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Mein Vater wir mit Leidenschaft nur eines, nämlich Jurist. Der Richterberuf schien ihm einer der edelsten und verantwortungsvollsten von allen. Schon sein Vater war Jurist gewesen und vor ihm der Vater seines Vaters und so fort; soweit Gedächtnis der Familie und Überlieferung reichten, war immer der älteste Sohn in unserer Familie ein Jurist gewesen, während im mütterlichen Stamm das Pastörliche überwog. Was Wunder, daß mein Vater den dringenden Wunsch hatte, auch aus mir, seinem ältesten Sohne, einen Juristen zu machen.
Schon früh erzählte mir mein Vater, wie er, damals Alumne der hochberühmten Schulpforta, die Gründung des Deutschen Reiches erlebte und die Errichtung eines Deutschen Reichsgerichts. Wie schon damals nicht nur der Wunsch, sondern der feste Vorsatz in ihm wach geworden sei, Richter an diesem Reichsgericht zu werden. Er stellte mir vor, welche Festigkeit dieser Entschluß seinem ganzen Lebensplan gegeben habe, und wenn ich ihm, der mir damals schon uralt erschien, vorhielt, daß er nun doch nicht Reichs-, sondern bloß Kammergerichtsrat geworden sei, so pflegte er ohne jede Kränkung mit seinen Augenwinkeln zu lächeln und sagte wohl: »Warte nur noch drei oder vier Jahre, mein Sohn Hans, und du wirst es erleben. Ich habe die allerbesten Aussichten, und so nehme ich an, daß die andern auch die nötige Einsicht haben werden.«
Und er hat recht behalten: ich war noch nicht fünfzehn, da wurde Vater Reichsgerichtsrat.
Unbegreiflich erschien mir bei einem so schwachen, von Krankheit ständig bedrohten Manne solches Festhalten an einem Jugendplan. Durch fast vierzig Jahre ein einziges, allerdings im Möglichen gestecktes Ziel zu verfolgen, kam mir nicht nur unmöglich, sondern auch geradezu langweilig vor. Ich war immer auf der Suche nach etwas Neuem, mit jeder so rasch wechselnden Stimmung kamen andere Gedanken und Vorsätze in mir auf, nichts dauerte bei mir ...
Gewiß, ich hatte Zeiten, da ich jeden Morgen, wenn alle noch schliefen, in Vaters Arbeitszimmer schlich und seine Akten las. Aber mich interessierte nicht so sehr das Juristische wie das Menschliche in ihnen. Mit klopfendem Herzen las ich die Vernehmungsprotokolle des Untersuchungsrichters, eines nach dem andern, in denen der Beschuldigte leugnet, Ausflüchte macht, seine Unschuld beteuert Bis dann schließlich in einem Protokoll, meist ganz überraschend, das Geständnis der Wahrheit hervorbricht, noch eingeschränkt durch Entschuldigungen, von Lügen verbrämt, aber doch endlich die Wahrheit –!
Dann konnte ich lange darüber grübeln, was zwischen dem vorletzten Protokoll, in dem der Häftling noch Alibizeugen benannte, noch heilig seine völlige Unschuld beteuert hatte, und diesem letzten Protokoll, in dem er selbst das so mühsam aufgebaute Gerüst seiner Verteidigung zerschlug, was in dieser kurzen Zwischenzeit wohl in ihm vorgegangen war? Ich war schon damals ein Skeptiker, ich glaubte nicht an die Macht des bösen Gewissens, nicht an Reue, nicht an die Vermahnungen des Gefängnisgeistlichen. In dem einen oder andern Falle mochte solch ein Anlaß zu einem Geständnis geführt haben, aber nur in Einzelfällen. Im allgemeinen, meinte ich, müsse es geheimnisvoller, tiefer, im Labyrinth der Brust nächtlich verborgen zugegangen sein.
Ja, in dieser Richtung interessierte mich die Juristerei schon, aber das war ganz und gar nicht das, was Vater wollte. Er suchte mich für die andere Seite des Falles zu interessieren, nicht wie es zu einem Verbrechen gekommen war, sondern was ein Richter nun mit einem solchen Verbrecher anzufangen hat, damit sollte ich mich beschäftigen! Nahm Vater an unserm häuslichen Mittagessen teil, was durchaus nicht immer der Fall war, da die Sitzungen seines Strafsenates sich oft von morgens bis in die tiefe Nacht hinzogen, so pflegte er uns Kindern gerne sogenannte Doktorfragen vorzulegen, an denen wir unsern Scharfsinn üben sollten. Doktorfragen waren eine Art juristischer Rätsel mit listigen Fallen, paßte man nicht gut auf, dachte nicht scharf nach, so konnte man sich niederträchtig blamieren.
Vater war ein glänzender Plauderer, im Fontane-Stil etwa, trug er uns etwas Derartiges vor, so hielt er uns alles trocken Lehrhafte fern. Es machte großen Spaß, ihm zuzuhören. Mit zwei Sätzen etwa belehrte er uns Kinder über die strafgesetzlichen Bestimmungen wegen Mundraub, daß, wer Lebens- oder Genußmittel zum sofortigen Verzehr stiehlt, nur wegen einer leichten Übertretung gestraft wird. Wer aber eine Kiste Apfelsinen statt drei Stück nimmt, ein Vergehen begangen hat, das mit Gefängnis bestraft werden muß.
Und nachdem Vater so einen Grund bei uns gelegt hatte, ließ er schon einen Stromer am frühesten Morgen in ein Städtchen einrücken. Den Stromer peinigt ein schändlicher Durst, aber nicht von der Sorte, die ein Stadtbrunnen stillen kann.
Doch da kommt der Mann an einem Café vorüber, alle Fenster stehen auf, die Frauen sind beim Reinmachen und Aufräumen. Auf einem Marmortischchen am Fenster steht eine Flasche, das Schild verrät, es ist eine Kognakflasche, und sie scheint noch recht angenehm gefüllt. Der Stromer wagt den Griff, schon ist die Flasche in seiner Hand, und er stürzt mit ihr in den nächsten dunklen Torweg, setzt sie an die Lippen und tut einen kräftigen Zug.
Aber mit einem Fluch sprudelt er das Getränk wieder aus: das Schild hat gelogen, nicht Kognak, sondern Petroleum war in der Flasche!
»Nun, meine Kinder, gebraucht euern Scharfsinn! War dies nun ein Mundraub oder nicht? Wie hat der Richter zu erkennen? Auf der einen Seite erfüllt Petroleum keinesfalls den Wortlaut des Paragraphen, denn Petroleum ist weder ein Genuß- noch ein Nahrungsmittel. Andrerseits wäre die Flasche von dem Stromer nicht fortgenommen worden, hätte ihn nicht das Schild mit dem Worte ›Kognak‹ verlockt. Wie denkt ihr?«
Da saßen wir dann mit nachdenklichen Gesichtern, und jedes überbot das andere an Scharfsinn. Ich aber war stolz, wenn Vater meiner Entscheidung, es sei doch ein Mundraub, da die Absicht des Täters entscheidend sei, beipflichtete. Ich war stolz, trotzdem ich diese Art Rätselraten, wobei mit dem Wortlaut des Paragraphen jongliert wurde, eigentlich etwas stupide fand.
Nie vergaß ich das Wort, das einmal einer meiner Lehrer gesagt hatte, der Juristenberuf sei der einzige unter allen Berufen, der überhaupt keine neuen Werte schaffe, der völlig unproduktiv sei. Der Richter müsse sich sein ganzes Leben lang damit begnügen, über Vergangenes zu urteilen: was schon tot ist, der Richter trägt's zu Grabe. Vergangenes läßt er noch vergangener werden ...
Ich war damals noch zu jung, um einzusehen, wie ungerecht und falsch eine solche Beurteilung des Richterstandes war. Denn das Recht ist nichts Totes und Starres, es wandelt sich mit dem Gedeihen seiner Völker, es lebt ihr Leben mit. Es erkrankt, wie ein Volk erkranken kann, und es erreicht seine höchste Blüte in harten Notzeiten wie auch in glücklichen Tagen. Recht ist etwas Lebendiges, und zu allen Zeiten hat es besonders in unserm Volk Richter gegeben, die durch eine einzige Entscheidung alte Zöpfe abschnitten und dem Leben ihres Volkes dadurch neue Möglichkeiten eröffneten.
Ich war nur ein dummer Junge, und vor allem war ich nicht frei von der Neigung der Kinder, die jeden Beruf erstrebenswert finden, nur nicht den des Vaters. Trotzdem ich nie mit Vater von solchen Dingen sprach, fühlte er nur zu gut, daß seine Hoffnungen auf Fortsetzung der Juristentradition bei mir auf Sand gegründet waren. Aber darum ließ er nicht nach in seinen Bemühungen, mich immer wieder für seinen Lieblingsberuf zu interessieren. Vater hatte eine unendliche Geduld.
Danach kann es nur den krassen Außenseiter überraschen, daß ein so begeisterter Jurist wie mein Vater es strikte ablehnte, je in eigener Sache einen Prozeß zu führen. Er wußte da zwei Sprüchlein: ›Ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozeß‹ und ›Wer einen Prozeß führt um eine Kuh, gibt noch die zweite dazu!‹
Heiter pflegte er zu sagen: »Wenn jetzt ein Mann in mein Zimmer kommt und zu mir spricht: Aber, Herr Kammergerichtsrat, die Lampe da an der Decke, diese messingne Krone, die gehört mir und nicht Ihnen! Geben Sie mir die mal schnellstens heraus! – Dann würde ich diesem Manne zu beweisen suchen, daß diese Krone schon seit sechzehn Jahren in meiner Wohnung hängt, daß ich sie dort und dort gekauft habe, und ich würde sogar versuchen, die alte quittierte Rechnung wiederzufinden. Sollte sich der Mann aber uneinsichtig zeigen und sollte er sich gar zu der Drohung versteigen: Sie geben die Lampe her, Herr Kammergerichtsrat, oder ich hänge Ihnen einen Prozeß an! – so würde ich zu ihm sprechen: Lieber Mann, Sie dürfen gerne meine Krone mitnehmen. Sie ist mir den Frieden meines Hauses wert. – Denn –«, setzte mein Vater milde lächelnd hinzu, »denn ich bin ein alter Richter und weiß, daß Prozesse Menschenfresser sind. Sie verschlingen nicht nur Geld, Glück, Frieden, sie verschlingen auch oft die Prozessierenden mit Haut und Haar.«
Oder aber mein Vater erzählte vergnügt von einem alten Amtsrichter im Hannöverschen, bei dem er als Assessor fungiert hatte. Zur damaligen Zeit lag es dem Richter noch ob, vor Beleidigungsklagen einen Sühnetermin abzuhalten. Jeder Richter weiß es, wie verhaßt solche Termine und Prozesse sind, wie sich aller menschliche Unflat, der sonst in dunklen Winkeln verborgen liegt, dann in der Gerichtsstube breit macht, mit einem üblen Geruch, der dem Richter mehr als diesen einen Tag vergällen kann.
Jener alte Amtsrichter nun hatte eine einzig dastehende Art, die streitenden Parteien zu einem Vergleich zu bringen. Er war ein Mann, der nicht nur die Wärme, sondern noch mehr die Hitze liebte, er hätte ganz gut einen der drei Männer aus dem feurigen Ofen abgeben können.
Stand nun ein solcher Sühnetermin an, so befahl er dem Gerichtsdiener, sei es nun Sommer oder Winter, den riesigen Kachelofen im Gerichtszimmer gewaltig zu heizen. Um diesen Kachelofen lief eine lange Ofenbank, und auf diese Ofenbank setzte der Richter die streitenden Parteien recht hübsch nebeneinander und ermahnte sie, ehe es zur Verhandlung komme, sich noch einmal alles gründlich zu überlegen, er habe noch ein Weilchen mit seinen Akten zu tun.
Damit vertiefte sich der Richter in sein Aktenstudium, tat aber von Zeit zu Zeit einen listigen raschen Blick auf die Parteien, freute sich, wenn sie an der glühenden Ofenwand unruhig hin und her zu wetzen anfingen, wenn ihre Gesichter immer röter wurden und sich mit Schweiß bedeckten, und scheuchte Unruhige, die auf und ab zu wandeln begannen, mit einem Wort auf ihren Platz zurück.
Schienen ihm dann die armen Sünder genügend angebraten, so hob der Richter den Kopf und fragte, ob sie sich alles gut überlegt hätten und ob sie sich nicht doch lieber vergleichen wollten. Stieß er auf ein Nein, so sagte er gutmütig: »Nun, die Sache ist wohl noch nicht spruchreif, überlegt es euch noch ein bißchen!«
Und von neuem verschwand er hinter seinen Akten. In besonders hartnäckigen Fällen wurde auch noch nach dem Gerichtsdiener geschellt und Nachheizen im Ofen befohlen, denn es sei so bodenkalt in der Stube, und er, der Richter, leide an kalten Füßen. Aber solch ein äußerster Schritt war nur selten notwendig, und mein Vater versicherte, während der Amtsdauer dieses Richters sei es nie zur Erhebung einer Beleidigungsklage gekommen. Ja, als sich die Praxis des Richters erst in seinem Bezirk herumgesprochen hatte, seien sogar die Sühnetermine selten geworden, denn es lohne sich ja doch nicht, um einen ›Esel‹ oder eine ›Sau‹ vor Gericht zu gehen, man müsse sich doch immer vergleichen!
Zu meinem derart über Prozesse in eigener Sache denkenden Vater kam eines Tages ein Onkel von mir, der Oberstleutnant a. D. Albert von Rosen, der in einer ansehnlichen Villa in einem Harzstädtchen mit seinem Eheweib, der Schwester meines Vaters, die alten Tage recht angenehm verbrachte. Onkel Albert kam dieses Mal aber nicht in angenehmer Stimmung, im Gegenteil, mein Onkel war sehr erbittert und durchaus gesonnen, einen Prozeß zu führen, für den er den Rat meines Vaters wollte. Der Bericht aber, den Onkel Albert erstattete, war etwa folgender:
War das liebe Weihnachtsfest vorüber, das natürlich auf gut deutsche Art in deutschen Landen gefeiert werden mußte, und fing der weiße Winter an, in Nässe und Nebel auszuarten, so wurden alljährlich bei Onkel Albert die Koffer gepackt. Es ging in Gegenden, wo die Sonne schien: an die italienische oder die französische Riviera, nach Cannes oder Mentone, nach Nizza oder San Remo.
Sorgfältig wurde die hoch an einem Berghang thronende Villa eingemottet und abgeschlossen. Höchstpersönlich stellte mein Onkel die Haupthähne der Gas- und Wasserleitung ab. Die beiden Hausmädchen gingen in einen schönen, langen, von allen Kolleginnen beneideten Urlaub, und die Reise begann.
So war alles auch in diesem Jahre geschehen, alles hatte sich aufs beste angelassen. Und warum auch nicht? Es waren sichere Zeiten. Die entfernt und hoch über der Straße liegende Villa, durch einen Terrassengarten von ihr getrennt, durch Bäume und Buschwerk fast unsichtbar, schien keiner Gefahr ausgesetzt. Das Leben ging in dem kleinen, hauptsächlich von Pensionären bevölkerten Harzstädtchen behaglich und ein wenig verschlafen weiter, mit und ohne meinen Onkel.
Natürlich geschah auch dort immer wieder etwas Besonderes. So erfuhren in diesem Winter Onkel und Tante durch einen Brief, daß es in der Nachbarvilla gebrannt habe. Aber die Feuerwehr war pünktlich zur Stelle gewesen, hatte fleißig gespritzt, und so war größerer Schaden nicht entstanden. Einen Tag lang redeten Onkel und Tante davon, was wohl gewesen wäre, wenn statt Gieseckes Villa die eigene gebrannt hätte. Da sie aber eben nicht gebrannt hatte, so trug diese Nachricht nur zur Erhöhung der Behaglichkeit bei.
Dann kam unausbleiblich die Zeit, wo die beiden Rivierabesucher empfanden, die Sonne meine es etwas zu gut mit ihnen. Es gab übermäßig viel Staub, die Palmen sahen fast besenartig aus, und das internationale Publikum wurde immer langweiliger und gemischter. Nun pfiffen im heimatlichen Garten wohl schon die Stare, die Störche hatten ihre Heimreise aus Ägyptenland angetreten, und die Schwalben rüsteten auch zur Heimfahrt.
Nicht anders machten es Rosens. Nach so viel Licht und Himmelsbläue sehnten sie sich nach einem deutschen Frühling mit zartem Grün, nach den weichen, wattigen Wolken des nördlicheren Himmels. Ein Brief an die getreue Auguste wurde geschrieben: nun sei es bald soweit. Auguste möge mit ihrer Kollegin die große Frühjahrsreinigung abhalten, die eingemottete Dunkelheit auslüften und aufhellen, den und den Tag kämen Rosens zurück.
Also hielten Auguste und Kollegin Einzug, um die Villa aus dem Winterschlaf zu erwecken. Als sie von der Straße her durch den in vielen Terrassen liegenden Garten zum Hause emporstiegen, fiel ihnen auf, wie sehr der Winter es in diesem Jahre mit Feuchtigkeit übertrieben hatte: der Weg war ins Grundlose aufgeweicht, Beete waren fortgespült, und noch immer floß es, gurgelte es, plätscherte es, allerorten! Da aber besonders die letzten Tage viel Regen gebracht hatten, schien dies den beiden Guten nicht absonderlich. Man werde bald den Gärtner bestellen müssen, meinten sie, und schritten an das große Reinigungswerk.
In Verfolg dieses Unternehmens wurde es auch nötig, in den Keller zu gehen. Auguste öffnete die Kellertür, stieß geistesgegenwärtig einen schrillen Schrei aus, der ihre Kollegin sofort zur Hilfe rief, und stand dann starr, einer Ohmacht nahe. Beide Wesen standen und starrten – auf die brodelnde, spülende Wasserwüste zu ihren Füßen. Die hölzerne Kellertreppe war verschwunden, auf einer graufarbigen Wasserflut tanzten Kartoffelkisten, Bretter, Weinflaschen, Einmachhäfen. Die Flut gurgelte und schäumte, es war ein unerschöpflicher Strudel.
Plötzlich stießen die beiden Weibsen, als hätten sie den Zeitpunkt untereinander verabredet, gemeinsam einen neuen schrillen Schrei aus und verließen, wie sie waren, mit Kopftüchern und Schürzen, das Haus. Rasch breiteten sie sich durch die Stadt aus, die ganze Freundschaft derer von Rosen wurde benachrichtigt, und so starrte bald eine ansehnliche Versammlung durch die Kellertür auf die Wasserfluten, die in der Zwischenzeit unverdrossen weitergegurgelt hatten.
Gottlob blieb es nicht nur beim Starren. Einige Erfahrene suchten den Haupthahn der Wasserleitung auf der Straße. Sie fanden ihn offen, obwohl mein Onkel ihn bei seiner Abreise geschlossen hatte, machten ihn von neuem zu, und gehorsam hörten die Fluten im Keller zuerst auf zu gurgeln und zu spülen, dann sanken sie. Jetzt erinnerte man sich des Brandes in der Nachbarvilla. Die Erklärung der geheimnisvollen Wassersnot war einfach: die Feuerwehr hatte den Haupthahn auf der Straße geöffnet, durch den starken, von der Spritze entwickelten Druck war ein Hauptrohr in meines Onkels Keller geborsten, und weil die Wehr bei ihrem Abrücken das Schließen des Haupthahns vergessen hatte, so hatten die Fluten gespült und gesprudelt – man rechnete nach – neunzehn Tage lang. Daß dies so lange hatte geschehen können, daran war nur der weitläufige Terrassengarten schuld, in ihm hatte das Wasser sich unbemerkt verlieren können.
Ja, langsam verloren sich die Fluten, aber je tiefer der Wasserspiegel sank, um so stärkere Verwüstungen zeigten sich: das Wasser hatte den Kellerboden an vielen Stellen fortgespült und hatte sich dann viele Auswege unter den Grundmauern des Hauses fort gesucht. Unterspült waren diese Grundmauern, auf denen ein zweistöckiger, solider Bau ruhte, lange Risse zeigten sie, das Haus schien bedroht.
Ein Telegramm rief den Onkel vor der Zeit aus der Winterfrische zurück. Ein alter Reiteroffizier trägt alles, und wenn auch nicht alles, so doch vieles mit Fassung. Der Onkel sprach: »Es sieht schlimm aus. Aber ich bin gegen Feuer- wie Wasserschaden versichert. Ich telegraphiere und schreibe sofort meiner Gesellschaft.«
Unterdes sollte der Baumeister einen vorläufigen Kostenanschlag machen. Gebessert durfte noch nichts werden, denn ein Schaden muß erst vom Schätzer der Gesellschaft taxiert sein, ehe an ihm etwas geändert wird.
Trotz der Warnungen seiner Freunde schlief der Onkel in der bedrohten Villa, und er schlief ausgezeichnet, nichts geschah. Am nächsten Tage erwartete er den Schadenschätzer seiner Gesellschaft, aber umsonst. Nichts rührte sich in Halle an der Saale, dem Sitz der für ihn zuständigen Bezirksdirektion. Statt dessen kam der Baumeister mit dem Kostenvoranschlag, der auf eine hohe Summe lautete. Er stellte meinem Onkel eindringlich vor, daß sofort mit den Erneuerungsarbeiten begonnen werden müsse. Jede Stunde könne ein Teil der unterspülten Grundmauern einstürzen und das Unheil sich dadurch verzehnfachen.
Mein Onkel zuckte die Achseln. Die Versicherungsbedingungen seien eben so, daß vor der Taxe nichts geschehen dürfe, der Schätzer werde schon kommen. Sicherheitshalber sandte er noch ein Telegramm und schrieb einen Einschreibebrief, der nicht ganz so höflich gehalten war wie der erste.
In dieser zweiten Nacht schlief der Onkel schon etwas schlechter. Es knackte im Gebälk, seltsame Laute drangen durch die Nacht zu ihm. Die Treppenstufen knarrten, ohne daß ein menschlicher Fuß sie berührte. Am Morgen stellte es sich heraus, daß ein Stück der Grundmauer in das Loch eines Strudels gestürzt war, eine Ecke des Hauses schwebte nun frei in der Luft. Auguste und das Mädchen wurden bei Nachbarn untergebracht, mein Onkel freilich erklärte, nicht weichen zu wollen.
Dieser zweite Wartetag verstrich recht unangenehm zwischen beweglichen Klagen des Baumeisters, teilnehmend-neugierigen Besuchen der Freundschaft, einem ständigen, schon fast krankhaften Aufhorchen nach ungewohnten Geräuschen und Fragen nach Lebenszeichen aus Halle an der Saale.
In der Abendstunde sandte mein Onkel ein drittes Telegramm ab. Der Schalterbeamte hatte zuerst Bedenken, es weiter zu befördern, es schien ihm nicht ganz einwandfrei stilisiert. Aber mein Onkel bestand darauf, und mein Onkel war ein stadtbekannter Mann. Auch als Pensionär war er der Reiteroffizier geblieben, schlank, langbeinig, mit braunem Gesicht und schneeweißen Haaren. Im allgemeinen war er von den angenehmsten Umgangsformen, aber ein wahrer Ziethen aus dem Busch, wenn sein Blut in Wallung geriet. Und jetzt war es in Wallung geraten, er ärgerte sich, er giftete sich maßlos. Was dachten sich diese Brüder, diese Zivilisten, eigentlich?! Seit Jahrzehnten hatte er ihnen brav und pünktlich diese horrenden Prämien gezahlt, und jetzt, da er sie zum ersten Male brauchte, rührten sie sich nicht! Sie rührten sich nicht! Und dabei war sein Haus am Einstürzen!
Daß es dies wirklich war, zeigte ihm sein Baumeister am nächsten Morgen: in der freischwebenden Hausecke ließen sich die Fenster nicht mehr öffnen, die Türen klemmten, eine auf den Fußboden gelegte Kugel fing gespenstisch zu rollen an. Das Haus senkte sich! Jeden Tag, jede Stunde konnte es einstürzen!
Niemand sieht gerne das Haus einfallen, das er sich mit viel Liebe als Alterssitz erbaut hat. Und nicht nur das Haus, sondern in ihm alles, was er sich ein Leben hindurch an behaglichem, geliebtem Hausrat zusammengetragen hat. So entschloß sich der Onkel zu einem ungewöhnlichen Schritt: er ging aufs Postamt und bestellte ein Ferngespräch nach Halle/Saale. Bis dato hatte er diese moderne Erfindung strikte abgelehnt.
Mürrisch stand er auf dem Postamt herum, bis der Apparat klingelte. Ein Beamter geleitete ihn in einen kleinen Holzkäfig und quetschte sich noch dazu herein, denn er sollte dem Neuling bei etwa eintretenden Notständen helfen. Zuerst hörte der Onkel nur Knacken und Rasseln, dann plötzlich sagte eine sehr ungeduldige Frauenstimme: »Na, nun sprechen Sie doch endlich! Ihr Teilnehmer ist ja längst da!«
Worauf mein Onkel zu sprechen anfing, das heißt, sprechen konnte man es eigentlich nicht gut nennen. Mit überstürzter Hast schrie er all seinen Ärger und seine Ungeduld in das lächerliche Gehäuse. Er schrie immer lauter, immer schneller – vergeblich legte der Beamte hinter ihm die Hand beschwichtigend auf seine Schulter.
Als der Onkel endlich erschöpft schwieg, nahezu betäubt von seinem eigenen Geschrei in dem engen Kabuff, knackte und summte der Draht wieder friedlich. Dann fragte eine spitze Stimme: »Ist da jemand? Hier ist die Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft Halle/ Saale. Ist da jemand?«
Mein Onkel sah den Besamten vorwurfsvoll an. Derart also waren diese modernen postalischen Einrichtungen! Dann sagte er erschöpft: »Hier ist der Oberstleutnant von Rosen. Ich möchte wissen, ob Ihr Schadenschätzer heute noch kommt?«
»Unsern Schadenschätzer wollen Sie sprechen?«
»Nein! Ich will, daß er heute noch kommt! Na also, Fräulein, ich will ihn doch sprechen.«
»Einen Augenblick. Ich verbinde Sie ...«
Friedlich knackte und brummte der Apparat. Mein Onkel betrachtete ihn, gegen die Wand des Kabuffs gelehnt, mit Abneigung.
Dann sagte eine männliche Stimme: »Hier ist die Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft Halle/Saale. Ist da jemand?«
Verzweifelt gab der Onkel zu, daß da jemand sei. Er wünsche, den Schadenschätzer zu sprechen.
»Ja, welchen von unsern Herren meinen Sie denn? Herrn Martens oder Herrn Kollrepp oder Herrn Ihlenfeldt?«
»Ich wünsche den für mich zuständigen Herrn zu sprechen! Wie er heißt, ist mir schnurzegal!« Der Onkel erhitzte sich wieder langsam.
»Ja, was haben Sie denn für einen Schaden?«
»Mein Herr!« sprach der Onkel, bleich vor Wut. »Ich bin der Oberstleutnant von Rosen. Ich habe Ihnen drei Telegramme und zwei Einschreibebriefe gesandt, und wenn Sie jetzt immer noch nicht wissen, was für einen Schaden ich habe –!«
Der Onkel fing wieder an zu schreien: »Mein Haus stürzt ein, und durch Ihre Schuld! Seit drei Tagen müßte schon daran gearbeitet werden, und Sie sagen, Sie wissen von nichts! Das ist eine Schlamperei, eine zivilistische! Ich sage Ihnen aber ...«
Und mein Onkel sagte sehr rasch, sehr laut, sehr vieles.
Als er Atem schöpfend innehielt, sagte die männliche Stimme: »Sie scheinen einen Wasserrohrbruch erlitten zu haben. Einen Augenblick, bitte, ich verbinde Sie mit Herrn Kollrepp ...«
Hier flüchtete der mithelfende Beamte aus der Zelle, denn mein Onkel führte im engen Gelaß einen wahren Wuttanz auf, ohne Rücksicht auf die Beschränktheit des Raums und fremde Gliedmaßen.
Aber ohne alles Mitgefühl für das Leid der Kreatur knackte und summte der Draht, und friedlich sprach eine wieder weibliche Stimme: »Hier ist die Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft Halle/Saale. Ist da jemand?«
Mein Onkel ließ sich auf nichts mehr ein. »Ich möchte Herrn Kollrepp sprechen!« sagte er.
»Herr Kollrepp ist leider im Moment nicht anwesend. Wollen Sie mir bitte sagen, um was es sich handelt. Mit wem spreche ich denn?«
Sachte hing mein Onkel den Hörer an den Haken. »Nie wieder!!!« flüsterte er, zahlte sieben Mark fünfzig und begab sich zu dem Büro seines Baumeisters. »Wir fangen sofort an«, erklärte er. »Es wird nicht mehr gewartet.«
Und so fingen sie denn an, zu unterfangen, abzusteifen, Löcher in die Erde zu graben, Schutthaufen anzulegen, Rasen zu zertrampeln, Dreck zu entwickeln, Mörtel zu mischen ...
Nachdem sie sich dieser Beschäftigung einige Tage lang gewidmet hatten, erschien ein rundlicher, vergnügt aussehender Herr mit Aktentasche an der Baustelle und stellte sich als Inspektor Kollrepp aus Halle an der Saale vor. Mein Onkel wurde herbeigerufen und erschien finster wie eine Gewitterwolke ... Doch wurden – für den Anfang jedenfalls – die schicklichen Formen gewahrt.
Der Onkel führte den Inspektor in den Keller und wies ihm die Schäden. Sachverständig, aber beunruhigend obenhin nickte Herr Kollrepp, murmelte bedauernd ›schlimm, schlimm‹ und tauschte mit dem Polier ein paar Worte über die Vorzüge des Einziehens von Eisenträgern statt Holzbalken.
All dies schien nicht geradezu Schlimmes zu bedeuten. So führte der Onkel den Inspektor in sein Zimmer, bot ihm Wein und Zigarren an und verbreitete sich über die Entstehungsgeschichte des Schadens. Aufmerksam hörte ihm der Beamte zu, schüttelte entrüstet über die Nachlässigkeit der Menschen den Kopf, seufzte, strich die Zigarrenasche sorgfältig ab und sprach: »Ein betrübender Schaden, rein aus Bummelei entstanden. Ziemlich hoch, denke ich? Etwa soviel –?«
Und er nannte eine Summe.
»Sie werden noch mindestens fünfzehnhundert Mark drauflegen müssen«, antwortete der Onkel heiterer. »Sie haben übersehen, daß der ganze Garten neu angelegt werden muß, und Terrassenbauten sind teuer.«
»Freilich! Freilich!« seufzte Herr Kollrepp. »Auch das kommt noch dazu! Wirklich ein sehr großer Schaden.«
»Und wie denken Sie sich die Regulierung?« fragte der Onkel, der nicht länger hinter Büschen hocken mochte, sondern zur offenen Reiterattacke vorging.
Der Inspektor sah meinen Onkel mit heiter prüfendem Blick an. »Und wie denken Sie sich diese Regulierung, Herr Oberstleutnant?« fragte er dagegen.
»Indem Sie mir die ganze Summe auf den Tisch des Hauses zahlen!« sagte mein Onkel stark.
»Das wäre schön – für Sie!« gab der Inspektor Kollrepp zu. »Aber leider wird das nicht gehen ...«
»Es muß gehen!« verlangte der Onkel.
»... Weil wir vor jeder Zahlung erst die Höhe des Schadens feststellen müssen!«
»Sie haben den Schaden eben gesehen, Herr Inspektor!«
»Ich habe Bauarbeiten gesehen, die in Zusammenhang mit dem Schaden stehen sollen!«
»Ich lasse nichts bauen, was nicht nötig ist!«
»Sie lassen zum Beispiel Eisen- statt Holzträger einziehen, das ist schon eine verteuernde Verbesserung, die nichts mit dem Schaden zu tun hat. Nein, als Grundlage jeder Zahlung müssen wir eine genaue Schadentaxe haben, und die ist leider nicht mehr möglich. Sie sagen, die Hausecke hat sich gesenkt, aber eben war sie im Lot. Was soll ich da feststellen?«
»Warum ist keiner von Ihnen rechtzeitig gekommen?!« rief der Onkel zornentbrannt. »Ich habe Ihnen Briefe und Telegramme dutzendweis geschickt!«
»Ich weiß nur von drei Telegrammen und zwei Briefen, nicht von Dutzenden«, sprach Herr Kollrepp kühl. »Unsere Gesellschaft ist groß, viele Schäden sind zu schätzen. Wann wir das tun, muß uns überlassen bleiben, denn wir tragen ja auch jeden aus der Verzögerung etwa entstehenden Schaden.«
»Aber das Haus wäre mir über dem Kopf zusammengefallen!« schrie der Onkel wieder.
»Das hat Ihnen Ihr Baumeister eingeredet«, sagte lächelnd der Beamte. »Er brauchte wohl nötig einen Auftrag.«
»Was wollen Sie also zahlen?« fragte der Onkel verbissen.
»Sie wissen doch, Herr Oberstleutnant«, sprach der Inspektor ausweichend, »daß Sie einen wichtigen Passus unserer Versicherungsbestimmungen verletzt haben. Ein Schaden darf nicht verändert werden, ehe wir ihn festgestellt haben.«
»Was Sie zahlen wollen, will ich wissen!« schrie der Onkel noch stärker.
»Vertraglich sind wir zu nichts verpflichtet«, stellte der Inspektor fest. »Ich will sehen, daß ich unsere Herren zu einem Vergleich bewege, aber ich kann Ihnen heute und hier nichts fest versprechen, Herr Oberstleutnant!«
»Ich will keinen Vergleich, ich will das ganze Geld«, sprach mein Onkel entschlossen. »Und bekomme ich es nicht, so werde ich Sie verklagen!«
»Sie werden es sich überlegen!« meinte Herr Kollrepp ganz friedlich. »Sprechen Sie mit Ihrem Anwalt. Das Recht ist klar gegen Sie! Wie schon gesagt, Herr Oberstleutnant, Sie haben einen schweren Fehler begangen. Ich bedaure das, rein menschlich tut es mir ungeheuer leid. Aber als Versicherungsfachmann muß ich Ihnen doch sagen, daß die Gesellschaften nicht dazu da sind, für die Fehler der Versicherten einzuspringen.«
»Ersparen Sie mir dieses Gewäsch!« sprach mein Onkel zornig. »Wir sehen uns an Gerichtsstelle wieder!«
»Sie werden es sich überlegen!« versicherte Herr Kollrepp noch einmal und zog sich Schritt für Schritt von Treppe und Haus zurück. »Aber selbst wenn es zu diesem Prozeß kommen sollte, würde ich es dankbar begrüßen, wenn unsere bisher so angenehmen geschäftlichen Beziehungen dadurch nicht getrübt würden. Es ist eine reine Rechtsfrage, die sine ira et studio ausgefochten werden kann. Ohne Zorn und Eifer, Herr Oberstleutnant –!«
Mein Onkel schüttelte sich vor Zorn. »Gehen Sie weg!« bat er. »Bitte, gehen Sie schnell von meinem Grundstück, oder unsere Beziehungen werden für Sie sehr unangenehm!«
In der nächsten Zeit vernachlässigte der Onkel die Aufsicht über die Bauarbeiten. Er befragte den Rechtsanwalt des Städtchens. Er fuhr nach Halle und befragte einen andern Anwalt. Dann fuhr er nach Magdeburg, und ein dritter mußte ihm dort Rede stehen. Schließlich erinnerte sich der Onkel seines kammergerichtsrätlichen Schwagers und fuhr nach Berlin.
Mit allem reiterlichen Elan legte er meinem Vater die Vorgeschichte seines Prozesses dar. Denn es war schon ›sein Prozeß‹, ehe noch die Klage erhoben war. Er schüttelte sich direkt vor Empörung, wenn er an diesen falsch-freundlichen Versicherungsinspektor Kollrepp dachte. Offiziell gab der Onkel vor, meines Vaters Rat wissen zu wollen. Aber mein Vater sah wohl, der Onkel würde den Prozeß führen, der Rat möge ausfallen, wie er wolle.
»Es ist eine Rechtsfrage«, sagte mein Vater nachdenklich. »Es kommt ganz darauf an, auf welchen Standpunkt sich das erkennende Gericht stellt.«
»Aber der Fall ist doch klipp und klar!« rief der Onkel empört, immer wieder denselben Bedenken zu begegnen. »Unbestreitbar ist mir ein Schaden entstanden.«
»Doch war der Umfang des Schadens nicht mehr feststellbar. Eine grundlegende Bestimmung ist durch dich verletzt worden.«
»Sollte ich mein Haus einstürzen lassen, bloß weil diese Herren nicht kamen? Sie sind ganz absichtlich so spät gekommen, um sich ihren Verpflichtungen zu entziehen.«
»Das ist eine etwas gewagte Behauptung, und bestimmt ist sie nicht beweisbar. Darum ist es besser, sie gar nicht erst aufzustellen.«
»Aber sollte ich denn mein Haus wirklich einfallen lassen? Schwager, sag doch selbst!«
»Natürlich nicht!« gab mein Vater zu. »Aber du hättest durch zwei oder drei unparteiische Sachverständige den Schaden abschätzen lassen können. Dein Baumeister ist wirklich kein Zeuge, denn er ist Partei.«
»Wer konnte damals schon denken, daß die Brüder sich so aufführen würden!« rief mein Onkel zornig. »Ich bin ein offener, ehrlicher Mann. Ich hasse Hinterhältigkeiten!«
»Und weil du das bist«, sagte mein Vater begütigend, »bist du so ungeeignet wie nur möglich, einen solchen Prozeß anzustrengen. Hörst du, Schwager, einen Prozeß anstrengen sagt man, und es ist eine Anstrengung, für dich jedenfalls! Gegen wen wirst du denn kämpfen? Gegen eine Gesellschaft, das heißt gegen ein Gebilde ohne Leidenschaft, gegen Beamte, Syndizi, Anwälte, deren Herz wegen dieses Prozesses keinen schnelleren Schlag tut, die darum doch ausgezeichnet schlafen werden. Du wirst sehr viel schlechter schlafen – du, mit deinem Elan, deinem Temperament, deiner Fähigkeit, dich über alles gründlich zu ärgern! Nein, Schwager, wenn du meine ehrliche Meinung wissen willst: laß dich auf einen Vergleich ein!«
»Ich will doch sehen«, sagte der Onkel verbissen, »ob Recht in Deutschland noch Recht ist.«
»Ach Gott!« antwortete mein Vater fast mitleidig. »Recht bleibt natürlich immer Recht. Aber selbst du wirst zugeben müssen, daß in deinem Falle die Rechtslage ein ganz klein wenig zweifelhaft ist, ja? – Nein, Schwager, du setzt besser dein geruhiges Alter nicht den Wechselfällen eines Prozesses aus. – Wie hoch ist denn die Schadensumme?«
Der Onkel nannte sie.
»Nun, es ist eine erhebliche Summe, aber du bist ein wohlhabender Mann. Du hast keine Kinder zu versorgen. Binde sie dir ans Bein, denke, du hast mit deiner Frau eine schöne Weltreise gemacht ...«
»Du redest gegen deinen eigenen Vorteil«, sagte der Onkel. »Das Erbteil deiner Kinder würde um diese Summe kleiner werden.«
»Du hast mich um meinen Rat gebeten, und ich gebe ihn, wie er dir heilsam ist, nicht meinen Kindern. Überlege es dir noch zehnmal, Schwager. Frage auch deine Frau um Rat ...«
Der Schwager versprach alles, was er aber davon getan hat, wissen wir nicht. Jedenfalls erfuhr der Vater nach einiger Zeit, aber nicht durch seinen Schwager, sondern auf Umwegen durch die Verwandtschaft, daß der Prozeß angestrengt worden war. Von nun an war das Leben des Oberstleutnants völlig verändert. Nichts mehr von der alten Ruhe und Behaglichkeit, von der Freude an Haus und Garten, an Gesprächen mit alten Kriegskameraden. Sein Temperament verbot ihm, den Prozeß nur seinen Anwälten zu überlassen. Er mußte bei allem dabei sein, alle Schriftsätze selbst lesen, die Antworten eigenhändig entwerfen (die Anwälte steckten sie in den Papierkorb). Er, der ruhig im Alterssitz verharrt hatte, war jetzt ständig unterwegs, bald war er in Halle, bald war er in Magdeburg, bald war er in Berlin (aber ohne uns zu besuchen). Von überall holte er sich Rat, mit allen Leuten sprach er von seinem Prozeß. Erschien er wirklich einmal am Stammtisch, so machten seine alten Freunde verlegene Gesichter.
Zuerst hatten sie ihn teilnahmsvoll angehört und hatten auch gesagt, daß es ein Skandal sei und daß er ganz recht tue, dies auszufechten. Aber mit der Zeit wurde ihnen das ständige Gerede über den Prozeß lästig, sie wollten lieber von Regiments- und Kriegserinnerungen sprechen. Mein Onkel merkte dies bald und zog sich gekränkt zurück.
Nun blieb ihm noch die Tante, aber auch die Tante revoltierte, als sie nur noch vom Prozeß etwas hören sollte. Las er ihr Schriftsätze vor, schlief sie ein. Als fast ein Jahr verflossen war, fuhr die Tante allein an die Riviera. Der Onkel war unabkömmlich, sein Prozeß brauchte ihn. Jetzt konnte jeden Tag der Termin angesetzt werden, nach so viel Beweis- und Vertagungsanträgen von beiden Seiten.
Aber es war schon längst Frühling geworden, die Tante war zurück, die Obstbäume hatten ausgeblüht, und es gab sogar schon Kirschen, als die Sache Rosen kontra Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft Halle/Saale zur Verhandlung anstand. Mein Onkel war in fieberhafter Aufregung. Ein schlimmes Jahr lag hinter ihm, der Magere hatte noch sieben Pfund abgenommen, sein Schlaf war schlecht geworden, und der neblige Nachwinter hatte ihm eine Dauererkältung eingetragen.
Aber nun war es soweit! Endlich! Endlich!
Strahlend besuchte der Onkel nach dem Termin meinen Vater in Berlin. Es war der erste Besuch wieder seit einem Jahr, der Onkel hatte den Prozeß gewonnen, er hatte dem schlechten Ratgeber verziehen. Er hatte meiner Mutter Pralinen mitgebracht, dem Vater eine Kiste Zigarren, den Schwestern Broschen, Ede und mir aber ein paar Bände Karl May. Mein Vater schoß einen raschen Blick auf unser Geschenk, aber er schwieg – solange der Onkel zu Besuch war.
Um so lebhafter sprach der Onkel. Für einen Mann, der so vom Sieg seines Rechtes überzeugt gewesen war wie er, zeigte er ein fast unverständliches Maß an Freude. »Siehst du, Arthur!« triumphierte der Onkel. »Wenn ich nun deinem guten Rat gefolgt wäre, besäßen wir alle ein paar Tausender weniger!«
»Du hast sie teuer genug bezahlt. Schwager!« meinte mein Vater. »Mit einem ganzen Jahr voller Unruhe. Recht mager bist du geworden!«
»Aber jetzt werde ich mich erholen!« rief der Schwager. »Ich will nie wieder etwas von Prozessen hören!«
Mein Vater sah ihn erstaunt an.
»Was siehst du mich so an, Arthur –?! Stimmt was nicht?«
»Doch! Doch!« sagte mein Vater langsam. »Aber haben dir deine Anwälte nichts gesagt?«
»Glück gewünscht haben sie mir! Was sollen sie sonst sagen? Ihre Liquidationen werden schon von selbst kommen!«
Und der Onkel seufzte leise.
»Dann ist es ja gut«, sagte der Vater.
Aber der Onkel sah wohl, daß der Vater es nicht gut fand. »Was hätten mir denn meine Rechtsanwälte denn noch sagen sollen, Schwager?« fragte er hartnäckig.
»Ach!« sagte Vater. »Ich bin eben ein alter Skeptiker in Prozessen. Ich habe nämlich noch nie gehört, daß der unterliegende Teil sich bei einem Prozeß dieser Art mit dem Urteil erster Instanz zufrieden gegeben hätte.«
»Du meinst –?« fragte der Onkel und starrte meinen Vater entgeistert an.
»Ich meinte«, antwortete der betont, »daß die Versicherung Einspruch erheben wird. Aber da deine Anwälte dir nichts davon gesagt zu haben scheinen, ist das wohl kaum zu befürchten.«
Ein etwas unbehagliches Schweigen entstand.
»Mach dir bloß keine Gedanken, Schwager«, fing Vater wieder an. »Ich war unbesonnen, dir davon gerade heute zu reden. Und wahrscheinlich ist meine Befürchtung ganz grundlos.«
Aber es war ihm anzusehen, daß er nicht ganz an die Grundlosigkeit seiner Befürchtung glaubte.
»Nun«, sagte mein Onkel etwas matt, »diese zweite Entscheidung wäre ja nur eine Formsache. Mein Recht ist klipp und klar festgestellt.« Er sah meinen Vater herausfordernd an. Aber Vater schwieg. »Arthur!« fuhr der Onkel dringender fort. »Ich bitte dich um deine offene Meinung!«
Vorsichtig meinte mein Vater: »Auch Versicherungsgesellschaften wenden nicht gerne erhebliche Prozeßkosten auf, wenn sie nicht eine leise Hoffnung auf Gewinnen haben.«
»Den Teufel noch mal!« rief der Onkel zornig. »Das Recht ist klipp und klar auf meiner Seite! Es ist vom Landgericht bestätigt. Das werden die Richter nächster Instanz auch einsehen.«
Der Jurist kämpfte in meines Vaters Brust einen kurzen Kampf mit dem teilnahmsvollen Verwandten. In wenigen Sekunden hatte der Jurist den Sieg erfochten. »Ich will eine alte Erfahrung durch einen etwas blasphemischen Satz ausdrücken«, sagte Vater. »Nämlich, daß die Richter beim Oberlandesgericht höher gestellte und schon darum weisere Richter sind als die beim Landgericht. Ich fürchte darum für deine Aussichten, Schwager.«
»Dann lege ich noch einmal Einspruch ein!« rief der Onkel zornig. »Ich kann das doch?«
»Du kannst es«, bestätigte Vater. »Wenn du der Sache noch nicht überdrüssig bist, gehst du zum Kammergericht.«
»Und da bist du!« rief der Onkel erfreut aus.
»Aber in einem Strafsenat. Nehmen wir den gewagten Satz für wahr an, daß der höhere Richter auch der weisere ist, so wird das Kammergericht die Entscheidung des Oberlandesgerichts umstoßen, und wieder einmal wärst du der Sieger.«
»Ich werde also der Sieger!« sprach der Onkel feierlich. »Ich danke dir, Schwager, für deine Offenheit. Ich sehe, eine schwierige Zeit liegt noch vor mir, aber ich werde mir mein Recht schon erkämpfen ...«
»Halt!« sagte mein Vater. »Mit dem Kammergericht aber wäre dein Prozeß noch nicht zu Ende ...«
»Wie –?!« fragte der Onkel enttäuscht. »Ich denke, ihr seid die obersten?!«
»In Preußen ja, aber über uns thront noch das Reichsgericht.«
»Und wie sind da meine Aussichten?«
»An das Reichsgericht wagen sich meine Ketzereien nicht«, sprach mein Vater feierlich, aber mit Lächelfältchen um die Augen. »Denn ich bin noch kein Reichsgerichtsrat, sondern möchte erst einer werden. Beim Reichsgericht ist man sehr alt und weise. Beim Reichsgericht liegt alles im Dunkeln ...«
»Und wie lange wird das alles zusammen dauern?« fragte der Onkel nach einem mißvergnügten Schweigen.
»Das kann man auch nicht annähernd bestimmen. Es kann zwei Jahre dauern. Es kann auch fünf Jahre dauern, auch zehn, alles ist ungewiß ...«
Der Onkel stöhnte.
»Schwager!« sagte mein Vater überredend. »Verliere den Mut nicht. Versuch, dich mit den Leuten zu einigen. Beauftrage deinen Anwalt damit. Jetzt ist deine Situation verhältnismäßig günstig ...«
»Ich mich mit diesen Kerlen einigen!« rief der Onkel neu ausbrechend. »Nie, Schwager, nie! Sie haben mir ein Jahr meines Lebens gestohlen, das sollen sie mir bezahlen!«
»Sie werden dir nie mehr bezahlen als deinen Wasserschaden und allenfalls die Prozeßkosten. Deine Lebensjahre, die du dran gibst, bleiben immer unbezahlt, einige dich!«
»Nie!!!« sprach der Oberstleutnant a. D. von Rosen, knirschend vor Entschlossenheit.
Und er einigte sich wirklich nicht. Er führte den Prozeß durch sämtliche Instanzen. Aus einem pensionierten, behaglich lebenden Offizier war er zu einer Art Anwalt in eigener Sache geworden. Seine Gedanken bewegten sich nur noch um den Prozeß, er las über Versicherungsrecht und wurde mit der Zeit darin so beschlagen, daß er seine Anwälte verblüffte.
Bei uns in Berlin ließ er sich in diesen Jahren nur selten sehen, und wenn er kam, lehnte er es ab, über seinen Prozeß zu sprechen. »Der läuft, Schwager«, sagte er ausweichend. »Der läuft ausgezeichnet, besonders in die Kosten! Ich denke, in einem Jahre können wir den Schlußpunkt darunter setzen.«
Aber es vergingen im ganzen vier dreiviertel Jahre, ehe die Entscheidung des Reichsgerichtes fiel. Alle diese Jahre hindurch hatte der Onkel auf jede gewohnte Bequemlichkeit des Lebens verzichtet. Die Reisen nach der Riviera waren fortgefallen, die Stammtischrunden mit den Freunden, Auguste hatte von dem vernachlässigten Garten Besitz ergriffen und daraus eine Gemüsegärtnerei gemacht, und der Onkel war ein kränklicher, überanstrengter, vergrätzter alter Herr geworden. Von der strammen Haltung des gewesenen Offiziers war ihm nicht viel mehr anzumerken. Er ging vornübergebeugt und hüstelte.
Nun saß er in meines Vaters Zimmer und berichtete ihm von dem endgültigen, nicht wieder umzustoßenden Ausgang des Prozesses. Der Spruch des Reichsgerichts war gefallen: die Versicherungsgesellschaft hatte verloren und war auch in die gesamten Kosten verurteilt.
Aber dem Onkel war diesmal, da er nun endgültig gewonnen hatte, nichts von überströmender Freude anzumerken. »Ich bin froh, daß es vorbei ist, Schwager!« sagte er. »Ich glaube, ich wäre fast ebenso froh, wenn ich verloren hätte, nur vorbei mußte es sein. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich das alles in den letzten Jahren schon überhatte! Schließlich habe ich nur aus reiner Bockigkeit und Rechthaberei weiter gekämpft, im Grunde war es mir ganz egal, ob die recht bekamen oder ich. Nur, weil ich's einmal angefangen hatte. Hätte ich zu Anfang gewußt, was ich heute weiß, ich hätte es nie angefangen.«
Worauf mein Vater erst sein Sprichwort vom mageren Vergleich, der besser ist als ein fetter Prozeß, anbrachte, dann aber seine Geschichte vom Kronleuchter erzählte ...
Mein Onkel nickte. »Recht hast du, Schwager. Ich würde dem Manne auch lieber meine Krone geben, als mich in einen Prozeß verwickeln lassen. Aber ist das nicht eigentlich schrecklich? Als ich den Prozeß anfing, war ich felsenfest von meinem Recht überzeugt. Ganz langsam ist der Zweifel in mir wach geworden. Und heute, trotzdem mir das Reichsgericht mein Recht bestätigt hat, zweifle ich noch immer daran. Schließlich habe ich wirklich eine wichtige Vertragsbestimmung verletzt, und Verträge müssen gehalten werden.«
»Du hast die Unsicherheit aller menschlichen Einrichtungen kennengelernt, Schwager«, sagte mein Vater. »Wir können uns wohl bemühen, das Recht zu finden, aber der Erfolg ist immer ungewiß. Rechne dies aber nicht nur uns Juristen an, auch der Feldherr gewinnt nicht immer seine Schlachten darum, weil seine Sache gerecht ist.«
Bis hierher geht die Geschichte des großen Prozesses vom Onkel Albert. Doch hätte ich sie wohl kaum erzählt, wenn sie hiermit zu Ende wäre. Aber das ist sie nicht, sondern der Prozeß hatte noch ein höchst beklagenswertes Nachspiel. Und um dieses Nachspiels willen habe ich überhaupt nur von ihm erzählt.
Denn als mein Onkel ein halbes Jahr nach dem Prozeß, nun schon wieder ganz erholt, im Turmzimmer seines Hauses saß, tat sich die Tür auf, Auguste rief: »Ein Herr möcht' Sie sprechen, Herr Oberstleutnant!« Der Onkel sagte: »Soll reinkommen!« und über die Schwelle trat ein Herr, bei dessen Anblick die Augen meines Onkels immer stärker zu funkeln, seine Stirn aber immer düsterer zu werden anfing.
»Guten Tag, Herr Oberstleutnant!« sagte der Versicherungsinspektor Kollrepp gewinnend und mit viel Freundlichkeit. »Ich freue mich, daß die Differenzen zwischen uns nun endlich aus der Welt geräumt sind. Und ich freue mich, obwohl ich ein getreuer Beamter meiner Gesellschaft bin, daß Sie gesiegt haben.«
Und mit anderer Stimme: »Es ist doch alles reguliert? Es ist doch alles zur Zufriedenheit und pünktlich bezahlt?« Und mit einem behaglichen Auflachen: »Aber natürlich! Ich habe ja selbst die Überweisungen an Sie und Ihre Anwälte gesehen! Stattliche Summen, Herr Oberstleutnant! Das Herz muß Ihnen im Leibe gelacht haben!«
Das Herz meines Onkels dachte nicht an Lachen. »Herr!« sagte er drohend. »Machen Sie schnell, daß Sie hier wieder verschwinden! Was wollen Sie überhaupt –?!«
»Aber Herr Oberstleutnant!« sagte der Inspektor erstaunt. »Sie werden doch nicht nachtragend sein? Sie haben ja Ihr Geld bekommen!« Mit ernsterer Stimme: »Ich komme mit einem Vorschlag zu Ihnen. Kurz und bündig: wollen Sie nicht wieder bei uns versichern?«
Mein Onkel konnte vor Wut und Erregung kaum sprechen.
»Das ist eine Frechheit!« stöhnte er. »Das ist die bodenloseste Unverschämtheit, die mir in meinem ganzen Leben geboten ist! Sie haben mir Jahre meines Lebens gestohlen, und Sie wagen es, hierher zu kommen und mich aufzufordern ...«
Der Onkel konnte nicht weitersprechen. Zitternd vor Wut sah er auf seinen Besucher.
»Aber, Herr Oberstleutnant!« sagte der ehrlich erstaunt. »Wir haben Sie doch nicht um Ihre Lebensjahre gebracht, wie können Sie so etwas sagen! Wir haben einen fraglichen Rechtsfall gehabt, wir haben die Sache durchgekämpft, sine ira et studio, nun gut, jetzt ist sie erledigt! Wir sind doch auch nicht böse auf Sie, weil wir verloren haben!«
Mein Onkel sah starr auf den Mann. Gegen diese Leute hatte er also gekämpft, für diese Leute sich geärgert, gegiftet, seine Ruhe und Behaglichkeit aufgegeben, kostbare Jahre seines zu Ende gehenden Lebens darangesetzt. Für diese Leute aber war so etwas nur ein fraglicher Rechtsfall!
Der Onkel kam aus einer andern Welt, er mußte alles, was er tat, cum ira aut studio, mit Zorn oder Liebe, tun, er glaubte, die heitere Unbekümmertheit dieses Mannes sei abgrundtiefe Verruchtheit.
»Raus!« stöhnte der Onkel nur. »Schnell raus, oder es passiert ein Unglück!«
Aber diesmal erkannte Herr Kollrepp die Gefahr nicht rechtzeitig. Er gedachte, den Onkel zu überreden. Der Onkel, in fieberhafter Erregung, schob den Besucher zur Tür. Die Tür war nur angelehnt, er schob den Inspektor weiter auf den Gang, der Treppe zu, Herr Kollrepp redete immer schneller, immer begütigender.
»Machen Sie, daß Sie aus meinem Haus kommen!« rief der Onkel und gab Herrn Kollrepp einen Stoß.
Herr Kollrepp fiel die Treppe hinunter und brach ein Bein. Das Bein heilte schlecht. Herr Kollrepp mußte von da an hinken. Mein Onkel wurde verurteilt, ihm eine lebenslängliche Rente zu zahlen. In allerletzter Instanz hatte der Onkel seinen Prozeß also doch verloren ...
Wenn mein Vater diesen beklagenswerten Ausgang erzählte, war sein Gesicht sehr ernst. Aber um seine Augen spielten die Fältchen, die ich wohl sah. »Ich bin zu der Überzeugung gekommen«, pflegte mein Vater zu schließen, »daß bestimmte Berufe besser keine Prozesse führen sollten. Zum Beispiel Richter. Oder Kavallerieoffiziere. Pastoren scheinen eher dafür geeignet. Aber bestimmt nicht die Künstler ...«
Was den letzten Beruf angeht, so kann ich meinem Vater nur beipflichten.