfst dich nicht so aufregen.«
Aber Helene konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Es war auch nur eine Erleichterung für sie. Sie wußte jetzt auch, daß Ludwig aus Hamburg weg sei.
Aufstehen durfte sie noch nicht. Aber der Arzt hatte erlaubt, ihr ein Tannenbäumchen mit nicht zu vielen Lichtern vors Bett zu setzen.
Und dann hatte sie Adolf zum erstenmal wieder begrüßt, und sie hatte vor Scham bitterlich geweint, so daß der gute Junge, der allein von nichts wußte, ganz verblüfft wurde. Und dann war auch die lange Berta gekommen.
»Na, Lene, wie geht's? Das is vernünftig. Mit Kranksein muß man sich nich lange aufhalten.«
Helenes unruhige, fragende Blicke verstehend, meinte sie gutmütig:
»Sei vernünftig, Lene. Das mußt du nich so 161 schwer nehmen. Da können wir alle zu kommen. Das is keine Sünde. Emma läßt dich auch grüßen und die kleine Dicke. Das hätt' ich bald vergessen. Wir sprachen viel von dir.«
Da weinte Helene erst recht.
* * *
Auf der Seite des Zeughausmarktes, die sich zwischen dem Neuen Steinweg und der Mühlenstraße hinzieht, liegt ungefähr in der Mitte ein sehr schmales, vierstöckiges Haus. Hier wohnte im vierten Stock seit Jahren die lange Berta. Sie hatte ein freundliches möbliertes Zimmer inne, mit dem Ausblick aufs Millerntor. Sie vertrug sich gut mit der Wirtin, einer Frau Obermann, die ihrerseits das immer gutgelaunte Mädchen gern hatte, zufrieden war, daß sie pünktlich ihre Miete erhielt und sich im übrigen um Bertas Tun und Lassen nicht kümmerte. 162
Frau Obermann hatte ein zweites, geräumigeres Vorderzimmer mit Kabinett an einen älteren Herrn vermietet. Ein Hinterzimmer stand leer. Früher hatte eine Kollegin Bertas es auf einige Monate bewohnt; es wieder zu vermieten, war nicht geglückt.
Dies Zimmer bezog an einem Sonntagnachmittag Helene Leidig. Berta half ihr beim Auspacken ihrer Sachen.
»Was ist denn das?« fragte sie plötzlich und nahm vom Boden des Koffers ein großes, sorgfältig verschnürtes Paket. Sie fühlte und drückte mit dem Daumen darauf und warf Helenen einen fragenden, halb erratenden Blick zu.
Helene errötete und nahm ihr schweigend das Paket ab.
Es waren Briefe und Andenken von Ludwig. Sie konnte sich nicht davon trennen; obgleich eine innere Stimme ihr sagte, daß alles aus sei, wollte sie doch nicht von der Hoffnung lassen, er könnte zu ihr zurückkehren. Seit Neujahr war er in London. Er hatte einmal von da geschrieben, 163 ganz im alten Ton, und hatte versichert, sie würde auch »im übrigen« von ihm hören, wenn er erst nur eingelebt sei. Sie möchte ihm Zeit lassen. Er hätte so furchtbar viel zu tun.
Dann war das Kind gekommen, eine Frühgeburt. Nach vier Tagen starb es wieder. Helene hatte es gar nicht einmal zu Gesicht bekommen. Sie hatte es Ludwig geschrieben, aber er hatte nicht darauf geantwortet. Zu der Schande, zu allem, was sie in den letzten Wochen, Monaten, durchgemacht, auch noch das. Wie sie es nur ertragen konnte! Sie begriff sich selbst nicht. Nichts als eine dumpfe Gleichgültigkeit gegen alles beherrschte sie.
Von der Mutter war sie weggezogen, weil sie sich vor den Nachbarn schämte. Die Geburt, das Begräbnis des Kindes waren natürlich nicht unbemerkt geblieben. Sie fühlte die Augen der Klatschweiber auf sich und hörte ihre giftigen hämischen Reden, obgleich kein Wort davon ihr zu Ohren kam. Das konnte sie nicht ertragen. 164
Die Mutter harte geweint, aber endlich nachgegeben und sie ziehen lassen.
Seit Ostern hatte Helene wieder eine Anstellung als Verkäuferin in einem Wollgeschäft auf dem Alten Steinweg. Sie erhielt nur ein geringes Gehalt, aber es war doch ein Unterkommen. Sie mußte ja leben, sie wollte ja leben. Ein dumpfer Trotz gegen ihr Schicksal hielt sie aufrecht. Ihr war Unrecht getan worden. Sie wollte sich nicht fügen. Sie wollte ihren Anteil am Glück haben. Irgendwann, irgendwo mußte er ihr werden. Sie hatte noch einmal, am letzten Tag in ihrer Mutter Wohnung, an Ludwig geschrieben, ihm ihre neue Adresse gemeldet und ihn beschworen, ihr Klarheit zu geben. Er solle sie nicht hinhalten, ihr ehrlich sagen, ob alles aus sei. Sie verlange das von ihm. Er solle sich nicht feige in Schweigen hüllen.
Nun wartete sie auf Antwort, auf ein letztes Wort. Das wollte sie abwarten. Wenn dann alles aus wäre, ja, dann weg mit diesen Lügenbriefen! 165
Um Helene am Einzugstage etwas zu zerstreuen, veranlaßte Berta sie zu einem Spaziergang nach dem Hafen. In Wiezels Restaurant kehrten sie ein. Die beiden Mädchen nahmen hart an dem hölzernen Geländer Platz, das den Garten gegen die steil abfallende Böschung einfriedigt.
Das erste Grün der kleinen, beschnittenen Linden warf einen hinreichenden Schatten auf ihren Tisch, auf dem große Sonnenflecke unruhig hin und her schossen. Ein leichter angenehmer Wind kam von der Elbe her.
Ein ununterbrochenes Getriebe von kleinen Lustdampfern, die Vergnügler nach Blankenese, Buxtehude, Cuxhaven und anderen vielbesuchten Orten beförderten, belebte den Strom. Dazwischen glitt von Zeit zu Zeit ein großer Seedampfer langsam elbabwärts.
Berta hatte einige Flaggenkenntnis. Sie war im Hafenviertel geboren und groß geworden. »Das ist'n Amerikaner. Das ist'n Franzose,« erklärte sie. 166
War es das lustige Geplauder Bertas, war es der zerstreuende Eindruck des großartigen bunten Hafenbildes, war es das wohlige Gefühl, das ihr die warme Sonne bereitete, und die Wirkung des »Echten«, daß Helene zum erstenmal wieder einen gewissen behaglichen Lebensgenuß empfand.
»Was ist das für einer?« fragte sie und zeigte auf einen vorübergleitenden, tiefgeladenen Dampfer.
Berta wußte es auch nicht.
»Das ist ein Portugiese«, erklärte eine Männerstimme hinter ihrem Rücken.
Ein junger, sehr blasser Mann mit kleinem schwarzen Schnurrbart und krausen schwarzen Haaren, der wie ein Schauspieler aussah, hatte schon einige Minuten in ihrer Nähe gestanden. Er hatte den rechten Fuß auf die unterste Latte des Geländers gestellt und musterte mit beständigen Seitenblicken Helene, während er sich den Anschein gab, als bewundere er das Hafenpanorama. 167
Jetzt zog er bei seiner Erklärung mit etwas affektierter Höflichkeit seinen weichen hellgrauen Filzhut und trat einige Schritte näher.
»Gestatten Sie, meine Damen? Ich habe mich bereits über Ihre nautischen Kenntnisse gewundert, gnädiges Fräulein«, wandte er sich an Berta.
Die sah ihn unbefangen an mit einem flüchtig prüfenden Blick, ohne auf sein Kompliment einzugehen. Helene empfand ein unbehagliches Gefühl der Störung.
Der junge Mann begann mit der größten Ruhe eine Beschreibung der portugiesischen Flagge zu geben, die Berta so gleichmütig anhörte, als spräche sie mit einem alten Bekannten. Dieses ruhige Eingehen auf seine Belehrung mochte ihn ermutigt haben. Er zog einen am Nebentisch stehenden Stuhl heran und bat um die Erlaubnis, sich setzen zu dürfen, nahm auch sogleich Platz.
Helene wandte sich errötend, mit einem 168 fragenden Seitenblick auf Berta, ab. Da auch diese nicht gleich antwortete, erhob sich der Fremde wieder.
»Aber ich will mich nicht aufdrängen«, sagte er.
»Bitte«, sagten beide wie aus einem Munde, durch seine Höflichkeit beschämt.
Sofort setzte er sich wieder.
»Sie sind sehr liebenswürdig. Es sitzt sich entschieden netter in Gesellschaft«, meinte er. »Es ist ein entzückender Tag heute. Aber Sie verzeihen, ich vergesse ganz, mein Name ist Frisoni.«
Die beiden Mädchen nickten gleichzeitig kaum merklich mit dem Kopf. Helene merkte, daß er sie besonders ansah. Er war sehr hübsch. Große, schwarze, feurige Augen, eine fein gebogene Nase. Er sprach etwas affektiert. Aber das erklärte sein Name. Offenbar ein Italiener, ein Künstler.
Er hatte die rechte Hand beständig auf dem Tisch liegen, eine schöne, wohlgepflegte Hand, mit der er augenscheinlich kokettierte. Die schlanken Finger waren immer in spielender Bewegung. 169
Helene mußte fortwährend nach dieser Hand sehen.
»Warum spielen Sie denn immer Klavier?« platzte Berta heraus, die das unaufhörliche Fingerieren nicht leiden konnte.
Er errötete flüchtig.
»Angewohnheit«, entschuldigte er sich. »Berufskrankheit.«
»Wie so?«
»Ich bin Musiker.«
Dreister geworden, versuchte er die beiden Mädchen zu einer Erfrischung einzuladen.
Berta schien seine Einladung angenehm. Aber Helene wollte auf keinen Fall. Sie brach sehr eilig auf.
Dieser Aufbruch kam so unerwartet rasch, daß Frisoni seinen Aerger nur schlecht verhehlen konnte.
Die beiden machten ihm eine kurze, aber nicht unfreundliche Verbeugung und gingen, Helene hastig voraus. 170
Er folgte den Mädchen mit den Blicken und sah sie schnell die Treppe nach dem Hafen hinunterlaufen, so daß er deutlich merkte, sie wollten seiner etwaigen Begleitung entgehn. Er hätte sich sonst nicht so leicht abschrecken lassen, aber um sie einzuholen, hätte er auch laufen müssen. Das war ihm doch zu auffällig. 171
* * *
Vier Wochen wohnte Helene nun schon mit Berta unter einem Dache. Bald nach ihrem Einzug war ein Brief Ludwigs eingetroffen. Selbstanklagen, Beteuerungen, Phrasen. Das Kind sei ja tot, Helene in guter Stellung, er selbst ganz von dem Willen seines Vaters abhängig. Wie die Verhältnisse nun mal lägen, sei es ja für sie beide das beste, nur der Vernunft zu folgen und auf ein Glück zu verzichten, das ihnen nicht gegönnt sei. Dann Versicherungen ewigen Gedenkens, Phrasen, kindlich, sentimental, läppisch. Kurz eine Absage.
Helene kam dank Bertas Zuspruch leichter darüber weg, als sie gefürchtet hatte. Sie wußte jetzt, woran sie war. Es war vorbei, abgeschlossen. Sie war frei.
Das neue Leben, das sie mit Berta zusammen 172 führte, gefiel ihr. Die Munterkeit und der Gleichmut der Freundin, die jedem Tag sein Gutes abzugewinnen wußte, hatte auf Helenes im Grunde ja auch lebensfrohe Natur erfrischend gewirkt. Helene hatte sich auch körperlich erholt. Sie war ja noch so jung. Das ganze Leben lag noch vor ihr; was konnte sie noch alles genießen. Berta hatte recht. Vorbei ist vorbei. Vor uns das Leben! Helene hatte alle Briefe und Andenken an Ludwig verbrannt, alles. Sie wollte nichts zurückbehalten. Berta hatte ihr solange zugeredet und war ihr dabei behilflich gewesen.
Die Trennung von der Mutter war ihr sehr schwer geworden. Die alte Frau saß nun so allein. Adolf war ja auch den ganzen Tag im Geschäft und kam nicht mal zum Mittagessen nach Hause. Aber sie konnte doch nicht bei der Mutter wohnen bleiben. Dieses Gerede! Um keinen Preis! Wenn die Mutter nur umziehen wollte. Da könnten sie so nett wieder zusammenleben. Aber die alte Frau war darin so eigensinnig. Sie hatte 173 ja auch freilich ihre Kundschaft, auf die sie Rücksicht nehmen mußte.
Helene besuchte die Mutter mindestens einmal in der Woche, in den Abendstunden. Einmal hatte sie sie auch schon bei sich bewirtet. Ein Sonntagsnachmittagskaffee. Auch Adolf war dabei gewesen. Das war ein großes Vergnügen für Helene gewesen. Frau Obermann hatte ihr bereitwillig das nötige Service geliehen und ihr erlaubt, in ihrer Küche den Kaffee selbst zu bereiten. Sie war sich ordentlich hausfraulich vorgekommen. Berta hatte natürlich dabei sein müssen. Das war Adolf sehr genant gewesen, denn er wußte mit Damen immer noch nicht viel anzufangen. Und dann kam dazu, daß er gern Kuchen aß und sich ihr gegenüber genierte, mehr als zweimal zuzulangen. Auch hatte sie so eine eigene Art, ihn zu bemuttern, daß er wohl merkte, sie nahm ihn noch nicht für voll. 174
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Mutter Leidig litt mehr unter Helenens Schande, als sie sich merken ließ. Es war doch nun mal eine Schande. Die Leute nannten es nicht anders. Da half alles Beschönigen nichts. Es kamen ihr zwar keine kränkenden Worte zu Ohren. Die Nachbarn hatten Mitleid mit der alten Frau und auch mit Helenen. Aber Mutter Leidig hörte in Gedanken alle die heimlichen Reden, in den Küchen, an den Waschbalgen, vorm Ladentisch bei Schmüser; hörte sie noch, wo sie in Wirklichkeit schon längst verstummt waren. Aus den gleichgültigsten Blicken las sie noch immer das beschämende Mitleid heraus, das sie nach der Beerdigung der kleinen Leiche aus allen Augen aufdringlich ansah.
Dazu kam die Einsamkeit. Adolf war selten zu Hause, seltener als früher. Die Klagen der Mutter wurden ihm lästig. Helenes Gesellschaft fehlte. Er wollte auch seine Zerstreuung haben, seine Erholung, wenn er den ganzen Tag im Geschäft tätig gewesen war. 175
Die alte Frau sah das ein und legte ihm nichts in den Weg. Aber sie gab ihm ihre täglichen Ermahnungen: »Denk an Lene, Adolf.« »Du machst mich doch keine Schande, mein Jung?« »Ich hab' ja nichts als meine Kinder.« »Und daß ihr euch ümmer lieb habt, auch wenn ich mal nich mehr bin. Es is doch ümmer deine Schwester. Du darfst sie nie verlassen.«
›Es is doch ümmer deine Schwester.‹ Adolf fing das auf. Es lag doch eine leise Anklage in diesen Worten der Mutter.
Es wollte Adolf erscheinen, als ob sie wirklich etwas blasser aussehe als sonst. Aber das war wohl nur vorübergehend, sie war doch sonst ganz munter. Adolfs Blick für seine Umgebung war kein besonders scharfer; er lebte so träumerisch in den Tag hinein, nur mit sich selbst beschäftigt.
Einige Tage später hatte sich Mutter Leidig heftig erkältet. Sie hustete und klagte über Schmerzen in der Brust.
»Ich hab' gewiß die alte Influenza. Sollst 176 mal sehen. Das is doch rein zu doll mit die alte eklige Krankheit.«
Adolf tröstete sie.
»Alles soll immer Influenza sein. Halt' dich man warm, das wird schon vorübergehn.«
Er hatte Helene eine Karte schreiben müssen, sie möge doch am Sonntagnachmittag mal zur Mutter kommen, die sei nicht ganz wohl. Er hatte aber aus Eigenem hinzugefügt: »Etwas Erkältung. Wird hoffentlich bald wieder vorübergehen.«
Da war sie dann nicht sehr beunruhigt und hatte zurückgeschrieben, sie könne mit bestem Willen nicht kommen, denn Berta feierte ihren Geburtstag und hätte einige Freundinnen eingeladen. Da möchte sie doch nicht gern fehlen. Aber am Montagabend nach Geschäftsschluß würde sie nach der Mutter sehen. 177
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Bertas Geburtstag fiel gerade auf einen Sonntag. Ihre Freundinnen fanden sich am Nachmittag vollzählig ein. Nur eine Cousine Bertas, die Kellnerin in einem Café war, hatte abgeschrieben, da sie Dienst hatte. Nun saßen Helene, deren Nachfolgerin bei Burmeister u. Masch, Lina Sandvoß, ein junges, semmelblondes Ding von siebzehn Jahren mit einem rotbäckigen Puppengesicht, und Frieda Möller um Bertas Kaffeetisch und ließen sich das braune Getränk, zu dem Mutter Obermann diesmal weniger Zichorie getan hatte als sonst, gut schmecken. Sie schonten auch den Kuchen nicht, den Riesenpuffer, den Berta, um ihn noch leckerer zu machen, verschwenderisch mit Zucker bepudert hatte.
»Langt tapfer zu, Kinners«, nötigte Berta. »Wenn er all' ist, halten wir auf.« 178
Die Möller fragte Berta, ob sie diesen Winter eigentlich viel getanzt hätte. Und nun folgten endlose Erzählungen von Ballerlebnissen, die sich alle auf den Tanzböden der Vororte abspielten. Nur Helene konnte nicht mitsprechen. Sie hatte nie diese Lokale besucht, mit Kunkel nicht, und mit Ludwig nicht. Die waren beide zu »fein« dazu gewesen. Aber jetzt beneidete sie die Freundinnen um diese Vergnügen.
Und als nun Berta halb scherzhaft den Vorschlag machte, man sollte mal zusammen sich einen vergnügten Nachmittag machen, irgendwo, wo Tanz wäre, vielleicht in Bahrenfeld, und die Möller und die Sandvoß gleich ernsthaft darauf eingingen, war auch sie mit dabei.
»Man zu, das wäre nett«, meinte sie.
»Mit oder ohne?« fragte die Möller.
»Mit«, rief die Sandvoß.
Man sah sich unschlüssig an.
Berta war aber entschieden dagegen, daß man Herren mitnahm. Das sollte ja eben der 179 Spaß sein, so auf gut Glück. Zu vieren konnten sie es schon wagen.
Die Sandvoß schien Einwendungen machen zu wollen, schwieg aber.
»Also ohne«, entschied Berta. »Und wann?«
»Pfingsten!« rief die Möller.
»Ja, gewiß! Das ist wahr! Prächtig.« riefen sie durcheinander.
Helene kam plötzlich der Gedanke an ein kleines Grab draußen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Aber sie riß sich gewaltsam davon los. Sie wollte sich von der Vergangenheit befreien, sie wollte glücklich sein, allem zum Trotz.
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Helene war am Tage nach Bertas Geburtstag in den Abendstunden zur Mutter gegangen.
»Kommst du auch mal, Lene? Ich hab' den ganzen Tag an dich gedacht« jammerte die alte Frau, ohne sich von ihrer Arbeit zu erheben. Sie 180 hatte das große Steinfaß auf dem Schoß und zupfte Mützentüll.
»Wie geht es dir denn, Mutter?«
»Schlecht, Kind. Der alte Husten quält mich so. Ich hab' die ganze Nacht nich geschlafen. Und immer die alten Stiche.«
Helene sah sie besorgt an. Die Mutter sah schlecht aus.
»Schick' doch mal zum Doktor«, meinte sie.
»Ach die Dokters, die wissen auch nichts.«
Helene war auch nicht sehr für die Aerzte. Aber die Mutter war nun allein, und es wäre ihr doch eine Beruhigung.
»Ich will mal sehen, wie mich morgen ist. Wenn ich man schlafen kann heut' nacht.«
»Du sollst dich mal 'n Tag zu Bett halten.«
»Wie kann ich woll. Du hast gut reden. All die Mützen, die macht mich keiner fertig.«
Helene kannte die Mutter, sie ließ sich nie helfen. So redete sie auch nicht weiter zu.
»Weißt du, daß Schmüser nun auszieht?« fragte Frau Leidig. 181
»Nein, warum denn?«
»Der wird nu ganz großartig. Er hat sich in der Güntherstraße 'n großen Laden gemietet. Parterre. In das große gelbe Haus, weißt du, in Schumann sein'.«
»So. Denn man zu.«
»'n tüchtigen Geschäftsmann ist er doch«, meinte die Mutter.
»Wie ist die Frau denn?«
»'n nette Frau. Da hat er recht Glück mit gehabt. So propper und fürs Geschäft. Und so eine muß er auch haben.«
»Die passen zusammen«, sagte Helene.
»'n kleine, hübsche Frau. Und zuzusetzen hat sie auch was. Ordentlich 'ne Kugel ist sie.«
»Schmüser als Ehemann«, lachte Helene spöttisch. »Das möcht' ich wohl mal sehen.«
»Na, das laß gut sein, Kind. Er is sehr gut zu ihr. Er is doch auch keinen schlechten Menschen. Du magst ihn ja nu mal nich leiden, von wegen damals. Und das verdenk' ich dir ja auch nich. 182 Aber wer weiß, ob es nich vielleicht dein Glück gewesen wäre.« –»Wie kannst du so was sagen!« fuhr Helene auf. »Lieber tot, als den.«
Beide schwiegen.
»Bist du schon mal wieder draußen gewesen?« fragte die Mutter.
»Ich hab' so wenig Zeit und dann der lange Weg«, entschuldigte sich Helene. – »Ja, der alte, eklige Weg. Aber man muß sich doch um das Grab kümmern. Es is doch immer dein Kind.«
»Wir wollten ja mal zusammen hinaus.«
»Ja, das wollen wir auch mal. Ich kann man immer so schlecht abkommen. Aber Pfingsten, was meinst du zu Pfingsten.«
Helene dachte an die verabredete Tanzpartie, mochte aber nichts davon sagen.
»Zur Himmelfahrt«, schlug sie vor.
»Mir auch recht, Kind. Das is ja auch 'n ganz passender Tag dazu.« 183
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