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Gärung

Ehe ich von diesen Aufzeichnungen scheide, will ich noch kurz jener Übergangszeit gedenken, da meine früheste Jugend von mir Abschied nahm. Wie auch die Übergangszeiten draußen in der Natur war diese Epoche bei mir wechselvoll, ohne ersichtliche Übergänge. Bald stürmt es, es ist kalt und nun fällt Schnee. Die Sonne kommt durch die Wolken, der Schnee zergeht, und schon wieder ziehen dunkle Wolken auf. Ein eisiger Wind erhebt sich und jagt Regenschauer gegen die Fenster ...

So war auch ich damals. Ich war trübe, verdrossen, mundfaul, und dann sprang ich auf, mit einer übermäßigen Neigung zu kalbern und vor allem zu necken. Ich stellte Edes Geduld auf eine harte Probe, und zu meinen Schwestern benahm ich mich so, daß Vater mir dringend die Lektüre der Jean Paulschen »Flegeljahre« empfahl. Ich zog einen Fluntsch. Das Buch hatte ich längst beim Stöbern in seiner Bücherei entdeckt und als »überspannten Mist« verworfen. (Wie manche auf Granit gegründete Ansicht meiner Jugend, habe ich auch diese sehr bald verworfen!)

Aber wie ich meinen Mitmenschen eine Last war, wurde ich mir selbst zur Not. Wie ich mit meinen zu rasch wachsenden Beinen und Armen nichts anzufangen wußte, wie sie mir überall im Wege waren, so war ich mir selbst im Wege. Manchmal sah ich mich lange im Spiegel an. Bei der Betrachtung meines Gesichtes schien es mir dann, als sei dies ein falsches Gesicht, als müsse ich in Wirklichkeit ganz, ganz anders aussehen! Dann stiegen aus schon überwunden geglaubten Zeiten alte, schon traumhaft gewordene Erinnerungen auf an ein Ich, das ich auch war, aber anders, und vergingen wieder, wobei sie einen Nachgeschmack von bitterer Trauer hinterließen.

Betrachtete ich mich aber nach dem Baden im Spiegel, so konnte eine Art Identitätsrausch über mich kommen. Hundertmal sagte ich mir vor: Das bin ich! Ich! Ich! Hans Fallada! Das bin ich! – Und dann warf ich mich wohl auch hin und heulte vor trunkenem Glück, daß es »Ich« gab, daß ich »Ich« war, und wußte doch nicht, wieso das schwer Erträgliche ein Glück war ...

Aus dem Besitz meines Vaters habe ich sechs Leinwandmappen bekommen, sie enthalten Hefte aus den ersten Jahrgängen der Münchner Zeitschrift »Jugend«. Es sind die Jahrgänge 1896 bis 1899, die Zeit ist unvorstellbar weit her. Ich erinnere mich, damals wurde in dieser Zeitschrift zu einer Sammlung für einen jungen Dichter aufgerufen, der am Verhungern war. Ich erinnere mich auch, daß die Sammlung lächerlich kleine Summen erbrachte: einmal zwölf Mark, ein anderes Mal zwanzig Mark. Dieser Dichter hieß und heißt Knut Hamsun. Er ist in den fünfundvierzig Jahren seitdem ein großer Dichter geworden, er ist weit über alle heute Lebenden hinausgewachsen. Aber damals hatte er schon »Hunger« und »Mysterien« geschrieben ...

An dieses alles in der Zeitschrift erinnere ich mich und an vieles andere noch, aber ich sehe nicht in sie hinein. Ich habe die Mappen nun schon Jahre in meinem Besitz, aber seit jener Jugendzeit habe ich nie wieder in sie hineingesehen. Ich scheue mich vor ihnen. Auch würde ich die Blätter, die mir am lebhaftesten in Erinnerung sind, nicht in ihnen finden. Sie fehlen. Ich weiß, sie fehlen – alle.

Es waren schwarz-weiß, meist nur in den Umrißlinien gezeichnete Akte darauf, und in jener Zeit damals kam ich nun auf die Idee, mich morgens zeitig in Vaters Zimmer zu stehlen, solche Blätter aus den Heften herauszureißen und sie in aller Stille und mit großem Fleiß rosa auszutuschen. Ich erinnere mich aber nicht mehr, was ich dabei empfand. Es werden auch noch keine deutlichen, in Worten ausdrückbaren Gefühle gewesen sein. Es war nur Rauch, die Glut glimmte noch im Verborgenen.

Ja, etwas Neues schien in mein Leben gekommen zu sein, aber es war nichts Gutes, es war eher etwas Quälendes. Ich war hellhörig geworden, wenn gewisse Schulkameraden miteinander flüsterten. Aber ich verzog mein Gesicht nicht. Ich ging nicht auf so etwas ein, so etwas war längst erledigt für mich, so etwas kannte ich schon lange – so tat ich wenigstens. Aber ich sah eifrig im Konversationslexikon nach und versuchte zu verstehen – und dann klappte ich das Buch eilig wieder zu.

Ich war erschrocken über das, was ich gelesen hatte. Dann war also alles ganz anders, als es mir erzählt worden war, die Lehrer wie die Eltern wie die Pastoren hatten gelogen –? Ganz glatt gelogen! Schon seit vielen Jahren! Immer! Die Welt wankte. Ich wollte nicht mehr wissen, mich ekelte schon vor dem, was ich wußte, und ich schlich doch wieder zu den Büchern. Warum sprachen die Eltern mit mir nie über so etwas! Sie mußten es doch wissen! Oder war es denkbar, daß sie es nicht wußten?

Ich erinnere mich noch an jenen Morgen, da ich hinter Vaters Bücherreihe »Die Entscheidungen des Reichsgerichts« eine rote Broschüre fand, die, glaube ich, den Titel trug »Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin?«. Das Lesezeichen steckte an einer bestimmten Stelle, und ich las los. Und las. Und dann versteckte ich das Buch scheu an seinem alten Platz, ich schämte mich, daß Vater das gelesen hatte, und ich schämte mich noch mehr, daß ich wußte, Vater hatte dies gelesen ...

Ich hatte meine schrecklich rosa angepinselten Weibsen – sie sahen wie Marzipanschweinchen aus – in einer blauen Mappe gesammelt, und diese Mappe hatte ich sehr gut in meinem verschlossenen Schreibsekretär versteckt. Aber an einem späten Abend – ich lag schon im Bett – kam Mutter zu mir in die Stube. Sie war sehr aufgeregt, sie weinte fast, sie drückte immer wieder meine Hände, sie sah mich immer wieder an. Und plötzlich legte sie diese blaue Mappe auf mein Bett und rief verzweifelt: »Und ich dachte, mein Junge wäre noch unschuldig!« Und lief weinend aus der Stube.

Ich weiß, es war eine verdammte Zeit. Die in Bigotterie und falscher Pfaffensittsamkeit aufgewachsenen Eltern waren ebenso hilflos wie ihre Kinder. Sie schämten sich genau wie diese, sie brachten kein Wort von alledem über die Lippen. Sie fühlten wohl, daß dies nicht richtig war, daß ihre Kinder Hilfe von ihnen erwarteten, daß die Kinder ohne diese Hilfe in Gefahr waren, von schlechten Gefährten und gemeinen Weibern das häßlich zu hören, was sie ihnen schön zu sagen hatten – aber sie konnten es nicht. Sie lasen Broschüren »Wie erziehe ich meinen Sohn Benjamin?«, sie brachten es gerade noch fertig, durch das Hinwerfen der blauen Mappe zu verstehen zu geben: sie wußten alles. Aber dann liefen sie weinend aus dem Zimmer und riefen etwas von verlorener Unschuld!

Dies Wort traf mich wie ein Schlag. Ich hatte früher Dummheiten gemacht und war dafür bestraft worden, aber ich begriff sofort, daß dies etwas anderes war. Ich war nicht mehr ungezogen – jetzt war ich schuldig! Wenn ich nicht mehr unschuldig war, so war ich schuldig – das war doch klar! Ich verstand auch wohl, daß meine Schuld nicht darin bestand, daß ich Seiten aus Vaters Zeitschrift herausgerissen hatte, ja, nicht einmal das Antuschen war eine Schuld gewesen. Ich hatte mich viel tiefer verstrickt ...

Ich begann, darüber nachzugrübeln. Soweit hatte Vater mir doch juristisches Denken beigebracht, daß ich wußte, Schuld setzte den Willen zur Schuld voraus. Man kann nicht ohne es zu wollen schuldig werden. Aber hatte ich all dies gewollt? Nicht das Tuschen und nicht das Schnüffeln nach Aufklärung, sondern diese innere Verfassung, diese qualvolle Unruhe, diese ahnende Unwissenheit, die ich doch so gerne wieder los werden wollte!

Ich fand keine Schuld. Ich hatte das alles nicht gewollt. Ich fand, früher war es viel besser gewesen. Ich hätte so gerne das Heut gegen das Gestern vertauscht! Nein, ich konnte keine bewußte Schuld finden ...

Aber – und das war das Seltsame – im tiefsten Innern war ich doch von meiner Schuld überzeugt. Warum hatte ich denn auf die Gespräche der Schulkameraden so heimlich gelauscht? Warum nahm ich, wenn ich »Empfängnis« nachschlagen wollte, das Lexikon nicht mit derselben Offenheit vom Platz, wie wenn ich »Ecuador« nachsah? Ich war ganz instinktiv heimlich gewesen, aber so viel glaubte ich doch an die eingelernten Sprüche, daß, was das Licht des Tages scheut, was heimlich ist, auch schlecht sein muß. Warum hatte ich Vater nicht fragen können? Ich fragte ihn doch sonst nach allem! Warum wußte ich schon jetzt, daß Mutter morgen, daß sie nie wieder nach dieser Sache fragen würde? Es war eine heimliche Sache, auch für die Großen war sie heimlich ...

Als ich dies dachte, ahnte ich plötzlich, daß gerade das den Unterschied zwischen groß und klein ausmachte, zwischen Erwachsenen und Kindern, daß die einen von der heimlichen Sache wußten, die andern aber nicht. Und daß ich jetzt zu den Großen gehörte, daß ich nie wieder ein Kind sein würde.

Da überfiel mich Angst. Ich wollte nicht. Allmählich war mein Kinderleben sicher geworden, ich kannte seine Grenzen, die Pflichten und die Freuden. Ich hatte mich in ihm bewegen gelernt, ohne allzu schmerzhaft anzustoßen. Und nun sollte alles wieder ungewiß werden! Nichts war mehr sicher, wenn man sich erst auf dieses Heimliche einließ. Die Eltern, alle Autorität stürzte von ihrem Thron, denn alle hatten falsch ausgesagt. Die Welt teilte sich verwirrend in zwei Hälften, und ob diese beiden Hälften gut oder böse zueinander standen, das war auch wieder ungewiß! Nein, ich wollte nicht! Ich hatte das nie gewollt! Ich war ohne Willen schuldig geworden, ich wollte zurück in die alte sichere Unschuld. Und ich nahm mir vor, nicht mehr zu schnüffeln, zu lauschen, zu tuschen – ich wollte nicht einmal mehr daran denken! Ich wollte zurück in die Gärten der Kindheit!

Aber mir erging es, wie es allen ergeht: sind diese Gartenpforten erst einmal zugefallen, öffnet sie kein Schlüssel mehr. Sie sind versunken, wahre Märchengärten – in guten Stunden sehen wir sie noch mit tausend Blüten winken und grüßen, aber sie bleiben unbetretbar für uns. Das Leben will keine Unschuld. Jedes Leben muß schuldig werden ...

Da war Albine, Albine mit der weißen Haut und dem rötlichen Haar. Sie hatte mich oft lächelnd angesehen, aber ich hatte sie in all diesen Tagen der Verwirrung kaum beachtet Wenn ich an ihr vorbeilief, sagte sie oft halblaut: »Junger Herr, ach, junger Herr ...«

Und wenn ich zurückschaute, stand sie gegen die Wand gelehnt, sie hob die Arme, sie reckte und streckte sich, sie sah mir mit halb geschlossenen Lidern nach ... Dann lief ich noch schneller ... Einmal sagte sie auch ganz unvermittelt zu mir: »Ach, sind Sie dumm, junger Herr! Sind Sie aber dumm!«

Und dabei lächelte sie und zeigte mir ihre rote Zunge. Als ich aber durchaus von ihr erfahren wollte, warum ich denn so dumm sei, sagte sie plötzlich mürrisch: »Sie werden schon später daran denken ...«

Und ging an ihre Arbeit

Aber ich war gar nicht so dumm, wie Albine dachte, ich war schon lange auf den Gedanken gekommen, daß Albine mich gerne sah. Doch ich hatte Angst vor ihr, grade weil ich nicht wußte, was aus diesem Gernesehen alles werden konnte. Und dann habe ich mich stets vom Gelesenen beeinflussen lassen: immer wenn ich Albine sah, ging mir der Vers von Wilhelm Busch durch den Kopf: »Ein jeder Jüngling hat einmal 'nen Hang zum Küchenpersonal.« Und ich dachte, solch Hang sei etwas Minderwertiges ...

Aber an einem Abend waren die Eltern im Theater. Ich lag schon im Bett, das Licht war gelöscht, und ich war grade beim Einschlafen, als die Tür leise, leise aufging. Ich lag lautlos und ich rührte mich auch nicht, als eine Stimme flüsterte: »Junger Herr? Junger Herr?«

Es war alles still, aber in der Stille fing mein Herz so zu klopfen an, vor Angst zu klopfen, daß ich meinte, die sachte näher Schleichende müsse es hören. Aber ich blieb weiter still liegen, und ich rührte mich auch noch nicht, als sie sich über mich beugte und mich leise ins Gesicht fragte: »Junger Herr, schlafen Sie schon?«

Dann, nach einer langen Pause der Angst (Angst, sie könnte gehen! Angst, sie könnte bleiben!) spürte ich ihren Mund. Da war es, als wüßte ich das alles schon seit eh und je, ich warf die Arme um ihren Nacken und flüsterte: »Bleibe, Albine, bleibe ...«

Und nun waren die Kindergärten wirklich für mich verschlossen, aber es tat mir nicht mehr leid. Und ich war nicht mehr daheim bei uns im Hause meiner Eltern, ich war sehr weit von ihnen fortgegangen, und ich freute mich dessen ...

 


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