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Porträt meiner Kinder

In den ›Geschichten aus der Murkelei‹ erzähle ich von einem Mann, der sich ein Dutzend Kinder wünschte, sechs Jungen und sechs Mädel. Er bekam aber nur zwei und mußte sich seine anderen Kinder träumen. Dieser Mann bin ich selbst, nur daß ich es immerhin auf drei Kinder gebracht habe, zwei Jungen und ein Mädel ...

Schon als ich noch jung war, als ich überhaupt noch nicht an das Heiraten dachte, schienen mir Kinder der einzig wirklich erstrebenswerte Reichtum. Viele Kinder haben, das war noch was! Geld, was war schon Geld –? Etwas, das kam und ging, ein Übereinkommen, an sich ohne Wert, eine Anweisung auf etwas, das vielleicht nicht schmeckte!

Aber Kinder, das ist man selbst, multipliziert mit einer unbekannten Größe, eine rätselhafte Spiegelung – die bleibt! Kinder sind Reichtum, weil man Kindern immer schenken kann, und nur der ist reich, der täglich schenken kann. Ich kann ihnen Feste schenken und Erkenntnisse, aber auch ein kleines Tier und die erste Primel im Frühjahr. Ich erzähle ihnen, ich schenke ihnen eine Kindheit, deren Glück man aus ihren Augen abliest, immerzu kann ich schenken!

Nein, heute bedauere ich es nicht, daß es nicht ein Dutzend wurde, nicht die Zahl macht es, sondern die Intensität. Aber vielleicht bedauere ich es doch, im geheimsten Innern vielleicht doch. Du lieber Himmel, zwölf Kinder! Ich könnte fast eine eigene Schule begründen, zwölfe säßen am Tisch und machten ihren fröhlichen Lärm. (Jetzt würde Suse sagen: »Ich weiß nicht, ob du den Lärm von zwölfen grade sehr fröhlich finden würdest! Ich habe schon genug zu tun, unsere drei für dich ruhig zu halten!« Auch wahr, aber immerhin ... zwölf ...)

1. Der Jüngste

Ich habe es schon erzählt: als der Uli geboren wurde, ging es knapp bei uns zu, wir hatten ziemlich viel Sorgen. Aber es war eine Wonne, es war ein vollkommen neues Land, das Suse und ich entdeckten, und alle Sorgen wogen federleicht gegen diese Entdeckerfreude!

Und als Lore geboren wurde, die noch heute aus längst vergessenen Gründen nur die Mücke heißt, war wieder eine schlimme Zeit. Es waren andere Sorgen, aber doch Sorgen, und vielleicht half grade die Mücke, diese Sorgen zu zerstreuen! Wieder ein Kind, ein völlig anderes Kind, fast in nichts dem Uli ähnlich – neue Entdeckungen, neuer Reichtum.

Dann kam nach einer langen Pause der Achim, äußerlich der Mücke ähnlich, aber innerlich völlig anders. Ein wahrer Vulkan an Leidenschaft, voll von Temperament, sprühend vor Lebenslust und mit einem so weichen kleinen Herzen! Auf seinen kleinen zweijährigen Beinen läuft er immer im Trab durch die Welt. Jetzt hat er sich einen Löffel geschnappt, schon ist er auf dem Hof, nimmt den Holzdeckel von der Regenwassergrube und feuert ihn hinein. Deckel drüber – Trab, weiter! Um die Ecke, auf die Scheunendiele, wo die Karnickel stehen, ein aufmerksames Horchen, ob auch niemand in der Nähe ist, und schnell die Steckhölzer aus den unteren Käfigen, so weit er reichen kann, und: es mischten sich die Zibben mit den Böcken, und alle Wurfzeiten kamen anders, und die Rassen mischten sich, und alles Anschreiben des pedantischen Herrn Papa stimmte nicht.

Achim aber ist längst weiter. Es ist ja Krieg, seine Mutter hat kaum noch Hilfe, den halben Tag ist Achim sich selbst überlassen. Herrliche Zeiten für einen Zweijährigen, der das ganze All eines Hofes für sich allein ohne Bevormundung entdecken kann! Da ist der Puter, Achim ist viele Male vor ihm gewarnt worden, aber der Puter ist ein so komisches Tier! Er wirft den Kopf immerzu vor und macht dabei »Blurr! Blurr! Blurr!«, und dann schreit er und wird immer röter, und seine Flügel schleifen auf dem Sand!

Achim sieht das zu gerne, er findet ein Stück Holz und geht auf den Puter los! Richtig, sofort schlägt der sein Rad auf, macht »Blurr! Blurr! Blurr!«, und geht auf Achim los! Ganz so wollte der es nicht haben, er läßt das Stück Holz fallen und flieht, der Puter immer hinter ihm drein. Aber Achim weiß einen sicheren Winkel zwischen den Holzhaufen, und der Puter ist dadurch behindert, daß er in seiner Wut nur tänzerisch schreitet: Achim entrinnt.

Eine Weile steht er da im Winkel zwischen dem Holz, sein kleines Herz klopft noch sehr, aber schon interessiert ihn der Geruch des Holzes. Es riecht verschieden, scharf und aromatisch (das Tannene), und langsam, gewissermaßen ein bißchen öde (das Buchene). Eine Weile polkt er am Holz herum.

Dann läßt sich sein Tatendurst nicht länger bezähmen. Er schießt aus seinem Versteck hervor, an dem ahnungslosen Puter vorbei und wieder auf die Scheunendiele. Die Karnickel huppeln dort friedlich durcheinander, sie nehmen es dem Achim ganz und gar nicht übel, daß er sie befreit hat. Eine Weile versucht Achim, eines zu greifen, aber dafür sind sie zu schnell, und nachdem er erst einmal hingefallen ist, heult er ein bißchen und verzichtet auf die Jagd.

Doch da steht der Eimer mit der Magermilch für die Schweine. Achim hat gesehen, daß die Karnickel auch etwas von dieser Magermilch abbekommen. Er möchte sie ihnen schon geben, aber der Eimer ist zu schwer, er bekommt ihn nicht um, eher setzt er sich dabei auf seinen Pöker. Er sitzt verdrossen da, aber diese Lebenslust in ihm treibt ihn gleich wieder hoch. Er stürzt auf den Hof, da ist Sand, da ist Torfmull, da ist auch Schiet und Dreck. Von dem allen nimmt er nun mit seinen kleinen Händen und trägt's eifrig auf die Scheune – batsch, hinein in den Milcheimer! Er schreit vor Vergnügen! Wie das Weiße sich färbt, wie das Zeug da rumschwimmt – etwas ganz Herrliches! Er taucht bis über die Arme hinein, er rührt darin herum, er spricht eifrig mit sich: »Da! Da au!« Und ganz langgezogen plattdeutsch: »Dor –!«

Dann kommt ihm der Gedanke, daß er eigentlich Durst hat. Mit dem halben Oberkörper verschwindet er in dem Milcheimer, und nun schafft er es: mitsamt ihm kippt der Milcheimer um, und er sitzt da, heulend vor Schreck und begeistert von seinem Abenteuer, und ein ganz klein wenig geplagt von seinem schon erwachenden schlechten Gewissen. Dafür haben ja die Großen, die Götter, gesorgt, daß er schon weiß, er darf nicht alles tun, was er möchte, wenn sie auch noch nicht dafür gesorgt haben, ihm begreiflich zu machen, was nun eigentlich erlaubt und was verboten ist. Völlig verdreckt und naß und verheult sitzt er da in der mißfarbigen Pfütze und sagt nachdenklich und weinerlich das schreckliche Wort vor sich hin: »Haue!« Und immer wieder: »Haue!«

Bis der Anlaß, warum er dieses schreckliche Wort sagt, vergessen ist. Schon ist er hoch und eilt wieder hinaus auf den Hof in den Sonnenschein. Zielbewußt eilt er auf seinen Sandhaufen zu, läßt sich selig nieder, entdeckt eine alte Schuhcremeschachtel und fängt an, Sand zu schaufeln. Mit derselben Intensität, mit der sein Vater sagt: »Ich muß doch arbeiten!« sagt Achim: »Spielen!« und schaufelt selig Sand.

Diesen Augenblick benutzt die vielbeschäftigte Suse, um sich aus der Küchentür nach ihrem Jüngsten umzusehen. »Gottlob!« seufzt sie erleichtert auf. »Es war so still, ich dachte schon, er hätte wieder was angerichtet! Aber er sitzt ganz friedlich im Sand und spielt! Nur nicht stören, sonst werden wir ihn nicht wieder los!«

»Spielen!« sagt Achim und sieht, die Blechbüchse in der Hand, über das Land. Auf dem Acker jenseits des Zauns gehen Pferde. »Hotte-Prr!« sagt Achim und nickt selig.

Langsam kommt Brumbusch über den Hof gewandelt und legt sich in Achims Nähe. Brumbusch wartet sehnlich auf das Erscheinen des Hausherrn zum täglichen Spaziergang, und auch ein Hund wartet lieber in Gesellschaft als allein. »Bru–a!« sagt Achim und fängt an, den Hund mit Sand zu bedecken. Eine Zeitlang läßt sich Bru–a das willig gefallen, aber als Achim anfängt, ihm die Augen mit Sand zu füllen, steht er auf und begibt sich langsam an einen anderen Ort. Brumbusch ist ein viel zu vornehmer Hund, um sich zur Wehr zu setzen. Er geht einfach fort, wenn es ihm irgendwo nicht gefällt.

Achim geht Bru–a nach. Er schimpft leise vor sich hin. Er findet es hundsgemein von Brumbusch, sich die Augen nicht mit Sand füllen zu lassen. Sie wandeln vereint über den ganzen vorderen Hof, immer wenn Brumbusch sich grade niedergelegt hat, erscheint Achim, die Hände voller Sand.

Brumbusch entweicht auf den hinteren Hof, und Achim folgt ihm. Dabei entdeckt er, daß die Waschküchentür offensteht, und im gleichen Augenblick ist Brumbusch vergessen. Auf allen vieren nimmt Achim die hohe Stufe zur Waschküche. Hinten dampft es, da kochen die Schweinekartoffeln, aber dahin geht Achim nicht. Er kennt das vom Badeofen her. »Heiß!« sagt er vor sich hin.

Aber vorne, welche Wonne, stehen auf der Erde lauter Waschbütten mit Wasser gefüllt, in denen eingeweichte Wäsche schwimmt. Eine Zeitlang genügt es Achim vollkommen, mit den Händen darin zu spielen. Er plantscht tüchtig, und als ihn die Wäsche stört, fängt er an, sie herauszuziehen und auf den Küchenboden zu werfen. Das gelingt ihm über die Maßen gut. Er stöhnt und schwitzt dabei, manche Wäschestücke sind verdammt schwer durch das Wasser, aber er schafft es. Mit seinen dreckigen Schuhen trampelt er auf der Wäsche herum, nach fünf Minuten sieht die Waschküche reizend aus.

Aber als die Waschbalje ziemlich leer ist, hat Achim seinen glänzendsten Einfall, den glänzendsten Einfall dieses Vormittags will ich sagen. Er hebt ein Bein und versucht, in der Erinnerung an das abendliche Bad in die Balje zu steigen. Fast will es nicht gelingen, aber dann bekommt er das Übergewicht und – bums! – sitzt er in der Balje, im Einweichwasser!

Ach, Achim! Achim! Dies hättest du lieber nicht tun sollen! Anders wie bei deinem abendlichen Bad ist dieses Wasser kalt, im Augenblick hat es deinen Trainingsanzug, deine übrige Kledage durchtränkt. Du möchtest heraus, aber du kommst nicht heraus, und so stimmst du ein wütendes Gebrüll über diese gemeine Falle des Schicksals an!

›Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an‹ – Suse erscheint und entdeckt den Sünder in seinem selbstgewählten Gefängnis. Es erscheint der Futtersmann und meldet die Verwüstung auf der Scheunentenne. Es erscheint Anneliese und meldet das Fehlen eines silbernen Löffels.

»Achim, wo hast du den Löffel gelassen? Achim, der Löffel! – Löffel, Achim!«

Mörderisches Gebrüll und mörderisches Strafgericht, als nun auch noch die Büxen gefüllt entdeckt werden –: »Bei einem zweijährigen Jungen, pfui!« Achim brüllt ...

Aber als dann der Vater genau zehn Minuten später von der Arbeit hinunter ins Kinderzimmer kommt, findet er einen strahlenden Sohn. Das Strafgericht ist vergessen, wie Schmutz, Nässe und Kälte vergessen sind. Frisch gewaschen lächelt der Sohn dem Vater entgegen, mit unschuldvollen blauen Augen strahlend, ein wahrhaft himmlisches Englein!

Mit einem tiefen, wohligen Seufzer läßt sich der Achim dann in sein Bett legen. Er ist so wunderbar müde, und das Bett ist so schön warm!

»Leg dich auf die Seite, Achim!« sagt der Vater, und behaglich legt sich der Sohn auf die Seite. »Wo ist dein Zipfel, Achim?« fragt der Vater, und mit einem seligen, nur noch gemurmelten »Dor –!« greift Achim nach seinem Zipfel, nach diesem umkämpften und ihm doch immer wieder gewährten Bettzipfel, Achims nie versagendem Schlafmittel! Mit einem glücklichen Seufzer schließt er die Augen.

Als der Uli klein war, haben Suse und ich manche ernste Debatte über sein Daumenlutschen beim Einschlafen geführt. Der Junge war schon so groß, er mußte sich den Daumen abgewöhnen. Nichts war gräßlicher als ein Daumenlutscher –! Wir taten gehorsam alles, was Nachbarinnen und Bücher empfahlen. Wir schmierten ihm seinen Daumen mit Senf ein, bandagierten ihn, zogen ihm einen Handschuh an, was weiß ich, jedenfalls lutschte Uli immer weiter, mit und ohne Senf. Wir waren sehr verzweifelt, wir waren sehr junge, sehr unerfahrene Eltern ...

Mücke war eine leidenschaftliche Daumenlutscherin, bis in ihr hohes Alter. Bis zum fünften, sechsten Jahr sagen wir. Auch bei Mücke taten wir nach Vorschrift, aber nicht mehr mit dem früheren Elan, und genau wie Uli kümmerte sich Mücke weder um Senf noch Stoff, sie lutschte doch weiter. Sie lutschte so intensiv, daß ihr Daumen ständig durchgelutscht, wund war. Wir sprachen gelegentlich davon, daß dies nun bald aufhören müsse, aber wir waren nicht sehr verzweifelt. Wir waren nun schon ältere und erfahrenere Kinderpfleger.

Dann – genau wie bei Uli – hörte bei Mücke das Daumenlutschen plötzlich von selbst auf. Wir konnten nicht einmal genau sagen, wann es aufgehört hatte, eines Abends stellten wir fest: es war vorbei.

So nehmen wir bei Achim seine Lutscherei gar nicht mehr tragisch. All solche Erziehungsmaßregeln nach Programm haben wir längst aufgegeben. Es läuft sich schon alles zurecht, finden wir, bei gutartigen Kindern bestimmt. (Und bei bösartigen läuft es sich trotz der Erziehungsmaßregeln nicht zurecht.) Nur hat Achim uns ein neues Problem beschert: er lutscht nicht nur auf dem Daumen, sondern auf dem Daumen plus Bettzipfel. Er schützt gewissermaßen den Daumen mit dem Bettzipfel, als wolle dieser durchtriebene Knabe den wunden Daumen seiner Schwester vermeiden.

Natürlich sind die Bettzipfel solcher Beanspruchung nicht gewachsen, das Leinen ist bald entzwei gelutscht, und der rote Inlettstoff zeigt sich. Mit Seufzen, aber Eifer stopfte Suse nun durchgelutschte Kinderbettzipfel. Unterdes aber hatte sich bei Achim der Geschmack gebildet und gekräftigt, er lehnte rundweg gestopfte oder heile Zipfel ab, er wollte nur noch kaputte. Ihm schmeckte rotes Inlett besser als weißes Leinen.

Wir versuchten alles, im verdunkelten Zimmer steckten wir ihm einen heilen Bettzipfel in die Hand, er erhob ein mörderisches Gebrüll. Ich redete ihm gut zu, ich empfahl ihm warm den unschuldweißen Leinenzipfel – er schüttelte energisch den Kopf und verweigerte die unschmackhafte Kost. Oder er schlief gar nicht erst ein, seines legitimen Zipfels beraubt turnte er munter im Bett umher, und sahen wir eine halbe Stunde später nach ihm, so hatte er das Bett völlig ausgeräumt.

Im Interesse seines Schlafs mußte sich Suse in ihr Schicksal finden: sie mußte Achim zerrissene Bettbezüge überziehen. Nur wer das Herz einer Hausfrau – und nun gar das einer aus Hamburg stammenden Hausfrau! – kennt, weiß, was sie dabei leidet! Immer wieder einmal flüstert sie: »Wenn jemand das sieht! Die denken doch, ich lasse die Kinder ganz verschlampen!«

Aber das sind nur Anfälle eines alten, beinahe schon eingeschlafenen Gewissens. Eine rechte Kindermutter mit einem großen Haushalt muß oft fünfe grade sein lassen. Achim nimmt selig seinen durchgelutschten Zipfel und schläft ein – zu seinem Mittagschlaf ...

Als er wieder erwacht ist, merkt er sofort, daß etwas nicht stimmt. Seine Mutter sieht nur einen Augenblick eilig nach ihm und läßt ihn von Anneliese füttern und anziehen. Er ist sofort argwöhnisch: sicher will die Mummi wieder verschwinden, plötzlich ist sie fort, auf lange, lange Zeit ...

Diesmal läßt er sich nicht betrügen, er wehrt sich gegen das Anziehen, er will nicht essen. Er lauscht, ob er seine Mutter hört. Und hört er sie, stimmt er ein durchdringendes Gebrüll an. So dauert alles dreimal länger als sonst ... Anneliese versucht ja wohl, dem Achim begreiflich zu machen, was gleich geschehen wird, aber er versteht es nicht ...

Schließlich erscheint der Vater, den Spuren des Gebrülls nachwandelnd. Er ist heute ein milder Vater, er spricht das magische Wort: »Achim, Hotte-Prr! Will Achim mit Hotte-Prr fahren?«

Die Tränen versiegen, Achims Gesicht ist tief nachdenklich. Ohne Mühe kann Anneliese jetzt Bissen auf Bissen in seinen Mund stecken. Achim merkt gar nicht, daß er ißt. Natürlich versteht er nicht, was der Papa gesagt hat, Ausfahren ist ihm noch kein Begriff, er ist noch nie ausgefahren. Aber etwas war da in Papas Worten, ein Zusammenhang zwischen Achim und Pferden. Achim sieht seinen Vater sehr fragend und erwartungsvoll an.

»Achim«, sage ich auf diesen Blick hin wieder. »Achim! Hotte-Prr! Mummi! Hotte-Prr! Achim und Mummi – Hotte-Prr!«

Wie das kleine Gesicht aufleuchtet! Er hat verstanden, wahrhaftigen Gotts, er hat verstanden! Er quetscht sich von seinem Stuhl, er stürzt auf mich zu, er umklammert mit seinen beiden Armen meine beiden Beine und preßt sein Gesicht fest gegen meinen Schoß. Wie er sich freut! Er kann diese väterlichen Beine gar nicht fest genug drücken! Er sackt dabei immer mehr in sich zusammen, bis er auf dem Fußboden hockt. Dann hebt er das strahlende Gesicht zu mir hoch, faßt mich an der Hand und will mich aus dem Zimmer zerren. Er sagt mit tiefer Begeisterung: »Hotte-Prr!«

»Noch nicht!« bremse ich ihn. »Erst happa machen, Achim! Erst happa – dann Hotte-Prr –!«

»Jau!« sagt Achim mit einem tiefen glücklichen Seufzer und läßt sich wieder was in den Mund stopfen.

(Achim spricht bereits zwei Sprachen: hochdeutsch und plattdeutsch. Doch in den seligsten Momenten seines Daseins spricht er Platt. ›Jau‹ kommt immer aus dem tiefsten Herzen. ›Ja‹ sagt er auch, wenn er sich bloß fügt. ›Dor!‹ gilt den jungen Kaninchen. ›Da‹ bloß einem wiedergebrachten Serviettenring.)

Dann sitzt Achim zwischen seiner Mutter und dem Kutscher Jochen auf dem hohen Stuhlwagen und sieht auf die riesigen Pferde herab. Wie wahnsinnig rast Brumbusch um die beiden Gäule, wild bellend. Auch für Brumbusch sind Ausfahrten mit Pferden das Schönste auf der Welt! Sein Gebell soll sie ermuntern, nun doch endlich loszulaufen!

»Ruhe!« brülle ich. »Halt doch endlich die Schnauze, Brumbusch! Ziehen Sie dem elenden Köter eins mit der Peitsche über, Jochen, man versteht sein eigen Wort nicht! Also, Suse, vergiß den Glaser nicht. Und sag dem Töpper, er muß unbedingt noch diese Woche kommen, sonst fällt der Ofen zusammen! Und denke daran, beim Elektriker nach Birnen zu fragen. In Brumbuschs Leine muß ein neuer Karabinerhaken – warte lieber gleich darauf! Ruhe doch, Brumbusch!«

Es ist der Tag der großen Besorgungsfuhre, alle vier Wochen fällig. Frau Fallada begibt sich nach Bergfeld, um für vier Wochen einzukaufen. (Die kleinen wöchentlichen Besorgungsfuhren erledige ich mit dem Rade.)

»Ich vergesse schon nichts!« sagt Suse beruhigend. »Los, Jochen!«

»Auf Wiedersehen, Suse! Winke-Winke, Achim!« schreie ich.

Aber Achim hat jetzt kein Auge für seinen Vater. Mit strahlendem Gesicht sieht er auf die Pferde, die endlich anziehen. Brumbusch rast voraus, hält ein, macht kehrt, stürzt den Pferden entgegen, bellt sie auffordernd an. Die Pferde traben los, der Wagen verschwindet über die Höhe bei der Erbschmiede. Ich mache das Tor zu.

»So!« sage ich zu Anneliese. »Ich gehe dann wieder rauf zu meiner Arbeit. Heute werde ich ja wohl endlich einmal einen ganz ruhigen Nachmittag kriegen!«

Für Achim wird es ein sehr erregender Nachmittag. Nicht die Stadt, nicht die Eisenbahn, nicht die Läden, nicht die vielen Menschen, denen er allen guten Tag sagen muß, sind's, die ihn erregen, nicht einmal die Pferde sind's. Sondern wieder einmal ist der Brumbusch die Sensation des Tages!

Den ganzen Weg hält Brumbusch die Pferde munter. Er jagt ihnen voraus, zu ihnen zurück, bellt sie auffordernd an, dieser Hund, der sonst kaum je bellt! Und die alten abgetriebenen Ackerpferde traben so eifrig wie sonst nie, auch sie kennen schon die Fahrten mit diesem Hund. Er kann direkt auf ihre Beine zustürzen, sie tun ihm nichts. Sie werfen ihre Köpfe, wenn Brumbusch sie gar zu wild anbellt, sie legen noch einen Schritt zu. Jochen braucht die Peitsche nicht einmal anzurühren.

Aber dann kommen sie durch ein Dorf, Althof heißt es, und auch im Dorf ist diese Fuhre bekannt, und vor allem ist der Brumbusch bekannt. Der Brumbusch macht sich mit Dorfhunden nicht gemein, und die Althöfer Dorfhunde gemischter Rasse haben das an sich, daß sie alles Fremde hassen. Kommt Brumbusch mit seinem Herrn spazierwandelnd durch Althof, so halten sich die Dorfhunde zwar empört kläffend, doch respektvoll in geziemender Entfernung. Nur von ferne beschimpfen sie den Brumbusch, der aber reagiert nicht.

Nun aber rollt der Wagen in munterem Trabe heran, Brumbusch eilt neben ihm einher, ganz seiner Aufgabe hingegeben, die Pferde in Trab zu halten. Schon hat der erste Dorfköter seine Chance gesehen: wütend schießt er wie eine Kanonenkugel aus dem Hinterhalt und zwickt den Brumbusch ins Hinterbein!

Brumbusch heult auf. »Bru–a!« ruft Achim schmerzvoll.

Brumbusch hat kehrt gemacht, sein Gegner weicht knurrend, knurrend geht Brumbusch vor ... Doch der Wagen rollt weiter, eilig weiter ... Brumbusch hat keine Zeit für persönliche Auseinandersetzungen, seine Pflicht ruft ihn zum Wagen, er wendet und stürzt dem Gefährt nach. Ihm folgt sein feiger Gegner, und zum zweitenmal wird Brumbusch gezwickt ...

Wieder ein Aufjaulen, wieder ein schmerzliches »Bru–a–!« von Achim. Wieder ein Versuch, den Gegner einzuschüchtern. Wieder der fortrollende Wagen ...

Allmählich vermehrt sich die Zahl von Brumbuschs Gegnern. Die kleinsten Fixköter, die Brumbusch mit einem Haps hinunterschlucken könnte, stürzen giftig, ihre platten Bäuche auf der Erde schleifend, auf Brumbusch und versetzen ihm ihre heimtückischen Zwicker.

»Halten Sie an, Jochen!« ruft Suse, als es gar zu schlimm wird, als Achims »Bru–a« gar zu schmerzlich klingt.

Jochen hält an. Der Wagen steht, Brumbusch steht, seine Gegner stehen, zwei Meter vor ihm. Verblüfft, verlegen stehen sie da, mit hängenden Köpfen und hängenden Schwänzen. Und der große tiefschwarze Hund steht vor ihnen, seinen Peinigern, und sieht sie an.

Was wird er tun? Wird er jetzt zurückgehen und Fleischsalat aus ihnen machen? Brumbusch sieht sie an, er wedelt sachte mit dem Schwanz, dann legt er sich bäuchlings in den Staub der Dorfstraße und will mit ihnen spielen –! Verstecken spielen –!

»Ach, Brumbusch –!« ruft Suse enttäuscht. »Du bist auch gar zu gutmütig, na warte, bis dich mal einer richtig beißt! Dann sollen sie mir nur kommen und sagen, du hast ihren Hund umgebracht!«

Suse sieht kriegerisch die Dorfstraße an. Aber die Dorfstraße liegt still und friedlich. Die feindlichen Hunde haben sich weiter von Brumbusch zurückgezogen. »Los, Jochen!« sagt Suse.

Und dasselbe Spiel beginnt von neuem, bis kurz vor Bergfeld gibt dem Brumbusch die feige Rotte seiner Feinde johlend und zwickend das Geleit. Was Wunder, daß die prachtvolle Stadt Bergfeld mit ihren eintausenddreihundert oder eintausendvierhundert Einwohnern auf Achim kaum einen Eindruck macht. Er ist ganz erfüllt von Brumbusch, immer wieder sieht er ihn an, streichelt ihn, sagt klagend zu seiner Mutter: »Bru–a–Haue!« – Die einzige Art, wie er seine Gefühle ausdrücken kann. Jawohl, Bru–a hat Haue bekommen, von dem anderen bösen Hunde, und ganz unberechtigt, das hat sein kleines weiches Herz wohl verstanden.

Ganz aufgeregt kommt Achim am Abend zu mir heim. Nicht nur, daß sich auf dem Rückweg in Althof diese Attacken wiederholt haben, nein, beinahe schon zu Haus, ist Brumbusch in Mahlendorf von einem Hund ernstlich angefallen worden. Es ist ein Hund, der Brumbusch haßt, ein in vielen Beißereien erfahrener älterer Hund. Wüßte Brumbusch seine Kräfte und Zähne zu gebrauchen, würde er leicht mit dem Gegner fertig. Aber Brumbusch ist noch jung und unerfahren, er weiß es noch nicht, daß es auch böse Hunde gibt auf dieser Welt. Er hat sich nur ungeschickt verteidigt; Suse hat vom Wagen herunter und den anderen Hund mit der Peitsche fortjagen müssen!

Nun muß ich Achim beruhigen, der immer wieder klagend sagt: »Bru–a – aua! Mummi – hauhau! Bru–a aua!«

Ich nehme also Achim an der Hand, drücke ihm ein Butterbrot in die andere, und zuerst gehen wir auf den Hof. Wir streicheln Brumbusch, der ziemlich erschöpft von all seinen Abenteuern halb schlafend auf Achims Sandhaufen liegt. Dann gehen Achim und ich weiter. Es ist Abend, noch ziemlich warm, aber sachte fängt es schon an zu dämmern. Ich gehe mit Achim zum Bienenhaus, und eine Weile sehen wir zu, wie die letzten Bienen mit von Pollen gelben und rötlichen Höschen heimkehren. Wir treten ein ins Bienenhaus, ich lasse eine Klappe herunter, nehme das Kissen heraus, und hinter dem Glase sieht er die Hunderte von Bienen, die aufgeregt umherkrabbeln, aufgeregt von dem plötzlichen Lichteinfall in das Dunkel ihres Stocks.

Dann wandern Achim und ich gemeinsam in den Stall. Wir sehen die Kuh fressen und die Schweinchen. Aufgeregt hopsen die Ziegenlämmer umher und warten auf ihr Abendfutter. Grade bekommen die Kaninchen Heu. Immer häufiger sagt Achim: »Da! – Da au!« immer seltener: »Bru–a aua!«

Wir gehen zurück ins Haus. Achim hat sein Brot aufgegessen, ich überantworte ihn Suse zum abendlichen Bad. Nun ist der Zwischenfall schon fast vergessen. Wie regelmäßig versucht Achim, vom Badewasser zu trinken, und bekommt dafür einen Klaps, den er mit einem kurzen Heulerchen quittiert. Wie regelmäßig brüllt er stärker los, wenn die kalte Dusche kommt. Und wie regelmäßig läßt er sich vor Freude strahlend in sein Bettchen legen.

»Achim, lege dich auf die Seite!« sage ich. Und behaglich legt er sich auf die Seite. Ich stopfe die Decke um seine Schulter fest. »Achim, wo ist denn dein Zipfel?« frage ich.

»Dor!« strahlt er.

Dunkel wird's. »Schlaf recht, recht gut, Achim!« sagen wir. »Das war ein schöner Tag, was?«

Er stöhnt nur vor Behagen.

Jawohl, es war ein schöner Tag, einer von vielen, ein richtiger, glückseliger Kindertag!

2. Die in der Mitte

So geschwind der Achim ist, so langsam ist die Mücke. Tatsächlich hält Mücke längst den Kinderrekord in Langsamkeit im Lande Mecklenburg, und ich habe es ihr schon viele Male vorausgesagt, daß sie noch das langsamste Kind von Deutschland werden wird. Mücke rühren solche Bemerkungen ihres Vaters gar nicht, sie sagt bloß in edler Gelassenheit: »Red bloß nicht solchen Quatsch, Papa!«

Unvergessen im Hause Fallada werden für alle Zeiten Mückes Mittagsmahlzeiten sein. Noch heute bekommt Suse einen leichten Schüttelfrost, wenn sie daran denkt. Mücke startete etwa gleichzeitig mit uns, sie nahm den Löffel in die Hand und ermittelte schon durch die Berührung des Löffels, daß die Suppe zu heiß sei. Ihr wurde versichert, die Suppe sei grade richtig, sie solle nur losessen. Also tunkte Mücke den Löffel in die Suppe, als Suse entdeckte, daß Mücke ihr Lätzchen noch nicht umgebunden hatte. Also wurde Mücke aufgefordert, ihr Lätzchen umzubinden. Sie tat es – und als sie damit fertig war, da waren wir mit der Suppe fertig.

Sie hatte noch nicht die erste Kartoffel angepiekst, da waren wir beim Kompott, und wenn wir uns vom Tisch erhoben, saß Mücke vor ihrem gehäuften Teller, vor ihrem rettungslos kalt gewordenen Essen. Es ereignete sich, daß ich nach meinem Nachmittagsschlaf herunterkam: Mücke saß noch beim Essen! Bleich vor Verzweiflung saß Suse bei ihr und rief: »Mücke, Mücke, iß doch endlich!«

»Ich eß immerzu«, sprach Mücke mit unerschütterlicher Gelassenheit. »Bloß –: ich kau nicht ...«

Zum zweiten aber ist Mücke der einzige Mensch in meinem Haus, der richtig Konversation zu machen wagt, will sagen, sie redet nur um des Redens willen, damit die Rederei nie einschläft. Suse und ich, wir sind beide eher schweigsame Menschen, wir sitzen einen ganzen Abend zusammen, jeder mit seinem Pusselkram beschäftigt, und reden keine zehn Worte.

Mücke schlachtet weder nach Vater noch nach Mutter. Mücke redet. Mücke kann ohne Reden nicht leben.

»Papa, hör mal –!«

»Ja, Mücke –?«

»Hast du die Anemonen aus dem Bullerbusch mitgebracht?«

»Ja, Mücke.«

»Gibst's im Bullerbusch jetzt Anemonen?«

»Ich glaube, ich hab' dir's schon gesagt.«

»Aber immer gibt's dort keine Anemonen?«

»Nein.«

»Dann gibt's aber andere Blumen. Wenn's keine Anemonen gibt, gibt's andere Blumen, nicht wahr, Mummi?«

(Ein anderer Gesprächspartner ist gewählt wegen des Vaters drohendem Gesichtsausdruck.)

Mücke ißt eine Gabel voll. Dann: »Ich gehe auch Anemonen pflücken – wenn ich mit Essen fertig bin.«

»Du kannst doch nicht in der Nacht Anemonen pflücken, Mücke!«

»Red' bloß keinen Quatsch, Papa. Ich werd' schon noch fertig mit Essen. Ich geh' mit Susi und Gising und Anni Becker Anemonen pflücken. Ich nehm' einen Korb mit. Anemonen pflückt man doch am besten in einen Korb?«

»Wie du siehst, habe ich nur ein Sträußchen gepflückt, Mücke. Es gibt gar nicht mehr viel Anemonen im Bullerbusch. Die meisten sind schon verblüht.«

»Dann pflück' ich eben die andern Blumen. Wenn man Blumen pflückt, muß man einen Korb mitnehmen, sagt Herr Lange. (Herr Lange ist Mückchens Lehrer.) Sonst werden die Blumen welk. Papa, sind deine Anemonen eigentlich auch welk geworden?«

»Wie es aussieht, nein. Und nun fordere ich dich zum letztenmal auf, Mücke, den Mund zu halten. Jetzt kommt der Nachrichtendienst. Stell mal einer das Radio lauter!«

Eine Stimme ertönt: »Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt ...«

Wir essen lauschend. Da, ein durchdringendes Geflüster: »Wenn es keine Anemonen gibt ...«

»Zum Donnerwetter, Ruhe, Mücke!«

»... Und keine andern Blumen ...«

»Mückchen, wenn du jetzt nicht still bist, gehst du ins Bett!«

Ein anklagender, tränenerfüllter Blick. Schweigen. Nachrichtendienst. Dann: »Wir geben jetzt den Bericht zur Lage ...«

»Stellt mal das Radio ab! Nun, Mückchen, was hattest du eben noch so dringend zu erzählen?«

Strahlendes Lächeln. »Aber gar nichts, Papa! Siehst du, nun hast du wieder zuerst gesprochen, und du sagst immer, ich kann den Mund nicht halten!«

Würden es Suses ältere Schwestern mir nicht auf das ernsteste versichern, Mücke sei ein höchst naturgetreu gelungener Nachdruck Suses im neunten Lebensjahr, ich würde Mücke nie für unser Kind halten. Freilich kann ich mir in meiner kühnsten Phantasie nicht ausmalen, wie sich so etwas zu einer Suse entwickeln kann. Aber das verspricht ja immerhin noch einige angenehme Überraschungen.

Die eben wiedergegebene Unterhaltung (die ich wegen der Ungeduld meiner Leser stark kürzen mußte) enthüllt noch eine dritte Eigenschaft Mückes: sie ist der schärfste Bohrer des Weltalls. Sie durchbohrt mühelos Holz, Stahl, Zement, sie bringt ihren Vater zum Rasen, sie ermüdet sogar die unendliche Geduld meiner Frau – in etwa vier Minuten.

Manchmal, wenn Suse die Mücke einen Vormittag lang in Reinkultur genossen hat, fühle ich mich bewogen, meine Gute eine Weile von ihr zu erlösen. »Mücke«, sage ich. »Zieh dich an. Du wirst jetzt mit mir und Brumbusch spazieren gehen.«

Mücke zieht einen Flunsch. Sie hat die Abneigung aller gesunden Kinder gegen das Spazierengehen der Erwachsenen. Außerdem geht ihr Vater ziemlich schnell, über Berg und Tal, meist ohne Wege, was ihr lästig ist. Mücke versteht auch ohne weiteres die Zusammenhänge, sie beteuert: »Ich geh' jetzt auch bestimmt auf den Hof spielen.«

»Das sagst du seit drei Stunden«, erklärt Suse. »Tu jetzt, was der Papa sagt, und zieh dich an!«

»Aber ich hab' so Schmerzen in meinem Fuß!«

»Für Schmerzen im Fuß ist Spazierengehen ausgezeichnet! Los, Mücke, oder ich bringe dich auf den Trab!« Aber dann tun mir ihre großen, sich langsam mit Tränen füllenden Augen doch leid. »Wenn du mitkommst und schnell gehst, machen wir heute auch was ganz Feines!«

»Oh, Papa, wirklich? Was machen wir denn?«

Ich beuge mich zu ihr und flüstere in ihr Ohr: »Wir kokeln –!« Einen Augenblick sieht sie mich verständnislos an. Dann kommt ihr die Erinnerung an das vorige Jahr. Dies wird also einer der ganz großen ländlichen Festtage: wir kokeln! Einmal im Jahr kokelt Papa mit ihr, er kokelt ganze Berge an!

Bewegung kommt in Mücke, es kommt sogar so etwas wie Tempo in sie. »Oh, Papa, darf ich Susi mitnehmen?«

(Mücke hat solch ein Herz: wenn sie etwas Schönes hat, immer sucht sie jemanden, mit dem sie es teilen kann.)

»Los, lauf voraus! Hol die Susi! Wartet auf mich am Spritzenhaus!«

In ihren Wintermäntelchen stehen beide dann wirklich schon im Windschutz des Spritzenhauses, als ich mit Brumbusch komme, die große, stämmige, langsame, blonde Mücke und die einen Kopf kleinere, zierliche, rothaarige Susi, die so leicht ist wie eine Feder. Den ganzen Weg tanzt sie vor uns hin, wirbelt um ihre Achse, scheint ohne Schwere ...

Sie sind die besten Freundinnen, unzertrennlich; durchschnittlich einmal täglich verzanken sie sich, reißen sich die Haarschleifen von den Köpfen, kleben sich eine – und treffen sich am nächsten Morgen wieder auf dem Schulweg.

»Mücke! Susi!« spreche ich mahnend, ehe wir losgehen. »Es wird aber nicht geschnüffelt! Hat jede von euch auch ein Taschentuch mit? Gut! Also los! Und nicht schnüffeln!«

Es gibt Moden, auf dem Lande wie in der Stadt, bei den Kindern wie bei den Großen. Zeitweise verbreitet sich die Mode im Dorf, mit mir spazieren zu gehen. Mit einem halben, einem dreiviertel Dutzend Kinder ziehe ich dann los, sie lauern auf meine Spaziergänge wie der Hund. Das kann sehr amüsant sein, bestimmt ist es ziemlich anstrengend, dieses Gezappel im Zug zu halten, dieses Gerede anzuhören. Denn es sind alles kleine Mädchen zwischen sieben und zehn, die gerne viel über nichts reden.

Wie dem auch sei, in der schlechten Jahreszeit ist es eine rechte Nervenprobe. Alle haben den Schnupfen, und so schnüffeln sie alle. Ich gehe in einer Gesellschaft von Schnüfflern, immer schnüffelt eines. Tritt wirklich einmal Stille ein, so warte ich mit angstvoller Spannung, wie lange das Glück dauert. Schon schnüffelt eine, schon schnüffeln drei, sie holen's kräftig nach. »Kinder!« schreie ich in meiner Qual. »Hört endlich auf mit Schnüffeln, oder ich laufe euch weg!«

Ich bin ein Zivilisationsträger im Dorfe Mahlendorf: mit der Zeit gewöhne ich den Kindern das Schnüffeln ab. Ich setze Prämien aus für Nicht-Schnüffeln, Prämien in Bonbons, auf der Stelle zahlbar, wenn fünf Minuten nicht geschnüffelt wird. Oh, ich erziele Erfolge! Ich kann auf mein Gewinnkonto fast schnüffelfreie Spaziergänge buchen! Aber dann kommt ein eiskalter Tag mit schneidendem Ostwind. Lieber Leser, ich muß es gestehen, auch mir drippt die Nase. Ich kann gar nicht schnell genug das Taschentuch zu fassen kriegen, und plötzlich schreit Susi grell auf: »Wer hat nun geschnüffelt? Herr Fallada hat geschnüffelt!«

Und sie tanzt um mich, und die anderen tanzen um mich: »Schnüffler! Schnüffler!« Beschämt stehe ich in ihrer Runde und muß es gestehen: auch ich habe geschnüffelt!

Aber ich wollte nicht vom Schnüffeln, ich wollte vom Kokeln erzählen, und ich möchte meinem Leser gleich sagen, um einem unmutigen Runzeln der Stirn über diesen unpädagogischen Fallada vorzubeugen, daß ich nicht leichtfertig meine Kinder zu Brandstiftern erziehe. Es gibt drei große Feste auf dem Lande bei uns, zu denen das Feuer gehört. Das erste ist das Abbrennen des trockenen Wintergrases auf dem Unland, den König-Lear-Heiden, damit das junge Gras im Frühjahr um so freier wachse. Das nächste Fest sind die großen Sonnenwendfeuer, die auf allen Kuppen unseres Landes aufflammen. Und zum drittenmal brennen die Feuer im trüben, grauen Herbst, wenn das Kartoffelkraut verbrannt wird.

Es wäre ein Unding, wollte ich meine Kinder von diesen Feuern fernhalten. Es ist nie zweckmäßig, Verbote zu erlassen, bei denen nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie befolgt werden. Also gehe ich lieber selbst mit meinen Kindern kokeln, ehe ich riskiere, daß sie eine Schachtel Streichhölzer klauen und allein ihre Brände anlegen.

Ich habe ein bestimmtes Ziel im Auge, einen langen Hang zum See hinunter, ab und an mit Ginster, Dornbusch und Brombeeren bestanden, aber sonst im allgemeinen nur mit Thymian, einem kleinen kriechenden Moos und saurem hartem Gras bewachsen. Es ist der jämmerlichste Boden von der Welt, steinig, nicht einmal fliegender Sand, sondern, was viel schlimmer ist, ›klingender Sand‹. Man hört die winzigen Steinchen, aus denen dieser Sand besteht, hell aneinander klingen, läßt man den Sand am Ohr vorüberrieseln! Der Besitzer dieses schönen Hanges läßt ein paar Tage im Jahr seine Kühe dort weiden, was man eben auf solchem Boden weiden nennt: das Vieh frißt sich hungrig.

Ich hoffe, auf diesem abgelegenen stillen Hang hat noch keiner gekokelt. Auf unserem Wege dorthin finden wir überall weite Flächen, die schon schwarz gebrannt sind. Die Kinder, Susi und Mücke, sind voller Besorgnis, wir könnten keine Stelle mehr für uns finden. Sie halten es gar nicht mehr aus vor gespannter Erwartung. »Hier, Papa!« rufen sie. »Hier geht's bestimmt!«

Ich bin voller Verachtung. »Nein, so ein kleiner Fleck! Und überall dazwischen blanker Sand, wo das Feuer nicht weiter kann! Nein, wenn wir kokeln, wollen wir richtig kokeln, dann soll es bis in den Himmel hinein brennen!«

»Kann's wirklich bis in den Himmel hinein brennen, Papa?«

»Nein, das sage ich nur so. Aber ein gewaltiges Feuer wollen wir haben! Sieh mal, Mückchen, das sind ja alles hier nur ganz kleine Stellen, kaum größer als meine Stube! Eben angebrannt ist es schon wieder alle!«

»Na ja, Papa«, sagt Mücke weise. »Das haben ja auch nur Jungens angekokelt. Jungens können's eben nicht besser. Du bist ja auch kein Junge mehr, Papa, du bist ein Herr. Na, laß sie, Papa, Jungens wollen ja auch ihren Spaß haben, ein kleines Feuer macht denen eben auch Spaß ...«

Dieses Thema wird von Mücke variiert, bis wir an meinem Hang angelangt sind. Meine Ahnung hat mich nicht betrogen: hier ist uns noch keiner zuvorgekommen! Etwa einen Kilometer weit erstreckt sich der Hang am Seeufer entlang, bis zu achtzig Meter Höhe emporsteigend. Unten ist der See, an den Seiten und oben liegen weit die sandigen Äcker, die von den Bauern nur mit Seufzen bestellt werden. Irgendeine Gefahr, daß das Feuer weiterlaufen kann, besteht nirgends.

Wir gehen den ganzen langen Hang ab, die Kinder sind schon sehr ungeduldig. »Sieh nur, Papa, das schöne trockene Gras, laß uns doch hier anfangen! Warum fangen wir noch nicht an?«

»Der Wind, Mücke, der Wind! Merk doch, woher der Wind bläst. An der äußersten Ecke fangen wir an, dann jagt der Wind das Feuer über den ganzen Hang! Wenn wir's richtig machen, Mücke, müßten wir mit einem einzigen Streichholz den ganzen Abhang abbrennen können!«

»Oh, Papa, mit einem einzigen Streichholz!«

Nun kauern wir alle am Rande des Hangs, in einer fast windstillen Ecke. Hier ist es ›schulig‹, wie man bei uns sagt. Wir machen ein kleines Nest aus trockenem Gras, aus alten verdorrten Kamillenstengeln, aus schwarz gefrorenen Ginsterspitzen.

»So, Kinder!« sage ich, und nehme die Streichholzschachtel in die Hand.

Warum klopft auch mir das Herz, genau wie den Achtjährigen? Warum bin auch ich in voller Erwartung, als stünde mir ein Glück bevor? Aus den Urzeiten muß es in jedem Menschen stecken, daß Feuer etwas Heiligendes, Reinigendes ist, daß das Entfachen der Flamme einer priesterlichen Handlung gleicht! Ein Stück Feueranbeter, Sonnenverehrer ist in jedem von uns, besonders in unserem sonnenarmen Lande!

»Oh, Papa!« sagt Mücke bedauernd. Das erste Streichholz ist mir durchgebrochen, ehe es noch zündete. Aber sofort tröstet sie mich: »Das macht gar nichts, Papa. Das Streichholz rechnet nicht mit, es hat ja nicht richtig gebrannt. Deswegen brennst du den ganzen Hang doch mit einem Streichholz ab, nicht so wie die Jungens. Das ist ja Dreck, was die Jungens machen! Ein Fleck nicht größer als deine Stube ... Das ist ja schade um die schönen Streichhölzer. Streichhölzer werden jetzt auch knapp ...«

Sie verstummt, sie sieht atemlos zu, wie das Streichholz das kleine Grasnest entflammt. Es brennt sofort, prasselt leise – und die Flamme sinkt zusammen, kriecht am Boden ...

»Trockenes Gras, Kinder!« rufe ich voller Eifer. »Schnell, trockenes Gras drauf! Der Wind muß erst reinfassen!«

Eilig geben wir der kleinen Flamme zu fressen. Sie windet sich, kriecht hierhin, dorthin. Der Wind scheint sie eher auszublasen als anzufachen, eine kahle Sandstelle von zehn Zentimeter Breite vermag sie nicht zu überqueren.

»Los, Susi, immer auf den Ginsterbusch dort zu! Da steht soviel hohes trockenes Gras, wenn sie erst da ist, haben wir gewonnen! Ach, Mücke, was bist du langweilig! Gras, sage ich, nennst du solchen Wurzelklumpen mit Sand Gras –?! Da, da hast du es beinahe ausgemacht! Los, Susi –!«

Plötzlich halten wir inne. Die Flamme hat das hohe dürre Gras beim Ginster erreicht, mit einem Schlage flammt es auf. Die schwarzen Spitzen des erfrorenen Ginsters werden glühend rot, es prasselt und knackt – und nun heult der Wind hinein! Die Flamme biegt sich, sie springt vorwärts, zur Seite, ein heller, weißer Qualm steigt auf ...

»Wir haben's geschafft, Kinder!« sage ich mit einem tiefen Aufatmen und stecke die Hände in die Tasche. »Nun brennt der Hang!«

Auch die Kinder stehen ganz still und atemlos. Sie starren auf das Feuer, das vom Wind mit unglaublicher Schnelligkeit den Hang hinauf gejagt wird, das sich ausbreitet nach rechts und nach links, Zungen bildet, Strecken überspringt – dieses kleine Feuer, das eben noch ein Kinderschuh hätte austreten können!

»Oh, Papa!« ruft Mücke. »Mir wird angst!« Und ihre Hand sucht nach der meinen.

»Siehst du!« sage ich zu Mücke und halte ihre Hand. »Du wirst so etwas nie allein machen, nicht wahr? Und du, Susi, auch nicht?«

»Nie!« sagt die Mücke. »Nie! Dafür hätte ich viel zuviel Angst. Nicht wahr, Susi? – Oh, Papa, jetzt brennt schon der ganze Berg!«

Es ist wirklich ein herrlicher Anblick. Das Feuer fliegt mit Zauberschnelle über den Hang. Eben standen noch die kinderhohen Ginsterbüsche schwarz und tot da, nun berührt sie die Flamme, und eine mannshohe hellrote Glut schlägt knisternd auf, eine schwarze Rauchwolke verbreitend, während das brennende Gras einen weißen, beizenden Qualm aussendet.

Wir können dem Feuer fast auf dem Fuße folgen. Der Boden ist kaum warm geworden, Äste, die nicht einmal fingerdick sind, fangen nicht Feuer, sind nur schwarz berußt. Audi die Ginsterbüsche stehen nach dem Feuerbesuch wie vorher, nur ihre dünnsten, trockensten Zweige sind aufgeflammt. Es ist nicht einmal ein Strohfeuer, es ist, als sengte man den Berg ab, wie die Hausfrau ein Huhn absengt.

Aber es sieht schaurig schön aus. Man wird dieses Knisterns, dieses Aufflammens nicht müde. Man? Ich! Die Kinder haben längst eine andere Beschäftigung gefunden. Das Fortschreiten des Feuers interessiert sie kaum noch. Sie haben sich kräftige Ginsterzweige abgebrochen und schlagen jetzt das am Boden im Moose kriechende Feuer aus. Ebenso eifrig wie sie beim Anzünden waren, sind sie jetzt beim Löschen!

Und Brumbusch, unser junger Hund, wie verhält sich der Edle Herr Gregor von Mannheim bei solch einem Weltenbrand, der heiligen Flamme gegenüber? Ich muß sagen, daß Brumbusch mich enttäuscht, er benimmt sich reichlich indolent dem wütenden Element gegenüber. Er bellt es nicht einmal an, er nimmt gar keine Notiz von ihm. Er niest einmal, wenn ihm der Qualm in die Nase zieht, und dann wälzt er sich kräftig im Grase, kaum drei Meter entfernt vom heranschleichenden Feuer.

»Warte nur, Brumbusch!« sage ich verheißungsvoll. »Wenn dir das Feuer erst den Buckel brennt!«

Aber Brumbusch wartet nicht; ohne das Feuer zu beachten, kommt er doch nie mit ihm in Berührung. Nun wandelt er auf seinen dicken Pfoten gravitätisch auf mich zu, setzt sich vor mich hin und sieht mich bittend an. Zum Überfluß gibt er mir auch noch die Pfote: ich soll doch endlich mit dieser elenden Langweilerei aufhören und richtig mit ihm spazieren gehen!

Keine Viertelstunde, und der ganze lange Hang ist schwarz und dunkel. Der Ostwind hat die letzte Spur von Qualm fortgejagt, klare kleine Wölkchen stehen am blaßblauen Himmel. Wir gehen nach Haus.

»Morgen kokeln wir doch wieder, Papa?« bittet Mücke.

»Ich glaube, Mücke«, sage ich, »mit dem Kokeln ist es für dieses Jahr vorbei. So eine Stelle finden wir bestimmt nicht mehr. Ich denke auch, einmal richtig schön ist genug, was?«

Worauf die Mücke mir das bestätigt, und nun wird alles wieder rekapituliert: die Jungens mit ihren kleinen Fleckchen, schade um die vielen Streichhölzer, aber wir haben nur eines gebraucht, eigentlich zwei, nein, Susi, eigentlich nur eines – und nun beginnt der Streit zwischen den beiden bis nahe zum Haarschleifenausraufen ...

Wenn dann der Sommer kommt, wenn es warm, wenn es schwül ist, wenn es ein paar kräftige Regenfälle gegeben hat, dann halte ich es nicht mehr aus, dann nehme ich mir einen halben Tag frei ...

»Du, Mücke, soll ich dich morgen früh schon um fünf wecken?«

Ihre Augen leuchten auf. Alle meine Kinder sind begeisterte Frühaufsteher, Frühwachwerder, sehr zum Leidwesen Suses.

»Warum denn, Papa?«

»Mach dein Rad schon heute abend fertig, Mücke! Um halb sechs fahren wir morgen los – in den Wald!«

»Pilze –?« fragt Mücke erwartungsvoll.

»Wir wollen wenigstens mal nachsehen, ob's schon welche gibt, nach dem Gewitterregen vorgestern müßten sie eigentlich wachsen, aber vielleicht ist's noch zu früh. Finden wir nichts, sind wir um acht schon wieder zu Haus.«

»Ach, Papa, wir werden schon welche finden! Du findest doch immer welche!«

Das ist nun freilich übertrieben, auch ich habe meine Versager. Aber so viel ist richtig, daß ich Pilze wittere. Ich schnuppere im Walde, und ich weiß, hier müßte es Pilze geben. Und dann finde ich sie auch ...

Ich bin der leidenschaftlichste Pilzsucher meiner gesamten Bekanntschaft, ich, der ich mich beim Erdbeerpflücken nicht bücken kann, merke beim Pilzsuchen überhaupt nicht, daß ich mich bücke. Ich kann sechs Stunden lang Pilze gesucht haben, sehe ich auf dem Heimweg nur einen klimperkleinen: schon springe ich vom Rad und hole mir auch noch den Zwerg. Und fühle nicht das geringste Ungemach im Rücken!

Und ich, dem seine Arbeit über alles geht, der an sie gekettet ist wie ein Galeerensträfling an seine Ruderbank, ich mache mich frei für einen Vormittag, für zwei Vormittage, für fünf Vormittage, lasse die Arbeit im Stich und suche Pilze (freilich unter Vor- und Nacharbeitung des auferlegten Pensums).

Ich habe mich oft gefragt, was denn an diesem Pilzsuchen so Herrliches ist, was mich dabei so glücklich macht? Es kann nicht der Aufenthalt im Walde sein, denn um des Waldes willen ließe ich meine Arbeit nicht einen Vormittag im Stich. Und es können auch nicht die Pilze sein, die ich finde, so gerne ich Pilze auch esse, Pilze kann man schließlich kaufen.

Es kann nur das Sammeln sein, das mich so glücklich macht. Das Sammeln mit all seinem Drum und Dran, dem Herumstreifen in den weiten stillen Wäldern, dem ewig unermüdlichen, unersättlichen Suchen, dem fast gierigen Füllen von Beuteln und Körben – und immer weiter und nie genug! Wie oft hat Suse mir schon gesagt: »Aber, bitte, bring heute nicht so viele mit! Wir schaffen es einfach mit dem Putzen nicht mehr! Es ist gerade jetzt so viel mit der Einmacherei zu tun! Bring nicht mehr, als daß wir zum Abendessen ein paar Pilze haben!«

»Na ja!« sage ich und ziehe ab.

Und dann finde ich eine Stelle, und dann finde ich noch eine Stelle. Und nun müßte ich schon längst nach Haus fahren, denn das sind Pilze für drei Abendessen! Aber wie kann ich das –? Hier ganz in der Nähe ist ein Gestell, da hab ich einmal vor zwei Jahren ganz überraschend im tiefsten Moos die herrlichsten großen festen Pfifferlinge gefunden! Seitdem bin ich nicht mehr in diesen Waldteil gekommen, ich will wenigstens mal nachsehen ...

Also sehe ich nach. Und siehe, es leuchtet gelb im grünen Moos, und wenn ich den ersten festen Pilz in der Hand habe, und ich fühle das Fleisch, und ich sehe die feinen Rippen der Lamellen unter dem krempigen Schirm, und ich rieche diesen frischen Duft aus Waldfäulnis und Moos und Wurzelwerk und feuchter Erde – dann bin ich verloren! Stehen lassen? Zum Verfaulen? Für andere? Nicht um's Verrecken! Hier wird gepflückt, noch der letzte, schäbigste Pilz wird gepflückt. Wenn Suse mit ihren jungen Mädchen nicht so viel Zeit hat, so kann sie ja Pilzextrakt kochen, der macht nicht so viel Mühe.

Und dann radle ich glücklich heim. Bis zur letzten möglichen Minute bin ich im Wald geblieben. Im Schnellzugtempo jage ich die schmalen Waldwege der Holzhauer entlang, um zur rechten Zeit das Mittagessen zu erreichen. Ich schätze mein Sammelergebnis auf gut zwanzig Pfund, entspricht einem Wert von etwa sechs Mark, macht einen Stundenlohn von einer Mark – und was verdiene ich mit sechs Stunden Schreiben? Nein, so gerechnet ist dieser Vormittag ein blanker Verlust, und wie reich komme ich mir vor!

Natürlich beschimpft mich Suse nicht, wenn ich statt mit einem Abendessen mit einem Tragkorb voller Pilze ankomme. Das ist ihre Art nicht. Mit einem kleinen Seufzer sagt sie: »Na, stell's man dort hin! Wir werden es schon irgendwie schaffen!«

Aber nicht einmal damit gebe ich mich zufrieden. Ich verlange, daß Suse mein Ergebnis bewundert. Ich suche die schönsten Exemplare hervor, von den hervorragendsten Pilzen weiß ich genau, wo ich sie fand. Ach, jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, denke ich an bestimmte Stellen in dem Forst. Ich sehe den Waldboden vor mir, die Sonnenflecke darauf, wieder rieche ich den Duft – da fandest du die kleinen festen Steinpilze! Dort im Ginster und Moos saß ein ganz dickes Nest Morcheln! Und dann jene Bootsfahrt eines Abends, es dämmerte schon, über den See nach einer bestimmten Koppel, nur mal nachzusehen, ob es schon Champignons gab ...

Und als ich im tiefsten Dunkel heimkam, leuchtete mein Boot weiß von den Champignonbergen, und als wir's gewogen hatten, waren es ein Zentner und zwanzig Pfund herrlichster Champignons. Ein wunderbarer Champignon ohne einen Wurm, der Schaf-Champignon, den wir dem angeblich viel edleren Wiesenchampignon bei weitem vorziehen. Stücke von einem halben Pfund waren dabei, schneeweiß, fehlerfrei, zum Reinbeißen!

Aber wenn ich von Pilzen rede, verliere ich Maß und Ziel. Da gleiche ich den Jägern, die von ihren Böcken erzählen, den Anglern, die von Trockenfliege und Wurfangel und Darre schwärmen, und ich gleiche den Briefmarkensammlern, ich gleiche überhaupt jedem Menschen mit einem Steckenpferd. Und ich wollte doch nur erzählen, wie ich das Mückchen mit in den Wald zum Pilzesammeln nehme, vielleicht dreimal im Jahr.

Öfter will sie nicht ... Es wird ihr ein bißchen zu anstrengend, das Tempo ihres Vaters ist beim Pilzesuchen auch gar zu schlimm ...

Mückchen müßte nicht das Mückchen sein, wenn es am Morgen sein Rad in Ordnung hätte. Wahrscheinlich hat sie es mit Feuereifer geputzt und geölt, hat dann aber vergessen, die Schläuche aufzupumpen. Irgend etwas hat sie immer vergessen. So beginnen Tag und Ausflug mit einer handfesten Abreibung durch den Vater, der fluchend ihre Reifen aufpumpt. Und Mückchen hört sich diese Abreibung mit edler Gelassenheit an. Sie bekommt so viele Abreibungen von ihren Eltern wegen ihrer Tutigkeit, Susigkeit, Langweilerei, Trödelei, Vergeßlichkeit, daß sie wirklich nicht mehr viel Gefühl an die einzelnen Abreibungen wenden kann. Wir sehen das auch vollkommen ein, und ich erledige darum diese Predigten auch mit einem Maximum an Stimme und einem Minimum an Gefühlen. Nur, ein bißchen Tempo muß in das Mädchen doch zu kriegen sein –!

Dann besteigen wir die Räder. Nach erprobter Methode hat Mücke vorauszufahren, so kann ich sie beim Trödeln hetzen. Fährt sie hintennach, bleibt sie unweigerlich auf fünfhundert Meter dreihundert zurück; ich kann noch so langsam fahren, sie fährt immer noch ein bißchen langsamer. Es ist ja überhaupt ein wahres Wunder, daß sie je radeln gelernt hat, diese rapide Fortbewegung, wo Gehen eigentlich schon viel zu schnell ist!

Ohne Onkel Herbert wäre dies Wunder auch nie geschehen. Ihr Vater hätte sich lieber jede Zehe einzeln vom Fuß abgebissen, ehe er dieser Trödelantin das Radeln beigebracht hätte! Aber Onkel Herbert besaß eine unerschöpfliche Geduld. Hundertmal, dreihundertmal, dreitausendmal rief er: »Mücke, treten! Mücke, vergiß das Treten nicht!« Und schob hemdsärmelig, vor Schweiß triefend, Mücke bergauf und bergab durch's Dorf.

Nach einem unerforschlichen Ratschluß der Vorsehung machen meine Kinder alles anders wie andere Kinder. Achim saß und lag, dann lernte er gehen. Nachdem er gehen konnte, entdeckte er das Krabbeln und wurde flugs aus einem Zweifüßler wieder zum Vierfüßler, da doch jedes Elternteil weiß: ein Kind macht es umgekehrt.

Uli sollte schwimmen lernen. Er stand auf der Treppe des Badehauses, sprang mit einem Satz, die Arme ausgestreckt, in die Fluten, schoß unter Wasser dahin wie ein vollendeter Taucher und kam acht oder zehn Meter weiter wieder zum Vorschein. Aber über Wasser schwimmen konnte er nicht. Er wollte es auch nicht lernen. Unter Wasser war es doch viel schöner!

Jeder Radler weiß, daß rasch Radeln die geringste Kunst ist. Man muß nur feste treten, und das Rad kippt nicht. Langsam radeln, ganz langsam radeln, auf dem Rad gewissermaßen stehen, das ist schwierig. Mücke begann mit dem Schwierigen, nahm das Rad die Geschwindigkeit eines mäßig bewegten Kinderwagens an, so bremste sie und fuhr, die Unterlippe bedachtsam vorgeschoben, in Schlängelungen. Dann stieg sie ab, kühl bis ans Herz hinan. »Papa, was bin ich gesaust!« sagte sie.

»Ich fand's nicht sehr sausig!« sagte ich.

»Aber ich bin gesaust! So wie Uli sause ich natürlich nicht, aber das nutzt das Rad nur ab. Ich kann mein Rad haben, bis ich sechzehn Jahre alt bin, hat der Händler gesagt, da sause ich nicht so! Aber ich sause doch. Man muß nur nicht immer so sausen ...«

Nun fahren wir also in der Sommermorgenfrische in den Wald. Ich sehe es Mückchens Rücken an, ich merke es an ihrem Tempo, daß sie sich gewaltig Mühe gibt, ihres Vaters Zorn nicht von neuem zu erregen. Ich sehe ihr Gesicht nicht, aber ich weiß, es trägt denselben geduldig bemühten Ausdruck, wie wenn sie ihre Schularbeiten macht. Sie hat das sanfteste und geduldigste Herz von der Welt, sie hat das Herz ihrer Mutter ...

»Na, Mückchen, was ist denn nun schon wieder los –?! Warum steigst du denn ab?«

»Aber, Papa, so'n Berg, da komme ich nicht hoch!«

Ich sehe mich um, weit und breit ist von einem Berg nichts zu entdecken. Nicht einmal ein Hügel ist vorhanden. Aber wie ihre Mutter, nicht wie ihr Vater, läßt Mückchen sich nicht hetzen. Für ihre Verhältnisse ist sie recht stramm geradelt, nun erholt sie sich erst einmal wieder ...

Dann kommen wir in den Wald. Wir fahren auf schmalen Fußsteigen, oft an der Kante kleiner tiefer Schluchten, mal über glatten trockenen Nadelboden, dann wieder über das leise raschelnde Laub von Buchenwäldern. Viele Meilen weit erstrecken sich diese Forsten, und wir haben sie fast immer allein für uns. Wo ich suche, sucht kein Mensch.

»Halt, Mückchen!« rufe ich, und sie hält. Wir verstecken unsere Räder im Unterholz und gehen los, unsere Körbe in der Hand. »Nun bin ich neugierig«, sage ich, »wer von uns den ersten Pilz findet!«

»Du natürlich, Papa!«

»Das ist noch gar nicht raus. Übrigens finden wir vielleicht gar nichts!«

»Du doch immer, Papa!«

»Na –! Beruf es nicht! So, Mückchen, von nun an müssen wir aufpassen. Halte dich ein bißchen links. Wir gehen hier grade durch die Kiefernstangen, immer mit der Sonne im Rücken.«

Ich gehe ganz langsam. Ich habe es schon gesehen: wir werden Pilze finden. Da und dort blitzt es gelb. Es kribbelt mir in den Fingerspitzen, ich möchte mich bücken ... Aber Mückchen ist ein wenig zu sehr geneigt, zu sagen: »Das kann ich nicht!« und den Kampf aufzugeben, ehe er noch begonnen hat. Sie hat den rechten Glauben nicht an ihr Glück, darum soll sie den ersten Pilz finden!

Da steht direkt vor mir eine ganze Pfifferlingfamilie, würdige Erwachsene mit großen, breitkrempigen Hüten, die sie abenteuerlich aufgebogen haben, und viele Kinder, die ihre Füße schräg gegen den Fuß der Großen stellten. Das ist fast unüberwindlich, daran kann ich nicht vorübergehen, hole der Henker die ganze Pädagogik! Ich muß diese Pilze aufsammeln! Da erreicht mich Mückchens Schrei und erlöst mich von meiner Gier!

»Papa! Papa! Ich hab' den ersten! Denk mal, ich hab' den ersten! Sieh doch bloß, so einen großen, festen!«

Sie stürzt auf mich zu und zeigt mir strahlend vor Glück ihren Pilz. Ihre Backen sind rot, ihre Augen leuchten; zwischen den halbgeöffneten Lippen sehe ich die breiten Zähne. Sie hat genau die schönen großen mandelförmigen Zähne ihrer Mutter!

In einem solchen Moment, den ersten Pilz in der Hand, würde mein ältester Sohn über mich triumphieren, er würde mir nicht die Mitteilung ersparen, daß er seinen Vater geschlagen hat! Mein liebes Mückchen, das Kind mit dem sanften Herzen, das zornig weint, wenn Achim mal Klapse kriegt (»So doll brauchst du ihn auch nicht zu schlagen!«), Mücke ist nur Glück. »Faß mal an, Papa, wie fest der ist! Da wird sich die Mummi aber freuen! Das ist ein richtiger fetter Mops, was, Papa?«

Sie entdeckt plötzlich die Pilzkolonie, neben der ich noch immer stehe. »Oh, Papa, hier sind ja auch eine Masse Pilze! Hast du die denn gar nicht gesehen? Aber, Papa –!« Einen Augenblick ist Verdacht in ihrem Herzen wach geworden. »Ach, Papa, du hast gewollt, daß ich den ersten finde!«

»Nee, Mücke, so edel bin ich doch nicht! Du weißt, mit Pilzen verstehe ich keinen Spaß! Hätte ich die gesehen, ich hätte sie unbedingt gepflückt!«

Mücke in ihrer Arglosigkeit glaubt mir sofort. »Na, laß man, Papa! Du hättest sie vielleicht noch gesehen. Und dann, man kann ja auch mal was übersehen, nicht wahr? Das passiert jedem. Und du trägst ja auch 'ne Brille. Leute mit 'ner Brille sehen nicht so gut wie Leute ohne Brille. Die übersehen leichter mal was. Wie ist das nun, sind das meine Pilze oder sind es deine?«

»Natürlich deine, Mücke. Ich wäre wahrscheinlich vorbeigelatscht.«

»Dann verhafte ich sie, Papa! Sieh mal, wieviel ich schon in meinem Korb habe, und du hast noch gar keinen! Na laß man, du findest auch noch welche! Und zum Schluß schütten wir unsere Pilze zusammen und sagen der Mummi, wir haben beide gleich viel gefunden. Mummi muß das gar nicht wissen, daß du heute kein Glück gehabt hast. Man hat doch mal kein Glück, nicht wahr, Papa? Alle Tage braucht man ja kein Glück zu haben, dann wäre es doch gar nichts Besonderes mehr ...«

Konversation machend verschwinden wir in der Tiefe der Kiefernstangen.

Ich, abweichend von meiner Tochter, finde, daß, wer Kinder hat, alle Tage Glück hat, und es bleibt doch stets etwas Besonderes.

3. Unser Erstgeborener

Kurz nachdem wir uns in Mahlendorf angekauft hatten, aber noch nicht dort wohnten, machte ich mit meinem Sohn Uli eine kleine Ruderfahrt auf dem Mahlendorfer See. Ich war damals noch nicht der sichere Ruderer, der ich heute bin, und für einen Unkundigen haben unsere Seen mit an manchen Stellen starken Strömungen und vor allem mit riesigen Felsblöcken dicht unter der Wasseroberfläche einige Schwierigkeiten.

Ich war mit dem damals wohl knapp Vierjährigen über den kleinen in den großen Mahlendorfer See gerudert, und dort hatten wir auf einer jener kleinen, buschigen Inseln angelegt, die das ganze Jahr hindurch fast nie eines Menschen Fuß betritt. Ich liebe solche Inseln, sie erinnern mich immer an die Robinson-Träume meiner Knabenjahre. Wurde damals eine Lebenskonstellation gar zu schwierig, so flüchtete ich als Robinson auf eine Insel und wünschte mir nicht einmal einen Freitag!

Nun, auf solch kleiner Insel hatten Uli und ich umhergestöbert und Entdeckungen gemacht: reife Himbeeren, eine lila großblütige Wickenart, wie ich sie noch nie gesehen, aus der wir einen Strauß für die kranke Mutter banden, und unzählige ganz junge Wildentchen, die im Rohr und Felsgestein des Wassers um die Insel ein vergnügtes Leben führten.

Das Losbringen des Bootes von der Insel war schwieriger als das Landen. Herwärts war ich mit einem kräftigen Ruderschwung durchs Schilf geschossen, während der flache Boden des Bootes manchmal bedrohlich über Felsen schrammte. Hinweg mußte ich uns mühsam mit einem Ruder staken, alle Augenblicke saßen wir im Schilf oder auf einem Stein fest.

Aber endlich sah ich durch das dünner werdende Röhricht freies Wasser vor mir. Ich gab mit dem Stakeruder einen letzten Schwung, das Ruder saß fest, ich wollte es nicht lassen, kräftig rauschte der Kahn unter meinen Füßen fort – und von der eigenen Kraft hineingeworfen zappelte ich im See, während das Boot mit meinem Sohn freies Wasser gewann.

Als ich reichlich verärgert – denn meine Sachen zum Wechseln lagen sieben Kilometer weiter in Bergfeld – aus dem Wasser tauchte, meine Hand auf den Bootsrand legte, sagte mein Sohn Uli flehend: »Bitte, Papa, nochmal! Ich hab's nicht genau gesehen. Bitte, nochmal!«

Dieser ohne alle Schadenfreude gesprochene, von einem stillen Forschertrieb diktierte Satz ist mir immer bezeichnend für meines erstgeborenen Sohnes Art gewesen. Wie oft haben später Suse und ich kopfschüttelnd beobachtet, wie unser Sohn Uli sich neue Spiele ausdachte, sie seinen Freunden aus dem Dorfe vorschlug, die Jungen spielen ließ, selber aber gar nicht mitspielte, sondern mit einem halben Lächeln beobachtend zusah. Wie oft sind wir in Ulis Zimmer gekommen und sahen ihn da sitzen, es sah aus, als lese er in einem Buch. Aber jeder Sinn von ihm war gespannt ins Nebenzimmer, wo, durch die offene Tür sichtbar, Mückchen mit ihren Freundinnen spielte ...

Wenn man solche – nicht ungefährlichen – Einteilungen überhaupt machen darf, so ist Uli ›mein‹ Sohn, wie Mückchen die Tochter ihrer Mutter ist. Ich entdeckte an ihm wie an mir den gleichen Hang, sich zu isolieren, die gleiche Leidenschaft, Menschen zu beobachten. Ich habe all mein Lebtage Menschen gefressen, ich habe sie mit ihren Bewegungen, Redensarten, Gefühlen in meinem Gehirn notiert, und da habe ich sie nun, jederzeit parat zu sofortigem Gebrauch! Nichts hat mich je so interessiert wie die Erkenntnis, warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Mein sonst schlechtes Gedächtnis ist ausgezeichnet für jede Einzelheit, für die kleinsten Tatsachen, die ich über die Lebensgewohnheiten meiner Mitmenschen erfahre. Ich bin ein Menschenfresser, nein, ich bin ein Menschensammler, ich tue es bewußt und unbewußt. Dies hat die Natur in mich gelegt, und mir dadurch die Grundlage, den Stoff für all meine Schreiberei gegeben ...

Aber es ist ein Ding, so zu sein, und es ist ein ander Ding, seinen Sohn so werden zu sehen. Der Junge, der seinen Vater bat, nochmals ins Wasser zu fallen, weil er es nicht genau gesehen hatte, und der Junge, der mit einem vagen Lächeln den Spielen seiner Freunde zusah – dieser Junge hat einen schweren Weg vor sich, das weiß ich, sein Vater.

Die Menschen lieben den kühlen Beobachter nicht, der sie anschaut wie ein Sammler seine auf Nadeln gespießten Schmetterlinge. Wer sich vereinzelt, den vereinzeln sie, und das besorgen sie gründlich! Es gab lange Zeiten, Jahre wohl, in denen sogar Suse an ihrem ältesten Sohn verzweifelte: »Es ist ja, als liebte er mich überhaupt nicht! Als haßte er mich!«

Ich habe sie trösten können, ich erkannte mich wieder in ihm. Wie ich besitzt er nicht die Gabe, sprechen zu können, schon gar nicht über Gefühlsdinge, und Zärtlichkeiten haßt er – wie ich. Er versteckt seine Gefühle, er übertreibt seine Ruppigkeit, seine Widerborstigkeit, aus Angst, der andere könne weich werden. So wird er lieber frech ...

Ich sah den einsamen Weg vor ihm, den ich gegangen war, den er würde gehen müssen, wenn er solch Einzelgänger blieb. Ich erinnerte mich der schrecklichen Szenen, die ich mit meinem gütigen Vater gehabt hatte, bloß, weil ich niemandem, auch ihm nicht, Einblick in mein Inneres gestatten wollte. Ich erinnerte mich der Zeiten, da ich keinen Menschen mehr hatte, der Wert auf mich legte, der mich lieb hatte. Ich war ja kein harter Mensch, im Gegenteil, ich war ein überempfindlicher, weicher Mensch. Aber wenn ich allein für mich bleiben wollte – und das wollte ich unbedingt –, so mußte ich alle Gefühle der anderen zurückstoßen. Jedes Gefühl, das man beim andern nur duldet, gibt ihm ein Recht auf uns. Niemand sollte je ein Recht auf mich haben!

Und ich erinnerte mich, wie in den zwanziger Jahren mich die selbstgewählte Einsamkeit wie ein glühender Schmerz plagte, wie ich Abend für Abend von einem Caféhaus ins andere lief, oft an einem Abend in zwölf, fünfzehn Stück ... Da saß ich dann und sah angstvoll in jedes Gesicht, ob es nicht endlich das Gesicht des Menschen sein würde, der mich erlöste. Jedem Eintretenden sah ich entgegen, und hinter jedem Fortgehenden hätte ich hinterdrein laufen mögen, ihn auf der Straße um ein wenig Wärme und Gemeinschaft anzusprechen.

Mußte ich mich nur erinnern? Saßen wir nicht hier allein in Mahlendorf, oft monatelang ohne jeden Verkehr, und hatte ich nicht Suse zu derselben Einsamkeit verurteilt, die mir nur durch meine Arbeit, durch den Umgang mit erdichteten Gestalten erträglich war, Suse, eine Frau, die sich nach Aussprache sehnte, die auch einmal in ein Theater oder Konzert wollte, zur gleichen monotonen Einsamkeit verdammt war! Hatte ich nicht jeden regelmäßigen nachbarlichen Verkehr, der sich doch etwa anbahnen wollte, immer wieder vereitelt? Sagte ich nicht heute noch beim angenehmsten Besuch: »Gerne sehe ich euch kommen, lieber sehe ich euch gehen –?«

Wahrhaftig, ich kannte die tiefe Wunde, die ein Einzelgängerschicksal dem Betroffenen selbst und allen ihm Anhängenden bereitet! Ich weiß, daß diese Wunde nie ganz verheilt. Und ich war entschlossen, meinen Sohn nicht diesen Weg gehen zu lassen. Mochte es ihm schwerfallen, mochte es für alle bitter sein: aus dieser Betrachterrolle mußte er heraus, so schnell wie nur möglich.

Die Zeit half mir. Damals, als ich aufwuchs, kurz nach der Jahrhundertwende, war der Einzelne alles. Man war sehr für Originale, das Individuum hatte ein Recht, sich auszuleben, ganz für sich allein etwas zu werden. Die ganze Gesellschaft bestand aus einer Schar Einzelmenschen. ›So bin ich nun einmal – was soll ich dabei machen? Grade schön!‹

Heute ist der Einzelne nur das, was er im Dienst der Gesamtheit bedeutet und leistet. Die Eigenbrötler, die aus eigener Gnade und eigener Machtvollkommenheit nur dem eigenen Piepmatz Zucker geben, bedeuten nichts. In der Gemeinschaft soll der Mensch aufwachsen, für die Gemeinschaft wird er einst arbeiten, durch die Gemeinschaft ist er etwas. Sie gab ihm Sprache, Boden und Nahrung, er könnte isoliert von ihr nicht leben, nicht denken – also lebe er, denke er für sie!

Zu meinen Jugendzeiten hatte man eine (ganz falsche) Achtung vor Schrullen. Die Eltern sagten: »Er ist ein besonderes Kind!« Und die Lehrer meinten: »Er macht nicht recht mit, hat aber geistige Interessen!« Beide ließen das Kind, wie es war, sie hatten Respekt vor Eigenart (den man auch haben soll), aber sie hatten auch Respekt vor Schrullen, vor Menschenfeindlichkeit (den man ausrotten soll).

Es ist kein leichter Entschluß, ein Kind in dem bildungsfähigsten Alter fortzugeben, und noch dazu ein so schwieriges Kind. Es kommt in die Hände anderer, andere formen den Charakter, den man von seinen frühesten Regungen an bewacht hat, andere geben ihm Freude, andere bereiten ihm Schmerz. Und ich wußte auch, wie sehr mein Sohn trotz aller Kühle nicht nur an seinen Eltern, sondern auch an Mahlendorf hing. Haus und Hof, See und Acker, Stall und Hund, das war seine Welt ...

Langsam bereitete ich ihn auf den Wechsel vor. Er sollte erst einmal auf ein Jahr nach Berlin zu Freunden. Ich begründete es ihm damit, daß er hier nicht genug lernte, er solle ja eines Tages studieren ... Ich hätte es lieber nicht begründen sollen!

Uli war acht Jahre alt, und er erwiderte mir mit Entschlossenheit, daß er hier in Mahlendorf völlig genug lerne. Er wolle einmal Lastwagenchauffeur werden, er denke nicht daran zu studieren! Für Lastwagenchauffeur lerne er hier völlig genug!

Um Gottes willen, in was hatte ich mich da eingelassen, in was für leidenschaftliche Debatten hatte ich uns verstrickt! Natürlich war ihm mit Verstandesgründen überhaupt nicht klarzumachen, daß er in fünf Jahren, vermutlich in einem Jahr schon über seine Berufswahl wesentlich anders denken würde. »Und ich werde doch Lastwagenchauffeur und nie, nie was anderes! Ihr wollt mich bloß weg haben aus dem Hause!«

Uli war sich völlig klar darüber, daß wir uns seinetwegen Sorgen machten, und er glaubte, wir wollten diese Sorgen durch Verbannung loswerden. Auch ein Punkt, der nicht diskutierbar war.

Aber mein Sohn war es, der mit allen Diskussionen aufhörte. Plötzlich hatte er eingesehen, daß mein Wille, ihn nach Berlin zu geben, unerschütterlich war, er sprach nicht mehr darüber, er fügte sich. Was dies Sichfügen ihn gekostet, welche Schmerzen er dabei gelitten hat, ich kann es mir vorstellen, aber ich weiß nichts davon. In der letzten Zeit vor seinem Weggang war der Schweigsame fast völlig stumm (aber ohne verbockt zu sein), in den letzten Tagen wurde er seltsam, fast durchsichtig weiß, bei seinem Fortfahren erbrach er sich ständig ... Es war ein Jammer, das ansehen und hart bleiben zu müssen ...

Eines aber war sicher, unser Sohn ging als unser Feind. Er war überzeugt, wir waren seine Feinde, wir wollten ihn loswerden. Er haßte uns, mich, der ihn zum Fortgehn verbannt hatte, noch mit Maßen; seine Mutter aber, die ihn fortbrachte, unbändig. Warum sein Haß so ungerecht verteilt war, ich weiß es nicht. Wer versteht etwas von diesen Dingen –?! Von jener Zeit her datiert es bei Uli, daß fast alle seine Briefe nur die Überschrift tragen: ›Lieber Papa!‹ Seine Mutter, die ihm seine Wäsche schickt, immer mit irgendeiner süßen Überraschung darin, wird fast nie erwähnt. Noch heute, da seine Gefühle sich völlig geändert haben, vergißt er meist, seine Mutter im Brief anzureden ...

Im ganzen genommen war dies Jahr in Berlin ein völliger Mißerfolg: Uli verstärkte eher noch seinen Einzelgängertrieb. Er kam zu Freunden von uns, sehr behutsamen, klugen Menschen, von denen die Schwierigkeit des Problems wohl eingesehen wurde. Aber er kam in ein Haus, in dem nie Kinder gewesen waren, und zu einem Ehepaar, das nie Kinder gehabt hatte. Er kam auch zu überbeschäftigten Leuten, einem Arzt, dem eine weit ausgebreitete Praxis keine ungestörte Tagesstunde ließ, dessen Frau dem Mann viel helfen mußte.

So war Uli allein in Berlin. Am ehesten schloß er sich noch an ›Otti‹ an, das junge Mädchen, dem Kochen und Hausreinigung oblag, Otti war grade aus einer Klostererziehung gekommen, dieser Ausflug war ihr erster in die große Welt. Nur mit ihrer völligen Unerfahrenheit und einer eingelernten Demut kann ich es mir erklären, daß die Achtzehnjährige sich völlig der Tyrannis des Neunjährigen beugte. Sie gehorchte ihm mit einem fast blinden Gehorsam, der ihre Arbeitgeber in Verzweiflung brachte. Stritten sich die beiden wirklich einmal, so stritten sie völlig auf der gleichen Ebene, und Uli ging aus diesen Streitereien stets als Sieger hervor.

Freilich verstand er es auch, sich bei ihr in Respekt zu setzen. Als sie ihm einmal in der Frage seiner Schulstullen nicht zu Willen sein wollte (sie weigerte sich, ihm eine letzte, ausdrücklich für den Arzt reservierte Roastbeefschnitte aufs Brot zu legen), benutzte Uli den ersten Augenblick, da die Pflegeeltern fort waren, Otti in die Küche einzuschließen und auf Entdeckungsreisen in Berlin auszugehen. Otti mußte Stunden gefangen in der Küche ausharren, erst der heimkehrende Arzt erlöste sie. Was der Arzt mit Uli bei seiner Rückkunft tat, ist mir nicht mehr erinnerlich. Leider war er als Kinderloser leidenschaftlicher Pädagoge – der Theorie, und also ein Gegner des Schlagens von Kindern. Auf Uli werden seine pädagogischen Vorträge nur einen geringen Eindruck gemacht haben.

Diese Stadt Berlin, die für Otti nach dem stillen Klosterfrieden so viel Erschreckendes hatte, war für Uli das einzig Interessante während seines ersten Verbannungsjahres. Er hat sich sofort einen Plan der Stadt schenken lassen – er besitzt dieselbe Leidenschaft wie sein Vater für Karten – und ging systematisch auf Entdeckungsreisen aus. Das verwickelte Verkehrsnetz mit Schnellbahn, U-Bahn, Straßenbahn und Autobussen verstand er sofort. Mußte Otti in einem weiter entfernten Stadtteil eine Besorgung machen und war ganz verzweifelt, so sagte Uli von oben herab: »Na, laß man, Otti, ich werd dich schon richtig hinbringen. Wenn du mit mir gehst, brauchst du keine Angst zu haben.« Und er ›franzte‹ sie durch Berlin, mindestens ebenso erfolgreich, wie sein Vater seine Mutter durch Württemberg gefranzt hatte.

Ich sah Uli in diesem Jahr verhältnismäßig oft in Berlin. Ich hatte seinetwegen ein unruhiges Gefühl, irgendwas schien mir nicht in Ordnung mit ihm, auch war ich nicht ohne dunkles Schuldbewußtsein. Jeden Vorwand, der mich nach Berlin brachte, fand ich Reiseunlustiger in diesem Jahr gut. Uli begrüßte mich immer mit der gleichen kühlen Liebenswürdigkeit, seine Antworten beschränkten sich meist auf ein bloßes Ja oder Nein. Immerhin war er klug genug, zu erkennen, daß sein Vater ihm gegenüber weich gestimmt war, und er benutzte diese Stimmung mit Gerissenheit, um von ihm Bücher, Spielzeugautos und Geld für das Kino zu erpressen.

Seine Leidenschaft waren zu dieser Zeit die kleinen wirklich hübschen Modellautos. Es fing mit solchen an, die auf dem Tisch herumfuhren, vor der Tischkante aber hielten und eine andere Richtung einschlugen. Und es hörte mit jenen raffinierten Dingern auf, in deren Verdeck man ›Stop!‹ schrie, und sie hielten! Uli hatte ein ganzes Arsenal von diesen Autos, ich glaube, in seinen besten Zeiten an die vierzig Stück. Er spielte reizend mit ihnen, und im Eifer dieses Spiels wurde er wieder ganz der alte, mir eng befreundete Uli von früher.

Dann, bei einem späteren Besuch von mir, stellte ich fest, daß sämtliche Autos verschwunden waren. Ich habe nie erfahren können, was sich da eigentlich begeben hat. Uli ist immer äußerst zurückhaltend mit Auskünften über seine eigene Person und seine Erlebnisse gewesen. Auf mein dringlichstes Fragen bekam ich nichts anderes zu hören, als daß er sie eben verschenkt hätte.

»Aber warum denn, Uli –?! Du mochtest sie doch so gerne!«

»Och –!«

Ich bin beinahe ganz fest überzeugt, daß er sie nicht verschenkt hat. Vielleicht hat er irgend etwas neues Begehrenwerteres dafür eingetauscht, wie ich als Junge einmal die kostbaren Briefmarken meines Vaters gegen Liebigbilder eintauschte. Vielleicht hat er sich aber auch mit ihnen von irgendeinem schrecklichen Verbrechen freigekauft; ich weiß es nicht, ich ahne es nicht. Vermutlich wird es mir immer ein Rätsel bleiben.

Rätselhaft war mir Uli überhaupt in diesen Zeiten. Einmal stand ich mit ihm auf dem Balkon seiner pflegeelterlichen Wohnung, im sogenannten Hochparterre. Unten auf der Straße nahten drei Schuljungen.

»Einen Augenblick mal, Papa!« sagte Uli und verschwand. Er tauchte wieder auf der Straße auf. Ohne irgendwelche Einleitung stürzte er sich auf einen der Jungen und fing an, ihn fürchterlich zu verdreschen. Einen Augenblick später lagen die beiden schon auf dem Pflaster. Die anderen Jungen sahen ernst, ohne irgendeinen Versuch zur Einmischung, ohne ein einziges Wort, der Drescherei zu.

Dann, als der andere heulte – er hatte Ulis stummer Sachlichkeit gegenüber nicht einen Augenblick eine Chance gehabt, trotzdem er mindestens so kräftig war wie Uli –, erhob sich mein Sohn und verschwand ebenso eilig und still wie vorher wieder im Hause. Erst nach einer ganzen Weile erschien er bei mir wieder auf dem Balkon. Er hatte sich gewaschen, gekämmt, den Anzug ausgebürstet. Ich nahm das als Anzeichen dafür, daß er den Fall für erledigt ansah. Trotzdem konnte ich mich nicht enthalten, ihn zu fragen: »Na, Uli, was war denn da los?«

»Och ... nichts Besonderes!«

»Was hattest du denn mit dem Jungen?«

»Ach – gar nichts ...«

»War der denn von deiner Schule, aus deiner Klasse?«

»Och ...«

»Was heißt och –? War er aus deiner Klasse oder war er nicht aus deiner Klasse?«

»Das kannst du dir doch denken, Papa!«

»Bei dir kann man sich vielerlei denken, mein Sohn! Hat er dich geärgert?«

»Och, Papa, das sind so Schulsachen. Das geht nur uns Jungens was an. – Papa, ich habe heute 'ne Zwei im Diktat gehabt – gehst du nun mit mir in den Zoo?«

Auch die Auskünfte, die ich von seinem Lehrer bekam, befriedigten mich nicht recht. O ja, Uli würde es schon schaffen. Aber er beteilige sich nicht recht am Unterricht, mache bei nichts mit. Ob er nicht wolle oder ob er nicht könne, sei nicht feststellbar. Es sei wenig aus ihm herauszubekommen ...

Meine eigenen Klagen aus anderm Munde! Meine eigenen Sorgen – auch von seinem Lehrer geteilt –!

Dabei war ich nicht einmal sicher, ob Uli die Aufnahmeprüfung für ein Gymnasium schaffen würde, ob er sie würde schaffen wollen. Ich traute es meinem Sohn zu, daß er mit aller Dickköpfigkeit seines Vaters am Lastwagenchauffeur festhielt, und daß er vielleicht hoffte, bei nicht bestandener Prüfung nach Mahlendorf auf die Landschule zurückkehren zu können!

Dann kam der große Tag, da ich mit Uli zur Prüfung in das märkische Städtchen fuhr. Das kleine Hotel war überfüllt mit sorgenvollen Eltern, meist Müttern, die ihre Söhne nun für acht oder neun Jahre, ihre weichsten Jahre, lassen wollten. Am Frühstückstisch sah ich Mütter, die mit ihren Söhnen noch eifrig aus der Grammatik übten. Meist freilich waren die Mütter eifriger als die Söhne, die recht verdrossene Gesichter machten und manchmal scheu-prüfende Blicke auf ihre zukünftigen Klassengenossen warfen.

Ich ging sehr zeitig mit Uli los. Wir mußten ein ganzes Stück aus der Stadt hinaus wandern, immer mehr kamen wir in Wald. Dann lag das Gymnasium breit gelagert mit hellen freundlichen Häusern vor uns. Es trägt einen alten berühmten Namen und ist heute fast nur Internat. Die Schüler hausen in sechs verschiedenen Häusern, alle Jahrgänge gemischt, unter einem Inspektor und einer Hausdame. Sie teilen ihr ganzes Leben miteinander, Sichisolieren ist schwierig.

Im Frühlingssonnenschein lagen die Gebäude stattlich genug da. Wir beide gingen über den Ehrenhof zwischen den villenartigen Schulhäusern hindurch. »In einem dieser Häuser wirst du hoffentlich bald wohnen, Uli. Was meinst du zu ›Fehrbellin‹? Oder ›Kurbrandenburg‹?« Dann kamen wir durch ein Tor in einen großen parkartigen Wald. Wir gingen immer bergab, wie in Mahlendorf lärmten die Vögel. Wir traten an das Ufer eines langgestreckten Sees.

»Fast wie unser Mahlendorfer See«, sagte Uli.

Ich sagte nichts.

Wir untersuchten noch das Bootshaus, das viel mehr und viel schönere Boote als unseres daheim aufwies, sahen die Badeanstalt an und mußten zurück ins Gymnasium, zur Prüfung. Mit den anderen Eltern, mit den anderen Jungen wartete ich vor der Tür der Aula auf den Anfang. Ach, dieser alte Schulgeruch, in allen Schulen gleich, wie mich das wieder überfiel! Wie ich ihn geliebt und gehaßt habe! Freilich, in ein so gepflegtes, sauberes Gymnasium bin ich mein Lebtag nicht gegangen, sogar die Gipsbüsten der alten Griechen und Römer sahen weiß und sauber aus, nicht grau verstaubt und von Fliegen gesprenkelt wie zu meinen Zeiten!

Dann kam der Direktor mit einigen Lehrern, die nachher prüfen würden. Neben meinem Sohn saß ich auf einer Bank in der Aula, lauschte der kleinen Ansprache des Direktors und sah besorgt in die Gesichter der Lehrer, ob sie meinem Sohn auch wohl nicht ungünstig geneigt sein würden. Ich muß gestehen, diese Gesichter machten mir Mut; es waren nicht mehr so vertrocknete närrische Schulkäuze wie zu meinen Zeiten, fast alle sahen jung aus.

Mit Besorgnis wartete ich auf den Namensaufruf meines Sohnes. Würde der ›Träumer‹ ihn nicht verpassen? Heute saß ich noch hier, ihn durch einen Stoß zu wecken – wer würde ihn später wecken?

Und plötzlich überkam es mich, daß ich nun wirklich ein Vater geworden war, genau wie mein Vater – mein Vater gewesen war! Ich hatte richtige Vatersorgen – aus einem Jungen, aus einem jungen Mann, aus einem Mann überhaupt war ich mit den Jahren ein richtiger Vater geworden! Es half nichts, jetzt konnte ich nicht mehr die Augen verschließen und sagen, bei mir sei alles ganz anders. Ich sei eigentlich ein Kamerad und Freund meiner Kinder. Nein, ich war ein Vater. Ich hatte dieselben Sorgen, wie sie mein Vater meinetwegen gehabt hatte, wie sie alle Väter ihrer Söhne wegen haben.

Es fing erst an, darüber war ich mir klar. Heute war es die Sorge um eine bestandene Aufnahmeprüfung, dann würden die Sorgen um die jährliche Versetzung kommen, und die Sorgen, daß er auch nichts gar zu Schlimmes ausfresse. Halt, wollte ich sagen, das stimmt aber nicht: ich bin nicht ehrgeizig für meinen Sohn. Wenn er mal kleben bleibt, immer los, wenn es ihm Spaß macht, ein oder zwei Jahre länger zur Schule zu gehen, von mir aus! Aber es stimmte doch wieder nicht, denn wenn ich nicht ehrgeizig für ihn war, so war ich seinetwegen besorgt. Ich wünschte, daß er seinen Lebensweg glatt, ohne allzuviel Hindernisse ging, und die Erfüllung dieses Wunsches würde mir ebensoviel Sorgen bereiten wie einem Ehrgeizigen die Erfüllung seiner Träume ...

So, jetzt hatte ich den Namensaufruf meines Sohnes verpaßt, aber Uli war zur Zeit aus der Bank hochgefahren und hatte sein ›Hier!‹ gerufen. Nein, wahrscheinlich war es Unsinn, sich seinetwegen Sorgen zu machen, er würde schon für sich selbst sorgen! Nein, Uli würde sich schon Mühe geben, die Prüfung zu bestehen! Er hatte heute dies Gymnasium gesehen, die schönen Häuser, den parkartigen Wald, den See und das Bootshaus – er mußte ja begriffen haben, daß es eine Vergünstigung war, hierher zu gehen, daß er ausgezeichnet wurde vor Tausenden! Daß seine Eltern ihn nicht in die Verbannung schicken wollten!

Dann verschwand Uli mit anderen Jungen in einem Klassenzimmer. Es waren alles sehr große Jungen, stellte ich mit Besorgnis fest, Uli war fast der Kleinste. In Mahlendorf war er in seinem Jahrgang bei weitem der Größte und Kräftigste gewesen. Er würde schwere Konkurrenz haben, soundsoviel Plätze waren nur frei. Vor allem war da ein großer Pastorensohn ...

Wir Eltern wurden für drei Stunden fortgeschickt, drei Stunden sollten wir in schrecklicher Prüfungsangst allein sein! So lächelten wir uns auf dem Rückweg ins Hotel zage und freundlich an, und dort angekommen, setzten wir uns alle um einen großen Tisch und fingen an, von unseren Jungen zu erzählen. Jeder war sehr bereit zu erzählen und sehr wenig bereit zuzuhören. Jeder hatte so viel Sorgen ... Und jeder Junge war besonders schwierig, wir konnten es uns gar nicht vorstellen, wie schwierig der Junge war ...

Ich war fest überzeugt davon, daß ich bei weitem den allerschwierigsten Jungen hatte, aber ich hörte mit Staunen, daß alle anderen Eltern das gleiche von ihren Jungen behaupteten. Wenn ich freilich hörte, mit was für Problemen die sich herumzuschlagen hatten, war ich mir klar, daß ich mit diesen Problemen spielend fertiggeworden wäre. Die Eltern hätten erst mal meine Probleme haben sollen, das nannte ich schwierige Probleme –!

Aber sie waren nicht geneigt, sehr intensiv über meine Probleme nachzudenken, sie hatten an ihren genug. Jedenfalls halfen wir einander, die Wartezeit zu verkürzen. Es war eigentlich noch früher Vormittag, aber ich muß gestehen, diese schreckliche Prüfung hatte uns alle völlig aus dem Gleis geworfen. Wir aßen viele belegte Brote, und nicht nur ich, nein, sogar Damen, gesetzte Mütter, tranken schon Alkohol!

Dann wanderten wir, aber nun alle gemeinsam, wieder dem Gymnasium zu. Die Mütter sprachen von der Ausrüstung ihrer Söhne, von Hemden, Unterhosen, Wäschezeichnen. Ich dachte darüber nach, was ich mit Uli anfangen würde, wenn er die Prüfung nicht bestanden hätte. Für eine Prüfung auf einem anderen Gymnasium war es jetzt zu spät. Also ...?

Wieder steigen wir die Stufen zur Aula empor. In den Gängen ist es noch still und leer. Die Prüfung ist noch nicht zu Ende, wie mir der bärtige Pastor mitteilt, der unverdrossen vor der Tür des Klassenzimmers ausgeharrt hat, in dem unsere Jungen geprüft werden. Drei Stunden steht er hier schon. Er scheint noch mehr Examensangst als ich auszustehen. Es ist nicht möglich, sich mit ihm zu unterhalten, er behält gespannt die Klinke der Klassentür im Auge und scheint durchs Holz zu horchen. Ich mußte mich doch wundern, bei einem so großen, kräftigen Bengel –!

Ich ging die Gänge auf und ab und sah die Bilder all jener berühmt gewordenen Schüler an, die einst in diesem Gymnasium ihr erstes Wissen erworben hatten. Wenn ich eine der Mütter traf, mit denen ich eben erst um den runden Tisch gesessen hatte, lächelten wir uns nur zaghaft an. Keiner hatte noch Lust zu sprechen.

Nun faßte ich einen großen Entschluß: ich ging auf das Büro hinunter und zahlte Schul- und Hausgeld für das erste Vierteljahr ein. Es wurde anstandslos angenommen. ›Juristisch‹, sagte ich mir spitzfindig, ›ist mein Sohn jetzt Schüler dieses Gymnasiums. Da sie das Geld für ihn genommen haben, müssen sie ihn nehmen, auch wenn er die Prüfung nicht besteht!‹

Oben kam ich grade zurecht, die Klassentür öffnete sich und die Jungen kamen heraus! Manche sehr blaß, manche wieder rotgesichtig. Die einen stürzten aufgeregt, kindlich, sofort losschwatzend auf ihre Mütter zu. Andere schritten gemessen, eiskalte Männer, auch in der Stunde der Gefahr.

Als letzter kam natürlich Uli. Uli war ein wenig blaß, aber mit demselben kühlen, ein bißchen spöttischen Lächeln, mit dem er stets Gefühle zu verstecken trachtet. Nein, Uli war doch nicht der letzte, nach ihm erschien der große Pastorensohn ...

»Na, Uli?« fragte ich aufgeregt. »Nun sag schon! Wie ist es gegangen?«

»Der ist durchgefallen!« sprach Uli und zeigte völlig ungeniert auf den großen Jungen hinter sich, der jetzt von seinem bleichen aufgeregten Vater bestürmt wurde. »Wir anderen sind alle durchgekommen.«

»Du hast die Prüfung also bestanden, Uli –?!« rief ich.

Der Pastor mit seinem großen Sohn tat mir herzlich leid. Aber ich hatte jetzt keine Zeit für andere Gefühle als die unaussprechlicher Erleichterung und großer Freude.

»Das habe ich doch schon gesagt, Papa«, meinte Uli. »Hätt' ich gewußt, die Prüfung ist so einfach, hätte ich mir in Berlin nie solche Mühe gegeben!«

Ach, mein Sohn Uli – manchmal läßt du deinen Vater also doch ein bißchen in dein Inneres sehen! Du hast also selbst den Wunsch gehabt, die Prüfung zu bestehen? Du wolltest gerne hierher kommen? Du weißt also, wir schickten dich nicht fort, nur um dich loszuwerden?

Oh, mein Sohn Uli, es wäre recht nett gewesen, du hättest uns Eltern ein bißchen von deinen veränderten Gefühlen merken lassen! Vor allem deine Mutter –! Ach, mein Sohn, hoffentlich bist du nun in diesen Ferien ein bißchen aufgeschlossener und umgänglicher!

Aber das sprach ich nur innerlich zu mir. Ich habe eben doch einiges von meinem Sohn abbekommen, zum Beispiel die Neigung, über Gefühle lieber zu schweigen ...

Seit jenem Vorostertag, da ich mit meinem Sohn stolz und glücklich von seiner Prüfung heimmarschierte, sind nun über zwei Jahre vergangen. In seinen Zeugnissen steht noch immer: ›Ist verspielt, träumt zuviel, beteiligt sich nicht‹, aber seine Zeugnisse verbessern sich, seine Leistungen nehmen zu. Er wird nicht mehr blaß, wenn er aus den Ferien wieder fort muß, er kommt begeistert, aber er geht nicht ungern. Noch wechseln seine Freunde ein wenig überraschend, und noch scheint die Neigung, zu beobachten statt mitzutun, stark.

Aber er ist in diesen zwei Jahren schon ein anderer Junge geworden. Er ist lebhaft, er prügelt sich mit seiner Schwester Mücke, spielt mit ihr, und er ist der reizendste, unermüdlichste Gefährte seines kleinen Bruders Achim. Er redet auch mal mit seinem Vater ein anderes Wort als ›Och‹, er erzählt auch mal aus seinem Leben in der Welt draußen.

Doch vor allem ist er ganz anders zu seiner Mutter als früher. Seit ich gemerkt habe, daß mein Sohn Ulrich auf seine Mutter mindestens ebenso stolz ist wie sein Vater – seitdem bin ich geneigt, die Probleme nicht mehr so problematisch anzusehen, gewissermaßen nehme ich Uli jetzt auf die leichte Achsel. Wer andere so lieben kann, im egoistischen dreizehnten Jahr, der ist zum Einzelgänger verdorben, auf Lebenszeit! Der wird immer lieben wollen ...


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