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Worin Professor Kittguß in Geldsachen ohne Geld nach Berlin verreist
Dreier Stunden schärfsten Hinhorchens, lautesten Schreiens, tiefster Kenntnis aller Verwandtschaften im Dorfe Porstel hatte es bedurft, um das Geilkraut des Klatsches so weit zu lichten, daß die Witwe Radefeldt genötigt und bereit war zuzugeben, daß alle ihre Anmerkungen über Vorleben, Ehe, Charakter und Fähigkeiten der Frau Thams erstunken und erlogen waren. Worauf achtzehn weitere verleumderische Nachreden anderer Dorfeinwohner in sich zusammenfielen wie angestochene Schweinsblasen.
Amtsgerichtsrat Schulz auf seinem hohen Thron hatte bitten und drohen, schmeicheln und väterlich vermahnen müssen, er hatte zu überlisten und zu verblüffen gehabt, und vor allen Dingen hatte er natürlich geschrien, über die Maßen, lauter als alle, vernichtend, durchdringend geschrien. Aber nun winkte nahe die Siegerkrone des Vergleichs, die den Richter mehr ehrt als zehn Beleidigungsklagen.
Er wischte sich die Stirn, seine Stimme war sanft und geölt, der Sündenbock – wenn man so sagen darf –, Witwe Radefeldt, lieferte nur noch das letzte Rückzugsgefecht, um die Unterschrift unter das Protokoll, das Geldbuße und Widerruf in der Lokalzeitung festsetzte, zu verbrämen –
Da schlich durch die vorsichtig geöffnete Tür auf Zehenspitzen, nur ganz behutsam mit dem Säbel klirrend, Justizwachtmeister Thode an den Richtertisch.
»Thode –!« flüsterte Amtsgerichtsrat Schulz vorwurfsvoll und setzte an zum Weiterbegütigen der Witwe Radefeldt.
»Es ist ein Herr draußen ...«, flüsterte Thode geheimnisvoll.
Amtsgerichtsrat Schulz hatte zu lauschen und zu schauen. Neigte nicht schon die dicke Gastwirtin Eichberg der Radefeldt flüsternd den Kopf zu, ihr neues Gift einzuspritzen –? Noch stand keine Unterschrift unter dem Protokoll, noch war alles in der Schwebe ... »Und wenn es der Herr Justizminister ist, Thode –!« stöhnte Schulz.
»Es ist der alte Herr, der mit der kleinen Thürke ... Sie wissen schon ...«
»Ja, ja«, stöhnte der Amtsgerichtsrat. Er sah, wie Frau Thams mit ihrem jungen Vetter Max in Verbindung zu kommen suchte, dessen Rolle in diesem Spiel bei weitem nicht ganz klar war. »Bringen Sie ihn rein, Thode, setzen sie ihn in eine Ecke. Lassen Sie ihn nicht weg. In einer Viertelstunde bin ich, hilf Gott, so weit ...« Und mit lauter Stimme: »Wir fahren fort. Frau Radefeldt, Sie haben weiter erklärt –«
»Herr Richter«, sagte die Radefeldten und erhob ihre derbe, knochige Gestalt zu voller Größe. »Ich habe mir den Kram noch mal überlegt: ich will es doch auf einen Prozeß ankommen lassen!«
»O Gott«, stöhnte Amtsgerichtsrat Schulz innerlich, »da haben wir ja nun die Bescherung. Dieser unselige Berliner Professor – nichts als Unheil bringt er!«
Laut aber sagte er: »Frau Radefeldt, das können Sie halten wie Pastor Nolte. Doch das sage ich Ihnen jetzt mindestens zum zehnten Mal, bei einem Prozeß werden Sie voraussichtlich nicht mit einer Geldbuße wegkommen, sondern ...«
Die Tür tat sich auf, alle Gesichter wandten sich von Schulz fort und dem Professor zu. Er trat ein, groß und stattlich, mit dem freundlichen Gesicht unter den altersweißen Haaren. In der einen Hand hielt er seinen großen Schlapphut und in der andern einen sehr großen, sehr bunten Wiesenstrauß. Der Professor Kittguß dankte dem Wachtmeister Thode freundlich, und – siehe, der Amtsgerichtsrat sah es mit Staunen – der brummige Thode lächelte. Dann verbeugte sich der alte Mann höflich vor Auditorium und Richter. »Einen gesegneten guten Morgen«, sprach er und setzte sich in eine Ecke.
»Nein«, dachte der Amtsgerichtsrat Schulz völlig verdutzt, »für so töricht hätte ich die gute Frau von Wanzka wahrhaftig nicht gehalten. Des Schliekers schwarzem Herzen traue ich es ja unbesehen zu, daß er selbst diesen freundlichen alten Herrn für einen Schurken hält, aber Frau von Wanzka – unbegreiflich! Was macht er nur? Er riecht an Vergißmeinnichts. Seit wann riechen denn Vergißmeinnichts? Nun – es mag ja andere Nasen geben als deine, Schulz, für die auch Vergißmeinnichts duften, für die nicht einmal Schliekers stinken ... Also«, sprach er laut, aber sanft, »ich fahre in der Verlesung des Protokolls fort ... Was Sie da eben gesagt haben, liebe Frau Radefeldt, das überlegen Sie sich vielleicht noch ein elftes Mal, ja? Denken Sie doch, was für ein Triumph das für Sie wäre, wenn nun alle friedlich-schiedlich heim nach Porstel gingen, und alle Neider und Streiter hätten das Nachsehen ...«
Dieser Appell an die Hauptneiderin und Hauptstreiterin war prozeßtechnisch sicher anfechtbar. Aber sei es nun, daß er auf die boshafte Frau Radefeldt wirkte oder daß die eben ausgesprochene Warnung vor dem sicher schlimm ausgehenden Prozeß es getan hatte oder, und das schien Schulz seltsamerweise am wahrscheinlichsten, daß es der freundliche Zuhörer tat mit seinem lächerlichen Strauß –: Frau Radefeldt murmelte nur etwas Unverständliches von nicht so laut vorlesen und setzte sich wieder.
Amtsgerichtsrat Schulz las also sein Protokoll weiter, und er las es so, wie er es noch nie getan hatte, nämlich unverständlich und nuschlig – und über alle schlimmen Stellen huschte er glättend hinweg.
»Nun«, sprach er dann mit einem tiefen Atemzug, »wer von Ihnen ist denn nun die Mutigste und geht mit dem Unterschreiben voran?«
Plötzlich waren sie alle da, und die Feder konnte gar nicht schnell genug von einer Hand in die andere gehen, und sie bedankten sich auch noch schön bei dem Herrn Richter. Der nickte ihnen von seinem hohen Stuhl freundlich und herzlich zu, wie ein rechter Lehrer seinen Kindern, die wohl einmal ungezogen sein können, aber nie schlecht.
Aber wenn sie aus der Tür gingen, dann nickten sie alle – das sah der Herr Amtsgerichtsrat wohl – dem alten Mann in der Ecke zu. Der nickte freundlich zurück und winkte ein wenig mit dem Strauß in der Hand – als sei er der netteste Schulrat von der Welt. Und vor einer halben Stunde hatte doch noch die ganze Amtsstube gestunken, als sei hier ein Riesenkübel Unrat und Unflat ausgeschüttet worden.
»Amtsgerichtsrat Schulz«, stellte er sich vor und sah zu dem stattlichen Mann auf, dem er etwa bis zum fünften Westenknopf von unten reichte.
»Professor Gotthold Kittguß aus Berlin«, sprach der Professor. »Was für eine nette Versammlung Sie hier eben hatten, welch freundliche, gute Gesichter! War es eine Trauung –? Ich konnte nicht ganz folgen. Aber Sie trauen wohl nicht?«
»Nein, ich traue nicht«, sagte der Amtsgerichtsrat nachdenklich und versuchte, in den Doppelsinn seiner Worte eine Bedeutung zu bekommen. Doch warum sollte er schließlich den alten Mann enttäuschen? »Es war etwas Ähnliches, eine Versöhnung.«
»Ja, ja«, sagte der, »Ihr Beruf muß Sie doch freuen, ein schöner Beruf ...«
Und er sah sich in dem düsteren, grauen, staubigen Amtszimmer um, als suche er hier nach einem Zeichen dieser Freude.
»Sie wollten mich sprechen, Herr Professor?« fragte der Richter eilig.
»Ja. Nein. Ich dachte, Sie wollten ... Ich bin nämlich vor einigen Stunden gewissermaßen verhaftet worden. Es war da eine etwas peinliche Sache wegen Geld. Und auch mit meinem Patchen Rosemarie schien es nicht zu stimmen. Ich bin nämlich der Pate der Rosemarie Thürke.«
»Ich weiß, ich weiß«, beeilte sich der Amtsgerichtsrat.
»Ja, aber dann ließ man mich im Wald stehen. Es war eine sehr energische Dame, mit einem gewissen Vorurteil gegen mich. Sie nannte mich Wüstling ...« Er lächelte, als bäte er um Verzeihung. »Nun, das wird sich aufklären. Sie ist nicht zurückgekommen. Ich habe eine Weile gewartet, dann ging ich weiter, und durch einen Zufall geriet ich nach Kriwitz ...«
Der Amtsgerichtsrat strich seinen Bart. »Es hat sich alles schon aufgeklärt«, sagte er. »Wir haben Sie uns etwas anders vorgestellt ...«
»Ich war auch anders«, sagte der Professor plötzlich ernst. »Bis heute früh war ich anders. Eigensüchtig, möchte ich sagen ...«
»Nein, nein«, protestierte der Amtsgerichtsrat erschrocken.
»Doch, doch«, sagte der alte Mann ernst. »Ich war ein alter, vertrockneter Mann, der nur an sich dachte. Aber dann habe ich die Kinder gesehen, nicht nur Rosemarie, alle Kinder, und heute früh bin ich über einen Zaun geklettert – und nun ist alles anders geworden.«
»Über einen Zaun?!« fragte der Amtsgerichtsrat erstaunt und zweifelnd.
»Ja«, nickte der Professor. »Er hat viele Wege.«
Einen Augenblick schwiegen beide und sahen sich an. Es war nicht zu leugnen, daß der sichere Herr Amtsgerichtsrat etwas verlegen war.
»Wir müssen über all dies reden, Herr Professor«, sagte er dann eifrig. »Vor allem auch darüber, wie Sie sich die Hilfe für Ihr Patchen denken. Sie wissen vielleicht, daß ich Vormundschaftsrichter bin.«
»Die Hilfe –? Ja, zuerst dachte ich, sie brauchte Hilfe, aber jetzt zweifle ich fast. Vielleicht brauche ich ihre Hilfe. Ich habe gedacht, ich wollte zu ihr ziehen, in ihr Häuschen. Die Stube meines verstorbenen Freundes Thürke gefällt mir ausnehmend. Da können wir dann zusammen leben ... Ich weiß nicht, vielleicht ist es zuviel verlangt von mir ...«
»Nein, nein«, beeilte sich der Amtsgerichtsrat. »Nicht die Spur zuviel! Aber da sind diese Schliekers ... Sie haben gewisse Rechte ... Ich fürchte, sie werden Schwierigkeiten machen ...«
»Schliekers? Ach ja! Aber könnten sie denn nicht wohnen bleiben? Das Arbeitszimmer meines Freundes Thürke wird nicht benutzt – ich würde keine Umstände machen.«
»Ich dachte nicht so sehr an die Umstände«, sagte der Amtsgerichtsrat langsam, »ich dachte an den Einfluß der Schliekers ...«
»Ja freilich, ja, es sind arme Leute, innerlich arm, sie wissen nicht, was sie tun ... Doch Bauer Tamm hat mir erzählt, daß sie dem Gelde zugänglich seien. Ich weiß wohl«, sagte der Professor hastiger, »es ist nicht der richtige Weg. Man soll Freundlichkeit nicht erkaufen.«
»Also Sie denken an Geld«, sagte der Amtsgerichtsrat Schulz ganz fröhlich. »Sehen Sie, endlich bekommen wir festen Boden unter den Füßen, etwas Reales. – Aber wir stehen noch immer. Kommen Sie, setzen wir uns doch. Nun wird alles gleich klar sein. Nein, bitte nicht diesen Stuhl, vielleicht jenen dort. Ich habe mir den meinen etwas höher bauen lassen, ich bin etwas klein geraten. Nicht, daß ich darüber klagte, im Gegenteil, es ist nützlich. Also Geld – Sie wollen vielleicht etwas Geld an die Sache wenden ... Ich will nicht indiskret sein, Herr Professor, aber ich bin Tatsachenmensch, und da frage ich Sie geradeheraus: wieviel –?«
»Wieviel –? Wieviel was? Ich verstehe nicht ganz ...?«
»Aber Geld«, sagte der Amtsgerichtsrat und kicherte. »Lieber Herr Professor, Geld! Wieviel Geld Sie an die Rettung Ihres Patchens wenden wollen?«
»Ach«, sagte der Professor erstaunt, »Sie glauben, das wäre so wichtig? Aber dann natürlich alles, was ich habe!«
»Und wieviel wäre das vielleicht, mein verehrter Herr Professor?« fragte der Amtsgerichtsrat, und seine Stimme hatte einen wahren Sirenenklang.
»Ich kann das so genau nicht sagen«, antwortete der Professor verwirrt. »Sie müssen verstehen, ich habe mich bisher nur wenig mit Geld beschäftigt. Meine Ausgaben erledigt Frau Müller ...«
»Wer ist Frau Müller –?!« fragte der Amtsgerichtsrat ziemlich scharf, denn hinter all diesem Gerede schien ihm – auch in Anbetracht der unbezahlten Lüttenhäger Zeche – weiter nichts zu stecken als ein leeres Portemonnaie.
»Meine Wirtschafterin in Berlin«, sagte der Professor sanft.
»Aber Sie müssen doch wissen, wieviel Geld Sie haben, mein lieber Herr Professor«, rief der Amtsgerichtsrat verzweifelt. »Bekommen Sie Pension? Wieviel Pension beziehen Sie?«
»Dreihundertachtzig Mark«, antwortete der Professor folgsam.
»Und das bekommt alles diese Frau Müller?«
»Nein, nein, nur hundertachtzig.«
»Und der Rest, wo bleibt der?«
»Auf meiner Sparkasse.«
»Ah, ah! Sie haben also ein Konto bei der Sparkasse?«
»Ein Buch, nur ein Buch«, verbesserte der Professor.
»Also ein Buch, schön – und da bleiben jeden Monat zweihundert Mark stehen?«
»Ich kaufe mir auch manchmal Bücher«, gestand der Professor ängstlich.
»Aber doch nicht für zweihundert Mark im Monat!« schrie der Amtsgerichtsrat. »Für fünfzig? Für hundert?«
»Nein, nicht so viel.«
»Wieviel?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht könnte man bei meiner Buchhandlung anfragen?«
Der Amtsgerichtsrat machte eine ärgerliche Handbewegung, als scheuchte er eine lästige Fliege fort. »Also hundert Mark bleiben bestimmt jeden Monat stehen?«
»Ich denke«, sagte der Professor ängstlich.
»Und wie lange? Wie lange sind Sie schon pensioniert?«
»Sechzehn Jahre.«
»Aber Mann«, rief der Amtsgerichtsrat aufgeregt und verbesserte sich. »Sehr verehrter Herr Professor, entschuldigen Sie, wenn ich zappele. Aber solch ein Mensch wie Sie ist mir noch nicht vorgekommen. Da haben Sie ja annähernd zwanzigtausend Mark auf der Kasse –?!«
»Ja?« fragte der Professor ängstlich. »Es ist ja möglich ...« Und im Bestreben, seine Sache gut zu machen und auch alles zu erzählen: »Und dann ist doch auch noch das Erbteil meiner lieben Eltern da.«
»Geerbt haben Sie auch noch?! Wieviel?«
»Ja, ich weiß doch nicht, es sind so Papiere ...«
»Pfandbriefe, Aktien, Kuxe –? Was war Ihr Herr Vater?«
»Rechtsanwalt und Notar.«
»Also gute, sichere Papiere«, entschied der Amtsgerichtsrat. »Bekommen Sie Zinsen?«
»Ja, ich glaube. Es wird immer ordentlich in meinem Buch angeschrieben, ich habe nicht recht darauf geachtet, fürchte ich.«
»Wieviel Zinsen?« fragte der Amtsgerichtsrat unerbittlich.
»Waren es dreitausend Mark?« fragte der Professor träumerisch. »Ja, ich denke, es waren etwas über dreitausend Mark im Jahr.«
»Aber da sind Sie ja ein reicher Mann!« schrie der Amtsgerichtsrat aufgeregt und trommelte mit den Händen auf den Schreibtisch. »Da gibt es ja gar keine Probleme mehr. Da können Sie Schliekers und den ganzen Thürkeschen Hof und noch drei Höfe dazu kaufen!«
»Ja?« fragte der Professor. »Das wußte ich nicht.«
»Nein, das wußten Sie nicht«, sagte der Amtsgerichtsrat plötzlich verdrießlich. »Und nun erzählen Sie mir einmal, Herr Professor, wie es kommt, daß ein so wohlhabender Mann nicht einmal sein Frühstück bezahlen kann.«
Der Professor berichtete es, und der Amtsgerichtsrat hörte aufmerksam zu.
»Nein, Herr Professor«, sagte er dann. »So geht es nicht. Das ist unmöglich, daß Sie diesem Kind solche Summen in die Hand geben und laufen selbst ohne einen Pfennig Geld in der Welt umher. Sie gefährden ja auch das Kind. Zuerst und vor allem müssen wir in Ihre Geldsachen Ordnung bekommen. Ich sehe, ich muß mich darum kümmern. Herr Professor, wo bewahren Sie Ihr Geld auf?«
»Rosemarie hat's doch«, sagte der Professor schuldbewußt.
»Nein, nein, ich meine jetzt nicht das Geld, ich meine Ihr Berliner Geld.«
»Auf der Sparkasse, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Aber nein doch, nein doch!« rief der Amtsgerichtsrat in heller Verzweiflung. »Wo haben Sie Ihr Sparkassenbuch?«
»In meinem Schreibtisch in Berlin.«
»Und die Kontrollmarke zum Buch?«
»Im Buch, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Habe ich es mir doch gedacht!« rief der Amtsgerichtsrat. »Die Kontrollmarke soll man nämlich getrennt vom Buch aufbewahren, Herr Professor!«
»Ich habe es ja früher auch getan«, gestand der Professor schuldbewußt. »Aber dann fiel mir nie ein, wo ich sie aufbewahrt hatte, und einmal hatten wir zehn Tage kein Geld, weil wir sie nicht wiederfinden konnten.«
»Ja, ja«, sagte der Amtsgerichtsrat und konnte sich alles recht gut vorstellen. »Und Ihr Schreibtisch hat natürlich nur das übliche Schloß, und Sie vergessen ziemlich häufig abzuschließen?«
»Manchmal ...«
»Natürlich. Und Ihre Wohnungstür ist nicht gesichert. Lieber Herr Professor, es ist jetzt gleich ein Uhr ...«
»Ja, es ist schon spät, ich muß zu meinem Patchen ...«
»Nein, Sie werden heute nicht zu Ihrem Patchen kommen, Sie werden nach Berlin fahren ...«
»Herr Amtsgerichtsrat«, flehte der alte Mann die Autorität an. »Rosemarie ängstigt sich sicher um mich, und ich sehne mich auch nach ihr ...«
»Wir schicken ihr Nachricht. Sie ist gut aufgehoben, man kümmert sich um sie. Ich werde Ihnen gleich alles, was geschehen ist, ausführlich im ›Erbherzog‹ beim Essen erzählen. Jetzt ist die Hauptsache das Geld. Lieber Herr Professor, dieses Ihr Geld, das löst alles, das hilft der Rosemarie zu schönen Jugendjahren, zu einer guten Ausbildung, zu einem schuldenfreien Besitz – und da sehe ich es gewissermaßen auf der Straße liegen, eine solche Summe, Tausende, Zehntausende. Der nächste Klingelfahrer braucht nur davon zu hören ...« Amtsgerichtsrat Schulz schloß, ernstlich geängstet, die Augen.
»Klingelfahrer –?« fragte der Professor.
»Ja, ein Ausdruck von uns, eine Art Wohnungsdieb – Herr Professor, ich verspreche Ihnen, ich suche selbst Ihr Patenkind heute noch auf, berichte ihm alles. Aber Sie fahren heute noch nach Berlin, beheben morgen früh auf der Kasse, sagen wir zweitausend Mark, und kommen dann mit Geld und Sparbuch hierher ...«
»Zweitausend Mark«, sagte der Professor. »Ich müßte mir die Zahl notieren ...«
»Tun Sie das, schreiben Sie es sich auf der Stelle auf, hier ist Papier, eine Feder ... Ach, lieber Herr Professor, versprechen Sie mir, seien Sie achtsam. Lassen Sie keinen Menschen Ihr Sparbuch sehen ...«
»Aber auf der Kasse ...«
»Natürlich, freilich, auf der Kasse, da müssen Sie es schon sehen lassen. Warten Sie, zeigen Sie, Sie müssen mir schon verzeihen, sind Ihre Taschen heil –?«
Bis nachmittags um halb fünf, bis der Zug abfuhr, ließ der Amtsgerichtsrat Schulz den alten Professor nicht los. Professor Kittguß mußte so viel über Geld hören wie noch nie in seinem ganzen Leben, die Art, wie man Geld aufbewahrte, die Art, wie man Geld verlor, die Art, wie man um Geld betrogen wurde ... Und doch – trotz aller eindringlichen Belehrungen – mußte es Amtsgerichtsrat Schulz noch erleben, daß sein weißhaariger Schüler am Kleinbahnhof in Kriwitz eine Fahrkarte nach Berlin forderte, mit ruhiger, ernster, würdiger Stimme, und mit der Fahrkarte zur Sperre entschritt, ohne einen Versuch zu zahlen ... Und als er brüllend zurückgeschrien wurde und schuldbewußt in den Taschen nach Geld suchte, da war keines da – denn daran hatten sie beide, Lehrer wie Schüler, nicht gedacht, daß gar keines dasein konnte, weil nämlich Rosemarie ...
Amtsgerichtsrat Schulz half aus, in unerschütterlicher Ruhe bestieg Professor Kittguß den schon drei Minuten auf ihn wartenden Zug und entfuhr nach Berlin.
»Ja, nun habe ich zwei unter Vormundschaft«, sprach Amtsgerichtsrat Schulz zu sich. »Und wer der Schlimmere von beiden ist, das weiß ich auch.«