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Zehntes Kapitel.
Friede der Felder

1

Es war nicht mehr dasselbe Büro!

Es waren noch die gleichen Regale aus häßlichem gelbgrauem Kiefernholz, es war noch derselbe, ehemals schwarze Schreibtisch mit dem grünen, tintenfleckigen Filz, es stand da noch immer der viel zu große Geldschrank mit den gelbgewordenen Goldarabesken – aber nein, es war nicht mehr dasselbe Büro!

Die Fensterscheiben blitzten; saubere, helle Vorhänge waren aufgesteckt; den Möbeln hatte Öl einen sanften Glanz gegeben; der abgetretene splittrige Fußboden war abgehobelt, gewachst und gebohnert worden, und über den Geldschrank war der Gutsstellmacher mit seinem Farbentopf geraten: silbergrau schimmerte sein Stahlpanzer, dunkelgrau waren seine Verzierungen geworden – nein, es war nicht mehr dasselbe Büro –!

Einmal hatte sich der Rittmeister von Prackwitz Gedanken darüber gemacht, ob er denn seinen Freund, den Oberleutnant von Studmann, auf solch ein verliedertes Gutsbüro hinter Lohnlisten und Kornabrechnungen würde setzen können. Hierüber hätte sich der Rittmeister keine Gedanken zu machen brauchen: auf ein liederliches Büro setzte sich Herr von Studmann nicht, Liederlichkeit trieb er aus, sanft, doch gnadenlos!

An einem Tag unter diesen ersten Tagen hatte Studmann einen Schlüssel vom Büro holen müssen – Frau Hartig aber stand auf einer Fensterbank und putzte die Scheiben.

Herr von Studmann blieb stehen und sah diese an. Sie machen hier sauber? fragte er sanft.

Darauf können Sie sich verlassen! sagte die Hartig kriegerisch, denn einmal täuschte sie die Sanftheit dieses Herrn, zum andern war sie böse auf ihn, weil der kleine Meier fort war. Hatte sie sich auch feierlich aller Rechte auf den ehemaligen Feldinspektor von Neulohe begeben; daß er nun fort war, verzieh sie dem Herrn dort nicht – mochte er auch wirklich sein, was die Leute erzählten, nämlich ein Detektiv!

Der vermeintliche Detektiv antwortete erst einmal gar nichts, sondern roch unbegreiflich in das Wasser, mit dem sie die Scheiben wusch. Dann nahm er das Fensterleder in die Hand, was freilich kein Leder war, sondern ein bloßer Lappen, denn das gute Fensterleder rückte die Armgard von der Villa nicht für das schlechte Büro heraus. Nun bewegte er den geputzten Fensterflügel im Sonnenschein hin und her – die Hartig flog am ganzen Leibe vor Grimm über solch einen Spion, der jetzt sogar ihrer Arbeit nachschnüffelte!

Herr von Studmann war mit seiner Prüfung fertig, er hob den Blick zu der Frau, er schien gar nicht zu sehen, daß sie zornig war. Er fragte: Sie heißen –?

Ich bin die Kutscherfrau, rief die Hartig zornig und putzte an ihrer Scheibe, daß sie knackte.

Also die Kutscherfrau, sagte Studmann friedfertig. Und wie heißt der Kutscher –?

Nun sagte die Hartig sehr aufgeregt sehr rasch vieles hintereinander, unter anderem, daß sie ihre Arbeit verstehe, daß keiner aus Berlin zu kommen brauche, um ihr Arbeiten zu ›lernen‹, daß sie vier Jahre im ›Schloß‹ gearbeitet habe, bei der ›alten Gnädigen‹, ehe sie den Hartig geheiratet habe, und daß die ›alte Gnädige‹ immer mit ihr zufrieden gewesen sei, und der mache es doch wirklich keine recht ...

Also Frau Hartig heißen Sie, sagte Herr von Studmann geduldig, denn er war ja lange genug im Hotelbetrieb tätig gewesen. Hören Sie, Frau Hartig, dies Fensterputzen hat keinen Zweck. Man putzt keine Fenster bei Sonnenschein – sehen Sie, die Scheiben sind ja ganz streifig ...

Er bewegte den Fensterflügel hin und her, aber Frau Hartig sah gar nicht hin. Das ekelte sie, sie wußte auch so, daß die Fenster streifig waren, bisher war allen ihre Arbeit gut genug gewesen, und das sagte sie ihm auch!

Ungerührt antwortete Studmann: Und in das Spülwasser nimmt man besser einen Schuß Spiritus, das macht die Scheiben hell. Aber auch dann nützt all Ihre Arbeit nichts, wenn Sie kein ordentliches Fensterleder haben, sehen Sie, dies Tuch fusselt ja, lauter Fusseln kleben an den Scheiben!

Zuerst war die Hartig sprachlos vor Entrüstung gewesen, dann aber fragte sie Herrn von Studmann recht höhnisch, wo sie wohl Spiritus hernehmen solle, heh? Sie könne keinen durch die Rippen schwitzen, und das Fensterleder gebe ihr die Armgard nicht heraus ...

Sie werden Spiritus bekommen und auch ein Fensterleder, sagte Studmann. Und solange man kein Leder hat, nimmt man eine alte Zeitung – sehen Sie so ... Er griff eine alte Zeitung von einem Stoß und putzte. Sehen Sie so, ist sie jetzt blank –?

Das war das Kreisblatt! rief die Hartig höhnisch. Das wird gesammelt und gebunden! Da darf keine Nummer von fehlen!

Ach so! sagte Studmann betroffen – in dieser ersten Zeit unterliefen ihm wie Pagel aus purer Unkenntnis häufig solche Fehler. Er entfaltete den schwärzlich-feuchten Papierkloß: Die Nummer ist noch lesbar – ich bestelle Ersatz. Er notierte die Nummer.

Aber dieser kleine Mißgriff hatte seine Langmut doch erschöpft, er sagte kürzer: Und jetzt gehen Sie nach Haus. Diese halbe Reinmacherei hat keinen Sinn. Kommen Sie heute abend um sechs – da werde ich Ihnen zeigen, wie ich Büro und Zimmer gesäubert wünsche.

Damit war er mit seinem Schlüssel in der Hand abgegangen. Der Hartig aber war das Gerede von diesem Berliner Affen, der ja doch in den nächsten Tagen wieder abhauen würde, ganz egal gewesen. Sie hatte auf ihre Art weiter saubergemacht, und es war ihr nicht im Traum eingefallen, zu dem befohlenen Reinmachen um sechs zu erscheinen.

Als sie dann aber doch von ihrer Neugier gegen sieben in das Beamtenhaus getrieben wurde, hatte sie zu ihrer Empörung gesehen, daß dort die schwarze Minna, dieses scheinheilige Mistvieh, herumfuhrwerkte, und als sie sachte hineingegangen war und wie nichts einen Eimer und ein Scheuertuch ergriffen hatte, hatte der Detektiv sich nur umgedreht und auf seine elende, sachte Art gesagt: Sie sind abgelöst, Frau Hartig. Sie machen hier nicht mehr sauber.

Und ehe sie noch etwas antworten konnte, hatte er sich umgedreht, der Stellmacher und sein Lehrjunge hatten ihre Hobel angesetzt, und Schrapp, Schrapp, Schnurr! hatten die Hobel losgearbeitet – wie Hagar verstoßen in der Wüste stand die Hartig. Keine Tränen bei der alten Gnädigen, kein Schluchzen bei der jungen Gnädigen, kein Bitten beim Herrn Rittmeister hatte verfangen, es war alles plötzlich anders geworden, eine neue Luft wehte ... Ja, wenn Herr von Studmann dich nicht haben will, so wirst du deine Arbeit schon nicht ordentlich gemacht haben, Frieda ... Da reden wir nicht rein, und da können wir dir nicht helfen ... Und nicht einmal die Nachricht von dem verdorbenen Kreisblatt, nicht einmal die Botschaft, daß Herr von Studmann nach Mitternacht die Amanda über eine Stunde auf dem Büro gehabt habe – nichts, was sonst so gerne gehört wurde, verfing. Nein, nun geh nach Haus, Frieda! Du mußt nicht so klatschen – Klatschen ist eine sehr häßliche Eigenschaft. Gewöhne dir das ab, Hartig.

So hatte sie gehen müssen, zu ihrem brummelnden, mit ihr sehr unzufriedenen Mann, und sie hatte nicht einmal mit ihrer Voraussage recht behalten, daß am Sonnabend, nach der Löhnung all der vielen Leute, das Büro wieder wie ein Schweinestall aussehen würde. Das Büro sah auch nach der Löhnung makellos aus, denn dieser Berliner Affe hatte einen Tisch und zwei Stühle vor die Tür ins Grüne gesetzt – und da löhnte er, und die Leute, die immer auf alles Neue reinfielen, hatten das sogar großartig gefunden.

Wie macht er's denn aber, wenn's regnet?! Und wenn's Winter ist?! hatte die Hartig geschrien.

Sei man still, Frieda, hatten die Leute gesagt. Du bist bloß neidisch, der ist zehnmal schlauer als du. Den Negermeier hat er schon ausgetrieben, und wenn du zuviel schreist, wird er dich auch noch austreiben!

Die Hühnermamsell hat er sich um Mitternacht aufs Büro geholt! rief sie zornig.

Du möchtest sie wohl wieder ausstechen wie beim kleinen Meier? hatten die Leute gelacht. Ach, Hartig, bist du dumm – das ist doch ein wirklich feiner Herr, genau wie der Rittmeister, und der denkt nicht an dich und nicht an die Amanda. Sei du bloß stille!

2

Und nun war es Sonntag geworden, nach einer ersten arbeitsreichen Woche Sonntagnachmittag, und auf dem so frisch gereinigten, spiegelnden Büro saßen Herr von Studmann und der junge Pagel und rauchten. Herr von Studmann rauchte eine schöne, sanfte Havanna mit Sumatra-Deckblatt aus der Fest- und Feiertagskiste des Rittmeisters, denn sie waren beide ›drüben‹ zum Essen geladen gewesen; der junge Pagel aber rauchte schon wieder von seinen eigenen Zigaretten.

Ja, die beiden Herren waren, viel beachtet von den Neuloher Gutsleuten, in der Villa zum Mittagessen gewesen, nachdem sie vorher schon zweimal dort zu Abend gegessen hatten. Dies war noch nie bei Beamten vorgekommen und gab den Gerüchten über die ungewöhnliche Sendung der beiden Berliner neue Nahrung. Und der ältere von den beiden Herren, der mit dem etwas eiförmigen Kopf und den braunen Augen, hatte ja sogar bis zu dem nächtlichen Verschwinden des kleinen Meier in der Villa gewohnt! Dann freilich war er sofort ins Beamtenhaus gezogen – allerdings gegen den Willen des Rittmeisters, der ihn, wie man von der Köchin Armgard erfuhr, förmlich gebeten hatte, drüben zu bleiben. Aber nein, der Herr hatte gesagt: Verzeih, Prackwitz, wo meine Arbeit ist, da will ich auch wohnen. Du siehst mich ja, so oft du nur willst! (Sie nannten sich Du!) Und nun wohnte der junge Herr, der Herr Pagel, im Inspektorenzimmer, der ältere Herr aber in dem Giebelzimmer – und was sie hier für eine Arbeit hatten, das würde man auch noch herausbekommen, von der Landwirtschaft verstanden sie nichts, soviel war sicher!

Von Studmann sitzt also rauchend am Schreibtisch und blättert in den Deputatlisten. Er tut es aber nur oberflächlich, denn einmal ist es warm, und dann war das Mittagessen ausgezeichnet. Man ißt hier, wo man so ausgiebig an die frische Luft geht, viel zuviel. Studmann klappt also seine Kornabrechnungen energisch zu und sagt zu Pagel, der am Fenster sitzt und mit halbgeschlossenen Augen in den sonnenflimmernden, geheimrätlichen Park blinzelt: Nun, was machen wir also? Hauen wir uns ein bißchen auf unsere Falle? Gott, bin ich müde!

Pagel muß ebenso müde sein, denn er macht nicht einmal den Mund auf. Aber er deutet gegen die Decke, von der, umsummt und umsurrt von Fliegen, ein Fliegenfänger hängt.

Studmann folgt mit den Augen dem weisenden Finger, er sieht einen Augenblick nachdenklich dem freudigen Sommertanz dieser Plagegeister zu und sagt dann: Sie haben recht, die Biester würden uns nicht einen Augenblick schlafen lassen. Aber was dann?

Ich bin noch gar nicht richtig im Wald gewesen, sagt Pagel. Wenn wir uns den einmal ansähen? Es sollen da auch Teiche sein, Krebsteiche, eiskalt. Wir könnten unsere Badeanzüge mitnehmen.

Großartig! stimmt Herr von Studmann zu, und fünf Minuten später treten die beiden mit ihren Badepäckchen aus dem Beamtenhaus.

Der erste, den sie treffen, ist der alte Herr, der Geheimrat Horst-Heinz von Teschow. Er stapft einher in grünem Loden, den Eichenstock in der Hand, der listige Greis, und als sie, die ihm nur kurz vorgestellt sind, mit flüchtigem Gruß vorüber wollen, ruft er sie an: Aber das ist ja großartig, meine Herren, daß ich Sie mal treffe! Ich überlege, ich denk nach, ich grüble: sind die Herren schon wieder abgefahren? Haben Sie genug vom Lande und der Landwirtschaft? Ich seh Sie doch seit Tagen nicht mehr –!

Wie es sich gehört, lächeln die beiden zu diesen geheimrätlichen Scherzen, Herr von Studmann recht kühl, aber Pagel ehrlich vergnügt über diesen ländlichen Rauschebart, rot wie ein neuangemalter Nußknacker.

Und nun wollen die Herren also einen kleinen Sonntag-Nachmittag-Bummel machen, zur Erfrischung? Die Dorfschönheiten gehen dort lang, junger Mann – Herrn von Tutmann wage ich nicht darauf aufmerksam zu machen ...

Studmann, verbesserte der ehemalige Oberleutnant.

Ja, natürlich, entschuldigen Sie bloß, Verehrtester, ich weiß natürlich. Ist mir nur so rausgerutscht, weil die Leute hier alle so von Ihnen sagen. Tut du man, sagte gestern noch einer von den Kutschern, den Sie wohl wegen seiner Fahrerei angehaucht hatten. Hier aber haben schon viele getutet.

Gestern, sagte Herr von Studmann.

Wieso gestern? Oder war es nicht gestern? Natürlich war es gestern – mein Köpfchen ist noch in Ordnung, Herr von Studmann.

Weil Herr Geheimrat doch schon seit Tagen grübeln, ob wir nicht schon wieder weg sind, sagt Studmann und nimmt mit einem Lächeln seiner Bemerkung etwas von ihrer Schärfe.

Pagel platzt raus.

Der alte Herr steht einen Augenblick verblüfft, dann lacht auch er. Lachend haut er Pagel auf die Schulter, und da er kräftig hauen kann, tut er es auch. Pagel ist in der Versuchung, zurückzuhauen, aber er kennt den fröhlichen Alten noch nicht so gut und läßt es lieber.

Großartig! schreit der Geheimrat, da hat er mich drangekriegt! Schlau, der Herr von Studmann, kein Nachtwächter mit 'ner Tute! Unvermittelt wird er ernst, und dies plötzliche Ernstwerden überzeugt Studmann, daß dies alles nur ein Theater ist, ihnen beiden aus irgendwelchen vorläufig noch unerklärlichen Gründen vorgespielt. ›Ich fange dich noch öfter‹, denkt Studmann kampflustig.

Hätten die Herren wohl einen Augenblick Zeit? fragt der alte Herr. Ich hab da einen Brief für meinen Schwiegersohn liegen, schon seit ein paar Tagen; bin nicht dazu gekommen, ihn rüberzuschicken; war immer soviel los die letzten Tage ... Wenn Sie ihn im Vorbeigehen in der Villa abgeben wollten –?

Ich kann ja ... fängt Pagel, den Herr von Teschow hauptsächlich angesehen hat, an.

Aber Studmann unterbricht ihn: Gewiß, Herr Geheimrat. Wir werden dem Diener in der Villa Bescheid sagen, daß er ihn abholt.

Ausgezeichnet! Prächtig! ruft der Neuloher Herr, aber sein Ton hat jetzt nichts mehr von Bonhommie. Übrigens fällt mir ein, mein alter Elias kann sich ruhig einmal die Beine vertreten. Ich schicke ihn ...

Er nickt den beiden Herren zu und stampft weiter, durch die Büsche dem Schloß zu.

Donnerwetter, Studmann, sagt Pagel, ein wenig atemlos. Mit dem haben Sie es aber verschüttet! Warum so kiebig zu dem fröhlichen Greis –?

Ich gebe Ihnen einmal den Pachtvertrag zu lesen, sagt Herr von Studmann und fährt mit der Hand über die schwitzende Stirn, den dieser fröhliche Greis seinen Schwiegersohn hat unterschreiben lassen. Nur ein geschäftlich völlig ahnungsloses Kind wie der Rittmeister hat unter so was seinen Namen setzen können. Das grenzt an den Schandvertrag von Versailles! Auf Leben und Sterben ausgeliefert!

Aber er macht doch einen ganz biederen Eindruck, der fröhliche Alte!

Trauen Sie ihm nicht! Erzählen Sie ihm nie etwas! Tun Sie nichts von dem, was er Ihnen sagt! Wir sind Beamte des Rittmeisters – der Alte geht uns nichts an.

Ach, Studmann, Sie sind ja ein Pessimist – ich bin überzeugt, der Alte ist ein ganz fröhlicher Nußknacker.

Und ich bin überzeugt, daß es sogar mit dem Brief, den wir abgeben sollten, seine eigene Bewandtnis hat. Nun, wir werden ja sehen. Also gehen wir.

Sie gingen.

Unterdes stand der alte Herr in seinem Arbeitszimmer im Schloß und drehte an der Kurbel des Telefons, als drehe er die Kurbel einer Kaffeemühle. Er rief den Nebenanschluß Försterei. Schließlich hörte er die quakige Stimme des Försters, der sich meldete.

Sitzen Sie auf Ihren Ohren, Kniebusch?! Sie können wohl nur noch schlafen? Na, warten Sie man, ick werde schon dafür sorgen, daß Sie ruhen können, Kniebusch – aber ohne Ruhegeld von mir! – Hören Sie überhaupt, Kniebusch?

Jawohl, Herr Geheimrat!

Na also, Jott sei's jetrommelt und jepfiffen, Sie hören noch. Dann hören Sie jetzt mal zu! Ich habe hier eben die beiden frisch importierten Berliner Tagediebe von meinem Herrn Schwiegersohn auf dem Hof herumlungern sehen, mit Badeanzug unterm Arm. Die wollen sicher in unsere Forst, in den Krebsteichen baden. Machen Sie sich sofort auf Ihre Sohlen und pirschen sich sachte an, und wenn die Herren im Wasser sind, aber nicht eher, machen Sie ihnen begreiflich, daß das meine Krebsteiche sind und daß die einen Dreck darin zu baden haben! Meinethalben beschlagnahmen Sie die Kleider, das gibt ein Gelächter; ich vertret das, Kniebusch, ich schütze Sie ...

Aber Herr Geheimrat, ich kann doch nicht ... Der eine Herr ist Oberleutnant und duzt sich mit dem Herrn Rittmeister.

Na, wat denn, Kniebusch, wat denn?! Was hat denn das damit zu tun, daß er in meinen Krebsteichen badet? Ich sage Ihnen, machen Sie das ordentlich, und von sich aus – unterstehen Sie sich nicht zu sagen, daß ich Sie geschickt habe! Sonst erleben Sie was – nee, sonst erleben Sie gar nichts mehr ...

Jawohl, Herr Geheimrat ...

Und noch was, Kniebusch! Heh, Mensch, was haben Sie es so eilig? Wenn Ihr Chef mit Ihnen redet, dann warten Sie ab, bis Sie entlassen sind, aber Sie können es wohl gar nicht abwarten mit Ihrer Entlassung. Hören Sie, was ich sage, Kniebusch –?

Jawohl, Herr Geheimrat ...

Also gestern hat der Untersuchungsrichter aus Frankfurt angerufen – der Bäumer hat über vierzig Fieber und liegt noch immer besinnungslos. Und es wäre eine Folge von Ihrer rohen Behandlung ...

Aber ich konnte doch nicht, Herr Geheimrat ...

Natürlich konnten Sie, Mensch! Sie hätten laufen müssen, Umschlag machen, Arzt holen, Krankenschwester, meinethalben noch die Hebamme Müllern – so 'n armer Mensch, ist ja bloß ein armer, guter Wilderer, wenn der auf Sie schießt, ist es doch nur, weil Sie schlechter Mensch ihm keinen Rehbraten gönnen – nicht wahr? Das kann doch so 'n Untersuchungsrichter ihm nicht übelnehmen, was, ist doch nur ein armer Mitmensch, was?

Ach, Herr Geheimrat, was soll ich denn bloß tun –?

Gar nichts soll'n Se tun. Aber ich halt Sie, Kniebusch, ich habe dem Genossen Untersuchungsrichter schon meine Meinung gegeigt. Aber nun machen Sie mir diese Sache auch ordentlich! Murr, Kniebusch, Ruckzuck, Baden verboten, Pfändung der Kleider üblich ...

Der Geheimrat hängte ab und grinste. Er holte sich eine Zigarre und schenkte sich einen Cognac ein. Nach getaner Arbeit setzte er sich in seinen Ohrensessel zu einem Nickerchen.

›Warum der Schulze Haase bloß so ungünstig über Kniebusch ans Gericht geschrieben hat?‹ schoß es ihm durch den Kopf. ›Das paßt mir nicht. Dem will ich auch noch zeigen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Der hat zu berichten, wie ich will. Aber da stinkt was – und was da stinkt, das bekomme ich auch noch raus, und wenn's einen ganzen Tag dauern soll!‹

3

Da gehen sie, sagten die Leute im Dorf und sahen den ›beiden Berliner Detektiven‹ nach. Wie dumm so was doch unsereinen hält, daß wir ihnen glauben sollen, sie sind Landwirte! – Hast du die Hände von dem Jungen gesehen, Vadder? Der hat noch nie 'nen Forkenstiel angepackt! – Aber gestern beim Roggen hat er ganz tüchtig mitgegabelt! – Ach, das ist nur Verstellung! Den kleinen Meier haben sie schon fortgeschafft, gleich nach Meienburg soll er gekommen sein! – Aber warum sind sie denn noch immer hier? – Das weißt du nicht, wer der nächste ist? – Der nächste ist der Rittmeister! – Der Rittmeister, du spinnst ja! Der nächste ist der Förster Kniebusch! – Grade der Rittmeister – jetzt soll doch wieder ein Putsch kommen, und wenn wo Waffen vergraben sind, dann ist das hier bei uns! – Aber der mit dem Eierkopf nennt den Rittmeister ja Du! – Das ist ja grade ihre Schlauheit, das hat der alte Geheimrat sich ausgedacht, wie sie uns mit der Landwirtschaft verblenden, so verblenden sie den Rittmeister mit dem Du!

 

Da gehen sie! sagte auch Amanda Backs und sah den beiden nach. Aber die hatten sie nicht gesehen. Was sagst du denn zu ihnen, Minna?

Das kann ich noch nicht wissen, Amanda, sagte die schwarze Minna vorsichtig. Aber vom Reinmachen versteht der Große alles! Wie der ein Bett macht, da möchte man sich gleich drin wälzen ...

Und der Junge –?

Du siehst natürlich nur den Jungen, Amanda, sagte die schwarze Minna mit frommem Augenverdrehen. Denkst du denn gar nicht mehr an deinen Meier –? Wo du doch sogar in der Abendandacht für ihn aufgestanden bist, Amanda, und hast mit dem Finger auf mich gezeigt! Er hat ihn dir doch weggebracht!

Ja, Gott sei Dank, das hat er! sagte Amanda. Aber es klang sehr trübsinnig. Was machst du heute nachmittag?

Die schwarze Minna war plötzlich verdrossen. Was soll ich machen? Ich muß zu meinen Blagen. Die stecken mir sicher noch mal das Dach überm Kopf an, jetzt, wo ich den halben Tag weg bin mit dem Reinmachen auf dem Büro und in den Zimmern!

Sei froh, daß du deine Blagen hast, sagte Amanda Backs. Manchmal denk ich, es wär auch für mich das Beste, ich hätte eins von ihm.

Die schwarze Minna war empört: Pfui, wie du so was sagen kannst, Amanda, du als unverheiratetes Mädchen! Und dabei kuckst du schon wieder 'nem andern jungen Mann nach! Ich verstehe ja, daß man sündigt, aber man muß doch seine Sünden bereuen, Amanda –!

Ach, halt den Sabbel, sagte Amanda ärgerlich und ging fort, auch den Weg nach dem Wald entlang, wie die schwarze Minna mit tiefer Befriedigung sah.

 

Da gehen sie, sagte auch Jutta von Kuckhoff zu ihrer Freundin Belinde von Teschow. Herr von Teschow schimpft ja – aber ich finde doch, namentlich der Ältere sieht wirklich vornehm aus. Was ist das für ein Adel, die Studmanns – alt oder jung? Weißt du es, Belinde?

Frau von Teschow spähte eifrig aus dem Fenster nach den sich entfernenden Gestalten. Sie tragen Päckchen unter dem Arm – es ist wohl Badezeug. Heute vormittag haben sie für den Gottesdienst keine Zeit gehabt, aber zum Baden haben sie Zeit. Und du redest von vornehm, Jutta!

Recht hast du, Belinde! Es muß ganz junger Adel sein, unsere Ahnen haben sicher nie gebadet. Ich habe mal bei den Quitzows in Schloß Friesack eine alte Waschschüssel gesehen – so was stellst du heute deinem Kanarienvogel in sein Bauer.

Horst-Heinz sagt, er kann den Pachtvertrag sofort lösen, jetzt ist kein einziger Landwirt mehr auf dem Hof!

Er will wohl den kleinen Meier wieder haben? Amandas Ringe um die Augen werden immer dunkler.

Da geht sie, denselben Weg!

Wer?

Die Amanda! Aber wenn sich jetzt wieder etwas anspinnt – tüchtig hin, tüchtig her –, muß sie weg!

Und was ist das mit Fräulein Kowalewski? fragte Fräulein von Kuckhoff träumerisch. Wo ein Aas ist, sammeln sich die Fliegen!

Im selben Abteil sollen sie gefahren sein, antwortete Frau Belinde eifrig. Und wenn sie nachher auch beim Kutscher auf dem Bock gesessen hat, sie sollen ganz vertraut miteinander gesprochen haben! Und die Eltern Kowalewski haben am Tage vorher noch nichts von ihrem Besuch gewußt, plötzlich kam ein Telegramm – und, Jutta, als dies Telegramm abgesandt wurde, war mein Schwiegersohn schon in der Stadt.

Sie soll ja angezogen sein wie eine Kokotte! Büstenhalter aus lauter Spitzen ...

Büstenhalter ...! Sage nur dies unanständige Wort nicht, Jutta! Als ich jung war, trugen solche Mädchen Korsetts aus Drillich, abwechselnd eine Stange aus Fischbein und eine Stange aus Stahl – das war wie ein Panzer, Jutta. Panzer, das ist sittlich – aber Spitzen, das ist unsittlich ...

 

Da gehen sie, sagte auch der Rittmeister, der mit Frau und Tochter beim Kaffee auf der Veranda saß. Gut sehen sie aus. Ganz was anderes als diese Mißgeburt, der Meier!

Sie gehen zum Baden, sagte Frau von Prackwitz.

Sie werden schon rechtzeitig zum Füttern zurück sein, besänftigte der Rittmeister eine Besorgnis, die er allein hegte. Studmann ist die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit selbst.

Ach, Mama! rief Weio und brach ab.

Nun –? fragte Frau von Prackwitz recht kühl, wünschest du etwas, Violet –?

Ich dachte nur ... Weio war ziemlich kleinlaut. Ich hätte auch ganz gerne mal wieder gebadet.

Du weißt, Violet, daß du Stubenarrest hast, bis du mir und Papa erzählt hast, wer der fremde Herr war, mit dem du in der Nacht über den Hof gegangen bist.

Aber Mama! rief Weio beinahe weinend. Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß es gar kein fremder Herr war. Es war Kniebusch! Räder hat es dir doch auch gesagt!

Du lügst, und Räder lügt auch. Du kommst nicht eher aus dem Haus, bis du mir die Wahrheit gesagt hast, und der brave Hubert kann sich auf eine sehr plötzliche Entlassung gefaßt machen, wenn er mich weiter so anlügt. Es ist eine Unverschämtheit von euch, mich derart zu belügen –!

Frau von Prackwitz war sehr erregt, ihre etwas volle Brust atmete hastig, ihre Augen schössen scharfe, zornige Blicke.

Aber wenn es doch wirklich der Förster war, Mama – wirklich und wahrhaftig! Ich kann dir doch nicht vorlügen, daß es jemand anders war, Mama! Wer soll es denn gewesen sein –?!

Es ist eine Unverschämtheit –! rief Frau von Prackwitz atemlos und zitterte vor Zorn am ganzen Leibe. Doch sie nahm sich rasch zusammen. Du gehst auf dein Zimmer, Violet, und schreibst unsere gestrige französische Lektüre zehnmal ab und ohne einen Fehler!

Und wenn ich sie hundertmal abschreibe, Mama! sagte Weio unter der Tür, jetzt auch weiß vor Zorn. Es war doch der Förster!

Die Tür klappte, Weio war fort.

Der Rittmeister hatte schweigend diesen Streit angehört, nur mit Augenschließen und Gesichterziehen hatte er zu verstehen gegeben, wie peinlich er ihm war. Ein Streit, den andere hatten, war ihm immer sehr peinlich. Aber er wußte aus mancher Erfahrung, daß seine Frau, wenn sie wirklich einmal zornig war, was selten vorkam, höchst behutsam behandelt werden mußte. Faßt du die Weio nicht ein wenig hart an? fragte er darum nur vorsichtig. Es könnte doch wirklich der Förster gewesen sein? Die Hartig ist bloß ein Klatschweib ...

Es war nicht der Förster! Er sagt jetzt, er war es, aber er kann mir nicht erzählen, warum sie, statt in den Wald, ins Inspektorenhaus gegangen sind.

Hubert sagt, sie haben nachgesehen, ob dort noch Kugelpatronen für Weio waren ...

Ach, Unsinn! – entschuldige, Achim, aber laß dich doch nicht dumm machen von den beiden! Räder weiß so gut wie Weio, daß die Kugelpatronen in deinem Gewehrschrank stehen ...

Sie sagen, sie haben dich nicht stören wollen ...

Ach was, stören! Ich habe bis nach zwölf Licht gehabt – und Weio ist noch nie so rücksichtsvoll gewesen. Wenn sie einen Pickel im Nacken hat, weckt sie mich nachts um zwei Uhr und läßt sich einreiben ... Alles dumme Lügen!

Aber, wirklich, Eva, wer könnte es denn gewesen sein? Ein Fremder, den die Hartig nicht mal kennt? Und dann nachts mit Weio ins Inspektorenhaus?!

Siehst du, Achim, das ist das Schlimmste, darum kann ich nicht schlafen. Wenn es irgendein Junge hier aus der Gegend wäre, irgend jemand, den wir kennen, den Weio kennt, ein Bauernjunge oder so was – der würde Weio nie gefährlich werden. Das wäre eine harmlose Liebelei, die könnte man sofort abstellen ... Aber es ist ein Fremder, ein Mann, von dem wir keine Ahnung haben, ein ganz Unbekannter – und das ist so unheimlich ... Mit dem geht sie nachts ins Inspektorenhaus, mit dem ist sie die Nacht allein zusammen. Denn Räder ist im Bett gewesen, das ist nicht gelogen. Das hat mir Armgard bestätigt, die nie für Hubert lügen würde ...

Glaubst du denn wirklich, daß etwas geschehen sein könnte –? Ich würde den Kerl ...

Ja, du kennst ihn aber nicht, du weißt nicht, wer es ist! Wer kann es nur sein, daß sie alle Angst haben, von ihm zu reden, daß sie alle verzweifelt für ihn lügen: der Förster, die Backs, Räder – und Weio. Ich kann es nicht erraten!

Aber Eva, ich bin überzeugt, du machst dir umsonst solche Sorgen. Weio ist noch völlig ein Kind!

Das habe ich auch gedacht, Achim – aber jetzt sind mir die Augen aufgegangen! Sie ist gar kein Kind mehr, aber sie spielt Kind, ganz frech, und wie eine, die sehr genau Bescheid weiß ...

Aber Eva, du übertreibst ...

Nein, leider nicht. So klug ist sie ja nun doch nicht, einmal verrät sie sich. Es ist ja ekelhaft, Achim, wenn man seiner eigenen Tochter nachspionieren muß ... Aber dieser rätselhafte Mann, ich bin in einer Todesangst, wenn ihr was passiert ist –?! Ich habe mich nicht bezwingen können, ich bin heimlich auf ihr Zimmer gegangen, ich habe alles abgesucht, ob vielleicht irgendwo ein Brief herumliegt, irgendein Zettel, ein Bild von ihm – Weio ist ja so unordentlich ...

Sie brach ab, mit trockenen, brennenden Augen sah sie vor sich hin. Der Rittmeister stand mit seinem weißen Haar und dem braunen Gesicht am Fenster; er tat, was alle Ehemänner tun, wenn sie über einen Gefühlsausbruch ihrer Ehefrauen verlegen sind: er trommelte leise mit den Fingern gegen die Scheiben.

Ich habe gedacht, sie hat nichts gemerkt. Ich schäme mich ja auch, ich habe aufgepaßt, daß alles wieder so lag wie vorher ... Aber gestern kommt sie ganz leise auf ihr Zimmer, wie ich gerade ihr Album in der Hand habe, ich war richtig verlegen ...

Und –? fragte der Rittmeister, nun doch gespannt.

Und sie sagt ganz krötig zu mir: Nein, Mama, ein Tagebuch führe ich auch nicht ...

Aber ich verstehe nicht ... sagt der Rittmeister verwirrt.

Ach, Achim, das zeigt mir doch, daß sie genau verstanden hat, wonach ich gesucht habe, daß sie sich über meine Sucherei lustig gemacht hat. Sie war ja richtig stolz auf ihre Schlauheit und Vorsicht! – Und das ist dasselbe Mädchen, Achim, das sich bei dir noch vor drei Wochen nach dem Storch erkundigt hat! Du hast es mir selber erzählt! Unerfahren? Abgefeimt ist sie! Verdorben ist sie von dieser verfluchten Zeit!

Der Rittmeister stand jetzt ganz anders da, gespannt. Das Braun seines Gesichtes sah grau aus, alles Blut war zu seinem Herzen gelaufen. Er machte einen zornigen Schritt zur Klingel! Der Räder soll kommen! murmelte er. Ich schlage dem Bengel alle Knochen im Leibe entzwei, wenn er nicht gesteht ...

Sie trat ihm in den Weg. Achim! bat sie. Nimm dich zusammen! Brülle bitte nicht, schlage nicht – damit verdirbst du alles. Ich werde es schon rausbekommen! Ich sage dir doch, sie haben alle eine Todesangst vor ihm, es ist irgendein Geheimnis, von dem wir noch nichts wissen. Aber ich erfahre es, und dann sollst du handeln ...

Sie drängte ihn gegen einen Stuhl, er setzte sich. Er sagte klagend: Und ich habe gedacht, sie wäre noch ein Kind ...

Irgendwie, sagte sie grübelnd, auch um ihn abzulenken, irgendwie hängt alles mit dem kleinen Inspektor Meier zusammen. Er muß etwas wissen. Es war sicher sehr klug von Herrn Studmann, ihn so wortlos abzuschieben, aber besser wäre es jetzt, wir wüßten, wo er ist. Von ihm würde man am ehesten etwas erfahren ... Du weißt nicht, was Meier vorhatte –?

Nein – nichts, er hat gemacht, daß er fortkam, er hatte plötzlich Angst ... Der Rittmeister belebte sich, eine Erinnerung kam ihm. Aber das ist ja wieder dasselbe, was du sagst ... Der Meier hatte ja auch eine Todesangst ... Fortgeschickt, sagst du, durch Studmann? Nein, er hat nicht bleiben wollen. Er hat gebettelt, daß ihn Studmann fortließ, daß er ein bißchen Reisegeld bekam ... Studmann hat es ihm dann gegeben ...

Aber wieso hatte Meier plötzlich solche Angst? Er ist doch mitten in der Nacht fortgelaufen?

Mit der Backs! Die Backs hat ihn zur Bahn gebracht! Die Sache ist so gewesen, warte, Studmann hat es mir erzählt, aber es ging in den ersten Tagen alles so durcheinander, ich habe kaum darauf geachtet, und, offen gestanden, ich war froh, daß Meier fort war, ich habe ihn nie ausstehen können ...

Also in der Nacht ... half Frau Eva von Prackwitz ein.

Richtig! Also in der Nacht saßen Pagel und Studmann noch auf dem Büro, sahen sich die Bücher an, Studmann ist ja die Gründlichkeit selbst. Nebenan schlief Meier, hatte am Abend noch mir und Studmann die Kasse übergeben, die war in Ordnung, hatte tadellos gestimmt ... Er muß schon geschlafen haben, der Meier ... Plötzlich hören die beiden ihn schreien, schrecklich, jämmerlich, in Todesangst schreien: Hilfe! Hilfe! Er bringt mich um! – Sie springen auf, rennen in Meiers Zimmer – der sitzt im Bett, käsebleich, stammelt nur: Helfen Sie mir doch, er will mich wieder totschießen ... Wer denn? fragt Studmann. -Da, am Fenster, ich habe ihn deutlich gehört. Er klopfte, und wenn ich komme, schießt er! – Studmann macht das Fenster auf, es war zu, sieht hinaus: nichts. – Aber Meier bleibt dabei, er war da, er will ihn totschießen ...

Aber wer? fragt die Frau voller Spannung.

Ja, sagt der Rittmeister und reibt sich nachdenklich die Nase. Wer? – Nun höre. Meier bleibt so fest dabei, daß jemand am Fenster gewesen ist, ihn totzuschießen, daß Studmann schließlich Pagel rausschickt, um nachzusehen. Unterdes beruhigt er Meier ein bißchen. Der fängt an, sich anzuziehen. Pagel kommt wieder mit einem Mädchen, das er in den Büschen gefunden hat, der Backs ...

Ach so, sagt die Frau enttäuscht.

Die Backs gibt ohne weiteres zu, gegen die Scheiben geklopft zu haben, sie müsse ihren Freund unbedingt sprechen. Als Studmann merkte, es war irgendeine einfache Liebesgeschichte, hat er die beiden allein gelassen und ist mit Pagel wieder auf das Büro gegangen ...

Hätte er da ernstlich gefragt, vielleicht hätte er alles erfahren.

Vielleicht. – Nach einer Weile ist Meier mit der Backs auf das Büro gekommen und hat gesagt, er müsse weg, gleich, auf der Stelle. Studmann hat nicht gewollt, Studmann ist ja die Genauigkeit selbst, das ginge nicht ohne Kündigung, er müsse mich erst fragen. Meier ist ganz still und bescheiden geblieben (sonst gar nicht seine Art), er müsse eben weg, aber er hätte gerne sein Restgehalt als Reisegeld ... Schließlich hat die Backs sich auch aufs Bitten verlegt, Meier müsse weg, er wäre ihr Freund nicht mehr, aber er müsse weg, sonst geschehe ein Unglück ... Und Studmann hat nicht weiter fragen mögen, er hat an eine Liebes- und Eifersuchtsgeschichte geglaubt, hat schließlich, weil er wußte, ich war Meier gerne los, eingewilligt, und die beiden sind abmarschiert ...

In diesem Falle hat sich Studmann nicht sehr klug benommen. Eifersucht die durch Fenster schießt, gibt es hier bei uns nicht. Und wenn ich dich recht verstanden habe, hat Meier gerufen: er will mich wieder totschießen ...?

Ja, so hat Studmann es mir erzählt ...

Wieder totschießen – der Unbekannte hat es schon einmal versucht. Und dies geschah nach der Nacht, in der Weio mit einem unbekannten Mann ins Inspektorenhaus ging ...

Es war ganz still. Keines von den beiden Eheleuten wagte ein Wort von dem laut werden zu lassen, was es fürchtete. Als könne es durch Sprechen Gestalt annehmen, wahr werden ...

Langsam sah dann der Rittmeister hoch, sah in die schwimmenden Augen der Frau. Wir haben immer Unglück, Eva. Uns gelingt nichts ...

Verlier den Mut nicht, Achim ... Vorläufig sind alles nur Befürchtungen. Laß mich machen, ich erfahre es schon. Kümmre du dich um gar nichts. Ich verspreche dir, ich erzähle dir alles, auch wenn es das Schlimmste ist, ich werde dich doch nicht belügen ...

Gut, sagte er. Ich will ruhig warten. Und nach kurzem Überlegen: Wenn du Studmann einweihen würdest -? Studmann ist die Diskretion selbst.

Vielleicht, sagte sie. Ich muß einmal sehen. Je weniger von der Sache etwas wissen, um so besser. Aber vielleicht brauche ich ihn ...

Er dehnte sich etwas. Ach, Eva, sagte er, bereits sehr erleichtert (es war ihm schon so, als hätte er nur böse geträumt), du weißt gar nicht, wie glücklich ich bin, einen wirklichen Freund hier zu haben!

Doch, doch, sagte sie ernst. Ich weiß schon. Ich dachte ja auch ... Aber sie brach ab. Sie hatte sagen wollen, daß sie auch geglaubt hatte, in der Tochter eine Freundin zu haben, die sie nun verloren hatte – aber sie sagte es nicht. Entschuldige mich einen Augenblick, meinte sie statt dessen. Ich will nur mal nach Violet sehen.

Sei nicht hart mit ihr, bat er. Das Kind wird schon ganz blaß.

4

Da gehen sie nun also, die beiden. Gehen den Weg zum Wald! Es ist ein richtiger Landweg, der von Städtern nichts weiß (und nichts lieben die Städter mehr, als was von ihnen nichts wissen will) – er führt in den Wald, der Weg, und in dem Wald weit drinnen liegen die Krebsteiche, tiefe, kühle, klare Teiche – oh, herrlich!

Haben Sie eben den Rittmeister mit Familie auf der Veranda gesehen? fragt Pagel. Wie finden Sie eigentlich das gnädige Fräulein?

Und Sie –? fragt Studmann lächelnd dagegen.

Sehr jung, erklärt Pagel. Ich weiß nicht, Studmann, ich muß mich doch gewaltig verändert haben. Hier das Fräulein von Prackwitz, und dann die Sophie, die mit uns herfuhr, und die Amanda Backs – was hätte mir das noch vor einem Jahr für Appetit und Laune gemacht! Aber jetzt –? Ich glaube, ich werde schon alt ...

Sie haben bei Ihrer Aufzählung die schwarze Minna, die das Büro säubert, vergessen, sagt Studmann ernsthaft.

Ach, Studmann! antwortet Pagel halb ärgerlich, halb lachend. Nein, im Ernst: ich habe da so einen Maßstab in mir, und wenn ich den anwende, kommen mir alle Mädchen zu jung, zu dumm, zu gewöhnlich – ich weiß nicht, aber immer irgend etwas ›zu‹ vor.

Pagel! sagt Studmann und bleibt stehen. Er hebt den Arm und zeigt feierlich über die Gehöfte von Neulohe fort. Pagel! Dort ist der Westen! Dort liegt Berlin! Und dort bleibt es liegen. Ich erkläre Ihnen hiermit, ich will nichts von Berlin sehen oder hören! Ich lebe in Neulohe! Keine Berliner Erinnerungen, keine Geschichten aus Berlin, nichts von den Vorzügen Berliner Mädchen! Ernster: Wirklich, Pagel, erzählen Sie nichts. Es ist ja alles noch viel zu früh. Sie würden's später nur bedauern, Sie hätten sich irgendwie mir gegenüber festgelegt. Natürlich haben Sie einen Maßstab, seien Sie froh, daß Sie ihn haben, Sie haben ihn ja sogar heiraten wollen; aber denken Sie jetzt nicht mehr daran! Versuchen Sie, Berlin und alles in Berlin zu vergessen! Leben Sie sich ein in Neulohe! Seien Sie nur Landwirt! Wenn Ihnen das geglückt ist, und wenn dann Ihr Maßstab noch etwas gilt, dann können wir darüber reden. Vorher ist das alles doch nur fauler, gefühlsduseliger Zauber!

Er sah Pagels verkniffenes Gesicht: die Nase darin war gewissermaßen spitz geworden, die Lippen eingekniffen. Er sah mürrisch-trotzig aus. Er war ja nicht dumm, der junge Wolfgang, er verstand wohl, was Studmann meinte, aber es war ihm nicht recht. Er gab sogar zu, daß Studmann recht hatte, aber es war ihm doch nicht recht. Er war jung, aus der Betreuung der Mutter war er in die Betreuung der Geliebten übergegangen, jeder Kummer, jede Kleinigkeit, die ihn bedrückte, war teilnahmsvoll angehört, war bedauert worden. Plötzlich sollte es damit zu Ende sein.

Na ja, Studmann, sagte er schließlich, etwas mürrisch. Wie Sie wollen, ich habe eigentlich auch gar nichts zu erzählen ...

Ausgezeichnet, sagte Studmann, entschuldigen Sie, Pagel. Er hielt es für ratsam, die Sache abzubrechen, er hatte genug von dem jungen Gesicht abgelesen. Mit erhobener Stimme sagte er: Und nun, verehrter Mit-Landwirt, verraten Sie mir, was dies für Getreide ist!

Das ist Roggen, sagte Pagel und ließ eine Ähre sachverständig durch die Finger gleiten. Das Zeug kenne ich, das habe ich gestern mit aufgestakt.

Und er warf einen heimlichen, raschen Blick in seine entzündete, blasige Hand.

Ganz meine Ansicht, sagte Studmann. Aber wenn es Roggen ist, erhebt sich die Frage, ist es ›unser‹ Roggen, will sagen, ist es Guts-Roggen?

Nach dem Schlagplan hat hier raus überhaupt kein Bauer Feld, sagte Pagel zögernd. Es müßte unserer sein.

Wieder meine Ansicht. Aber wenn es unserer ist, warum ist er noch nicht gemäht? Wo wir doch schon Hafer mähen? Ist er vielleicht vergessen?

Unmöglich! So nahe beim Hof! Wir ziehen doch jeden Tag hier mit den Gespannen vorbei. Da hätte ich doch einmal ein Wort von den Leuten gehört.

Lehren Sie mich die Leute kennen! Auf dem Lande werden sie auch nicht anders sein als im Hotel! Die grienen in ihre Barte, wenn der Chef was verschwitzt! Was ich da erlebt habe im Hotel –!

Studmann! Herr Studmann!! Dort ist Westen, dort liegt Berlin – soll es liegen bleiben, wir heben es nicht auf! Wir leben in Neulohe – ich will keine Berliner Geschichten hören!

Ausgezeichnet! Sie nehmen also meinen Vorschlag an? Abgemacht! Nichts mehr von Berlin! – Und mit neuem Eifer: Sollte er noch nicht reif sein?

Der ist reif! rief Pagel, stolz auf seine junge Wissenschaft. Sehen Sie, das Korn soll grade über dem Nagel brechen – und dies ist ja schon knochenhart und trocken ...

Rätselhaft. Wir müssen den Rittmeister fragen. Helfen Sie denken. – Passen Sie auf, wie ich ihm heute abend mit unserer Aufmerksamkeit imponieren werde! Er soll merken, daß er jetzt Beamte mit Augen im Kopf und mit Grips im Schädel hat. Den Inbegriff aller Beamten, Beamte erster Klasse! Weinen vor Freude soll er über uns!

Sie sind ja direkt übermütig, Studmann, sagte Pagel, völlig aus dem Häuschen! So kenne ich Sie ja gar nicht.

Pagel! rief Studmann. Wissen Sie es nicht? Der Friede der Felder, der Atem der Natur, gewachsener Boden unter den Füßen – Sie wissen es nicht, was es heißt, täglich dreißig Kilometer mit brennenden Sohlen die stupiden Gänge eines Hotels entlang zu preschen ...

Berlin! Verruchtes, vergessenes Berlin!

Ich ahne ja schon, auch dieser Friede ist nur Schwindel. In den so malerisch ins Grüne geduckten Häusern des lieblichen Dörfleins dort werden Klatschsucht, Neid, Angeberei zu Hause sein, wie in jeder großstädtischen Mietskaserne! Statt der bimmelnden Elektrischen wird ein Pumpenschwengel ewig quietschen; für die keifende Alte im Stockwerk darüber jault hier ein Hofhund tagaus, nachtein! Die Weihe dort bedeutet den Tod einer Maus. – Aber, Mitmensch Pagel, lassen Sie mir mein Glück, entblättern Sie nicht die junge Blüte meines Glaubens! Friede der Felder, Eintracht der Hütten, Ruhe der Natur ...

Kommen Sie baden, Studmann, Baden kühlt – die Krebsteiche sollen sehr kalt sein ...

Ja, gehen wir baden, stimmte Studmann begeistert zu. Versenken wir diesen heißen Leib in die kühlen Fluten, waschen wir von der zergrübelnden Stirn den ätzenden Schweiß des Zweifels – ach, Pagel, Mensch, ich muß es Ihnen gestehen: ich fühle mich sauwohl ...

5

Der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow hatte seinem alten Diener Elias einmal einen Stock geschenkt, ein gelblich-bräunliches Malakkarohr mit einem goldenen, kugligen Knauf oben drauf. Im allgemeinen war der alte Herr nicht für Schenken, im allgemeinen erledigte er dieses Problem mit der Frage: Wer schenkt mir was –?! Aber manchmal war er eben auch anders und schenkte jemandem was (und erinnerte ihn dann sein Lebtage daran).

Der Malakkastock war auch erst dann in den Besitz des Elias übergegangen, als durch das schimmernde Gold der Kugel das graue Blei ihrer Füllung schien. Das hinderte den alten Herrn nicht, Elias oft an den ›echt goldnen Stock‹ zu erinnern: Putzt du ihn auch ordentlich, Elias? Das Rohr mußt du alle vier Wochen fetten. Das ist ein Erbstück, solch goldner Stock, den kannst du noch deinen Kindern vermachen. – Na ja, Kinder hast du nicht (wenigstens, soviel mir bekannt ist), aber ich bin überzeugt, sogar meine Enkelin Violet würde sich über den goldnen Stock freuen, wenn du ihn ihr in deinem Testament vermachen würdest ...

Was Elias über den Goldgehalt der Kugel dachte, blieb unbekannt, er war zu würdig, von solchen Dingen zu sprechen. Aber er hielt das Malakkarohr lieb und wert und hatte es bei sonntäglichen Gängen stets in der Hand. So auch heute. In der einen Hand den Stock, in der andern einen Panama, trug er seinen großen, gelblichen Schädel durch die Nachmittagssonne zwischen den Häusern des Dorfes hindurch auf die rittmeisterliche Villa zu. In den Brusttaschen seines feierlichen braunen Bratenrockes mit besponnenen Knöpfen trug er links die Tasche mit den Tausendmarkscheinen, rechts den Brief des Geheimrats an seinen Schwiegersohn, der nun endlich bestellt werden sollte.

Wo er ein Gesicht sah, da blieb der alte Elias stehen und sprach es an. War es ein Kind, so fragte er nach dem ersten oder fünften Gebot; war es eine Frau, erkundigte er sich nach den Gichtschmerzen oder ob auch noch Milch genug da sei für das Nähren des Säuglings. Bei den Männern aber fragte er nach dem Fortschritt der Ernte, sagte Ah! oder Oh! und Ach was!, brach aber immer nach drei oder vier Sätzen die Unterhaltung ab, schwenkte leicht den Panama, stieß das Malakkarohr auf die Erde und schritt weiter. Kein Serenissimus hätte leutseliger und doch würdiger zwischen seinen Untertanen wandeln können als der alte Elias unter den Bewohnern des Dorfes, die ihn doch nichts angingen und die er nichts anging. Sie akzeptierten ihn aber alle willig, so wie er war, und war einmal ein Neuer darunter, der sich nach dem ersten Interview beschwerte, was denn eigentlich der alte Affe von ihm wolle und was in aller Welt er sich denn einbilde – beim zweiten- oder spätestens drittenmal war er doch schon dem Zauber wunschloser Abgeklärtheit erlegen und antwortete genauso willig wie die Alte Garde.

Der alte Elias war, obwohl ebenso alt wie der Förster Kniebusch, ganz anders, und wo der sich ewig ängstete, schmeichelte, nach den Augen sah, zum Munde redete, in die Ohren blies, immer in Sorge um Alter und Auskommen – da wanderte der alte Elias in friedlicher Heiterkeit dahin, und die Dinge dieser Welt bedeuteten ihm nichts, und er wurde mit seinem verschlagenen, bösen Herrn so selbstverständlich fertig wie ein Kind mit seiner Puppe. So ist es aber einmal auf dieser seltsamen Erde eingerichtet: die Sorgen, die dem einen das Herz abdrücken, die spürt der andere gar nicht.

Als der Diener Elias bei der Villa angekommen war, ging er mit seinem Brief nicht vorne die Treppe hinauf zu der am gestrigen Sonnabend feiertäglich vom Diener Räder geputzten Messingklingel, sondern er ging um die Villa herum und die Zementstufen in das Souterrain hinab, und gegen die Tür dort klopfte er, nicht zu laut und nicht zu leise, wie es sich eben gehört. Es rief keiner Herein, und so öffnete Elias die Tür und stand in der Küche, in der eine ganz sonntägliche Stille und Sauberkeit herrschte. Nur der Kessel mit dem Teewasser zum Abend summte sacht über der sinkenden Flamme. Der alte Elias sah sich um, aber es war niemand in der Küche. So nahm er denn den Kessel, schüttete ihn über dem Ausguß aus und stellte ihn leer beiseite, denn er wußte, daß die junge gnädige Frau ihren Tee von frisch kochendem Wasser aufgebrüht haben wollte, nicht von abgestandenem.

Dies verrichtet, ging Elias durch eine Tür im Hintergrund der Küche auf den dunklen Gang, der das Kellergeschoß der Villa in zwei Teile zerschnitt. Auf dem Gang machte sein Stock deutlich ›Tapp-Tapp‹, außerdem hüstelte der alte Elias, und zum Überfluß klopfte er noch an die Tür. Aber vielleicht wären alle diese Anmeldungen nicht nötig gewesen, denn der Diener Räder saß ganz still und steif in seinem kahlen Zimmer auf dem bretternen Stuhl, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah starr mit seinen fischigen Augen auf die rohe Tür, als hätte er schon seit Stunden so gesessen.

Als der Diener Elias aber eintrat, stand der Diener Räder von seinem Stuhl auf, nicht zu langsam und nicht zu schnell, wie es sich eben gehörte, und sagte: Guten Tag, Herr Elias, wollen Sie bitte Platz nehmen ...

Guten Tag, Herr Räder, antwortete der alte Elias. Ich beraube Sie ja ...

Ich stehe gerne, erklärte Räder. Das Alter soll man ehren.

Und er nahm dem andern Hut und Stock aus den Händen. Den Hut hängte er auf einen Haken und den Stock lehnte er in eine Ecke. Darauf stellte er sich mit dem Rücken an die Tür, dem Diener Elias gegenüber, aber durch die ganze Länge der Kammer von ihm getrennt.

Mit einem großen, gelblichen Tuch trocknete sich Elias seine Brauen und Stirn und sagte dabei freundlich: Ach ja, ach ja – es ist heiß heute. Herrliches Erntewetter ...

Davon weiß ich nichts, sagte Räder abweisend. Ich sitze hier in meinem Keller. Und mit der Ernte habe ich nichts zu tun.

Elias faltete das Tuch umständlich zusammen, steckte es in die Rocktasche und brachte dafür den Brief zum Vorschein: Ich habe da einen Brief für Herrn Rittmeister.

Von unserm Schwiegervater –? fragte Räder. Herr Rittmeister ist oben. Ich werde Sie gleich anmelden.

Ach ja, ach ja! seufzte der alte Elias und sah den Brief an, als läse er die Adresse. Da schreiben sich die Verwandten nun Briefe. Was man nicht von Mund zu Mund sagen kann, Herr Räder, das sollte man auch nicht in Briefe schreiben ...

Er sah die Adresse noch einmal mißbilligend an und legte den Brief gedankenverloren auf das Rädersche Bett.

Ich bitte doch sehr, Herr Elias! sagte Räder streng, nehmen Sie den Brief von meinem Bett!

Der alte Mann griff seufzend nach dem Brief.

Ruhiger sprach Räder: Die Briefe von unserm Schwiegervater haben uns noch nie Gutes gebracht – Sie dürfen ihn ruhig selbst abgeben. Ich melde Sie an, Herr Elias.

Lassen Sie einen alten Mann sich noch verpusten, klagte der Alte. So eilig ist es ja wohl auch nicht, am Sonntagnachmittag.

Natürlich, daß der Herr Rittmeister unterdes spazierengeht, und ich kriege den ersten Zorn ab, grollte Räder.

Wir sind drüben in Sorge um unser Enkelkind, sagte der alte Elias. Wir haben Fräulein Violet seit fünf Tagen nicht im Schloß gesehen.

Schloß! Das ist eine Lehmscheune, Herr Elias!

Ist unser Weiochen krank? schmeichelte der alte Mann.

Den Doktor haben wir nicht hier gehabt, sagte Herr Räder.

Aber was macht sie bloß?! Ein junges Mädchen – und sitzt bei dem schönen Wetter im Haus!

Ihr ›Schloß‹ ist doch auch ein Haus – ob sie da sitzt oder hier, das ist doch einerlei!

Also sie kommt wirklich gar nicht raus – nicht mal hier in den Garten? sagte der alte Mann und stand auf.

Wenn Sie das einen Garten nennen, Herr Elias! – Der Brief betrifft also das gnädige Fräulein?

Das kann ich nicht sagen – aber möglich ist es.

Geben Sie ihn her, Herr Elias, ich werde ihn besorgen.

Sie geben ihn Herrn Rittmeister –?

Ich besorge ihn schon richtig – ich gehe sofort hinauf.

Ich sage also Herrn Geheimrat, daß Sie ihn abgegeben haben.

Jawohl, Herr Elias.

Tapp, Tapp, Tapp – ging das Malakkarohr mit dem alten Elias in die Sonne hinaus, und Tapp, Tapp, Tapp stieg der Diener Räder die Treppe hinauf.

Als er aber an die Zimmertür klopfen wollte, hörte er einen Schritt aus dem ersten Stock die Treppe herabkommen, und als er hoch sah, waren's die Füße der gnädigen Frau, die da über die Stufen gingen. Also nahm es der Diener Räder für einen Wink, klopfte nicht, sondern hielt den Brief etwas auf dem Rücken und sagte: Gnädige Frau –!

Die Frau von Prackwitz hatte zwei rote Flecken auf den Backenknochen unter den Augen, so, als hätte sie eben geweint. Sie sagte aber ganz munter: Nun, Meister Hubert, was gibt es?

Es ist ein Brief gekommen von drüben für den Herrn Rittmeister, antwortete Räder und zeigte eine Ecke von dem Brief.

Ja? fragte die gnädige Frau. Warum gehen Sie nicht hinein und geben den Brief ab, Hubert?

Ich tue es schon, wisperte Hubert, zeigte den Brief aber nicht sehr. Ich bin mutiger als der Herr Elias, der sich nicht getraut hat, ihn abzugeben. Sogar in mein Zimmer ist er darum gekommen, was er noch nie getan hat ...

Frau von Prackwitz bekam vor lauter Nachdenken eine kleine senkrechte Falte zwischen den Brauen auf der Stirn. Der Diener Hubert zeigte den Brief wenig, eben nur eine Ecke – aus dem Zimmer fuhr mit Gepolter der Rittmeister: Was ist das für ein verdammtes Gewisper und Getuschel vor meiner Tür –?! Sie wissen, daß ich das auf den Tod nicht ausstehen kann! – Ach, verzeih, Eva –!

Es ist schon gut, Achim, ich habe hier mit Hubert etwas zu besprechen.

Der Rittmeister zog sich zurück, die gnädige Frau trat mit Hubert an eines der Dielenfenster und sagte: Also geben Sie den Brief einmal her, Hubert.

Die machen sich auf dem Schloß wohl viele Gedanken um unser Fräulein Violet, erzählte Hubert nölig. Der Herr Elias hätte gar zu gerne erfahren, warum das gnädige Fräulein seit fünf Tagen nicht auf dem Schloß gewesen ist.

Und was haben Sie gesagt, Hubert –?

Ich, gnädige Frau? Ich habe gar nichts gesagt!

Ja, das können Sie großartig, Hubert! bestätigte Frau von Prackwitz sehr bitter. Sie sehen, was ich mir für Sorgen und Kummer wegen der Violet mache – wollen Sie mir denn wirklich nicht sagen, wer der unbekannte Herr gewesen ist, Hubert? – Ich bitte Sie sehr herzlich!

Sie bat ihn wirklich, aber einen Stockfisch soll man um nichts bitten.

Ich weiß von keinem unbekannten Herrn, gnädige Frau.

Nein, natürlich nicht, weil er Ihnen bekannt ist! – Oh, was sind Sie für ein Schlaukopf, Hubert! Frau von Prackwitz war sehr zornig. Aber wenn Sie es weiter so treiben, Hubert, mit dieser Heimlichtuerei und Unwahrhaftigkeit – dann sind wir Freunde gewesen!

Ach, gnädige Frau ... sagte Hubert mürrisch.

Was heißt: ›ach, gnädige Frau‹ –?!

Bitte schön, hier ist der Brief!

Nein, ich will wissen, was Sie eben gemeint haben, Hubert!

Es ist gewissermaßen nur eine Redensart ...

Was ist eine Redensart? Hubert, ich bitte –!

Daß wir dann Freunde gewesen sind, gnädige Frau, sagte Hubert ganz fischig. Ich bin doch bloß der Diener, und gnädige Frau sind die Frau von Prackwitz – da kann von Freundschaft doch nicht die Rede sein ...

Die gnädige Frau wurde bei dieser Unverschämtheit brennend rot. In ihrer Verwirrung griff sie nach dem Brief, den der Diener ihr immer noch hinhielt. Sie riß ihn auf und las darin. Mitten über dem Lesen aber hob sie den Kopf und sagte scharf: Herr Räder! Entweder sind Sie zu dumm oder zu klug für eine Dienerstellung – in beiden Fällen, fürchte ich, werden wir uns in Kürze trennen ...

Gnädige Frau! sagte Räder, jetzt auch ein wenig erregt. Ich habe in meinen Zeugnissen Empfehlungen von hohen adligen Herrschaften. Und auf der Dienerschule habe ich das goldene Diplom bekommen ...

Ich weiß, Hubert, ich weiß, Sie sind eine Perle!

Und wenn der Herr Rittmeister sich von mir trennen will, so bitte ich, es mir rechtzeitig zu sagen, damit ich kündigen kann. Denn es ist immer hinderlich für meinen Lebensweg, wenn ich gekündigt worden bin ...

Schön, schön, sagte Frau von Prackwitz, die den kurzen Brief überflog und verständnislos die Bogen mit den Zahlen angesehen hatte. Es soll nach Ihren Wünschen geschehen, Hubert. – Dies, sagte sie erklärend, ist nur ein belangloser Geschäftsbrief, nichts wegen Fräulein Violet. Elias ist wohl für eigene Rechnung ein bißchen neugierig gewesen.

Hubert sah aber, daß die gnädige Frau den Brief nicht in der Hand behielt. Sie knickte ihn viele Male und schob ihn in ein Seitentäschchen an ihrem Kleid.

Wenn Sie Herrn von Studmann sehen, Hubert, so sagen Sie ihm doch, er möchte gegen sieben, nein, sagen wir um dreiviertel sieben hier vorbeikommen ...

Und damit nickte die gnädige Frau Hubert noch einmal kurz zu und ging dann in das Zimmer zum Rittmeister.

Hubert blieb noch einen Augenblick auf der Diele stehen, bis er die beiden drinnen reden hörte. Dann schlich er Stufe um Stufe, immer den ganzen Fuß sachte aufsetzend und abhebend, die Treppe hinauf, so daß keine Diele knackte.

Oben ging er rasch über den Flur, klopfte nur einmal leise gegen die Tür und trat schnell ein.

In dem Zimmer saß Violet an einem Tischchen, ein zerknülltes, feuchtes Taschentuch und rote Flecken auf dem Gesicht bewiesen, daß auch sie geweint hatte.

Na –? sagte sie nichtsdestoweniger gespannt. Hat Mama Sie auch in der Mache gehabt, Hubert?

Gnädiges Fräulein sollten nicht so leichtsinnig sein beim Lauschen, tadelte Hubert. Ich habe die ganze Zeit Ihren Fuß auf dem obersten Treppenabsatz gesehen. Und die gnädige Frau hätte ihn auch sehen können ...

Ach, Hubert, die arme Mama! Eben hat sie hier geweint. Manchmal tut sie mir schrecklich leid, und mir ist, als müßte ich mich schämen ...

Das Schämen hat keinen Zweck, gnädiges Fräulein, sagte Hubert streng. Entweder leben Sie, wie die alten Herrschaften es wollen, dann brauchen Sie sich nicht zu schämen. Oder Sie leben, wie wir Jungen es für richtig halten, und dann haben Sie es erst recht nicht nötig.

Weio sah ihn prüfend an. Manchmal denke ich doch, Sie sind ein sehr schlechter Mensch, Hubert, und Sie haben ganz schlechte Pläne, sagte sie, aber ziemlich vorsichtig, fast ängstlich.

Was ich bin, das muß Sie nichts angehen, gnädiges Fräulein, sagte er so rasch, als hätte er das alles längst überlegt. Und meine Pläne sind eben meine Pläne. Was Sie wollen, darauf muß es Ihnen ankommen!

Und was hat Mama gewollt?

Nur die üblichen Fragen nach dem unbekannten Mann. Die Großeltern machen sich auch Gedanken um Sie, gnädiges Fräulein.

Ach Gott, wenn sie mich doch endlich hier rausholten! Ich halte es nicht mehr aus hier drin! Ich heule mich noch tot! War denn wirklich wieder nichts im Baum, Hubert?

Kein Brief, kein Zettel!

Wann hast du denn nachgesehen, Hubert?

Grade vor dem Kaffeetrinken.

Sieh jetzt noch einmal nach, Hubert. Geh gleich hin und sage mir sofort Bescheid.

Das hat doch keinen Zweck, gnädiges Fräulein. Er kommt doch nicht bei Tag ins Dorf.

Und paßt du bei Nacht auch gut auf, Hubert? Es ist doch unmöglich, daß er gar nicht kommt! Er hatte es mir fest versprochen! Schon die übernächste, nein, die nächste Nacht hat er hier sein wollen ...

Er ist bestimmt nicht hier gewesen. Ich hätte ihn getroffen, und ich hätte es auch gehört, wenn er hier gewesen wäre.

Hubert, ich halte es einfach nicht mehr aus ... Ich seh ihn, bei Tag und bei Nacht, und dann fühle ich ihn, als wäre er wirklich hier, aber wenn ich dann zufasse, dann ist es nichts, und ich falle wie über hundert Stufen ... Mir ist ganz anders, es ist, als wäre ich vergiftet, ich habe keine Ruhe mehr ... Und dann sehe ich seine Hände, Hubert. Er hat so schöne Hände, Hubert, sie fassen so fest zu, und dann rieselt ein Schauer über einen ... Ach, was ist bloß mit mir los –?

Sie starrte den Diener Hubert Räder mit weit aufgerissenen Augen an. Aber es war nicht sicher, daß sie ihn überhaupt sah.

Der Diener Räder stand wie ein Stock unter der Tür. Sein grauer Teint rötete sich nicht, sein Auge blieb grau und ohne Glanz, wenn er auch unverwandt auf das weiche, ganz sich öffnende Mädchen sah.

Dabei müssen Sie sich nichts denken, sagte er in seinem gewöhnlichen, lehrhaften Ton. Das ist so!

Weio sah ihren Vertrauten, ihren einzigen Vertrauten an, als sei er ein heilbringender Prophet.

Räder nickte voller Bedeutung. Das sind körperliche Vorgänge, erklärte er, das ist das körperliche Verlangen. Ich kann Ihnen ein Buch darüber geben, es ist von einem Arzt verfaßt, einem Sanitätsrat. Darin ist das alles genau beschrieben, wieso es kommt, und wo es seinen Sitz hat, und wie man es heilt. Es heißt Ausfallserscheinungen oder Abstinenzerscheinungen.

Ist das wirklich so, Hubert? Steht das in dem Buch? Du mußt mir das Buch bringen, Hubert!

Das ist so! Das hat mit dem – Herrn gar nichts zu tun! Hubert kniff die Augen ein und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Das ist bloß der Körper – der Körper hat Hunger, gnädiges Fräulein!

Weio war fünfzehn Jahre, und sie mochte so leichtsinnig und so genußsüchtig sein, wie nur ein Mädchen dieser Tage, über die Liebe hatte sie noch ihre Illusionen, und mit dem einen zerrissenen Schleier war nicht jeder holde Wahn gewichen. Langsam nur begriff sie die volle Tragweite der Enthüllungen Räders, sie zuckte zusammen wie von einem Stich, sie ächzte.

Dann aber bäumte sie sich auf, sie fuhr auf den Diener los: Pfui! Pfui! schrie sie. Sie sind ein Schwein, Räder, Sie beschmutzen alles! Gehen Sie weg, rühren Sie mich nicht an, fort aus meinem Zimmer, auf der Stelle ...!

Aber bitte sehr! Gnädiges Fräulein! Ich bitte sehr um Ruhe, die gnädige Frau kommt! Lügen Sie etwas, wenn Herr Rittmeister es erfährt, ist der Leutnant verloren ...

Und er glitt aus dem Zimmer, huschte in die nebenan liegende Schlafstube der gnädigen Frau, stand hinter der Tür ... Er hörte den eiligen Schritt, nun klappte die Tür zu Violets Zimmer ...

Weiter lauschte er, die Stimme der gnädigen Frau wurde vernehmbar, Violet schluchzte laut ...

Das ist das Schlauste, was sie tun kann, dachte er zufrieden. Heulen. – Es war wohl ein bißchen zu früh und zu kräftig. Na, wenn sie eine Woche ohne Nachricht vom Leutnant bleibt ...

Er hörte den Schritt des Rittmeisters auf der Treppe, tief drückte er sich zwischen Bademantel und Morgenrock der gnädigen Frau ... So verächtlich der Rittmeister in seiner Dummheit und Hitze war, er blieb fast der einzige, vor dem man Angst haben mußte. Er war imstande, einen Menschen durch die Scheiben aus dem Fenster zu werfen. Er war ein Vulkan, eine Naturkatastrophe. Keine Klugheit half gegen ihn ...

Ich sage dir, du übertreibst es, hörte er den Rittmeister mit zorniger Stimme sagen. Das Kind ist einfach nervös. Es muß an die frische Luft. Komm, Weio, gehen wir ein bißchen spazieren ...

Räder nickte. Durch Badezimmer und Schlafzimmer des Rittmeisters schlüpfte er auf die Treppe und huschte hinab in sein kahles Kellerzimmer. Er schloß den Schrank auf. Mit einem zweiten Schlüssel öffnete er den Handkoffer, aus dem er das zerlesene Buch nahm: Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß.

Er wickelte es in ein Stück Zeitungspapier, er würde es abends unter Violets Kopfkissen legen. Vielleicht nicht grade heute oder morgen. Aber etwa übermorgen. Er war überzeugt, Weio würde es lesen, trotz des Ausbruchs eben.

6

Sophie Kowalewski, die Exzofe der Gräfin Mutzbauer, hatte an diesem Sonntag morgen zu ihren Eltern gesagt: Ich fahre ein bißchen zur Emmi nach Birnbaum. Wartet nicht mit dem Essen auf mich, vielleicht komme ich erst am Abend wieder.

Der alte, weiche Vater hatte mit dem Kopf genickt und nur gebeten: Fahr die Chaussee, Fieken, nicht den Waldweg. Es treiben sich jetzt soviel Kerle in der Gegend herum.

Und die ungeheuerlich fette, nur noch fressende, nur noch verdauende Mutter hatte gesagt: Die Emmi hat 'ne großartige Partie gemacht. Sie haben schon eine Kuh und zwei Zicken. Drei Schweine schlachten sie ein. Die brauchen keinen Kohldampf zu schieben. Da gibt's immer was, wovon man abbeißen kann. Hühner und Gänse haben sie auch. Wenn du mal solch Schwein hättest –

Sophie war längst draußen. Von der Freundin, die ihr das Rad lieh, ließ sie gebührend das blaue Kostüm bewundern, schwang sich auf den Sattel, fuhr klingelnd langsam durchs Dorf, damit auch alle sie sähen, und bog in den moosigen, stillen Waldweg ein, auf dem das Rad lautlos fuhr wie auf Samt. Der Weg, neben den von Holzfuhren zerfahrenen Gleisen, war fest und sehr schmal. Heidekraut und Ginster streiften oft die Pedale und warfen Tropfen Morgentaus auf die Spitzen ihrer Schuhe. Die schönen, säulenförmigen Stämme der alten Kiefern wanderten neben ihr her, rötlich von der Morgensonne angeschienen – und manchmal ging der schmale Pfad so eng zwischen zwei Stämmen durch, daß sie die Lenkstange festhalten mußte, um nicht auf einer Seite anzustoßen. Das Blaubeerkraut stand dicht, und die Beeren wurden schon blau. Das Waldgras war noch grün, die Wacholder standen schweigend und dunkel im helleren Unterholz, und es war ein ewiges Flattern und Zwitschern des kleinen Waldgevögels.

Hier hatte Sophie ihre Kindheit verbracht, jedes Geräusch war ihr vertraut; das ferne, unbestimmte Sausen des Waldes, das näher, doch nie ganz nahe kommen konnte, das hatte sie schon als Kind gehört. Sonne über ihrem Haar wie damals Sonne über dem Haar des Kindes. Der rasche Blick im Vorübergleiten auf eine sich öffnende und schon wieder geschlossene Schneise, die ins Herz der Wälder zu führen schien. –

Kein Mensch ist ganz schlecht, auch Sophie ist es nicht – eine Fröhlichkeit, die nichts mit der lärmenden Lustigkeit einer alkoholisierten Barnacht gemein hat, erfüllt sie. Es ist, als habe der Körper neues Blut empfangen, neue, fröhliche, heitere Gedanken strömen mit jedem frischen Atemzug durch sie; statt eines öden Schlagers summte sie das Lied vom Mai, der gekommen ist ... Die Wolken – sie wandern – am himmlischen Zelt ... Oh, fröhlich –!

Plötzlich muß Sophie lachen. Es ist ihr eingefallen, wie ihre Mutter sie einmal zum Beerensammeln hierher in den Wald mitnahm. Damals war sie acht oder neun Jahre alt. Das mühselige Pflücken wurde ihr bald langweilig. Spielend, vor sich hinsummend verlor sie sich von der Seite der emsigen Mutter, zehnmal ließ sie sich rufen, der elfte Ruf erreichte sie nicht mehr. Leise singend, vor Glück lachend, verlor sie sich tief und tiefer in den Wald, ohne Ziel, nur aus Freude an der Bewegung ging sie weiter und weiter, in die kleinen Täler hinein, in die von flachen Hügeln die Bäume wie stille Pilger hinabstiegen. Lange lauschte sie auf das Gluck-Gluck eines eiligen Baches. Noch länger sah sie einem Schmetterling zu, der auf einer Wärme summenden Waldlichtung von Blüte zu Blüte flog – und sie kam nicht in die Versuchung, nach dem gelben Buttervogel zu greifen.

Schließlich gelangte sie in einen Buchenwald. Silbergrau und hoch ragten die Stämme. Das Grün oben war so fröhlich. Weit voneinander standen die Bäume, überall drangen Sonnenstrahlen hinein in den goldenen, warmen Schatten. Ihre bloßen Füße sanken ganz tief in das weiche, bräunlich-grüne Moos. Leiser singend, fast ohne zu wissen, was sie tat, streifte Sophie ihre Kleider ab. Dort lag das Kleidchen, dort über einem Baumstumpf der helle Fleck des Höschens, nun sank das Hemd in das Moos – und heller jubelnd tanzte das Kind nackt durch Sonne und Schatten. Es lachte –

Es war die Lust, da zu sein, eine Freude zu leben auf dieser Erde, zu wandeln im Licht – es war die Lebensfreude! Das kleine Herz in der mageren Brust zuckte und bebte. Wonne – Sonne – der uralte Reim, das ewige Gefühl war über das Kind gekommen. Tanzend hinein in immer neues Grün, immer andere Welt, immer tieferes Geheimnis. Sonne – Wonne –: Laute, wie die Vögel sie singen, abgebrochen, um einen Käfer in der verlorenen Radspur zu betrachten, wieder aufgenommen, ohne zu denken, wie du atmest ...

Es war die Lebensfreude, das Glück, da zu sein – jenes Gefühl, nach dem die Erwachsenen ewig Heimweh haben, ob sie es nun wissen oder nicht. Glück – das sie später immer wieder suchen, wer weiß wo, keiner mag sagen wie, und das sie nie wieder finden werden, das mit der Kindheit entschwindet – nur in einem schwachen Abglanz später aufzufangen in der beglückenden Umarmung eines Geliebten, in der Freude über ein Werk. Einst besessen, schuldlos-schuldig verloren – vorbei! Vorbei!

Leise singt das Rad über die Wege, die Kette knirscht. Wenn es über eine Wurzel geht, klappert das Schutzblech am Hinterrad, und die Sattelfedern seufzen. Sonne – Wonne – versucht Sophie jetzt zu singen, aber es gelingt ihr nicht. Sie muß daran denken, wie die warme Sonne plötzlich kalt geworden war, und der heimliche Wald unheimlich. Sie hatte weinen müssen. Sie war umhergeirrt. Alles war feindlich: stechendes Geäst, spitze Steine auf dem Wege, ein von einer Viehkoppel herüberwehender Bremsenschwarm. Schließlich hatte sie ein Waldarbeiter, der alte Hofert, gefunden ...

Schämst du dich denn gar nicht, Fieken, so nackig herumzulaufen? hatte er gescholten. Du bist doch ein Mensch, kein Ferkel ...

Er hatte sie zur Mutter zurückgebracht. Ach, das Geschimpfe der Mutter! Das stundenlange Suchen nach den Kleidern, die dann doch nicht gefunden wurden, Schelte und Schläge. Die Heimkehr ins Dorf, mit dem Kopftuch der Mutter um die Hüften. Das Gespött der andern Kinder, die weisen Bemerkungen der Alten: Paß auf, Kowalewski. Das Mädchen macht dir noch einmal Kummer.

Hastiger tritt Sophie die Pedale, sie läßt die Klingel schnarren und schmettern in die Waldstille hinein. Sie schüttelt den Kopf, trotzdem kein Bremsenschwarm von der nächsten Koppel sie umschwirrt. Sie will die Gedanken aus dem Kopf schütteln. Kein Mensch kann sagen, wie er wurde, was er wurde. Aber manchmal bekommen wir einen Zipfel vom Wissen zu erfassen, ein Stück Weg, ach, ein Stücklein nur liegt klar hinter uns ... Dann werden wir böse mit uns, es ist uns nicht recht, wir schütteln die quälenden Gedanken aus dem Kopf. Wir sind recht so, wie wir sind; und daß wir nicht anders geworden sind, daran haben wir keine Schuld. Darüber brauchen wir nicht nachzudenken! –

Schneller und schneller fährt das Rad, Gestell um Gestell, Schneise um Schneise gleiten vorbei. Sophie fährt nicht nach Birnbaum zu Emmi. Sie fährt ins Zuchthaus, den Hans Liebschner, einen rechtskräftig verurteilten, bereits vorbestraften Hochstapler zu besuchen. Das Leben ist kein Sonnentag, es ist eine höchst listenreiche, hinterhältige Angelegenheit, und wer die andern nicht hereinlegt, den legen die herein! Sophie hat keine Zeit, sich Träumereien hinzugeben; sie muß sich überlegen, wie sie als Hansens Schwester Besuchserlaubnis bekommt – ohne Ausweispapiere!

Jetzt hat Sophie die Lippen fest geschlossen, ihre Augen haben einen harten, trockenen Glanz. Sie hat keine Zeit mehr, den Wald zu sehen. Sie überlegt! Wohl hat sie sich auf einem Bogen vom Christlichen Hospiz bescheinigt, daß sie die Köchin Sophie Liebschner in Diensten der Hospiz-Verwaltung ist. Aber sie ist sich klar darüber, daß diese schlecht und vielleicht nicht einmal orthographisch geschriebene ›Urkunde‹ vor keinem Beamtenauge Bestand hat. Nach dem, was Vater erzählt hat, wäre der weggelaufene kleine Inspektor Meier gerade der richtige gewesen, ihr irgendeinen Schein mit dem Gutsvorsteher-Stempel zu geben. Aber darin hatte sie nun einmal Pech, der Kerl war ihr nicht zu Gesicht gekommen. Und die beiden andern, die im Abteil mit ihr hierhergefahren waren, die taten einem Mädchen solchen kleinen Gefallen nicht, das sah man sofort. Die waren viel zu höflich zu ihr gewesen, genau wie die Kavaliere an der Bar, die so höflich-abweisend sind, bloß damit sie einer Dame keinen Whisky zu bezahlen brauchen!

Sophies Gedanken gehen hin und her, aber sie sind darum nicht etwa trübe. Bisher hat sie noch immer Glück gehabt im Leben, und sie weiß sehr genau, welche Wirkung ein richtiger Blick zur rechten Zeit haben kann. Hübsche Mädchen haben eben immer Glück.

Sophie hat es also auch. Es ist großer Besuchstag im Zuchthaus, über hundert Anverwandte stehen vor dem eisernen Tor, Sophie drängt sich dazwischen, mit dem großen Schwung wird sie eingelassen, Wachtmeister laufen hin und her, Papiere werden nachgesehen, Fragen werden gestellt, und sachte, sachte, Schrittchen um Schrittchen mogelt sich Sophie aus der Gruppe der Ungeprüften unter die Geprüften.

Schon ist sie mit im Besuchszimmer, auf der einen Seite des Gitters stehen die Anverwandten, auf der andern die Gefangenen. Das spricht und redet durcheinander, ohrenbetäubend! Die armen beiden Wachtmeister, die dastehen und jedes Wort beaufsichtigen sollen, können nur schlecht ihre Aufgabe erfüllen. Wie herrlich könnte Sophie jetzt mit ihrem Hans schwatzen, alles, was sie auf dem Herzen hat. Aber ein Hans Liebschner ist natürlich nicht im Besuchszimmer, und sie kann ihn auch nicht reklamieren, denn er steht natürlich nicht auf der Liste der besuchten Gefangenen!

Aber hier zeigt es sich wieder einmal, wie gut es ist, daß Liebschner ein Hochstapler ist, also kein gewalttätiger oder rechthaberischer Mensch, sondern ein mit allen Salben gesalbter Schlaukopf, also ein fügsamer, artiger Gefangener, das Muster jeder Hausordnung. Darum ist der Hans ja schon Kalfaktor geworden, und als Kalfaktor hat er auf den Gängen zu tun, und von den Gängen aus kann er die Besucher kommen sehen. Ein Rabenauge ist scharf: Sophie bleibt Sophie. Ja, wenn der Hans keinen Stein im Brett bei seinem Stationswachtmeister hätte! Aber die Stahlsäge ist richtig gefunden worden, und drei Gitterstäbe waren bereits durchgesägt. So etwas rechtzeitig zu entdecken ist ein Ruhmesblatt für jeden Stationswachtmeister. Der ist belobt worden und darum seinem Kalfaktor wohlgesinnt – zumal er das Versprechen mit dem Arbeitskommando noch nicht hat einlösen können, weil noch kein Kommando ausgesandt ist seitdem.

So wird Sophie plötzlich von einem bärtigen, älteren Wachtmeister herangewinkt: Kommen Se man, Frollein! In eine enge Zelle ganz voll schmierigen Tauwerks wird sie hineingeschoben und sogar eingeriegelt, und wie sie sich gerade tausend Gedanken macht, ob denn ihr Einschmuggeln entdeckt ist, und sie ›so‹ gestraft werden soll, und wie sie gerade klopfen will, da klirrt der Riegel wieder, und herein schiebt sich in einer ekelhaften Montur ihr Hans, sehr grau geworden, Schatten unter den Augen, die Nase spitz – aber das spitzbübische Lächeln, das ist ganz der alte Hans!

Der Wachtmeister hebt drohend den Finger: Nun macht aber keine Dummheiten, Kinderchen! Aber er sieht dabei Sophie so wohlwollend schmunzelnd an, als habe er selbst nichts dagegen, mit ihr Dummheiten zu machen.

Dann klirrt wieder der Riegel, und schon ist sie in den Armen von Hans. Es ist wie ein Sturm, ein Orkan. Es vergehen ihr Hören und Sehen, in den Ohren saust es, und vor den Augen verschwimmt es. – Oh, das nahe, gute, liebe Gesicht –! Der vertraute Geruch! Der Geschmack auf den Lippen! Seufzer und leiser Schrei, ein aufflatterndes Lachen, das schon erstickt, ein paar Worte ... ach, nur dies: O du –! Ach, du! Oh, selig –! Kaum haben sie Zeit, ein paar Worte miteinander zu reden: Was ich mich gesehnt habe!

Ich komme raus, auf Erntekommando! Da haue ich ab!

Ach, du – wenn du zu uns kämst!

Wohin?

Nach Neulohe! Ich bin bei den Eltern. Vater sagt, wir brauchen ein Erntekommando.

Mit dem nächsten komme ich bestimmt raus. Kannst du nicht ein bißchen Druck bei euch dahinter machen?

Vielleicht. Will mal sehen. Gott, Hans ...

Das hat gut getan! Ein halbes Jahr ... –

Langsam, zufrieden, glücklich geht Sophie über das bucklige Pflaster des Städtchens Meienburg. Ihr Rad läßt sie ruhig erst mal in der kleinen Kneipe stehen. Sie geht in das beste Hotel von Meienburg, Mittag zu essen, in den Prinzen von Preußen. Dort essen die Herren Großagrarier; als Kind hat sie oft davorgestanden und das schwarze Wappenschild mit den vergoldeten Zieraten bestaunt. Nun geht sie erwachsen durch das Lokal, sie setzt sich draußen auf die Terrasse. Das Hotel ist fast leer, am Sonntag essen die Landwirte zu Haus, am Sonntag gibt ihnen kein landwirtschaftlicher Verein, kein Viehhandel den Vorwand, ihren Familien auszureißen.

Langsam, genußsüchtig ißt Sophie. Sie ißt alles auf, was sie bekommt. Sie trinkt dazu eine halbe Flasche Rheinwein. Jetzt hat es wieder einen Sinn, sich gut zu nähren – vielleicht kommt Hans nach Neulohe. Es muß klappen! Zu dem Kaffee läßt sie sich eine große Schale Cognac bringen, langsam raucht sie Zigarette um Zigarette. Von dem Flüßchen, das unten an der Terrasse vorüberfließt, klingt das trocken hölzerne Geräusch der Ruder in ihren Dollen herüber. Man sieht die Rudernden nicht, aber in der Mittagshitze hört man deutlich ihre Stimmen.

Mach ein bißchen rascher, Erna! Wir wollen doch noch baden ... klingt es jetzt herüber.

Plötzlich weiß Sophie, daß auch sie baden möchte, baden und in der Sonne liegen, sich braten lassen. Sie möchte heute ihrem Körper nur Gutes tun. Aber nicht hier, hier wimmelt es sicher von Kerlen, das ist kein Baden! Der Affe vom Nachbartisch glotzt sich schon seit einer halben Stunde die Augen aus dem Kopf: daß so ein Mann nie kapiert, daß man nicht gerade auf ihn gewartet hat.

Sophie denkt daran, daß sie keinen Badeanzug mit hat. Nicht einmal daheim einen im Koffer besitzt – aber in Meienburg kann ein Badeanzug auch am Sonntag kein Problem sein. Sie zahlt, steht auf und stößt im Hinausgehen dem glotzenden Herrn versehentlich die Kreissäge vom Kopf, in die Käseschüssel hinein. Entschuldigen Sie tausendmal! flötet sie hold den langsam rot anlaufenden Herrn an und enteilt.

Natürlich liegt das kleine Handarbeitsgeschäft noch da, wo es vor fünf Jahren lag, wo es vor zehn Jahren lag, wo es vermutlich seit der Erbauung von Meienburg liegt, wo das Handarbeitsgeschäft von Fräulein Otti Kujahn ewig liegen wird: in der kleinen Bergstraße, schräg gegenüber der Konditorei Köller (Kaffee Knutsch). Die Ladentür probiert Sophie gar nicht erst: in so etwas sind die Kleinstädter korrekt, an einem Sonntag nachmittag ist die Ladentür verschlossen.

Aber hinten herum macht es dann auch nicht die geringsten Schwierigkeiten. Das kleine, bucklige Fräulein Kujahn mit demselben eisgrauen Haar, demselben schmachtenden Taubenblick wie vor zehn Jahren, ist sehr erfreut, sie führt Badeanzüge, sie ist auch bereit, sie an einem Sonntag nachmittag zu verkaufen.

Es sind keine modernen Badeanzüge, es sind nicht diese Wassergewänder, die bei jeder Bewegung eine andere Hautpartie aufleuchten lassen, die nur aus Ausschnitten zu bestehen scheinen, Sophie stellt es mit leisem Bedauern fest. Es sind Anzüge, die den Körper anziehen, bekleiden, nicht entkleiden. Aber vielleicht ist es gerade recht so, Sophie hat nicht die Absicht, den herwachsenden Lümmeln Neulohes ein Schauspiel zu bieten. Sie kennt die Gewohnheiten dieser Herrchen, an freien Nachmittagen alle Bademöglichkeiten zu belauern, um einen Blick auf die Mädchen des Dorfes zu gewinnen. Sophie wählt also einen vollkommen dezenten schwarzen Anzug mit weißen Biesen und einem Minimum an Ausschnitt. Eine Badekappe kauft sie auch. Der Preis, den Otti Kujahn für diese beiden Dinge fordert, nach langem Zögern fordert (Ja, was soll ich nun für die Sachen nehmen? Mich haben sie noch nicht drei Mark gekostet), entspricht etwa dem Porto für einen Stadtbrief. Sophie ist nun doch der Ansicht, daß das Handarbeitsgeschäft Kujahn nicht ewig bestehen wird. Bei diesen Preisen wird Fräulein Kujahn die Inflation nicht aushalten, sondern bald ausverkauft und verhungert sein.

Das Rad singt leise, sachte knirscht die Kette, in der Nachmittagsstille stehen die Wälder wie schlafend, die Vögel sind stille, von den Schuhspitzen fegt das streifende Heidekraut den Staub. In Sophie ist es still, wie es im Wald still ist, etwas wie Glück erfüllt sie, eine lange nicht mehr gefühlte Ruhe. Die Sonne rückt nicht, der Tag schreitet nicht weiter – das Glück bleibt.

Tief drinnen im Wald liegen die Krebsteiche, eine Kette von kleinen Tümpeln, verschilft, morastig, nur in einem größeren, seeartigen ist zu baden. Einen Augenblick liegt Sophie still in der Sonne. Aber es leidet sie dann nicht, sie muß hinein ins Wasser, seine Kühle fühlen, seine Frische erfahren.

Langsam steigt sie hinein. Sachte fällt der feinsandige Grund ab, kühl und frisch, wie nichts auf dieser Erde kühl und frisch ist, steigt das Wasser an ihren Gliedern hoch. Einmal schaudert sie, als die Kühle ihren Bauch erreicht, aber auch dieser Schauder ist schön. Und er ist gleich vorbei, sie kommt, tiefer, sie legt sich vornüber, sie kriecht in sich zusammen, und in einem langen Schwimmstoß sich streckend, gleitet sie ganz hinein in die Kühle, wird eins mit ihr, kühl wie sie!

Nun treibt sie, still auf dem Rücken liegend, leise nur fächeln die Hände, das Gleichgewicht zu erhalten. Eingebettet in das eine Element, Teil von ihm geworden, fühlt sie bei geschlossenen Augen auf der kleinen Fläche Gesicht das andere Element, das Feuer, einen himmlischen Gruß. Die sanfte Wärme der Sonne durchdringt sie, diese Wärme, die nichts Ausdörrendes hat wie die künstlichen Feuer der Menschen, liegt auf ihrem Gesicht. Ein Windstoß scheint sie abzuheben, fortzuwehen. Aber schon ist sie wieder da, dringt in sie ein, wie etwas Nahrhaftes, ein göttlicher Trank. Ja, diese sanfte Wärme hat etwas vom Leben, vom wachsenden Leben, vom ewigen Leben – sie spendet Glück!

Aber das Glück, das Sophie Kowalewski jetzt empfindet, hat nichts gemein mit der Kinderfreude, mit dem Lebensglück, an das sie sich heute früh erinnert hatte. Selig lachend, unwissend singend war das Kind durch die Wälder getanzt, die Wonne des Daseins, des Geborenseins hatte es erfaßt, wie sie einen Vogel erfaßt oder ein Kalb auf der Weide, das immer höher springen möchte. Das Glück, das Sophie jetzt empfand, hatte viel Erfahrungen zur Voraussetzung, es war ganz und gar kein Kinderglück. Nach Monaten des Sehnens, des Quälens, des Vergiftens war ihr Leib zum erstenmal wieder in Einklang mit sich selbst. Sie spürte ihn nicht mehr, er hatte keine Forderung an sie, er quälte die Seele nicht mehr. Wie er still treibend im Wasser ruhte, so ruhte er auch still in dem ewigen See der Wünsche, des Sehnens, des Begehrens.

Das selige, unbewußte Kinderglück ist nie wieder zu erreichen. Die Pforte fiel zu, mit der Unschuld ist es vorbei – aber viele Glücksmöglichkeiten hat das Leben! Sie hatte gemeint, es sei in der Zelle gewesen, bei ihm, in seinem Arm, sein Gesicht ferne und doch nah über ihr ... Aber nun war es hier im Wasser, Welle auf Welle von Wärme, Welle auf Welle von Glück ...

Träumend steigt sie aus dem Wasser, träumend legt sie sich auf den Sand, einen Arm aufgestützt, das Kinn in der Hand, sieht sie nahe in das Gewirr der Gräser. Sie legen sich ineinander, kleine Höhlen gehen hinein – aber sie sieht nichts. Das wirkliche Glück hat keinen Namen, kein Wort, kein Bild. Es ist ein sanftes Schweben im Irgendwo, keine Melodie auf das Lied: Ich bin da! – sondern etwas wie eine halb schwermütige Klage zu den Worten: Ich bin ich. Denn wir wissen dunkel, daß wir alt werden müssen und häßlich und zu sterben haben.

Als sie Schritte hört, sieht Sophie kaum auf. Sie zieht nur träge den Badeanzug hoch über die nackte Brust, sie sagt halblaut, ganz abwesend Guten Tag. Zu einer andern Stunde hätte sie den Zufall begrüßt, der sie hier mit den beiden neuen Herren vom Gut zusammenführte. Aber jetzt sind sie ihr gleichgültig. Mit ein paar halben Worten gibt sie Auskunft: ja, dies ist die einzige Badestelle, sonst ist alles verschilft. Nein, die Herren stören sie nicht. Nein, das Wasser ist ungefährlich, keine Wasserpflanzen ... Schon versinkt sie wieder in ihr Schweigen, weiß kaum noch, daß die beiden da sind. Sie sieht wieder in die Grashöhle hinein, die doch gleich magisch zergeht, so daß sie nichts mehr sieht. Die Sonne wärmt herrlich. Sie schiebt den Badeanzug wieder von der Brust fort, die Stimmen der beiden klingen verloren her aus dem Wasser – oh, selig!

Sophie Kowalewski hätte mit aller List nicht klüger handeln können als jetzt, da sie ganz gedankenlos die beiden Herren Studmann und Pagel links liegenließ. Es ist nicht zu leugnen, diese beiden Herren hatten während der Bahnfahrt keinen allzu günstigen Eindruck von der Sophie bekommen, der leicht zu begeisternde Rittmeister mochte dies hilfreiche Prachtmädel über den grünen Klee loben. Pagel wie Studmann kannten bis zum Überdruß diese gezierte Sprechweise der kleineren Lebemädchen, die die große Dame spielen wollen. Sie ekelten sich vor dieser zugleich eingetrockneten und aufgedunsenen Gesichtshaut, die immer nach Puder roch; sie fuhren nicht aus dem mondänen Berlin in den Frieden Neulohescher Felder, um sich ein solches Mitbringsel aufzuladen. Sie waren sehr höflich gewesen und sehr reserviert. Sie dachten etwas anders als der Rittmeister über den Abstand, den man von seinen Leuten wahren muß. Wenn sie Sophie ansahen, schoß ihnen nicht der Gedanke durch den Kopf: Schließlich ist sie bloß die Tochter vom Leutevogt – aber sie wollten nicht. Sie hatten nichts gegen das Mädchen, aber sie hatten sehr viel gegen einen nach Neulohe verpflanzten Berliner Nuttenbetrieb!

Als darum Sophie diese Badegelegenheit so gar nicht ausnützte, die doch jeder Erfahrenen soviel Anreiz und Möglichkeiten geboten hätte, als sie so gar nicht auf die doch unter besonderen Umständen geschlossene Bekanntschaft pochte und nicht gesonnen schien, irgendwelche Folgerungen daraus zu ziehen, da sagte Studmann ganz vergnügt zu Pagel, als sie in das Wasser gingen:

Eigentlich sieht das Mädel ganz nett aus.

Ja, komisch, antwortete Pagel nachdenklich. Mir ist sie neulich auch ganz anders vorgekommen: mehr á la Tauentzien.

Haben Sie gesehen, Pagel? fragte Studmann dann nach einer Weile. Vollkommen dezenter Badeanzug.

Ja, stimmte Pagel zu. Und nicht ein süßer Blick. Ich glaube, ich werde Frauen nie verstehen.

Mit dieser leichten Anspielung auf seinen jüngst erlittenen Schiffbruch hatte Pagel sich in die Fluten gestürzt, und nun waren ihnen fünf oder zehn Minuten oder gar eine Viertelstunde mit Schwimmen und Tauchen, mit stillem Treibenlassen und gesprächigem Seite-an-Seite-Stehen vergangen, Minuten, in denen sie sich beide stärker, frischer, bewußter fühlten als in den vergangenen Monaten und Jahren.

Bis sie ein Lärm vom Ufer her aufhorchen ließ: die hell scheltende Stimme einer Frau, das unterdrückte Murmeln eines Mannes.

Das ist doch die Sophie! meinte Studmann aufhorchend.

Ach, lassen Sie sie! rief Pagel ärgerlich. Hier im Wasser ist es so schön. Irgendeine Auseinandersetzung mit einem ländlichen Liebhaber vermutlich. Muß Liebe schön sein ...!

Und er grinste verächtlich.

Nein, nein! sagte das Kindermädchen Studmann, das immer hilfreich eingreifen mußte, wo etwas schiefzugehen drohte. Sie hat mir doch eben einen sehr netten Eindruck gemacht ...

Und er schwamm rasch auf das Ufer zu. Widerwillig folgte Pagel.

Doch da rief Sophie schon: Meine Herren! Hierher – er will Ihre Kleider wegnehmen!

Sei bloß still, Fieken! flüsterte der Förster und versuchte, mit seiner Beute zu entkommen. Dir passiert doch gar nichts. Ich will doch nur die Kleider von den Herren –

Herr von Studmann! Herr Pagel! Machen Sie rasch –! rief Sophie um so lauter.

Was ist denn hier los?! fragte von Studmann höchst erstaunt, und auch Pagel sah verblüffter aus, als einem intelligenten Gesichtsausdruck bekömmlich ist.

In schilfleinener grüner Montur stand der ihnen flüchtig bekannte Förster Kniebusch auf der Wiese, ein ehrwürdiger Tapergreis, die Flinte über der Schulter, unter dem Arm aber ein Bündel aus den Sachen der beiden Herren. Ihm gegenüber Sophie Kowalewski, reizend anzusehen in ihrem streitbaren Zorn, einer Artemis vergleichbar. Mit der einen Hand hielt sie den Badeanzug vor die Brust, mit der andern ein Hosenbein aus des Försters Sachenpaket – und von Studmann erkannte, daß es seine Hose war.

Was soll denn das vorstellen? fragte er nochmals, höchst erstaunt.

Der Förster war rot wie eine Tomate, und er wurde immer noch röter. Vielleicht wollte er wirklich etwas sagen, es blubberte aber bloß in den Tiefen seines Bartes. Doch die Kleider hielt er weiter fest, und weiter zerrte Sophie Kowalewski an den Hosenbeinen.

Und sie redete, und was sie redete, hatte jetzt bestimmt nichts geziert Damenhaftes.

Ich lieg doch da und denke an gar nichts, und ich hör was rascheln, und ich denk, es ist ein Igel oder ein Fuchs, und denk mir nichts, und dann sehe ich hin, und ich denk doch, mich laust der Affe –! Da kriecht doch der Kniebusch hinterm Schilf nach den Kleidern von den Herren, und steckt sie sich unter den Arm. Na, ich hoch und sag: Kniebusch, was machen Sie, das sind doch die Kleider von den Herren! Aber er kein Wort, Finger auf den Mund und will sachte unter die Bäume ... Na, und ich fasse zu, kriege gerade noch das Hosenbein zu fassen. – Wollen Sie jetzt endlich die Hosen loslassen! Das sind nicht Ihre Hosen! schreit sie zornig den Förster an.

Sie scheinen zu unserer Retterin bestimmt, Fräulein Sophie, sagt Studmann lächelnd. Schon wieder helfen Sie uns aus einer Verlegenheit. Wir danken auch schön. – Aber ich glaube, jetzt können Sie die Hosen loslassen. Herr Kniebusch wird doch nicht vor unsern Augen damit fortlaufen. Schärfer: Darf ich Sie fragen, Herr Kniebusch, was dies zu bedeuten hat –? Falls Sie es vergessen haben sollten, mein Name ist Studmann, von Studmann, und dieser Herr heißt Pagel – wir sind bei Herrn Rittmeister von Prackwitz tätig.

Das geht mich alles nichts an, murrt Kniebusch und sieht auf die Kleider, die Pagel ihm ohne weiteres unter dem Arm vorgezogen hat. Hier ist das Baden verboten, und wenn hier jemand badet, so werden ihm die Kleider fortgenommen!

Seit wann denn?! ruft Sophie Kowalewski zornig. Das ist ja das Neueste!

Halt den Mund, Fieken! sagt der Förster grob. Das ist eine Anordnung von Herrn Geheimrat, die besteht schon lange.

Wenn ich den Mund halten soll, rede ich grade! ruft die kampflustige Sophie. Und außerdem lügen Sie. Sie haben mir extra gesagt, mir passiert nichts, Sie wollten nur die Kleider von den Herren!

Das ist nicht wahr! widerspricht der Förster hastig. So hatte ich es nicht gemeint.

Doch haben Sie es so gemeint! Ich will bloß die Kleider von den Herren, haben Sie gesagt!

Nein!

Doch!

Nein!

Doch!

Nehmen wir Platz! schlägt von Studmann vor. Ja, bitte auch Sie, Herr Kniebusch. Pagel, reichen Sie mir mal die Zigaretten aus meinem Jackett. – Sie sollen sich setzen, Herr Kniebusch! – So. – Zigarette gefällig, Fräulein Sophie? Na, natürlich, weiß ich doch, daß Sie rauchen. So streng wie der Herr Rittmeister im Abteil sind wir nicht, wir sind die junge Generation. – Also, Sie hatten den Auftrag, speziell unsere Sachen zu beschlagnahmen, Herr Kniebusch?

Hatte ich nicht! Ich beschlagnahme immer die Sachen von denen, die hier baden! sagte der Förster trotzig.

Nicht zum Beispiel die von Fräulein Sophie. – Nun, lassen wir das. Wie oft haben Sie denn hier schon Kleider beschlagnahmt, Herr Förster Kniebusch?

Das brauche ich Ihnen gar nicht zu sagen. Ich bin bei Herrn Geheimrat angestellt, nicht beim Rittmeister, sagte der Förster trotzig. Er schielte nach den Sachen, nach dem Waldrand – und fühlte sich überhaupt so, als säße er leise bratend in der Hölle. Die Unterhitze gab der Herr von Studmann, die Oberhitze schlug vom Geheimrat herüber.

Ich frage nur darum, sagte Herr von Studmann, weil Sie doch schon viel Unannehmlichkeiten mit diesen Beschlagnahmen gehabt haben müssen?

Trotzig schwieg der Förster.

Oder sind Sie Hilfspolizeibeamter?

Der Förster schwieg.

Aber vielleicht sind Sie vorbestraft? Dann würde es Ihnen nicht so viel ausmachen, ohne jeden Rechtsgrund Kleider zu beschlagnahmen.

Sophie lachte hell, Pagel räusperte sich dröhnend, dem Förster aber stieg die Röte bis in die Augen, die klein und trübe wurden. Doch er schwieg.

Wir sind Ihnen namentlich bekannt, Sie konnten uns wegen verbotenen Badens anzeigen. Zweifel, daß wir eine etwa verhängte Strafe bezahlt hätten, bestanden nicht – warum also Beschlagnahme?

Die drei sahen stumm auf den einen. Der Förster rutschte hin und her, er wollte etwas sagen. Dann sah er wieder nach dem nahen Waldrand. Er stand halb auf, aber zwischen ihm und der rettenden Deckung war das Bein des jungen Pagel – der Förster setzte sich wieder.

Herr Förster Kniebusch, sagte Herr von Studmann, immer in dem gleichen freundlichen, geduldigen Ton, als erkläre er einem trotzigen Kind etwas, wollen Sie nicht offen mit uns reden? Sehen Sie, wenn Sie uns hier nicht Bescheid sagen, werden wir alle zu Herrn Geheimrat von Teschow gehen. Ich werde ihm die Situation auseinandersetzen, in der wir Sie hier abgefaßt haben, und wir werden dann ja doch hören, um was es hier ging.

Von Studmann schwieg, der Förster hatte den Kopf gesenkt, man sah sein Gesicht nicht.

Wenn Sie uns hier aber die Wahrheit sagen, so verspreche ich Ihnen ehrenwörtlich, daß die Sache ganz unter uns bleibt. Ich glaube, ich kann auch für das Schweigen von Fräulein Sophie einstehen, nicht wahr –?

Sophie nickte.

Ja, wir wollen Ihnen gerne helfen, irgendwie mit Anstand aus dieser Situation herauszukommen.

Der Förster hob den Kopf, er stand auf. In seinen Augen waren Tränen, und während er nun sprach, lösten sich diese Tränen und rannen in den Bart hinunter. Andere folgten, und sie liefen klar und blank aus den Augen des alten Mannes, der dabei immer weitersprach, ohne Schluchzen: Alterstränen, Greisentränen, die von selbst liefen.

Ja, meine Herren, sagte der Förster Kniebusch, aber mir kann keiner helfen. Ich verstehe ja, Sie sind ganz freundlich zu mir, und ich nehme es auch mit Dank an, das mit dem Ehrenwort und dem Schweigen. Aber ich bin doch ein verlorener Mann. Ich bin eben zu alt – und wenn man zu alt ist, glückt einem nichts mehr. Nichts hat man mehr – alles, was einen mal gefreut hat, ist weg ... Ich hab da nun den schlimmsten Wilddieb, den Bäumer, gefangen, und ich will jetzt die Wahrheit sagen: ich habe nichts dazu getan, er ist einfach vom Rad auf einen Stein geflogen und gleich bewußtlos gewesen. Alles, was ich vom Kampf erzählt habe, ist nur gewesen, um mich rauszustreichen ... Ich wollte recht schlau sein, aber ein alter Mann soll nicht schlau sein wollen, er ist nur noch alt ...

Sie saßen ganz still, und was die jungen Leute, die Sophie und den Wolfgang, anging, so sahen sie vor sich hin. Denn sie schämten sich vor dem weinenden alten Mann, der so schamlos sein Inneres nach außen kehrte. Herr von Studmann aber hatte seine braunen Augen aufmerksam auf den Förster Kniebusch gerichtet, und ab und zu nickte er mit dem Kopf.

Ja, meine Herren, fuhr der Förster Kniebusch fort, und nun wollen sie mir ja auf dem Gericht einen Strick daraus drehen, weil der Bäumer hohes Fieber hat, und der einzige, der mich verteidigen kann, ist der Geheimrat. Und wenn ich nicht tu, was er will, so verteidigt er mich nicht, sondern nimmt mir noch mein Brot, und was soll dann aus mir und meiner kranken Frau werden?

Der Förster stand, als habe er seine Rede ganz vergessen, aber unter dem Blick von Herrn von Studmann besann er sich und fuhr fort: Ja, und heute nach dem Essen ruft er mich an und sagt mir, daß die Herren zum Baden gegangen sind, und ich soll ihnen unter allen Umständen die Kleider fortnehmen, sonst hilft er mir nicht. Aber nun hat das Fieken dagesessen, und es ist nichts daraus geworden. – Warum er aber solchen Zorn auf die Herren hat, das weiß ich nicht, davon hat er keinen Ton gesagt.

Er schwieg wieder und sah trostlos vor sich hin.

Herr von Studmann aber fragte: Nun, Herr Kniebusch, gibt es denn hier nicht noch andere Teiche? Wir müssen ja nicht hierher gegangen sein.

Der Förster dachte nach. Er belebte sich, ein Hoffnungsschimmer glimmte auf. Nach dieser Seite ist es schwer, sagte er nachdenkend. Hier ist sonst alles Wald und Sand.

Birnbaum, sagte Sophie.

Ja, nach den Birnbaumschen Teichen könnten die Herren gegangen sein. Aber dann dürften die Herren nicht vor sieben nach Haus kommen, weil es doch so weit ist. Ob Sie so lange im Wald sitzen mögen –?

Oh, doch, das tun wir schon einmal, sagte Studmann freundlich. Die Knechte werden ja auch einmal ohne uns füttern.

Dann danke ich den Herren auch schön, sagte der Förster, und seine Tränen waren versiegt. Es ist sehr freundlich von Ihnen zu einem alten Mann. Viel wird es aber doch nicht helfen. Ich müßte einmal einen rechten Erfolg nach Haus bringen, aber für einen alten Mann ist das wohl zu viel verlangt. Kein junger Mensch kann wissen, wie einem alten zumute ist.

Er stand noch einen Augenblick in Gedanken, besann sich und sagte noch einmal: Aber so ist es durch die Güte der Herren doch kein Mißerfolg geworden.

Er lüftete den Hut und ging.

Studmann sah ihm einen Augenblick nach, dann rief er: Warten Sie, Herr Kniebusch, ich begleite Sie noch ein Stückchen!

Und er lief ihm nach, barfuß, im Badeanzug, ohne jede Schonung für seine recht weichen Füße. Aber was ein rechtes Kindermädchen ist, das denkt nicht an die Schmerzen in den eigenen Füßen, wenn es den Schmerz in anderer Leute Herz sieht, der des Trostes bedarf.

So blieben Sophie und der junge Pagel allein zurück, und sie unterhielten sich recht angenehm miteinander, zuerst über den Förster Kniebusch und dann von der Ernte. Und weil die Sophie an diesem Nachmittag ausgeruht und zufrieden und glücklich war, so kam sie gar nicht auf den Gedanken, dem jungen Pagel damenhaft zu imponieren oder ihm gar süße Augen zu machen. Wolfgang aber mußte sich immer wieder wundern, wie falsch er dieses nette, vernünftige Mädel in der Bahn beurteilt hatte, und er war jetzt geneigt, seinen Berliner Augen an dieser falschen Einschätzung schuld zu geben.

Was aber die Ernte anging, so hatte der Vater Kowalewski gesagt, sie seien in Neulohe mindestens drei Wochen zurück, und sie würden es nie schaffen, wenn nicht ein ordentlicher Schwung kräftiger Leute käme. Und kein Mensch im Dorf verstünde, warum sich der Rittmeister nicht ein Kommando aus Meienburg kommen ließe. Das seien die fleißigsten und die fügsamsten Leute, wenn sie nur ordentlich zu essen und zu rauchen bekämen. Aber der Rittmeister müsse sich daran halten, alle Güter hier in der Gegend hätten schon ihre Kommandos, und das Zuchthaus sei halb leer. Sagte der Vater, denn sie wisse ja nichts davon, sie sei ja auch grade erst hier in die Gegend gekommen. Aber es tue ihr leid um die Ernte ...

Pagel fand das alles vernünftig gesprochen und fand es tüchtig von dem Mädchen, daß es sich Gedanken um die Neuloher Ernte machte, die eine Berliner Zofe eigentlich doch gar nichts anging. Er nahm sich vor, heute abend mit Studmann die Sache zu bereden. Weil aber Studmann noch immer nicht zurückkam, beschlossen sie, erst einmal wieder ins Wasser zu gehen.

Da sah Pagel, daß die Sophie ausgezeichnet schwamm und daß er sich Mühe geben mußte, es ihr gleich zu tun. Er aber konnte ihr etwas Neues zeigen, einen neuen Schwimmstil, der damals grade in Berlin sich auszubreiten anfing und den man ›Crawl‹ nannte. Einem jungen Mann tut es immer gut, wenn er etwas ein bißchen besser kann als ein junges Mädchen; und wenn er diesem jungen Mädchen etwas beibringen kann, so findet er, daß dieses Mädchen ein nettes, äußerst sympathisches Mädchen ist.

Und Sophie war mit ihrem uninteressierten Sportlehrer, den sie sonst einfach beleidigend gefunden hätte, auch sehr zufrieden, und so waren sie beide bereits die allerbesten Freunde, als endlich ein hinkender, nachdenklicher Studmann aus dem Wald auftauchte.

Nun, sagte er mit einem Blick auf die beiden, setzte sich ins Gras und brannte sich eine Zigarette an, nun, es ist eine seltsame Welt, Pagel. Die Erde schwitzt statt Korn Angst, und ihre Angst steckt alles an. Ein Geschlecht voller Angst, Pagel. Wie ich schon heute nachmittag annahm, Pagel, der Friede der Felder ist eine Illusion, und irgend jemand ruht nicht, uns das möglichst schnell begreiflich zu machen ...

Der alte Knacker, sagte Sophie sehr verächtlich, hat wohl wieder geschwatzt und geklatscht -? Bei Ihnen wirkt es vielleicht noch – wir hören schon lange nicht mehr nach seinem Gebarme hin.

Nein, Fräulein Sophie, entgegnete von Studmann. Der alte Herr hat leider nicht geschwatzt. Ich wollte, er wäre beredter gewesen, denn es scheinen hier seltsame Dinge zu geschehen. Nun, ich denke, ich werde mit der Zeit schon dahinterkommen. Aber, Pagel, um eins bitte ich Sie: wenn Sie den Alten sehen, seien Sie immer ein bißchen freundlich zu ihm. Und wenn Sie ihm in was helfen können, dann tun Sie es. Er ist ja nur eine alte, weichliche Bangbüx, darin hat Fräulein Sophie recht, aber wenn ein Schiff SOS funkt, dann hilft man eben und fragt nicht erst lange nach der Ladung.

Gotte doch! spottete Sophie. Das hätte ich nie geglaubt, daß der Herr Förster Kniebusch noch einmal zwei solche Helfer kriegen würde. – Denn Pagel hatte ganz einverstanden zu Studmanns Worten genickt. – Verdient hat er es bestimmt nicht, solch heimlicher Zwischenträger und Ohrenbläser, wie er ist.

Ja, sagte Studmann, wer hat denn eigentlich was verdient hier –? Ich sicher nicht, und Pagel wahrscheinlich auch nicht, und Sie, Fräulein Sophie, ein so tüchtiges und anständiges Mädchen wie Sie sind, eine Extrabelohnung haben Sie doch wahrscheinlich auch nicht verdient.

Hier wurde Sophie rot und fühlte eine Spitze an der Angel, wo keine war.

Nun, lassen wir das. Ich hab Sie eigentlich bitten wollen, Fräulein Sophie, ob Sie uns nicht einmal einen Wink geben möchten wegen der Holzdiebe. – Er macht sich nämlich soviel Sorgen wegen der Holzdiebe, er sagt, sie gehen kolonnenweise, und er als einzelner ist machtlos gegen sie.

Was gehen denn mich die Holzdiebe an?! rief Sophie empört. Ich bin doch kein Spion!

Ich hab gedacht, Fräulein Sophie, sagte Studmann, als hätte er nichts gehört. Sie merken im Dorf eher einmal, wenn so eine Kolonne los geht, als wir, die wir auf dem Hof wohnen.

Ich bin kein Spion, rief Sophie noch einmal hitzig. Ich schnüffle die armen Leute nicht aus.

Ein Diebstahl ist ein Diebstahl, sagte Studmann hartnäckig. Spion klingt häßlich, aber wer einen Diebstahl anzeigt, ist kein Verräter und kein Spion. Ich denke, fuhr er überredend fort, Sie interessieren sich für den Hof und sein Gedeihen, Sie nehmen Anteil daran. Ihr Vater ist doch auch in solcher Zwischenstellung zwischen den Leuten. Er muß auch manchmal melden, wer schlecht gearbeitet hat, ohne darum Angeber zu heißen. Schließlich haben Sie ganz bequem neben dem Rittmeister im Zug gesessen und sitzen jetzt hier gut neben uns – man muß doch wissen, zu wem man gehört ...

Sophie hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah einmal den Herrn von Studmann und einmal den Herrn Pagel nachdenklich an. Aber es war dabei gar nicht sicher, daß sie auf die listig von Studmann gesprochenen Worte gehört hatte, sie schien über etwas nachzusinnen. Schließlich sagte sie: Nun gut, ich will mal sehen. Aber es ist nicht sicher, daß ich auch wirklich etwas erfahre, ich rechne für die Leute auch nicht mehr mit.

Schön, schön, sagte Studmann und stand auf, wenn Sie nur an uns denken wollen, das ist schon was. Das andere findet sich dann schon. – Und wenn Sie nun nichts dagegen haben, gehen wir alle drei noch einmal ins Wasser. Meine Füße sind ziemlich kaputt, ich möchte sie vor dem Heimweg noch ein bißchen kühlen. – Dann dürfte unsere Zeit herum sein, und wir können ohne Tadel nach Hause gehen. Dabei müssen Sie uns noch von den Birnbaumer Teichen erzählen, Fräulein Sophie. Ich trau dem alten Herrn zu, daß er seinem Förster nicht so ohne weiteres glaubt, sondern uns ein bißchen auf den Zahn fühlt. – Wenn er nicht gar hier noch auftaucht ...

Und Studmann warf einen argwöhnischen Blick auf den Waldrand.

7

Mit seiner Befürchtung, der alte Herr Geheimrat könne noch in Person an den Krebsteichen auftauchen, hatte Herr von Studmann nicht recht. Er schätzte den Herrn von Teschow noch falsch ein. Leise stänkern, das tat er gerne, das laute Stunkmachen übertrug er lieber seinen Leuten. Zu den Krebsteichen, an denen diesen Nachmittag Krach zu erwarten war, hätten ihn keine zehn Pferde gebracht. Dafür wanderte er geruhig und leutselig durch das Dorf Neulohe, blieb stehen, wo jemand stand, wechselte Rede und Gegenrede und war überhaupt ganz wie ein Fürst, der sich zwischen seine Untertanen mischt. Sein alter Elias hatte es drei Stunden früher auf dem Gutshof nicht besser gemacht.

Während sich der Geheimrat so recht sonntäglich vergnügt durch das Dorf schwatzte, dachte er immer daran, was er sich wohl für ein Gewerbe beim Schulzen Haase machen könnte, denn er liebte es gar nicht, mit der Tür ins Haus zu fallen. Und rausbekommen mußte er, was der Schulze gegen den Förster Kniebusch hatte, warum er einen so ungünstigen Bericht über ihn erstattet hatte. Wenn man nicht alles weiß, dann weiß man nichts, hatte er sein Lebtage gesagt, und von der Kuckhoff hatte er oft gehört, daß kein Dreck so dreckig ist, daß nicht einer herkommt und zieht die schönsten Gurken darauf.

Es wollte sich aber nicht der geringste Vorwand finden lassen, und der Geheimrat wurde schon ganz mißmutig, als er kurz vor dem Dorfplatz, grade dort, wo der Weg zum Friedhof abgeht, die alte Leege sah. Die alte Leege war ein uraltes Weib; früher, als sie noch arbeiten konnte, hatte sie auf dem Hof gearbeitet, während ihr jetzt schon lange toter Mann mal in der Gemeinde als Totengräber, mal in dem Forst als Holzarbeiter sich sein Brot verdient hatte. Das war nun alles schon lange her, und die alte Leege hauste bereits an die zehn Jahre, seit ihr letzter Enkel nach Amerika gegangen war, in einem alten Katen unter der Friedhofsmauer. Ein bißchen wunderlich war sie, aber von allen gefürchtet, denn sie stand in dem Ruf, das Vieh verhexen zu können. Soviel war sicher, Warzen und Rose gingen von ihren Besprechungen weg.

Der alte Geheimrat hatte mit alten Weibern nicht viel im Sinn. Das war schon ein Jägeraberglaube; und so machte er, daß er weiterkam, als er die alte Leege sah. Aber die hatte ihn schon mit ihren mäuseschwarzen und mäuseflinken Augen erspäht, sie schoß über den Dorfplatz auf ihn zu, daß sie ihm den Weg verstellte, und fing an, gaumig heulend, was von ihrem Hüttendach zu klagen, durch das der ganze letzte Regen hindurchgegangen sei wie durch ein Sieb.

Das geht mich nichts an, Leegen, schrie der Geheimrat in ihre tauben Ohren. Da mußt du zum Schulzen gehen. Das ist Gemeindesache, keine Gutssache.

Aber die alte Leege ließ sich so leicht nicht abspeisen, denn sie war fest davon überzeugt, daß der Herr von Teschow ihr Herr und für ihr Wohlergehen verantwortlich sei, genau wie vor dreißig, vierzig Jahren – und aus dem Wege drängeln ließ sie sich auch nicht. Sie erfüllte den ganzen Dorfplatz aber so mit ihrem gaumigen, heulenden Geschrei, daß dem Geheimrat die Sache recht leid ward. Und da er bedachte, daß ein schlechter Vorwand immer noch besser ist als gar keiner – und warum sollte man nicht schließlich mit dem Schulzen Haase von dem durchlässigen Dach einer armen ehemaligen Gutsarbeiterin sprechen? –, so ließ er sich erweichen und ging mit ihr in die Schindertannen, denn so heißt es, wo die Leege wohnt.

Na, schreibt denn gar keiner von den Enkeln mal? fragte er, um von dem Dach loszukommen, von dem er alles schon wußte: vorne, hinten und auf dem Giebel. Die alte Leege heulte freundlich, die Enkel schrieben, und Bilderchen schickten sie ihr auch mal.

Na, was sie denn so schrieben, und wie es denn so ginge drüben?

Ja, was sie schrieben, das könne sie genau nicht sagen, denn der alte Kater habe ihre Brille zerbrochen, jetzt das andere Jahr; aber wenn in diesem Jahr die Beerenlese gut werde, so werde es vielleicht reichen zu neuen Gläsern!

Warum sie sich denn die Briefe nicht vorlesen lasse?

Nein, das tue sie nicht, denn wenn einmal drin stünde, es ginge den Enkeln schlecht, so würde es gleich durch das ganze Dorf getragen, und sie wolle nicht, daß man über ihre Enkel rede. Sie könne es abwarten mit dem Lesen, bis sie neue Brillengläser habe.

Ob sie denn nicht einmal etwas schickten für ihre alte Großmutter, ein bißchen Geld oder ein kleines Freßpaket?

O doch, schöne bunte Bilderchen schickten sie; mit dem Essen sei es wohl nicht so weit her in dem Indianerlande –!

Damit waren sie bei dem alten Katen angelangt, der wirklich recht unheimlich wie ein wahres Hexenhaus aus dem Märchen unter den Schindertannen lag. Der Geheimrat nahm das altersschwache, zerfetzte, bemooste Strohdach von vorn und von hinten und von der Giebelseite in Augenschein, immer geleitet von dem klagenden Geheul der Alten. Aber der Geheimrat war plötzlich ein gründlicher Mann geworden und hatte es nicht mehr so eilig, von der Leegen fortzukommen. Denn was ein richtiger Fuchs ist, der riecht eine Gans in einem Fuder Stroh. So stieß er denn die Tür auf und ging hinein in die alte Kabache, weil er was in der Nase hatte. Das Haus unter den Schindertannen sah von innen genauso aus, wie man von außen erwarten durfte, nämlich, wie ein Saustall nicht aussehen darf, wenn die Säue gedeihen sollen, sondern völlig ländlich schändlich.

Aber den Geheimrat störten jetzt weder Dreck noch Gestank, noch die Fetzen und das Gerumpel äußersten Elends – mit seinen alten, listigen Augen sah er sich scharf um, und da erblickte er schon, was er wollte, nämlich ein altes Foto an der Wand, und hinter das Foto hatte die Leegen was gesteckt.

Ja, das ist der Ernstel, heulte die Alte los. Das ist der letzte, der rüber ging, gerade Anfang 13, gerade ehe der große Krieg losging ...

Und das ist eins von den Bilderchen, die dir der Ernst schickt, Leegen, was? Hast du mehr davon?

Ja, sie hatte mehr davon, in den Briefen steckten noch welche, und in den Küchenschrank hatte sie sich auch eine Borte von den Bilderchen gesteckt.

Hör zu, Leegen, sagte der Geheimrat. Ein neues Dach kriegst du, das verspreche ich dir. Und wenn du eine Ziege haben willst, sollst du sie auch kriegen. Und satt zu essen auch. Und eine Brille auch. Und Feuerung auch ...

Die alte Frau hob ihre Hände gegen den Geheimrat, als wolle sie die Fülle all dieser Gaben von ihrer Brust wegschieben, und sie setzte an, zu lobpreisen ihren guten alten Herrn ...

Aber der Geheimrat hatte es eilig: Hier bleibst du sitzen, Leegen, und in spätestens einer halben Stunde bin ich mit dem Schulzen hier, vielleicht bringe ich auch den Pastor mit, und du rührst dich nicht von der Stelle, und von den Bilderchen gibst du auch keines weg ...

Die alte Leegen versprach es hoch und heilig.

Und es geschah alles richtig und ordnungsgemäß; mit dem Geheimrat kamen der Pastor und der Schulze, und es wurde Nachsuche gehalten, und die alte Leegen konnte nicht genug wunderwerken über die drei Herren, die nicht abließen, ihre Sachen umzudrehen und auszuschütteln. Sogar ihre paar Winterstrümpfe krempelten sie auf und um, das Bettstroh zog der Schulze aus der Lade – alles auf der Suche nach diesen regenbogenfarbenen Bilderchen!

Was die alte Leegen war, so verstand sie gar nichts von dieser Sache, und wenn sie ihr auch zehnmal in die Ohren tuteten, daß dies ›richtiges‹ Geld sei, Goldgeld, Devisen, während das andere Dreckgeld sei, Schwundgeld, Mist – ihr kam es doch vor, als seien die würdigen drei: Nährstand, Geistlichkeit und Behörde, zu kleinen Kindern geworden, die in ihrer Kate Ostereier suchten.

Der Geheimrat von Teschow aber saß wieder einmal so richtig in seinem Fett, und ab und zu ließ er es brutzeln und machte eine Bemerkung dahin, daß natürlich erst ein Greis wie er kommen und sich um seine alte Arbeiterin kümmern müsse, die ihn von Rechts wegen gar nichts anginge, während der Herr Schulze, der von Amts wegen nach den Ortsarmen, und der Herr Pastor, der von Gottes wegen nach seinen Pfarrkindern zu sehen habe, wieder einmal nichts von Tuten und Blasen wüßten, und die Alte in all ihrem Reichtum vor Regen ersaufen und vor Hunger hätten umkommen lassen.

Schulze wie Pfarrer sagten das Allerbeste zu diesen immer wiederholten spitzigen Bemerkungen – nämlich gar nichts, und kaum war das Vermögen der Alten mit zweihundertfünfundachtzig Dollar festgestellt und protokollarisch niedergelegt, so drückte sich der Pfarrer eilig, da ja die Angelegenheit in den besten Händen sei. Der Schulze hatte die Scheine an sich genommen und für die Bilderchen der Alten auf den andern Tag den Dachdecker versprochen. Auch einen Korb mit Lebensmitteln. Auch 'ne Zicke, jawohl, Leegen. Auch 'ne neue Brille, ist ja gut, Leegen ...

Und die beiden Herren gingen nun langsam wieder aus den Schindertannen am Friedhof vorbei auf das Dorf zu, während hinter ihnen das Dankgeheul der Leegen langsam verscholl.

Und was machen Sie nun mit dem Geld, Haase? fragte der Geheimrat.

Tja, Herr Geheimrat, das ist so eine Sache, sagte der Schulze. Darüber muß ich wohl erst mal schlafen.

Ich glaube, ich habe so was gelesen, bohrte der Geheimrat, daß man Devisen abliefern muß. An die Bank. Aber es braucht nicht zu stimmen.

Tja, Herr Geheimrat, wenn ich es auf der Bank abliefere, kriege ich einen Klumpatsch Geld dafür, und wenn die alte Leegen die andere Woche ein Päckchen Kaffee haben will, muß ich ihr sagen: ist schon wieder alle, Leegen.

Das ist schlecht für die alte Frau, Haase.

Tja, Herr Geheimrat, die tut mir auch wahrlich leid.

Aber es wird wohl nicht anders gehen, wenn die Bestimmung so ist.

Sie muß ja nicht so sein – Herr Geheimrat kann sich ja verlesen haben.

Das kann ich natürlich. Es steht so viel in den Zeitungen.

Das tut es – man wird ganz wirr, wenn man bloß reinschaut.

Die beiden gehen bedachtsam weiter, der lange, dürre Schulze mit seinem tausendfältigen, zerknitterten Gesicht und der untersetzte, dicke Geheimrat mit dem grellroten Gesicht – aber seine Falten hat es auch.

Es ist auch, fängt der Schulze wieder an, daß eilige Erntezeit ist, wer kann da nach Frankfurt auf die Bank und Geld einwechseln? Und ich muß dem Dachdecker was geben und das Deckstroh bezahlen und die Zicke – das kann ich doch nicht mit Dollars. Einmal gibt's Gerede, und dann darf ich's ja auch gar nicht.

Da muß eben ein anderer solange das Geld umwechseln, bis Zeit zum Abliefern ist, meint der Geheimrat.

Tja – antwortet der Schulze nachdenklich. Das denk ich schon die ganze Zeit. Nur, wer hat denn in der Ernte soviel Geld liegen?

Ich glaub, ich hab noch was im Geldschrank. Ich will mal nachsehen, Haase, ich gebe Ihnen heute abend Bescheid.

Ich habe ja gestern gedroschen, sagt der Schulze und bohrt seinerseits, und ich denke, ich fahre es morgen fort. Nur, es ist, Herr Geheimrat, weil ich das Geld übermorgen Ihrem Förster geben muß ...

Der Geheimrat schweigt mucksstill.

Wenn der Förster vielleicht ein paar Tage warten würde? Vielleicht kommt ein Regentag, daß man noch mal dreschen kann.

Das versteh ich nicht, sagt der Geheimrat, entschuldigen Sie, Haase, ich bin ja wohl doof auf beiden Ohren, aber das verstehe ich nicht. Das ist doch wohl wegen der Hypothek von Kniebusch über zehntausend Friedensmark?

Der Schulze biß sich auf die Lippen. Dann sagte er mürrisch: Das verstehe ich auch nicht, Herr Geheimrat, aber Ihr Kniebusch ist ein alter Hund, der hat mich reingelegt, und ich kann ihm die Hypothek jetzt nicht kündigen, und vierzig Zentner Roggen im Jahr muß ich ihm Zinsen geben, und dafür geht das Korn morgen weg ...

Kinder, Kinder! grinst der alte Herr hocherfreut, daß wieder mal einer hereingefallen war (denn vor nichts im Leben hatte er eine so unbegrenzte Hochachtung wie vor dem Reinigen und Anschmieren und tüchtig übers Ohr Hauen!). Kinder, Kinder, ihr macht Sachen ... Nun verstehe ich auch, warum der Herr Richter in Frankfurt so schlecht auf den Kniebusch zu sprechen ist ...

Ich habe, rief der Schulze hitzig, nur geschrieben, was recht ist ...

Natürlich, Schulze, wie denn sonst –? sagte der alte Geheimrat sehr vergnügt. Immer nach Recht und Ordnung und Gesetz! Aber darüber reden wir beide heute abend noch. Denn ich besuche Sie – ich bring Ihnen das Geld, daß Sie die Dollars umwechseln können, denn Ihr Roggengeld wird nicht reichen für alles. Ich helfe Ihnen gerne, Schulze. Und wenn ich mal nach Frankfurt komme, dann liefere ich meine Dollars ab, und wenn Sie hinkommen, liefern Sie Ihre ab – die Herren in Berlin werden ja Warten gelernt haben. Und der Förster Kniebusch hat auch Warten gelernt, dafür sorge ich, da stehe ich Ihnen für ein. Ist doch ein schlauer Hund, der alte Kniebusch; einen Bauern einzuseifen, hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Na, Sie werden's mir heute abend erzählen, Schulze ...

Der Dollar steht jetzt auf einer Million und hunderttausend Mark – so wechseln wir doch ein? fragte der Schulze nachdenklich.

Na, natürlich, sagte der Geheimrat. Wie denn sonst?

Und wenn er nun morgen höher kommt? Dann sitze ich mit dem ganzen Haufen Geld da und kann ihr nichts mehr kaufen!

Na, etwas werden Sie ja 'ne Weile noch kaufen können, und überhaupt, kaufen Sie ein bißchen Vorrat. Wenn's dann alle ist, ist es alle. Wenn ein anderer gekommen wäre und hätte die Bilderchen an der Wand gesehen, hätte sie gar nichts gekriegt. Und überhaupt, in den Briefen haben wir doch gelesen, der Enkel schickt ihr alle Monat zehn Dollar, und zu Geburtstag und zu Weihnachten zwanzig Dollar extra – da kommt doch immer wieder was rein. Da hat die alte Leegen mehr, als sie ihr ganzes Leben gehabt hat!

Man müßte nur sicher sein, daß keiner was redet, sagte der Schulze. Sonst gibt's Stunk.

Wer soll denn reden, Haase? Der Pastor Lehnich hälts Maul, der hat sich blamiert. Und wir beiden reden auch nicht. Und die alte Leegen, die hat nichts kapiert, die denkt, im Himmel ist Jahrmarkt, und wenn sie redet, versteht's keiner. Und wenn's einer versteht, der soll erst mal kommen und sagen, der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow macht faule Sachen. Wir wollen ja die Dollars abliefern – das ist ausgemacht, Haase, was?

Sobald ich nach Frankfurt komme, bestimmt, Herr Geheimrat, erklärt der Schulze.

Und so trennten sich die beiden, der Schulze nicht ganz zufrieden, denn er hätte das Dollargeschäft lieber allein gemacht, aber er wußte ja auch, daß die schwersten Schweine am lautesten nach Futter schreien.

Der Geheimrat aber war völlig zufrieden, denn er hatte nicht nur erfahren, was er wissen wollte, sondern auch ein kleines Geschäft gemacht. Ein Mann kann noch so reich sein, reich genug kommt er sich nie vor. Der Förster Kniebusch aber war sehr erstaunt, wie gleichgültig sein knurriger Herr den Bericht von der erfolglosen Suche an den Krebsteichen aufnahm. Aber noch erstaunter war er, daß Herr von Teschow nun schon wieder über die Neuregelung der Hypothekensache Bescheid wußte und gar als Fürbitter für den Schulzen Haase auftrat, vierzehn Tage später zahlen zu dürfen. Da sagte er leicht Ja; um so hartnäckiger aber schwieg er, als der Geheimrat durchaus erfahren wollte, wie denn Kniebusch den Haase zu solch unerhörtem Zugeständnis bewegt habe.

Der Förster blieb dabei und schwor Stein und Bein, und seine blaßblauen Augen wurden immer blauer und ehrlicher bei der Versicherung, daß der Schulze Haase ein grundanständiger Mann sei und aus lauter Anstand und Ehrlichkeit getan habe, was recht war –: Und eigentlich hätten es ja sechzig Zentner Roggen sein müssen, Herr Geheimrat, aber ich bin auch nicht so, genau wie der Schulze ...

Kniebusch! rief der alte Herr empört, Sie können doch keinen buckligen Mann durch einen Lattenzaun ziehen! Wo's Geld anfängt, hört der Anstand auf – und nun wollt ihr beiden alten Schweinehunde ...

Aber nein, der Förster blieb dabei! Seine Stirn war schweißnaß und sein Ton wurde so treuherzig und bieder, daß er zehn Meilen gegen den Wind nach Lüge und Betrug stank, aber er blieb dabei. Und es muß gesagt werden, daß der Förster Kniebusch, der seinem Herrn immer untertänig gewesen war und stets nach seinen Wünschen gehandelt hatte, dem Herrn von Teschow nie so imponiert hatte wie der Kniebusch, der ihm sichtlich die Hucke vollog.

Kieke da! sagte der alte Herr, als er wieder allein war. Mein Kniebusch macht sich. Aber warte nur, was der eine nicht erzählt, quatscht der andere aus – und ich will einen Besen fressen, wenn ich heute abend nicht alles vom Schulzen rauskriege.

Aber darin täuschte sich der Geheimrat: der Schulze hielt genauso dicht wie der Förster, und das erstaunte den alten Herrn sehr und machte ihn recht nachdenklich. Denn so was war eigentlich noch nie dagewesen.

Einen Besen fraß er allerdings deswegen doch noch nicht – er gab die Hoffnung so leicht nicht auf.

8

Vor der Tür des kleinen Vogthauses, in dessen Giebelstube Fräulein Sophie Kowalewski wohnte, hatten sich die Herren Studmann und Pagel von ihrer Begleiterin verabschiedet – und die Dorfleute hatten mit Staunen gesehen, daß diese verdächtigen Berliner Herren nicht einfach weitergegangen waren, nach einem bloßen Zuruf, wie man es mit einem Hofgängermädchen machte. Sondern die Herren hatten ihr richtig die Hand gegeben, wie man es bei einer wirklichen Dame tut, und der ältere, der mit dem Eierkopf, der Tutmann, hatte die Mütze gezogen. Der jüngere aber hatte das nicht getan, weil er nämlich keine Mütze aufhatte, sondern nur die bloßen Haare auf dem Kopf.

Die Bewunderung für den so schillernd und bunt aus seiner unscheinbaren Puppe gekrochenen Schmetterling Sophie war ins Ungemessene gestiegen. Was Koffer und Kleider angefangen hatten (und die Heimfahrt gemeinsam mit dem Herrn Rittmeister), das vollendete dieser formvolle Abschied. Die Mütter hatten es gar nicht mehr nötig, ihren Bengeln zu befehlen: Gegen die Sophie benehmt ihr euch anständig. Die ist jetzt eine richtige Dame! – Sie wußten auch so Bescheid, und die Sophie Kowalewski war ihren Nachstellungen entrückt wie etwa das gnädige Fräulein in der Villa. Mit Berliner Herren, die vielleicht sogar Detektive waren, wollte es keiner von ihnen zu tun bekommen.

Die Herren aber waren gemütlich plaudernd weitergegangen, ohne Ahnung davon, daß sie für die Isolierung ihrer gefährlichen Feindin in der Dorfgemeinschaft gesorgt hatten. Sie hatten erst einmal in die Ställe geschaut und waren dann auf das Büro gegangen. Auf dem Schreibtisch des Büros stand ihr Abendessen, und auf dem Fußboden des Büros stand grau und reserviert der Diener Räder. Er tat jetzt aber den Mund auf und meldete, daß die gnädige Frau den Herrn von Studmann um dreiviertel sieben zu sprechen wünsche.

Herr von Studmann sah auf seine Uhr und stellte fest, daß es Viertel nach Sieben war, und er sah den Diener Räder fragend an. Aber der verzog das Gesicht nicht und sagte keinen Ton.

Also, ich gehe jetzt gleich, Pagel, sagte von Studmann. Warten Sie nicht auf mich mit dem Abendessen, fangen Sie immer schon an.

Damit ging er eilig, langsamer folgte ihm der Diener Räder, und allein auf dem Büro blieb Wolfgang Pagel. Er fing aber noch nicht mit dem Abendessen an, er ging in dem sauberen, blitzenden Büro auf und ab, rauchte zufrieden seine Zigarette und sah dann und wann aus den weit offenen Bürofenstern in den sommerlichen, fröhlichen grünen, von Vögeln durchlärmten Park.

Nach der Art junger Menschen dachte er nicht über seinen Zustand nach. Er ging so hin und her, rauchend, wechselnd zwischen Licht und Schatten. Ihn bedrückte nichts, er wünschte nichts – hätte er über seinen Zustand nachgedacht und hätte ihn auf den kürzesten Nenner gebracht, er hätte gesagt: Ich bin – fast – glücklich.

Vielleicht hätte er bei genauerer Prüfung ein leises Gefühl der Leere entdeckt, wie es die Genesenden empfinden, die eine lebensgefährliche Krankheit überstanden haben und noch nicht ganz wieder unter die Lebenden eingereiht sind. Er kam aus schwerer Gefahr, er hatte noch keine Aufgabe wieder im Leben, er gehörte nicht ganz dazu. Eine geheimnisvolle Macht, die seine Gesundung wollte, leitete seine Taten, mehr noch seine Gedanken. Sehr ungleich dem Herrn von Studmann interessierte ihn nicht, was hinter den Dingen vorging, ihn interessierte jetzt nur ihre Außenseite. Instinktiv wehrte er sich dagegen, sich Sorgen machen zu müssen. Er studierte keine Pachtverträge, er berechnete nicht kummervoll die Höhe der Pacht; er fand, daß der alte Herr von Teschow ein fröhlicher, rauschebärtiger Greis sei und wollte von Hinterlist und dunklen Absichten nichts wissen. Ihn befriedigten voll die einfachen, greifbaren Aufgaben des Lebens: das Hinausfahren auf das Feld, das Aufstaken des Roggens, der tiefe, traumlose Schlaf des Nachts aus äußerster körperlicher Ermüdung. Er war sorglos wie ein Genesender, oberflächlich wie ein Genesender – und fühlte wie ein Genesender, ohne es klar zu wissen, noch immer den schaurigen Anhauch aus jenem Rachen, dem er sehr knapp nur entronnen.

(Sehr viel später erst würde er seiner Mutter und vielleicht auch Petra schreiben. Jetzt nur Ruhe.)

Zufrieden und gedankenlos geht er auf und ab, wenn er mit der Zigarette fertig ist, wird er ein bißchen pfeifen. Morgen früh fängt die Einfahrerei wieder an – ausgezeichnet! Man hätte natürlich auch heute einfahren können, wie es alle Güter hier in der Nähe tun, aber die alte Gnädige auf dem Schloß (die er noch nicht zu sehen bekommen hat) soll gegen Sonntagsarbeit sein. Schön. Heute abend hat Studmann noch irgend etwas vor; was, weiß er nicht, aber es wird schon nett sein. Alles hier ist nett. Hoffentlich kommt der Oberleutnant bald zurück von der jungen Gnädigen, Wolfgang mag nicht gerne allein sein. Am wohlsten fühlt er sich mitten unter den Leuten.

Gedankenvoll bleibt er vor dem fichtenen Regal halten, auf dem in langen Reihen die schwarzen Jahresbände der Gesetze und Verordnungen stehen. Oben das Kreisblatt, unten das Reichsgesetzblatt. Reihe um Reihe, Band um Band, Jahr um Jahr verordnen sie, bestimmen, drohen, regeln, bestrafen von Urbeginn an bis in das Weltende hinaus, und jeder einzelne rennt sich doch immer neu den Schädel in dieser geordneten Welt blutig.

Pagel hebt einen der ältesten Bände aus dem Fach. Von dem braunen, fleckigen Papier spricht zu ihm eine Anordnung, die verbietet, einem Dienstboten oder Instmann mehr als zwei Schock Krebse in der Woche zum Essen zu geben. Er lacht. Heute jagt man die Badenden aus den Teichen und schützt so den Krebs vor den Menschen; damals schützte man die Menschen vor den Krebsen!

Er stellt den Band auf seinen Platz zurück und hat etwas unter Augenhöhe die Schnittfläche einer andern Bandreihe des amtlichen Kreisblattes. Aus dem einen Schnitt sieht die Ecke eines Blattes heraus. Er faßt sie mit zwei Fingern, und nun hat er ein Blatt Schreibmaschinenpapier in den Händen, nur zu einem Viertel vollgetippt. Mit gekrauster Stirn fängt er an zu lesen:

Liebster! Allerliebster!! Einziger!!!

Er wirft einen Blick auf den Band, aus dem er das Blatt nahm. Es ist das Kreisblatt aus dem Jahre 1900. Pagel nickt beruhigt. Lächelnd liest er den Brief weiter. Er bekommt etwas von der Patina, die den Liebesbriefen von vor hundert Jahren anhaftet, den Briefen von Liebenden, deren Stimme verklungen, deren Liebe erloschen ist, die kalt in ihren Gräbern liegen. Er liest bis zu dem Namen ›Violet‹.

Dies ist kein häufiger Name, er las ihn bisher nur in Büchern. Erst in den letzten Tagen hört er ihn öfters, meist in der Form ›Weio‹. Immerhin, in manchen Familien vererben sich Namen ... Er fährt mit dem Finger vorsichtig über die Schrift, er sieht die Fingerkuppe an, ein leichter violetter Schimmer überzieht sie –: die Schrift muß frisch sein.

Rasch nimmt er den Deckel von der Maschine, er tippt mit Widerstreben die Worte: Liebster! Allerliebster!! Einziger!!! – (Auch er hörte einmal solche Worte oder ähnliche, er mag nicht daran denken.) – Es ist kein Zweifel, der Brief ist auf dieser Maschine geschrieben. Ganz kürzlich geschrieben: das große E hält nicht völlig mehr Reihe ...

Sein erster Impuls ist, den Brief zu zerreißen, dann, ihn wieder in den Band zurückzustecken –: Ich weiß von nichts. Ich mag von diesen Dingen nichts hören und nichts sehen.

Aber: Ruhe, alter Junge, nur Ruhe! Diese Weio ist ein blutjunges Ding, sechzehn, vielleicht erst fünfzehn. Es kann ihr nicht egal sein, daß ihre Briefe auf öffentlichen Büros rumreisen. Ich bin verpflichtet ...

Pagel tut erst einmal wieder den Deckel über die Schreibmaschine, faltet den Brief sorgfältig zusammen und steckt ihn in seine Innentasche. Das ist kein Mißtrauen gegen Studmann. Aber er ist entschlossen, erst von diesem Brief zu reden, wenn er sich alles genau überlegt hat. Vielleicht wird er überhaupt nicht von ihm reden, jedenfalls muß er sich erst über alles klar sein. Es ist nicht angenehm, er wäre gerne weiter gedankenlos auf dem Büro hin und her gegangen. Aber das Leben ist so, es fragt nicht, ob es uns paßt. Schon sitzen wir in einer Aufgabe drin.

So geht denn Pagel im Büro gedankenvoll hin und her und raucht. (Wenn nur wenigstens Studmann nicht gleich kommt!)

Erste Frage: Ist der Brief überhaupt ein Brief? Nein, es ist der Durchschlag eines Briefes. Zweite Frage: Kann sich der Absender diesen Durchschlag angefertigt haben? Die Absenderin? Sehr unwahrscheinlich! Einmal ist dies kein Brief, den man so leicht auf der Schreibmaschine schreibt – auf der Schreibmaschine sieht so was ganz verflucht aus, während es mit der Hand geschrieben vielleicht grade noch geht. Zweitens ist es ganz unwahrscheinlich, daß Fräulein Violet ihre Liebesbriefe ausgerechnet auf dem Gutsbüro schreibt. Drittens würde sie den Durchschlag nie auf dem Büro verwahren. Wozu überhaupt von so was ein Durchschlag?! Folgerung: Dieser Durchschlag ist also aller Wahrscheinlichkeit nach der Durchschlag einer Abschrift von einem Brief des Fräulein Weio.

Uff –!

Für späteres Nachdenken: Wo ist die Abschrift selbst? Dritte Frage: Kann der Empfänger sich Abschrift und Durchschlag gemacht haben? Auch hier ist der Zweck solcher Abschrift nicht einzusehen. Der Empfänger hatte ja das Original! Nein, es ist ganz klar, ein Dritter, ein Unberechtigter muß sich diese Abschrift gemacht haben. Wenn man das erst weiß, so ist es nicht schwer, zu raten, wer es gewesen ist. Er muß hier auf dem Büro regelmäßig Zugang gehabt haben, sonst hätte er hier nicht tippen können, sonst hätte er hier nichts aufbewahrt. Nein, sagt sich Pagel, es kann kein Zweifel sein, nur dieser häßliche kleine Meier, den die Leute hier Negermeier nennen, kann es gewesen sein.

Ohne weiteres fällt Wolfgang die nächtliche Abreise des kleinen Meier ein, als er erschreckt mit dem Ruf Er schießt mich tot aus dem Schlaf aufwachte. Studmann und er haben an eine Eifersuchtsgeschichte mit diesem roten Pausbackenengel von Geflügelmamsell gedacht, und der Rittmeister hat das akzeptiert. Also ist auch der Rittmeister ahnungslos. Es steckt irgend etwas anderes dahinter, etwas Heimliches, etwas Gefährliches – trotzdem der Meier natürlich ein Feigling ist, der sich Totschießen nur einbildet. Um einen unterschlagenen Liebesbrief schießt man so leicht keine Leute tot!

Bleibt also noch die Frage zu klären, ob man diesen Durchschlag stumm zurücklegen oder besser vernichten soll oder ob man von ihm reden muß etwa mit Studmann? Oder gar mit diesem kleinen, feurigen Fräulein Weio? Zu bedenken bleibt, daß der abgereiste Herr Meier ein anderes Exemplar dieser Abschrift mit sich führt. Aber was beweist schließlich solche Abschrift? Jeder kann sich so ein Dings auf der Schreibmaschine komponieren! Kein Name ist darin genannt, der auf irgend jemand hinweist!

Immerhin kann eine solche Abschrift ein kleines, unerfahrenes Fräulein umschmeißen! Aber weiß diese Violet nicht vielleicht doch schon von dem unterschlagenen, abgeschriebenen Brief –? Der Empfänger des Briefes muß davon wissen – wie sonst hätte Meier in jener Nacht von einem Rascheln am Fenster so erschreckt werden können –?! Ja, denkt Pagel weiter, wenn man es nur noch genau wüßte, was Meier damals gerufen hat: Er will mich totschießen, oder: Er will mich wieder totschießen –? Wieder totschießen, das würde heißen, daß der Herr Meier schon so etwas wie einen Erpressungsversuch gemacht hat (man schreibt sich einen solchen Brief nicht aus rein literarischem Interesse ab!) und daß ihm darauf etwas heftig, etwa mit der Waffe in der Hand, geantwortet worden ist ...

Pagel grübelt hin und Pagel grübelt her. Aber er weiß nicht mehr, was der Meier, aus dem Schlaf hochschreckend, gerufen hat.

Herr von Studmann tritt ein, er ist zurückgekommen von seiner Unterredung mit Frau von Prackwitz. Pagel wirft einen Blick auf Studmanns Gesicht: auch Herr von Studmann sieht ziemlich gedankenverloren aus. Er könnte ja nun fragen, was Meier damals gerufen hat, aber besser fragt er nicht. Eine solche Erkundigung würde Gegenfragen zur Folge haben, vielleicht würde er von dieser Briefabschrift erzählen müssen – und das mochte er nicht. Der Empfänger, wer es auch immer sein mochte, war gewarnt, und das gnädige Fräulein war vermutlich auch gewarnt. Also hat Pagel beschlossen, erst einmal gar nichts zu sagen. Er hat keine Lust, sich Sorgen zu machen, sich in Liebesintrigen hineinziehen zu lassen. Es wird nichts versäumt, wenn dieser Brief erst einmal stecken bleibt, wo er steckt, nämlich in seiner Tasche!

9

Studmann ist so sehr in Gedanken, daß er gar nicht merkt, Pagel hat trotz seiner Bitte noch nicht gegessen. Als sich Pagel nun ihm gegenüber hinsetzt, eine Tasse Tee einschenkt, Brot nimmt, sieht Studmann hoch und sagt verloren: Ach, Sie essen noch mal, Pagel?

Ich hatte noch nicht gegessen, Meister, antwortet Pagel.

Ach nein, natürlich nicht, entschuldigen Sie! Ich dachte grade über etwas nach.

Und kauend gibt sich Studmann wieder seinem Nachdenken hin.

Nach einer Weile fragt Pagel vorsichtig: Und über was denken Sie nach?

Überraschend heftig antwortet Herr von Studmann: Daß der Friede der Felder noch mehr Scheibe ist, als wir annahmen, Pagel. Sachter: Sorgen haben die Leute –! Und abbrechend: Aber ich glaube, es ist Ihnen nur lieb, wenn ich Sie mit diesem Kram verschone.

Natürlich, sagt Pagel, und beide versinken über Butterbrot und Aufschnitt neu in Nachdenken.

Was Herrn von Studmann angeht, so hat auch er jetzt einen Brief in der Tasche, einen Brief, der von der gnädigen Frau für einen ziemlich harmlosen Geschäftsbrief angesehen wurde. Herrn von Studmann aber erschien er recht heimtückisch und gemein. Lieber trüge er eine Handgranate in der Tasche. Aber viel mehr beschäftigt ihn diese andere Geschichte – Frau von Prackwitz ist immer noch eine recht gut aussehende Frau, vor allem hat sie schöne Augen. In diesen schönen Augen hatten Tränen gestanden, als sie Herrn von Studmann abgebrochen berichtete ... Die Augen waren von den Tränen nicht häßlicher geworden ... Ein bißchen muß sich eine Frau, die sich vor einem rappelköpfischen Mann, einer auf Abwegen befindlichen Tochter immer zusammenzunehmen hat, die sich vor Hof und Familie nie etwas merken lassen darf, bei ihrem auserwählten Vertrauten gehen lassen können. Dieses Sichgehenlassen hatte Frau Eva von Prackwitz nur reizvoller gemacht. Eine laue Süße, eine Hilflosigkeit, die bei einer so reifen Frau nur um so verführerischer wirkte, hatten Herrn von Studmann gefangen ...

Ich muß diesem armen Wesen helfen! dachte Herr von Studmann energisch. Was bildet sich diese Krabbe eigentlich ein, daß sie solche Geschichten macht! Sie kann doch kaum fünfzehn sein!

Hier sah der ebenfalls scharf nachdenkende Pagel von seinem Käse hoch und fragte tiefsinnig: Wie alt taxieren Sie eigentlich Fräulein Violet –?

Wie?! schrie Herr von Studmann und klapperte heftig mit Messer und Gabel gegen den Teller. Wie kommen Sie denn darauf, Pagel? Was geht das Sie an!

Gotte doch! sagte Pagel verblüfft. Ich kann ja mal fragen. Aber dann eben nicht!

Ich dachte gerade an etwas anderes, Pagel ... erklärte Studmann, ein wenig verlegen.

Es sah verdammt aus, als wenn Sie auch grade daran gedacht hätten! grinste Pagel.

Keine Spur! So junge Mädchen sind einfach Gemüse für mich – ich bin nicht wie Sie zweiundzwanzig, Pagel.

Dreiundzwanzig ...

Na schön. Also ich denke, Pagel, es ist jetzt kurz nach acht, wir machen uns auf die Beine und genehmigen in einer der beiden hiesigen Gastwirtschaften einen Schnabus.

Recht so. – Und wie alt schätzen Sie Fräulein Violet?

Sechzehn. Siebzehn. Seien Sie bloß nicht albern, Pagel. Es ist mir natürlich nicht um den Schnaps zu tun ...

Viel zu hoch! Sie hat so mollige Formen, das täuscht. Höchstens fünfzehn ...

Jedenfalls lassen Sie die Finger davon, Herr Pagel! rief Studmann mit kriegerisch blitzenden Augen.

Aber natürlich! sagte Pagel verblüfft. Gott, Studmann, Sie werden noch die reine Sphinx! Wenn es Ihnen also nicht um den Schnaps zu tun ist, worum ist es Ihnen dann zu tun?

Ruhiger entwickelte Studmann seinen Plan, sich mit den Gastwirten bekannt zu machen, regelmäßiger Kunde zu werden und so zu versuchen, möglichst viel von dem Geschwätz des Dorfes zu erfahren.

Neulohe ist viel zu groß. Wenn wir da auch Nacht für Nacht nach Felddieben herumlaufen, kann es uns doch passieren, daß wir nie einen treffen. Und unser Rittmeister will Erfolge sehen. Da ist ein Wink von einem Gastwirt Gold wert ...

Richtig! stimmte Pagel zu. Nehmen wir eine Kanone mit?

Heute hat das wohl keinen Zweck, heute wollen wir uns erst einmal anbiedern. Aber, meinethalben, wenn Sie so ein Ding einstecken wollen – Sie sind noch für volle Kriegsbemalung. Ich habe mich mit dem Zeug über fünf Jahre geschleppt ... Es war halb neun, als die beiden endlich losgingen. Die Sonne war schon untergegangen, aber es war noch fast hell. Kaum, daß es im Schatten der Bäume zu dämmern anfing. Die Straße vom Gut zum Dorf war voller Menschen: Kinder jagten herum, auf den Bänkchen vor den Türen saßen die alten Leute, jüngere standen in Gruppen beisammen; in der Ferne hörte man es singen; ein Mädchen zog eine widerspenstige Ziege am Strick in ihren Stall.

Wenn die beiden Herren vorübergingen, wurden die Leute stumm, die Kinder jagten nicht mehr, das Singen hörte auf. Alles sah ihnen nach.

Kommen Sie, Studmann, schlug Pagel vor, gehen wir außen ums Dorf herum. Wir werden uns schon irgendwie durchschlagen. Dies Anglotzen ist lästig. Und schließlich brauchen nicht alle zu wissen, daß die Herren Beamten saufen gehen.

Recht so, sagte Studmann, und sie bogen in einen schmalen Pfad, der zwischen den fensterlosen Giebelwänden zweier Leutehäuser hindurchführte. Später fanden sie eine Art Rain, zur Linken lagen schweigende Obstgärten, zur Rechten erstreckte sich ein blühendes Kartoffelfeld. Nun kamen sie auf einen zerfahrenen Weg, rechts führte er gerade in die Felder hinein, links ging es auf die letzten Häuser des Dorfes zu. Die Luft wurde grauer, man fühlte es dunkel werden, die Vögel waren stille geworden. Vom Dorf klang ein Lachen herüber und verging.

Als Pagel und Studmann so schweigend, langsam nebeneinander hergingen, jeder in einer Fahrrinne des Weges, begegnete ihnen ein Trupp Leute, sechs oder sieben, Männer und Frauen. Ruhig gingen die Leute im Gänsemarsch, Kiepen auf dem Rücken, über den Grasstreifen zwischen den Radgleisen an ihnen vorüber.

Guten Abend! sagte Pagel laut.

Irgendein verwischter Laut klang als Antwort, dann war der stumme Gespensterzug schon vorüber.

Ein paar Schritte gingen die beiden noch weiter, zögernder. Dann blieben sie wie auf Verabredung stehen. Sie drehten sich um und sahen den stillen Wanderern nach. Ja, es war richtig, sie waren nicht zum Dorf gegangen, sie waren in den Weg zwischen den Feldern eingebogen.

Nanu! sagte Pagel.

Das war doch komisch! antwortete Studmann.

Wo gehen die denn jetzt noch hin?

Mit Kiepen?

Klauen!

Sie können auch dahinten in den Wald gehen zum Holzsammeln.

Jetzt in der Nacht – Holz sammeln!

Tjaaa – – –

Also verzichten wir auf Schnaps und Botschaft und gehen ihnen einfach nach.

Ja, warten Sie noch einen Augenblick. Lassen Sie die erst über die Kuppe dort weg.

Gekannt habe ich keinen, meinte Pagel nachdenklich.

Es ist schon dämmerig, die Gesichter waren kaum zu unterscheiden!

Das wäre großartig, wenn wir gleich beim erstenmal sechs Mann schnappten –!

Sieben, sagte Studmann. Drei Mann und vier Frauen. – Also gehen wir!

Aber nach den ersten Schritten schon blieb Studmann wieder stehen. Wir sind unüberlegt, Pagel. Wenn wir die Leute abfassen, wir kennen sie doch nicht. Wie sollen wir die Namen feststellen? Die können uns ja erzählen, was sie wollen.

Pagel drängte ungeduldig: Und während Sie hier Großen Generalstab spielen, Studmann, gehen uns die Leute durch die Binsen.

Und wenn wir sie fassen und erfahren, daß sie Meier, Schulze, Schmidt heißen, sind wir erst recht blamiert. Gut erkundet ist halber Sieg, Pagel.

Aber was dann?

Sie gehen jetzt ins Dorf und holen jemand Alteingesessenen, der alle Leute kennt ...

Den Kowalewski –? Den Leutevogt –?

Richtig, Pagel. Der ist ein bißchen schlapp; dem ist es ganz gut, wenn er zu seinen Arbeitern mehr in Gegensatz kommt, das wird ihn schärfer machen. Die werden eine schöne Wut auf ihn kriegen, wenn er ihre Namen sagen muß ...

Aber Pagel hörte schon lange nicht mehr auf die Lehrmeinungen des ehemaligen Empfangschefs in einer Großstadt-Karawanserei der Inflationszeit. Pagel lief in einem schlanken Trab auf das Dorf zu. Es tat ihm gut zu traben. Es war eine Ewigkeit her, daß er nicht mehr getrabt war, keinen Sport getrieben hatte, seit dem Baltikum nicht mehr. Immer hatte er sich seitdem möglichst langsam bewegt, ein bis auf den Spielbeginn durchwarteter Tag war lang gewesen.

Nun war er froh, wie gut und verläßlich sein Körper arbeitete. Voll drang die milde, ein wenig feuchte, ein wenig kühle Abendluft in seine Lungen. Er freute sich, daß er eine so breite Brust hatte, er atmete nicht hastig, er atmete trotz des Laufens voll und langsam, das Atmen war eine Lust. Im Hinterzimmer bei der Pottmadamm hatte er manchmal Stiche gefühlt, in der Lunge oder im Herzen. Nach der Art der jungen Leute, die nie richtig krank gewesen sind, hatte er sich dann ein schweres Leiden eingebildet – nu, damit war es gottlob nichts. Er lief wie Nurmi!

Ich bin gut imstande, dachte er vergnügt. Mein Körper ist noch in Form!

Als er beim Dorf angelangt war, ging er, um nicht aufzufallen, im Schritt. Trotzdem ward sein Verschwinden im Haus Kowalewskis viel beachtet. Kieke da! sagten sie. Vor anderthalb Stunden hat er der Sophie Atjüs gesagt, und jetzt besucht er sie schon wieder! Den alten Eierkopf, mit dem er eben vorbeikam, hat er natürlich versetzt. Na ja, so ein Berliner – und ein kräftiger Kerl ist er auch. Die Sophie ist ja auch eine halbe Berlinerin geworden – wer Sahne gewohnt ist, der will Sahne!

Aber leider kam der junge Mann gleich wieder bei Kowalewskis raus, und auch nur mit dem Alten. Die Sophie hatte er wohl nicht gesehen, die sang oben weiter in ihrer Giebelstube. Eilig gingen die beiden aus dem Dorf, über den Feldrain, auf den Feldweg, Kowalewski immer seitlich einen halben Schritt hinter dem jungen Herrn wie ein gutgezogener Jagdhund. Als der junge Mann in Stube und Feierabend geplatzt war und nur gesagt hatte: Kommen Sie mal mit, Kowalewski, da war der alte Vogt eben mitgegangen, ohne Fragen. Ein armer Mensch soll nicht fragen, sondern tun, was ihm gesagt wird.

Studmann wartete dort, wo der Weg in die Felder abbog.

Guten Abend, Kowalewski. Recht, daß Sie gekommen sind. Pagel hat Ihnen Bescheid gesagt? Nein? Schön – wohin führt dieser Weg?

Auf unsere Außenschläge, Herr, und dann in die Forst vom alten gnädigen Herrn.

Es liegen keine Bauernfelder daran?

Nein, nur unser Land. Außenschlag 5 und 7. Und auf der andern Seite Außenschlag 4 und 6.

Schön – wenn Sie hier vor einer Viertelstunde sechs, sieben Mann getroffen hätten, stumm, mit Kiepen, die leer aussahen, auf dem Rücken – was hätten Sie dann gedacht, Kowalewski?

Kowalewski zeigte: Dahin gehend?

Jawohl, dahin gehend, diesen Außenschlagweg.

Kowalewski zeigte: Daher kommend?

Ja, Kowalewski, von da werden sie wohl ungefähr gekommen sein, nicht hier aus dem Dorf.

Dann sind es Altloher gewesen, Herr.

Und was wollen die Altloher auf unserm Feld, jetzt, wo es Nacht wird?

Tja, Herr, an den Kartoffeln sitzt ja noch nichts dran. Aber da sind die Zuckerrüben, vielleicht wollen sie die ein bißchen blatten. Und dann steht weiter hinten der Weizen, den wir Freitag, Sonnabend gemäht haben – vielleicht wollen sie dem ein bißchen die Ähren abschneiden.

Also klauen, Kowalewski, nicht wahr?

Die Zuckerrübenblätter brauchen sie als Zickenfutter, sie haben ja fast alle 'ne Zicke. Und den Weizen kann man sich, wenn er schön trocken ist, in der Kaffeemühle mahlen, das haben sie alles im Kriege gelernt.

Na schön. Also gehen wir ihnen nach. Kommen Sie mit, Kowalewski – aber Sie tun es wohl nicht gerne?

Darauf darf es nicht ankommen, Herr ...

Sie sollen gar nichts weiter damit zu tun haben, Kowalewski. Sie sollen mir nur einen Rippenstoß geben, wenn mir einer von den Leuten einen falschen Namen sagt.

Ja, Herr.

Aber die werden wohl wütend auf Sie, Kowalewski –?

Wenn es auch Altloher sind, die wissen, daß ich tun muß, was die Herren mir befehlen. Soviel verstehen sie schon.

Aber daß die stehlen, das geben Sie nicht gerne zu, Kowalewski?

Wenn es auch bloß 'ne Zicke ist, es ist schlimm, wenn man kein Futter für sie hat. Und noch schlimmer ist es, wenn man kein Mehl für die Kinder hat zur Suppe.

Aber Kowalewski –! Studmann blieb mit einem Ruck stehen. Dann ging er schnell weiter in den immer dunkler werdenden Abend hinaus. Aber wo soll da eine Ordnung herkommen, wenn die Leute sich einfach holen, was sie brauchen?! Dabei muß das Gut doch kaputtgehen –!

Kowalewski schwieg hartnäckig, aber Studmann gab nicht nach: Nun, Kowalewski –?

Es ist auch keine Ordnung, Herr, verzeihen Sie, wenn man arbeitet und kann seinen Kindern doch nichts zu essen geben.

Aber warum kaufen sie nichts? Wenn sie arbeiten, müssen sie doch auch Geld haben zu kaufen!

Sie haben doch bloß Papier, Herr. Jeder hält doch seine Sache fest und will das Papier nicht.

Ach so! sagte Studmann und blieb wieder stehen, aber nicht so ruckweise. Weitergehend meinte er: Trotzdem müssen Sie einsehen, Kowalewski, daß das Gut nicht zurechtkommen kann, wenn jeder sich holt, was er braucht. Sie wollen doch auch Ihren Lohn zur Zeit haben, wo aber soll der Lohn herkommen, wenn die Erträge fehlen? Glauben Sie mir, der Herr Rittmeister hat es nicht leicht.

Der alte Herr ist immer gut zurechtgekommen, er hat viel Geld verdient.

Aber vielleicht hat es der Rittmeister schwerer – er muß ja auch dem alten Herrn Pacht zahlen!

Davon merken die Altloher doch nichts –!

Sie meinen, es geht sie nichts an –?

Nein, es geht sie nichts an.

Und Sie finden es also richtig, daß die mausen, Kowalewski?

Wenn einer seiner Zicke kein Futter geben kann ... fing der beharrliche alte Mann wieder an.

Ach, Dreck! Ob Sie es richtig finden, Kowalewski?

Ich würde es nicht tun, Herr. Aber ich habe freilich mein Korn vom Gut und die Kartoffeln und freie Weide für eine Kuh ...

Ob Sie es richtig finden, Kowalewski?!

Herr von Studmann schrie fast. Pagel fing an zu lachen. Was lachen Sie denn, Pagel –? Seien Sie nicht albern! Das Recht auf Diebstahl am eigenen Brotherrn von einem alten Mann verkündet, der sicher selber nie geklaut hat. – Haben Sie selbst mal geklaut, Kowalewski?

Es war komisch, Herr von Studmann schrie den alten Mann fast so an, wie es der Feldinspektor Meier getan hatte. Aber dieses Anschreien verschüchterte den Leutevogt nicht weiter, er blieb ganz wohlgemut.

Was Sie klauen nennen, Herr, oder was wir klauen nennen?

Ist da auch ein Unterschied? grollte Herr von Studmann. Aber das wußte er ja doch.

Jetzt fragte Pagel: Darf ich auch einmal was fragen, Herr von Studmann?

Meinethalben, sagte Studmann. Dieser Tiefstand scheint Sie ja sehr zu amüsieren, mein Herr Pagel!

Es ist nun recht dunkel geworden, sagte Pagel vergnügt, und daß wir beide die Feldmark nicht kennen, das weiß der Herr Kowalewski auch. Sagen Sie mal, Kowalewski, wo liegt denn der Zuckerrübenschlag?

Noch fünf Minuten weiter und dann rechts ab über die Roggenstoppel, das sieht man auch beim Sternenlicht.

Und der Weizenschlag?

Noch drei, vier Minuten weiter den Weg lang. Dann kommen wir grade drauf zu.

Ja, Kowalewski, sagte Pagel ganz spitzbübisch, wenn Sie nun meinen, daß die Leute das Recht haben, sich das Futter zu holen, warum führen Sie uns dann nicht im Dunkeln ein bißchen die Kreuz und die Quer – wir wissen doch viel, wo wir zu suchen haben!

Pagel –! rief Studmann.

Das kann ich doch nicht, Herr. Das ist doch keine Ordnung. Wenn Sie mir etwas sagen, dann kann ich Sie doch nicht an der Nase herumführen.

Na also! sagte Pagel sehr zufrieden. Da haben wir also die Sache klar. Sie sind für Ordnung, Kowalewski, und was Herr von Studmann tut, das ist ordentlich. Aber was die Altloher tun, das ist nicht ordentlich! Sie verstehen wohl, was die tun, Kowalewski, aber ordentlich finden Sie es nicht, richtig finden Sie es nicht ...

Na ja, Herr, das mag ja so sein. Aber wenn die Zicke kein Futter hat –?

Hören Sie auf! rief Studmann. Ihr Erfolg hat nicht lange vorgehalten, Pagel!

Eine Weile gingen sie schweigend durch die Nacht. Die Sterne glitzerten auf einem fast schwarzen Himmelsgewölbe, und was sie um sich sahen, das waren nur Abstufungen von Schwarz zu Grau.

Nach einer Weile fing Pagel wieder an zu reden. Es war ihm etwas eingefallen, und was ihm eingefallen war, das paßte grade. Denn er fühlte, daß der ein wenig schulmeisterliche, pedantische Studmann einen Zorn auf den weichen Leutevogt hatte, der nur verschwommen dachte und fühlte, und er hatte den Trieb, Herrn von Studmann ein wenig mit dem Vater der netten Sophie auszusöhnen.

Im übrigen, sagte darum Pagel, macht sich der Herr Kowalewski ziemlich viel Gedanken um unsere Ernte, Studmann. Wir sind drei Wochen zurück, meint er.

Das stimmt! sagte der Leutevogt.

Wenig erfreulich, knurrte Studmann.

Es müssen möglichst bald Leute her, meint Kowalewski. Und da Herr Rittmeister ja in Berlin Schiffbruch erlitten hat (noch ein Mann mit 'nem Schiffbruch in Berlin, Studmann!), meint Kowalewski, wir müßten unbedingt ein Zuchthauskommando haben.

Ich, Herr? fragte Kowalewski erstaunt.

Ja, Ihre Tochter hat es mir heute erzählt. Und weil das Zuchthaus schon halb leer ist wegen der vielen Kommandos, müßten wir uns dranhalten, sonst gehen wir leer aus, meint Kowalewski.

Ich, Herr –? fragte der alte Mann immer erstaunter.

Ja, sagte Herr von Studmann, ich habe schon mit Herrn Rittmeister darüber gesprochen. Aber er meint, es macht viel Kosten. Und die Zuchthäusler verstünden nichts von der Landarbeit. Und Sie sind also dafür, Kowalewski?

Ich –? Nein, Herr. Das sind ja alles bloß Verbrecher.

Richtig; Leute, die geklaut haben. Aber Herr Pagel erzählt doch eben, daß Sie ihm erzählt haben ...

Seine Tochter, die Sophie, Studmann ...

Also Ihre Tochter. Ihre Tochter wird's ja wohl von Ihnen gehört haben ...

Von mir, Herr?

Also bitte, stellen Sie sich weiter dumm. Von mir aus, Kowalewski! Ich werde Sie nicht wieder stören. Er ging ein paar Schritte, blieb stehen, fragte sehr ärgerlich: Wie weit haben wir eigentlich noch zu gehen?

Ja, Herr, das hier rechter Hand ist die Roggenstoppel, wenn wir über die weggehen, kommen wir auf den Zuckerrübenschlag. Ja, meinen Sie denn, daß die Leute da wirklich sind? Herr von Studmann war plötzlich sehr unlustig.

Mit unsern Zuckerrüben ist es dieses Jahr nicht viel, die sind ein bißchen zu spät verzogen. Ich denke immer, wenn welche da sind, sind sie auf dem Weizen.

Und zum Weizen geht's hier gradeaus?

Drei, vier Minuten noch.

Wissen Sie was, Pagel – was sollen wir alle drei den Umweg machen? Laufen Sie schnell über die Roggenstoppel, revidieren Sie die Zuckerrüben und kommen uns dann so schnell wie möglich nach.

Jawohl, Herr von Studmann.

Leiser: Und da Sie wahrscheinlich doch keine Leute treffen werden, reichen Sie mir mal die Knarre rüber. – So, danke schön. – Na also denn! Weidmannsheil, Pagel!

Weidmannsdank, Herr von Studmann!

Die Hände in den Taschen schlenderte Pagel gemächlich über die Stoppel, den Blick mehr auf den Sternenhimmel als auf seinen Weg gerichtet. Die Schritte der andern waren schon verhallt. Durch die Schuhe fühlte er die feuchte Kühle des Taus, den er von der Stoppel streifte. Zum erstenmal war er froh, nicht mit Herrn von Studmann zusammen sein zu müssen. Schulmeister, Kindermädchen! ging es ihm durch den Kopf, und tat ihm doch gleich wieder leid. Er war ein fabelhaft anständiger Kerl, der Herr von Studmann, und sein Pedantentum war nur der Schatten, den seine vollkommene Zuverlässigkeit warf, eine heute fast ausgestorbene Eigenschaft.

Er allein wird sich's schwer dadurch machen, dachte Pagel, und er allein wird darunter leiden. Darin bin ich genau sein Gegenteil, ich bin zu lax, ich lasse die Dinge am liebsten laufen. Wenn mir was schiefgeht, so dadurch. Dies ist kein Hotelbetrieb, mit in sieben Wassern gewaschenen Oberkellnern, mit durchtriebenen Liftboys – der gute Studmann wird gewaltig umlernen müssen. Ich dagegen – na, jetzt grade wieder ...

Er sah um sich. Grauweißlich schimmernd dehnte sich die Roggenstoppel vor ihm. Der Boden unter seinen Füßen schien sich etwas zu senken, aber das dunkle Sternenlose, was er dort gegen den Himmel sah, war vielleicht der Zuckerrübenschlag.

Jetzt grade wieder, dachte er weiter. Ich müßte das rauskriegen.

Ich, Herr –? Nein, Kowalewski hat sich nicht dumm gestellt. Er hat wirklich nichts davon gewußt. Aber warum soll mich die Sophie beschwindelt haben? Was kann sie für ein Interesse an einem Zuchthauskommando haben, daß sie mich deswegen beschwindelt?! – Nein, dachte er energisch, das ist alles Unsinn. Das wird sicher ganz einfach zusammenhängen. Ich habe wahrhaftig genug an dem dämlichen Liebesbrief in meiner Tasche, ich will mir nicht noch mehr Gedanken machen. Ich will einfach meine Arbeit tun und von nichts wissen. Jetzt die Zuckerrüben ...

Er senkte den Blick, und mit einem Schlag war er anders geworden. Der Rand der hellen Roggenstoppel war nahe gerückt, nur noch fünfzig oder siebzig Schritte trennten ihn von dem Rübenschlag, der dunkel gegen den Sternenhimmel hügelan stieg. Aber so dunkel das Feld auch war, dunklere Punkte sah er sich darauf bewegen, manchmal klang es hell zu ihm herüber, wenn silbern ein Messer gegen einen Stein schlug. Dunklere Punkte – Pagel versuchte sie zu zählen. Sechs oder sieben –? Sechzehn –? Sechsundzwanzig – ach, es konnten über dreißig sein! Ein Heuschreckenschwarm, eine fliegende Plage, nächtlich eingefallen in die Gutsfelder ...

Wenn die Zicke Hunger hat – klang es in ihm. Aber nein, dies war keine hungrige Ziege, kein Idyll, dies war Bandenraub – sie mußten gefaßt werden!

Pagel greift nach der Gesäßtasche, aber schon im Griff erinnert er sich, daß die Tasche leer ist, er ist ohne Waffe. Immer langsamer gehend überlegt Pagel, ob er zurücklaufen, die andern rufen soll? Aber er, der die Diebe gegen den dunklen Blattgrund erkennen kann, muß längst, sich scharf von der helleren Roggenstoppel abhebend, bemerkt worden sein. Holt er erst Hilfe, sind sie fort! Daß sie ihn so ruhig herankommen lassen, beweist, daß sie ihn für einen von den Ihren halten.

Oder sie denken, mit einem brauchen wir keine Umstände zu machen, überlegt Pagel. Und so wird es denn wohl auch schiefgehen.

Aber bei all diesen raschen Erwägungen hat er doch nicht einmal innegehalten. Schritt für Schritt ist er der ›Räuberbande‹ näher gekommen, vielleicht ein wenig langsam, aber nicht die Furcht hat seinen Schritt langsamer gemacht. Nun ist er schon ganz nahe. Sein Fuß verläßt die trocken knirschende Roggenstoppel, feuchtlappig hängt das Rübenblatt über seine Schuhe. Gleich muß er sie anrufen. –

Wenn ich nur ein paar fasse, sechs oder acht, denkt er tröstend – und eine neue Idee kommt ihm. Er reißt die Jacke auf, greift aus der Westentasche das silberne Zigarettenetui, hebt es hoch in der Hand –: Hände hoch, oder ich schieße! brüllt er.

Das Etui schimmert blank im Sternenlicht.

Wenn sie es nur sehen, denkt er fieberhaft. Wenn sie es nur gleich sehen! Auf den ersten Augenblick kommt alles an. Wenn die Nächsten die Hände hochnehmen, machen es ihnen die andern nach.

Hände hoch! schreit er noch einmal, so laut er kann. Wer die Hände nicht hochnimmt, hat sofort einen Schuß in den Knochen!

Eine Frau kreischt weich und leise auf. Eine Männerstimme sagt ganz tief: Nee, was für Geschichten! – Aber sie haben die Arme hochgenommen, über das nächtliche Feld verstreut, steht die Schattenschar, ihre Hände reichen in den Sternenhimmel.

Ich muß brüllen, so laut ich kann, denkt Pagel fieberhaft erregt, damit die auf ihrem Weizenschlag hören, ich brauche Hilfe! Wenn sie nur schnell genug kommen –!

Und er brüllte einen Mann hinten an, den es gar nicht gibt, wenn er noch einmal die Hand runter nehme, hätte er seinen Schuß weg. Dabei hält er das silberne Etui so fest in der Hand, daß die scharfe Kante schmerzhaft in sein Fleisch schneidet. Die Leute, diese große Zahl Leute um den einen herum, stehen puppenhaft starr. Ihre unbewegte Haltung braucht nicht Ergebung in das Schicksal zu bedeuten, sie kann auch Drohung sein. Manchmal überkommt ihn die völlige Hilflosigkeit seiner Lage: er hier vor dreißig Leuten mit einem lächerlichen Etui in der Hand. Es braucht nur einer aufzumucken, und schon sind sie alle über ihn her. Nicht vor dem Totgeschlagenwerden hat er Angst: Aber sie werden mich verprügeln, die Weiber werden mir die Haare ausreißen, ich bin lächerlich geworden, ich kann mich nicht wieder im Dorf sehen lassen ...

Wieviel Zeit vergeht? Sind es Sekunden, die langsam ablaufen, Minuten? Wie lange steht er hier schon, mit erprahlter Macht inmitten von Machtlosen, die sich nur auf ihre Macht zu besinnen brauchen, um ihn zu demütigen –? Er weiß es nicht, die Zeit wird so lang, er schreit nicht mehr, er horcht: Kommen sie noch nicht?

Jemand räuspert sich, einer bewegt sich. Der mit dem Baß, ganz in Pagels Nähe sagt: Na, Herr, wie lange sollen wir so noch stehen? Meine Arme tun schon weh. Was soll denn daraus werden –?

Wollen Sie wohl still sein! schreit Pagel. Sie haben ganz still zu stehen, sonst kriegen Sie eine Kugel!

Er muß immer davon reden. Da er nicht einmal einen Schreckschuß abgeben kann, muß er sie doch mit Worten von seiner Gefährlichkeit überzeugen!

Aber nun kommt die Erlösung! Über die Roggenstoppel läuft Studmann, in weiterem Abstand folgt Kowalewski.

Atemlos, als sei er es, der so hastig gelaufen ist, ruft Pagel: Schießen Sie! Um Gottes willen, Studmann, schießen Sie einmal in die Luft, damit die Bande sieht, daß wir auch schießen können! Ich steh hier seit zehn Minuten mit meinem Zigarettenetui in der Hand ...

Sehr gut, Pagel, sagt Studmann – und ein Schuß, seltsam klein und trocken unter der Himmelsweite klingend, peitscht über die Köpfe der Leute weg.

Ein paar lachen. Der Boß sagt: Paßt auf, die schmeißen mit Knallerbsen!

Es lachen noch mehr.

In Zweierreihen zusammenschließen! ruft Studmann. Die Kiepen auf den Rücken! Es wird auf den Hof gerückt, wo die Namen festgestellt werden. Dann kann jeder nach Haus gehen. – Pagel, Sie nehmen die Spitze, ich den Schluß. Den alten Kowalewski lassen wir am besten ganz draußen, er kann hinterher zotteln. – Hoffentlich parieren sie. Wir können doch nicht wegen ein paar Rübenblättern schießen!

Warum nicht? fragt Pagel.

Die Rollen sind vertauscht. In Pagel zittert noch die Erregung des Abenteuers, die gefürchtete Niederlage – da er sich bedroht gefühlt hatte, sah er in den vermeintlichen Bedrohern schlimme Kerls, fast Verbrecher. Jede Maßnahme gegen sie schien ihm recht. Studmann, der gesehen hatte, wie sich dreißig Mann harmlos wie die Schafe von einem Zigarettenetui in Schach halten ließen, schloß darauf auf die Harmlosigkeit ihres Tuns. Alles war nur eine Lappalie.

Keiner von beiden, weder Studmann noch Pagel, hatte recht. Sicher waren die Altloher keine Verbrecher. Ebenso sicher waren sie fest entschlossen, nicht zu hungern, sich ihre Nahrung zu holen, wo sie zu finden war, da sie nichts zu kaufen bekamen. Eine erste Überrumplung nahmen sie fast mit Humor hin, bei einer zweiten konnten sie böse, bösartig werden.

Sie spürten ihren Hunger – und sahen das Riesengut, auf dem so unendlich viel wuchs. Der kleinste Bruchteil der Ernte, ein Eckchen vom Feld konnte ihren Hunger stillen, die ständig nagende Sorge zum Schweigen bringen. Der Rittmeister merkt ja gar nicht, was so eine Ziege frißt, sagten sie. – Was kann ihm ein Sack Kartoffeln ausmachen? In diesem Frühjahr hat er Tausende von Zentnern erfrorener Kartoffeln in die Stärkefabrik gefahren! – Im vorigen Jahr haben sie den Roggen so naß eingebracht, daß sie ihn nicht dreschen konnten. Alles war verfault – sie haben's nachher auf den Mist geschmissen!

Solange sie sich für ihren Lohn ihre Bedürfnisse hatten kaufen können, hatten sie gekauft, nicht gestohlen. Ein paar faule Köppe hatten immer ein bißchen gemaust, aber das waren eben die faulen Köppe gewesen, und sie wurden danach eingeschätzt. Aber nun konnten die Leute nichts mehr kaufen – und dann war der Krieg über sie hingegangen mit Tausenden von Verordnungen, die kein Mensch behalten und halten konnte, mit Zuteilung aller Lebensbedürfnisse auf Karten, mit denen man nur hungern und verhungern konnte. Viele Männer waren im Felde gewesen; dort hat es nicht für eine Schande gegolten, sich zu ›besorgen‹, was man brauchte. Allmählich hatte sich die Moral gelockert, es war keine Schmach mehr, Gesetze zu übertreten. Es war nur eine Schmach, sich dabei erwischen zu lassen. Laß dich bloß nicht erwischen! – diese immer volkstümlicher werdende Redensart kennzeichnete den Verfall aller Sitten. Alles war verwirrt. Keiner fand sich mehr zurecht. Es war immer noch Krieg. Trotz Friedensschluß war der Franzose immer noch Feind. Jetzt war er an der Ruhr eingerückt, es sollten dort schreckliche Dinge geschehen.

Wie konnten die Leute anders denken, als sie dachten – anders handeln, als sie handelten? Wenn sie an der Villa vorbeigingen und hörten die Teller klappern, so sagten sie: Ja, der hungert nicht! Arbeiten wir weniger als er? Nein, wir arbeiten mehr! Warum sollen wir hungern und er nicht?

Haß entsprang dieser Erwägung. Hätten sie vor zehn Jahren solch Tellerklappern gehört, so hätten sie gesprochen: Ja, der kann Kalbsbraten essen, und unser Pökelfleisch ist schon ganz strohig. – Das war Neid – Neid ist kein Gefühl, das einen Auftrieb gibt, einen Menschen kampflustig macht –, starke Hasser aber werden starke Kämpfer!

Dieses Mal hatten sie sich erwischen lassen, ein erstes Mal erwischen lassen, so gingen sie gutwillig mit. Nach fünf Minuten schon schwatzten sie und lachten. Es war einmal etwas anderes, ein nächtliches Abenteuer! Was konnte ihnen groß geschehen? Ein paar Rübenblätter!

Sie sprachen Wolfgang an, sie sagten es ihm: Na, und was weiter, Herr? fragten sie. Ein paar Rübenblätter! Da schreiben Sie nun unsere Namen auf, melden's dem Amtsgericht, Felddiebstahl. Das hat früher drei Mark gekostet, heute kostet es ein paar Millionen. Und was weiter? Bis wir das Strafmandat bezahlt haben, ist es gar nichts mehr, kein Pfennig mehr – die können uns auf unsern kleinsten Schein nicht mal rausgeben, so wenig ist das dann! Und deswegen die Knallerei?

Ruhe! befahl Pagel ärgerlich. Das nächste Mal wird nicht in die Luft geschossen!

Ach, wegen ein paar Rübenblättern wollen Sie einen Menschen unglücklich machen? So sind Sie also! Gut, daß man das weiß. Andere Leute können auch schießen!

Stille biste! riefen die Leute. So was sagt man nicht.

Ruhe! rief Pagel scharf. Ihm war, als hätte er am Wege Gestalten gesehen. Konnte es der Rittmeister mit seiner Frau gewesen sein –? Unmöglich! Der hätte ein paar anerkennende Worte gesagt.

In leidlicher Ordnung ging es auf den großen Rittergutshof. Nun wurde doch Schimpfen laut, als die Leute vor dem Kuhstall ihre Kiepen entleeren mußten. Sie hatten wohl geglaubt, für ihr Strafmandat die Blätter nach Haus nehmen zu können.

Was sollen wir nun unserer Ziege geben –?

So ein Tier versteht das doch nicht. Das verlangt sein Futter. Müssen wir eben gleich noch mal losgehen!

Stille biste –!

Der Humor war fort; ärgerlich, ausfallend, bissig, trotzig wurden die Namen gesagt. Aber sie wurden gesagt. Kowalewski brauchte keine Rippenstöße zu geben.

Das nächste Mal kriegen Sie mich nicht wieder, erklärte einer.

Schreiben Sie Georg Schwarz II, Herr Inspektor, meinte ein anderer. Vergessen Sie die II nicht. Ich will nicht, daß mein Vetter mit so 'nem Scheißdreck zu tun hat.

Weiter, sagte Studmann müde. Pagel, sehen Sie zu, daß es ein bißchen rascher geht. Weiter!

Schließlich: Guten Abend, Kowalewski. – Ach ja, schönen Dank. Sie werden wohl keine Unannehmlichkeiten davon haben?

Nein – ich nicht. Guten Abend.

Sie waren nun beide allein. Studmann und Pagel. Auf dem Schreibtisch lag unordentlich Papier, der schön gewachste Boden des Büros war beschmutzt und voller Sand. Es knirschte bei jedem Schritt.

Studmann stand auf vom Schreibtisch, sah Pagel kurz an und meinte: Eigentlich sind wir ganz fidel um halb neun losmarschiert, was?

Ja, auch der Weg war schön, trotz Ihres Streites mit dem Vogt.

Ja, es will nicht in seinen Kopf. Und auch in den Kopf der Leute will es nicht. Das ist bestimmt genau wie im Hotel in Berlin: alles, was wir tun, ist für die bloß Schikane, Gemeinheit.

Man soll von den Leuten nicht zuviel verlangen, Studmann, sie können ja schließlich nicht anders.

Nein, die nicht, aber –

Aber –?

Studmann antwortete nicht. Er war ans Fenster getreten, lehnte sich hinaus. Eine Weile verging so, dann wandte sich Studmann wieder in das Büro zurück und sagte halblaut, wie zu sich: Nein, er kommt nicht ...

Wer kommt nicht? Warten Sie noch auf jemanden?

Ach ... sagte Studmann abweisend. Dann aber besann er sich: Schließlich haben Sie die Hauptsache zu diesem Erfolg getan, Pagel. – Ich dachte, der Rittmeister würde noch kommen, um uns, Ihnen zu danken.

Der Rittmeister –?

Sie haben ihn nicht gesehen?

Mir war so ... am Wege ... war er das wirklich?

Ja, das war er. Er versuchte sich zu drücken. Ich habe ihn angesprochen. Aber es war ihm sichtlich peinlich. Der gute Prackwitz wünschte, daß ihn die Leute nicht sähen ...

Aber wieso denn –? fragte Pagel sehr erstaunt. Er will doch grade, daß wir dem Felddiebstahl ein Ende machen?

Natürlich! Aber wir sollen es eben tun! Wir, Pagel! Nicht er, er möchte nichts damit zu tun haben.

Pagel pfiff nachdenklich durch die Zähne.

Ich fürchte, Pagel, wir haben einen Chef, der recht scharfe Beamte wünscht, damit er um so milder scheinen kann. Ich fürchte, wir werden wenig Rückendeckung bei Herrn von Prackwitz finden ... Er starrte noch einmal zum Fenster. Ich dachte, er würde wenigstens hierherkommen. Aber dann eben nicht. Sind wir beide aufeinander angewiesen, geht auch, was?

Großartig, sagte Pagel.

Keinen Zorn aufeinander, immer gleich aussprechen. Keine Geheimnisse voreinander, immer alles erzählen, jede Kleinigkeit. Wir sind gewissermaßen in einer belagerten Festung, ich fürchte, Neulohe wird schwer für den Rittmeister zu halten sein. – Pagel, haben Sie was –?

Pagel zog die Hand von seiner Tasche zurück. ›Es ist nicht mein Geheimnis‹, dachte er. ›Ich muß erst mit der Kleinen reden.‹

Nein, nichts, sagte er laut.

Zeitungen, Zeitungen ...

Die Leute, sei es in Neu- oder Altlohe, sei es in Berlin, sei es sonstwo im Reich, hielten sich Zeitungen. Sie lasen in diesen Zeitungen. Mehr Leute hielten sich Zeitungen als in früheren Zeiten, sie sahen nach den Dollar-Notierungen. Noch gab es keinen Rundfunk, aus den Zeitungen erfuhren sie die Notierungen, und während sie die Blätter auf der Suche nach diesen Millionenzahlen umschlugen, sprangen ihnen, sie mochten wollen oder nicht, in großen Schlagzeilen die Geschehnisse ins Auge. Viele wollten nichts davon lesen, seit sieben Jahren waren sie mit immer größeren Schlagzeilen genährt worden, sie wollten nichts mehr hören von der Welt. Die Welt brachte nichts Gutes. Wenn es nur irgend anging, wollten sie allein leben für sich. Aber es half ihnen nichts, sie konnten sich nicht lösen, sie waren Kinder ihrer Zeit, die Zeit sickerte in sie hinein.

Es geschah viel in dieser Zeit. In diesen heißen Erntetagen lasen die Leute davon, daß die Regierung Cuno schon wieder wankte, sie sollte dem Wucher Vorschub geleistet, die Lebensmittelknappheit verschuldet haben. An der Ruhr saß noch immer mit schwarzen Regimentern der Franzose, keine Hand arbeitete dort, kein Schornstein rauchte. Das hieß man den passiven Widerstand, und mit neuen Steuern, neuen Abgaben, die der Besitz durch seine Entwertung bezahlen sollte, dachte man diesen Widerstand zu finanzieren. In der Zeit vom 26. Juli bis zum 8. August stieg der Dollarkurs von siebenhundertsechzigtausend auf vier Millionen achthundertsechzigtausend Mark! Der Reichsbankdiskont wurde von achtzehn auf dreißig Prozent erhöht.

Aber trotz des Widerstandes, trotz des Einspruchs von England und Italien, der das Vorgehen Frankreichs für widerrechtlich erklärt, setzt Frankreich seinen Krieg im Frieden fort. Verlegenheiten muß man Deutschland schaffen, erklärt es, sonst zahlt es doch nicht. Diese Verlegenheiten heißen jetzt schon: über 100 Tote, 10 Todesurteile, ein halbes Dutzend lebenslängliche Verurteilungen, Geiselverhaftungen, Bankraub, Vertreibung von hundertzehntausend Menschen von Haus und Hof. Deutschland soll niederbrechen, aber zahlen!

Von diesen Dingen lasen die Leute in den Zeitungen, sie sahen sie nicht, aber sie fühlten sie. Die Dinge gingen hinein in sie, wurden Teil von ihnen, bestimmten Schlaf und Wachen, Traum und Trunk, Essen und Auskommen.

Verzweifelte Lage eines verzweifelten Volkes, verzweifelt handelt jeder einzelne Verzweifelnde.

Wirre, irre Zeit ...


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