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7. Kapitel

Worin Rosemarie Thürke einen vollkommen ungesetzlichen Hausstand begründet

 

Indem sie auf das Dunkle, auf den Schuppen, die Bude, den Katen, den alten Kuhstall zugingen, hob Rosemarie etwas wie einen Stein auf. Die schlimme Botschaft vom Nachtquartier im Stall hatte den müden Professor, und was an Protest in ihm steckte, wachgerüttelt, er beabsichtigte zu fragen, was das wohl für ein Stein sei und zu welchen Zwecken etwa ...

Aber Rosemarie hatte schon die Tür probiert, ließ den Stein fallen und sagte verblüfft: »Sie ist ja gar nicht verschlossen!«

»Rosemarie!« fragte der Professor streng. »Du wolltest doch nicht etwa mit einem Stein aufschließen –?!«

»Wenn ich keinen Schlüssel habe, ist solch Stein ein guter Schlüssel«, antwortete Rosemarie. Und leiser, aufgeregt flüsternd: »Pssst! Da ist schon jemand drin! Ganz still ...«

Es war draußen schon dunkel gewesen, völlig dunkel, sternenlose, mondlose Nacht. Aber hier drinnen im Gebäude war es so finster, daß einem die Dunkelheit wie eine schwarze Wand vor den Augen stand.

Eine Weile standen sie lauschend.

»Aber ...«, fing der Professor wieder an zu protestieren.

»Still doch!« flüsterte Rosemarie so ungeduldig, daß er zusammenfuhr. »Hör bloß ...«

Aus der tief schwarzen Dunkelheit kam ein Geräusch wie ein Gurgeln, ein hohles Gurgeln. Dann schnaufte es. Eine Weile war es still, und nun setzte das Gurgeln wieder ein und – es war unheimlich anzuhören – wurde zum Röcheln. Die beiden standen Hand in Hand.

»Im Namen Gottes ...«, sprach der Professor halblaut und rührte beschwörend die Hand.

»Da schläft einer«, flüsterte das Weltkind Rosemarie. »Sicher ein Stromer, der sich eingeschlichen hat. Hast du Streichhölzer?«

Er hatte keine.

»So muß ich welche suchen. Ungefähr weiß ich hier auch im Dunkeln Bescheid. Steh ganz still, Pate, was auch geschieht, es kann eine Weile dauern.«

Der gute Professor Kittguß stand allein in der Schwärze, die weiter schnaufte, gurgelte, sterbend verröchelte. Wohl war ihm wieder einmal nicht zumute. Es war fast wie im Schliekerschen Kohlenstall gestern abend, nur daß es jetzt noch schlimmer war, denn der Kohlenstall war durch den Besitzer legalisiert gewesen, während hier ...

»Rosemarie?« fragte er sacht.

»Pssst!« kam es zum Erschrecken scharf aus nächster Nähe.

»Ich wollte doch bloß fragen ...«, bat er.

»Pssst!!!«

»Aber, Rosemarie, ich muß doch wissen ...«

»Pssssssst!!!«

Er war völlig verzweifelt, illegal ... und nun noch dies Röcheln ... Was war hier ordnungshalber zu tun? Plötzlich fiel etwas laut um, das Röcheln brach ab, in die eintretende Stille fluchte Rosemarie: »Au verdammt!«

Fluchen –! Er wollte das rügen, aber er kam nicht dazu. Denn schon wieder fing dies schreckliche Röcheln und Gurgeln an, auf das er horchen mußte, wie verzaubert ...

Endlich, nach qualvoll langer Wartezeit glomm ein Flämmchen auf, es wurde heller. Mit einer Kerze kam Rosemarie auf ihn zu.

»Jetzt, Pate!« sagte sie und nahm ihn bei der Hand.

Sie näherten sich behutsam dem erschreckenden Nachtgeräusch.

»Wenn es ein Stromer ist, wird er mehr Angst vor dir als vor mir haben, Pate.«

»Furcht, nicht Angst«, verbesserte der alte Lehrer.

»Das ist doch gleich«, flüsterte sie.

»Nein, es ist nicht gleich«, beharrte der Professor. »Vor den Dingen dieser Erde haben wir Furcht, aber ...«

»So komm schon, Pate«, mahnte sie ungeduldig und stieß mit dem Fuß auf. »Ich will endlich wissen ... Denkst du denn, ich bin so mutig?! Aber wenn es ein Stromer ist, schmeißt du ihn einfach raus!«

Es war kein Stromer ... Sondern im unbezogenen Wandbett lag, selbst jetzt im Schlaf die Arme vor dem Gesicht, als sei nicht einmal sein Schlaf vor Schlägen sicher – lag Philipp Münzer. Lag da, ihr Nacht- und Schreckgespenst, und eine ganze Weile standen sie stumm und sahen auf ihn hinab.

»Philipp!« flüsterte dann Rosemarie. »Mein guter Philipp!«

»Philipp!« flüsterte auch der Professor, und das arme Narrengesicht mit dem blaugeschlagenen Auge schien ihm in dieser Stunde etwas Schönes, denn eine Last war von seiner Seele genommen. »Bist du denen nun doch weggelaufen –?«

Der Schläfer bewegte sich, vom Kerzenschein beunruhigt. Er zog einen Arm dichter gegen die Augen und war doch schon hell wach, wie ein Waldtier, das stets zur Flucht bereit sein muß.

Schon wollte er aufspringen, doch da rief Rosemarie mit gemachter Strenge: »Philipp! Legt man sich mit Kleidern ins Bett?! Und gar mit schmutzigen Schuhen!?! Philipp, wann hast du dich das letzte Mal gewaschen? Philipp, Schmutzbartel ...«

Aber längst war der Narr zu ihren Füßen, längst hatte er ihre Hände gegen seine Brust gedrückt. Der arme Junge, er konnte auch sonst kaum sprechen, es war nur Stammeln, abgerissene Wortfetzen höchsten Entzückens, tiefster Dankbarkeit: »Min Deern! Min lütt söt Mäten! Büst du dor? Ick heff all orntlich makt. Ich heff den Herrn funnen, he hett den Breef lesn ...«

Jawohl, davon vergaß er zu sprechen, was er ausgehalten, er gelitten hatte. Er fragte sie stammelnd, ob sie böse gewesen seien mit ihr, die Schliekers, ob sie alles Wasser allein habe tragen müssen, ob das Holz gereicht habe, das er in Vorrat gehauen. »Wat rauh sin din Hän'n ...« Sicher habe sie immer allein waschen müssen und spülen im kalten See: »Un ick wär nich utreten, min Deern, wärst du dor west. Doch wie ich gesehen habe, du bist weg, da bin ich auch weggelaufen, hier in den alten Kuhstall – und nun bist du doch da!«

Er sah sie strahlend an, armer Narr, der er war, ein Zukurzgekommener des Lebens – von der ersten Kindheit an. Zu kurz gekommen – dieser arme Dorftrottel trug eine solche Liebeskraft im Herzen –: der Professor mußte, ob es auch Sünde war, des Briefes vom Apostel Paulus an die Korinther gedenken: »Die Liebe ... verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles ...«

»Oh, meine Kinder«, sagte er und war nun nicht mehr müde und hatte keine Bedenken mehr. Denn wer von solch armem Geschöpf so geliebt wird, des Herz muß selbst voll Liebe sein, wie spröde es sich auch gebärde.

Und Rosemarie –? Rosemarie ließ ihm die Hände und sah still auf den ungestalten Kopf und sagte nur immer wieder beruhigend: »Ja, mein Junge. Jetzt wird alles gut. Ja, du bist treu, Philipp.«

Als aber das arme Herz sich gar nicht beruhigen wollte, nahm sie den Kopf fest zwischen ihre Hände und mahnte: »Philipp, was denkst du dir eigentlich? Willst du weiter faul sein?! Siehst du den Herrn Professor nicht? Er ist müde und hungrig, und ich bin auch müde und hungrig, und kalt ist es hier –! Du wirst jetzt tüchtig arbeiten. Marsch und hol erst mal Holz!«

Damit gab sie ihm einen zärtlichen Schlag auf die Schulter, und sofort war der Junge hoch, sah die beiden noch einmal strahlend an – und schoß aus der Türe.

Keine zehn Minuten, da saß der Professor schon gemütlich in einem großen ledernen Sessel, eine wollene Decke über den Knien und seine schönen weichen Kamelhaarschuhe an den müden Füßen. Still zufrieden sah er in die prasselnde, lohende, so herrlich lebendige Flamme im großen Ziegelkamin, und dann sah er wieder lächelnd und ganz glücklich in den alten Kuhstall, der jetzt von einer großen Petroleumhängelampe sanft erhellt war.

Seine beiden Schutzbefohlenen wirtschafteten eifrig um ihn: Rosemarie bereitete irgendein Abendessen aus Tüten und Schachteln, und der Junge, der Philipp, war – ziemlich geschickt sogar – damit beschäftigt, die Federbetten in der Nähe des Kamins anzuwärmen und zu beziehen.

Der Professor aber fühlte sich nach all dem Trubel der vergangenen Tage viel zu behaglich, als daß er gemerkt hätte, daß all diese Kisten, Wandschränke und Truhen auf eine nicht ganz legale Weise, nämlich nicht mit dem Schlüssel, sondern mit einem Stemmeisen, geöffnet wurden. Und Rosemarie ihrerseits war wiederum viel zu klug, bei diesem Öffnen unnötigen Lärm zu machen, sondern ließ sich ein kleiner Krach gar nicht vermeiden, fiel sicher grade ein Topf klappernd zur Erde, oder der Philipp klöbte krachend ein Buchenscheit auf.

Nein, nichts störte des Professors Frieden, einen Finger in der geliebten Offenbarung Johannis saß er glücklich da; bis er auf den Vers geriet: »Wer Unrecht tut, tue ferner Unrecht; und wer unflätig ist, treibe ferner Unfläterei; und der Gerechte tue ferner recht, und der Heilige heilige sich ferner ...«

Da war es freilich kein Wunder, daß er wieder in seine alten Bedenken geriet: »Wir dürfen doch auch hier sein, Rosemarie?«

Sie sah nur flüchtig auf und sagte mit einem leichten Anklang an den alten Trotz in der Stimme: »Natürlich dürfen wir hier sein, Pate. Niemand wehrt es uns.«

Der alte Mann nickte zufrieden mit dem Kopf. Da fühlte er etwas Weiches und Warmes an seiner Hand, und als er hinabsah, war es der Rosemarie Wange, die sich da angeschmiegt hatte. Er sah aber nur den blonden Scheitel des hingeknieten Mädchens. »Nun, mein Kind?« fragte er sanft.

»Ich will dir alles erklären, Pate«, sagte sie. »Weil ich jetzt oft daran denke, daß man eine gute Sache nicht mit einer Lüge beginnen soll ...«

»Und das scheint manchmal schwer?« fragte er.

»Schwer, ja«, sagte sie. »Weil man es nicht einsehen kann, denn alle, alle machen es doch anders.«

»An die andern dürfen wir dabei nicht denken, mein Kind. Wir müssen an unser Herz und an Gott denken.«

»Ach«, sagte sie leise.

»Das möchtest du nicht, mein Mädchen, nein?« sagte er. »Du möchtest um deiner selbst willen rein sein? Ich weiß, ich weiß. Aber unsere Reinheit ist nichts, wenn sie nur um unserer selbst willen da ist, verstehst du das?«

Sie antwortete nicht, und er wartete umsonst wenigstens auf ein Nicken ihres Kopfes. »Also erzähle, Rosemarie«, sagte er geduldig. »Erzähle, was du sagen wolltest.«

»Ich«, sagte sie stockend. »Ich wollte von dem Waldhaus sagen ... Ach Pate!« Und nun sah sie voll zu ihm auf. »Ich denke immer daran, aber es ist, als gäbe es zwei Welten – und du und der Papa und die Mama – ihr seid in der einen, aber alle, alle andern leben in der zweiten. Und sechs Jahre muß ich nun doch schon in der zweiten sein – und bin erst sechzehn!«

»Du willst erzählen, was es mit diesem alten Waldhaus auf sich hat, mein Kind! Von den zwei Welten und daß du in keiner von ihnen zu Haus bist (denn du bist auch in der zweiten nicht zu Haus), davon wollen wir später sprechen.«

Damit legte er ihr die Hand aufs Haar und fühlte, wie erleichtert sie war, und sie sagte jetzt auch rasch und fröhlich: »Das ist alles ganz einfach, Pate. Wir dürfen wirklich hier sein, wenn ich auch nicht gefragt habe. Als ich noch bei den Gaus Pflegekind war, kamen jeden Sommer Gäste zu ihnen, ein Berliner wie du, Pate, aber mit seiner Frau – vielleicht kennst du ihn, Vogel heißt er ...«

»Nein, Berlin ist sehr groß, Rosemarie, viel größer, als du denken kannst.«

»Aber vielleicht hast du von ihm gehört. Er hat eine Fabrik und ein Automobil, das erste Automobil, das ich in meinem Leben gesehen habe! Sicher hast du von ihm gehört, Pate!«

»Nein – nein. Ich kenne nur sehr wenige Menschen in Berlin.«

»Ich dachte«, sagte sie ein wenig enttäuscht, »weil er doch eine Fabrik und ein Automobil hat.«

»Diese Motorwagen kommen immer mehr auf«, sagte der Professor mißbilligend. »Man muß auf der Straße so aufpassen. Manchmal verstehe ich unsere Obrigkeit nicht. – Nun, erzähle weiter, mein Kind!«

»Herr Vogel angelt immer auf dem See, aber die Fische braucht er gar nicht, er ißt keine Fische, sagt er, er verschenkt sie bloß, an Gaus und im ganzen Dorf. Und Frau Vogel badet immer, auch im See, denke dir, und sie kann schwimmen. Jeden Tag tut sie das, und hinterher liegt sie stundenlang in der Sonne – komische Leute gibt es.«

Sie saß nachdenklich.

»Und was ist es mit dem Waldhaus?« mahnte der Professor.

»Ja, richtig«, sagte sie und verließ die Erinnerung an den Badeanzug von Frau Vogel, rot mit weißem Besatz und einem langen Rock, der abgeknöpft werden konnte, es aber nicht wurde, denn wir schreiben das Jahr 1912 – sie wußte nicht, war er nun sehr unanständig oder sehr schön.

»Unsadel hat den Vogels schon gefallen«, fing sie wieder an, »aber Gaus gar nicht. So haben sie denn von ihnen den alten, verlassenen Kuhstall hier im Walde gepachtet und haben ihn ausbessern und den Kamin einbauen lassen ...«

»Dat Dack ...« ließ sich Philipp mahnend vernehmen.

»Wie –?! Ja, du hast recht, Philipp, das Dach haben sie auch neu decken lassen und die schönen Möbel hergeschafft – sie sagen, es ist doch nur altes Gerümpel, das ihnen auf dem Boden herumstand. Ja, und so ist denn der alte Kuhstall geworden, was er jetzt ist, und vom ersten Oktober bis ersten April kommen sie nie her, und so können wir hier ganz ungestört wohnen ...«

»Ja«, sagte der alte Professor, »das wissen wir nun, Rosemarie, daß wir hier ungestört wohnen, aber dürfen wir hier auch wohnen?«

»Och!« machte sie nachdenklich. Aber dann sagte sie ganz schnell: »Und doch dürfen wir hier wohnen! Vogels haben wohl gesehen, wie schlecht Gaus zu mir waren, und wenn es nur irgend ging, haben sie gefragt: ›Frau Gau, kann uns die Rosemarie heute ein bißchen helfen? Wir bezahlen es auch.‹ Dann durfte ich, und Frau Vogel sagte: ›Setz dich fein still hin, Rosemarie, und stopf deine Strümpfe. Mein Mann mag ruhig das Wasser tragen und Holz hauen, das tut seinem Bauch besser als deinem Rücken.‹ Dann hat er geschimpft, aber nur so, bis sie lachen mußte. Sie haben sich überhaupt nie richtig gestritten, sie haben bloß miteinander gelacht – gibt es das überhaupt, Pate, Eheleute, die nicht streiten?«

»Natürlich gibt es das, Rosemarie«, sagte der Pate erschrocken. »Das weißt du doch gut. Denke einmal an deine lieben Eltern oder an den Bauern Tamm hier im Dorf.«

»Tamm –?« fragte Rosemarie gedehnt. »Wo er alles verschwendet und sie muß jeden Pfennig sparen? Und die Eltern ...«

»Rosemarie«, sprach der Pate streng und richtete sich im Sessel steil auf. »Du kennst doch das vierte Gebot?«

»Ja, Pate«, antwortete sie gehorsam, und es schien, als wollte sie nicht weitersprechen. Aber dann sagte sie doch: »Es ist doch so, Pate, es ist doch so! Ich weiß noch genau, wie oft Mama geweint hat, wenn Papa wieder Geld verschenkte oder auslieh, weil er nicht nein sagen konnte. Es ist doch so!«

»Du irrst dich, Rosemarie«, sagte der Professor eindringlich. »Ich kenne doch meinen Freund Thürke. Du irrst dich bestimmt.«

Rosemarie schwieg.

»Und ist es nicht gut, mit seinem Geld andern Menschen zu helfen?« fragte der Professor wieder.

»Wenn es aber gar keine Hilfe ist, sondern wird nur vertan; wie von Stillfritz, der es nur vertrinkt –?«

»Oh, mein Kind, mein Kind«, rief der Professor traurig. »Wie schnell bist du fertig mit deinem Urteil über die andern, über die lieben Eltern, über alles! Der Stillfritz ist heute der einzige gewesen, der daran gedacht hat, deinem verhungerten Philipp eine Suppe zu geben ...«

Sie schwieg.

»Warum sind wir hier? Mit welchem Recht sind wir hier?« fragte er wieder. »Ich muß das jetzt wissen.«

Sie sah ihn an. Sie war ein Mädchen, ein Kind nur, Klage und Anklage war in ihrem Blick, Trauer ... Etwas regte sich in seinem alten Herzen, das er nie gekannt, »Holdseligkeit ...«, dachte er ... »Er hat auch die Kinder geliebt, sie stehen seinem Reich am nächsten ...« Das kam und ging, aber die Wärme blieb und wurde stärker, als er ihr die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Ich bin hungrig und sehr müde – und ihr werdet es auch sein. Es ist tiefe Nacht. Aber besser wäre es uns, auf dem Weg zum nächsten Gasthaus liegenzubleiben, als ungerecht hier zu verweilen.«

Sie hatte auch die Wärme gespürt, das nahe Gefühl, die echte menschliche Bekümmertheit. »Aber wir dürfen wirklich bleiben, Pate«, sagte sie sanft. »Da reichen keine zwanzigmal, daß Frau Vogel mir gesagt hat: ›Wenn du es gar nicht aushältst, Rosemarie, kommst du zu mir. Ich will dir mit allem und in allem helfen.‹ Und es ging uns doch ganz schlecht«, sagte sie, und ein leises Lächeln kam in ihr Gesicht, ein leises, schalkhaftes Lächeln. »Und ich bin doch nun hier bei ihr zu Gast ...?«

»Ich hoffe, es ist alles richtig«, murmelte der Professor und sah unsicher auf das Mädchen.

»Sie würde bestimmt nichts dagegen haben!«

»Aber ich –? Und der Junge –?« fragte der Professor noch einmal.

»Ach, ihr!« rief sie, fast übermütig, »ihr gehört doch zu mir! Und schließlich, Pate, wenn du willst, kannst du es ihr ja später in Berlin bezahlen.«

Er atmete tief auf. »Richtig«, sagte er erlöst, »richtig! Daß ich doch nie an das Geld denke! Frau Stillfritz mußte mich heute mittag auch erst an das Bezahlen erinnern. Du wirst mich an diese Schuld erinnern, Rosemarie, ehe wir uns trennen?«

»Das werde ich!« lachte sie. »Aber ich denke immer, wir trennen uns noch lange, lange nicht. Du weißt ja, Pate, was du überlegen wolltest. Und eigentlich möchte ich, daß du nicht nur mein Vormund, sondern auch mein Pflegevater würdest!«

»O Gott!« sagte er, wieder einmal sehr erschrocken. »Nein nein, Rosemarie«, meinte er dann. »Nicht so hastig. Das müssen wir alles lange bedenken und verständige Leute darum befragen. Ich weiß auch gar nicht, ob dir Berlin gefallen würde ...«

»Ja«, sagte sie nachdenklich und gestand nicht, daß sie an keinen Pflegevater in Berlin, sondern an einen auf ihrem Unsadeler Hof dachte, statt des Päule, trotzdem das eigentlich kaum auszudenken war.

»Eten fertig!« mahnte Philipp.

»Gleich!« sagte sie. Sie sah ihn noch einmal an, wie er da vor dem Kaminfeuer saß, den Kopf müde auf der Brust – und eigentlich sieht so keine sechzehnjährige Tochter ihren bald siebzigjährigen Pflegevater an, sondern eine Mutter ihr hilfloses Kind.

So half sie ihm auch beim Essen – und ein etwas seltsames Essen war es, denn die vorgefundenen Vorräte waren nicht sehr ausgiebig gewesen. Es gab eine Erbssuppe von Erbswurst und rosa Pudding von Puddingpulver – und der Professor aß alles auch brav, trotzdem er nicht ganz sicher war, daß es ihm auch bekommen würde. Es war alles gar nicht wie bei der Witwe Müller. Sie aber half mit ihrem Geplauder, daß er lächelte und sich wohl fühlte.

Als dann der Professor wieder warm mit seiner Bibel am Kamin saß, flüsterte sie beim Abwaschen heimliche Worte mit Philipp, und lautlos verschwand der Junge aus dem Waldhaus in die Nacht.

Dann kehrte sie nach getaner Arbeit zu dem alten Mann zurück, setzte sich auf ein Bänkchen zu seinen Füßen und faßte zart seine Hand. Er sah von seinem Buch einmal zu ihr hin und lächelte. So saßen sie still beieinander, die Flammen lohten, sangen und prasselten, und allmählich wurde der Professor Kittguß sehr müde, sein Buch sank in den Schoß, er schlief ein.

Sie saß weiter still vor dem Feuer, die alte Hand des Schläfers in ihrer jungen, wachen: sie sah in das Feuer, und seit vielen, vielen Tagen war es in ihrem Leben die erste Abendstunde, da keine harte Stimme scheltend ihre müden Füße zur Arbeit trieb.

Sie wußte, es konnte nicht währen, es durfte so auch nicht werden, denn wenn sie irgend nach getaner Arbeit auf der Welt stillzusitzen hatte, dann allein auf ihrem Unsadeler Hof. Dies Jetzt war schön, aber es war vergänglich, weil sie nicht in ihrem Heim saß und nicht auf ihrem Boden. Ihr Heim war in Gefahr, ach, sie kannte alle Ränke und Schliche, mit denen Päule Schlieker, das Gesetz im Rücken, es bedrohte.

Und sie war nichts. Die Vormünder hörten nicht auf sie. Sie hatten dem Ehepaar Schlieker dies Monatsgehalt von hundert Mark bewilligt, sie sagten, es sei nicht zuviel für die Arbeit von zweien! Vielleicht war es wirklich nicht zuviel, aber etwas anderes war es, ob dieser Hof, diese fünfunddreißig Morgen, hundert Mark im Monat hergaben! Etwas anderes war es, wie wenig Arbeit für so viel Geld getan wurde!

Sie waren ja vorsätzlich faul, sie ließen ja absichtlich alles verkommen, denn dann konnte Schlieker am Schluß des Jahres mit seiner Rechnung vor den Vormündern klagen: »Nun hat es wiederum nicht gelangt für mein Gehalt! Der Herr Pastor Thürke hat ganz schön und erbaulich reden können, aber von Landwirtschaft hat er soviel verstanden wie die Kuh vom Seradellahandel – solchen Dreckhof zu kaufen! Man schuftet sich noch tot auf dem verhungerten Boden. ›Von nichts wird nichts‹, sagte der Hund und fraß die Wurst, und so muß ich bitten, daß mir eine Sicherungshypothek für mein Gehalt auf den Hof eingetragen wird!«

Ihnen tat es nicht weh, sie ließen eintragen: im ersten Jahr sechshundert Mark Restforderung, im zweiten achthundert dazu, und in diesem Jahre würde er vielleicht schon tausend fordern ... Und zu den Hypotheken kamen die Zinsen, Stunde um Stunde, Monat um Monat, Jahr um Jahr ..., es war der Rosemarie, als kämpfe sie versinkend in einem Strom mit immer neuen, immer stärkeren Wogenbächen ...

Sie war allein, und keiner wollte sie verstehen, und keiner half ihr. Die Flammen lohten, das Buchenholz knisterte und prasselte, durch die Asche lief aufleuchtend ein Faden Glut. Sie starrte darauf, ein trockenes, heißes Brennen in den Augen, sie redete wieder – wie dutzendmal schon – zu Frau von Wanzka, zu Kaufmann Mühlenfeldt.

Jawohl, es war nicht nur zuviel Geld, es war auch böse Absicht, Betrug. Wo waren die fünfzehn Zentner Roggen hingekommen im vergangenen Herbst? Wo blieben die vielen Äpfel? War es etwa auch richtig, daß er die fünf Pflegekinder mit ihrer Kuhmilch ernährte und steckte das Pflegegeld in die Tasche?

Betrug! Betrug!! Betrug!!!

»Bring uns Beweise, Kind«, sagten sie. »Wie heißt er, der den Roggen, die Äpfel gekauft hat? Für das Milchgeld hat Schlieker Kohlen angeschafft und dir ein Kleid. Nein, geh jetzt, wir haben es über. Erst waren dir die Gaus nicht recht, und nun, da wir dich zu den Schliekers gegeben haben, sind die wieder nicht gut. Keiner kann sich den Napf aussuchen, aus dem seine Eltern ihm das Essen geben!«

»Puh, diese Großen«, dachte Rosemarie und stieß mit dem Schürhaken zornig in die Glut, daß die Flammen hoch in den Schornstein schlugen.

Sie berührte leise und zärtlich die Hand des Schläfers, zärtlich sah sie in das alte, gütige Gesicht; das auch im Schlaf gütig blieb. Sie war sicher, daß sie ihn führen könnte, wie sie wollte, sie überschaute ihn: er war gütig, unerfahren, ruhebedürftig, sagte ungern nein.

Einen Augenblick regte sich etwas wie Unruhe in ihr, als sie den ausdrucksvollen Mund, das feste Kinn betrachtete. Einen Augenblick erinnerte sie sich, daß sie beide in keiner Sache fast einer Ansicht waren. Einen Augenblick überkam sie eine Ahnung von der Macht, die in seiner beharrlichen Milde lag. Aber das kam und ging. Sie war sechzehn, sie vertraute ihrer Kraft, sie glaubte die Welt noch formen zu können nach ihrem Bilde.

Kleine Flammen prasselten und tanzten jetzt, Rosemarie hob den Kopf höher. Die kleinen Flammen tanzten und sangen ein Siegeslied, ihr Siegeslied. Sie hatte heute viel erreicht: sie war los von den Schliekers, sie hatte ihnen mit den fünf Pflegekindern einen Streich gespielt, der ihnen übel bekommen konnte, und sie war ganz allein mit dem alten Professor, im tiefen Wald, fast zwei Gehstunden von Unsadel. Keiner konnte auf ihn einreden, sie hatte ihn allein, in der Ruhe, in der Geduld.

»Siegerin Rosemarie!« hüpften und sangen die Flammen. »Siege weiter. Sei lebendig wie wir, Rosemarie! Kämpfe!«

Sie saß da, den Kopf erhoben, mit strahlenden Augen und leuchtenden Wangen – sie ahnte nicht, daß eines Abends größere, grausige Flammen ihr ein ander Lied singen würden, ein Lied von Zerstörung und dem ewig Verlorenen, ein Lied von der Unwiederbringlichkeit des Gestern, ach, des eben noch gehegten Hoffens ...


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