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Es war Oktober geworden, es wurde immer nässer, immer windiger, stets kälter in Neulohe. Immer mehr Schwierigkeiten hatte Wolfgang Pagel, die notwendigen Leute zum Kartoffelbuddeln zusammenzubringen. Hatten sie im September noch drei Leiterwagen in die Kreisstadt zum Leuteholen senden können, die voll auf den Schlägen angerasselt kamen, so war's im Oktober schließlich nur einer, auf dem verdrießlich ein paar Weiblein, in Säcke und Wolltücher verpackt, saßen.
Schimpfend und jammernd quälten sie sich durch das triefnasse Kraut über die Schläge, die immer größer zu werden schienen. Zweimal schon hatte Pagel den Lohn erhöhen müssen. Hätte er ihn nicht in natura, hätte er ihn nicht in Kartoffeln gegeben, diesem notwendigen Lebensbedarf, der den Bauch füllt und sogar das liebe Brot ersetzen kann – es wäre keiner mehr gekommen. Aber der Dollar stieg in diesen Oktobertagen von 242 Millionen Mark auf 73 Milliarden; durch das ganze deutsche Land kroch der Hunger, die Grippe folgte ihm, eine unerhörte Verzweiflung erfüllte die Leute – jedes Pfund Kartoffeln war ein Zaun zwischen ihnen und dem Tode.
Wolfgang Pagel ist nun Alleinherrscher auf Rittergut Neulohe, über Gut und Forst. Er hat viel zu tun, er kann nicht mehr auf dem Kartoffelacker stehen und eine Blechmarke für jeden gebuddelten Korb ausgeben. Der Roggen für das nächste Jahr muß gesät, die Äcker müssen gepflügt werden. In der Forst fängt der Brennholzeinschlag an, und wenn man dem alten Kniebusch nicht alle Tage den Rücken steifte, legte der sich am liebsten ins Bett und stürbe so langsam vor sich hin.
Aber wenn Wolfgang auf seinem Rad beim Kartoffelschlag ankommt, und der alte Kowalewski tritt ihm immer hohläugiger und verfallener entgegen und jammert: Wir schaffen es nicht und wir schaffen es nicht, junger Herr! Auf diese Art buddeln wir noch im Januar bei Schnee und Eis!
Dann sagt Wolfgang lachend: Wir werden es schon schaffen, Kowalewski! Weil wir es nämlich schaffen müssen. Weil nämlich in der Stadt Kartoffeln bitter nötig gebraucht werden!
Und bei sich denkt er: ›Und weil das Gut das Geld für die Kartoffeln bitter nötig braucht!‹
Aber wir müßten mehr Leute haben! jammert Kowalewski.
Woher soll ich sie denn nehmen? fragt Pagel ein bißchen ungeduldig. Soll ich etwa wieder ein Zuchthauskommando kommen lassen?
Ach Gott, nein! ruft der alte Kowalewski erschrocken aus, viel zu erschrocken, findet Pagel.
Er sieht nachdenklich auf die buddelnden Leute und sagt unmutig: Das sind ja auch alles bloß Städter, das schafft nicht bei denen. Es ist zu ungewohnte Arbeit für sie. Wenn wir nur die Altloher dazu kriegten –!
Die kriegen wir nie! sagt Kowalewski ärgerlich. Die stehlen sich nachts ihren Kartoffelvorrat aus unsern Mieten.
Freilich tun sie das! seufzt Pagel. Ich sehe ja jeden Tag die Löcher in den Mieten und darf sie wieder zumachen lassen. – Ich nehme mir auch immer vor, in der Nacht hinaus zu gehen und zu sehen, daß ich einen erwische, Kowalewski, gesteht Wolf. Aber ich schlafe immer schon über dem Abendessen ein.
Es ist auch zuviel, was der junge Herr hat, stimmt Kowalewski zu. Das ganze Gut und die ganze Forst und alle Schreiberei, das hat noch keiner gemacht. Da müßte Hilfe her.
Ach, Hilfe, antwortet Pagel abweisend. Es weiß doch noch keiner, was hier werden wird.
Sie schweigen beide einen Augenblick. Dann sagt Kowalewski hartnäckig: Aber die elenden Altloher Kartoffeldiebe – das ist Sache der Gendarmerie. Die müßte der junge Herr mal anrufen.
Die Gendarmerie, antwortet Pagel. Nein, lieber nicht. Bei denen sind wir nicht sehr beliebt mehr, Kowalewski, wir haben ihnen im letzten halben Jahr zu viel Arbeit gemacht.
Nun schweigen sie beide. Aus dem Dunkel kommt mit jedem Karstschlag der gelbliche, bräunliche Kartoffelsegen ans Himmelslicht. Pagel könnte nun wieder gehen, er hat sich überzeugt, wie weit die Arbeit vorwärts gerückt ist. Aber er hat dem alten Kowalewski noch etwas zu sagen, und so weich ist der junge Pagel nicht mehr, daß er sich scheut, einem andern etwas zu sagen, auch wenn es etwas Unangenehmes ist. Wenn es gesagt werden muß, sagt er es.
Hören Sie, Kowalewski, sagt er. Ich habe heute früh Ihre Sophie im Dorf gesehen. Sie ist also noch immer zu Haus.
Der alte Mann wird sehr verlegen. Er stottert: Sie muß Ihre Mutter pflegen – meine Frau ist krank.
Das letzte Mal haben Sie mir gesagt, sie geht zum ersten Oktober in Stellung. Jetzt sagen Sie mir, sie muß ihre Mutter pflegen. Sie sagen mir nicht die Wahrheit, Kowalewski. So geht das nicht. Wenn sie hier in unserer Werkwohnung wohnt, so muß sie auch arbeiten.
Kowalewski ist sehr blaß geworden. Ich habe keine Gewalt über das Mädel, junger Herr, entschuldigt er sich. Sie hört nicht, wenn ich ihr etwas sage.
Kowalewski, alter Kerl! ruft Pagel. Seien Sie doch nicht so schlapp! Sie wissen doch selbst, wie nötig wir jede Hand brauchen, und Sie wissen auch, wenn die Tochter vom Leutevogt faul ist, wollen's die Töchter von den Arbeitern erst recht sein.
Ich werde es ihr ausrichten, junger Herr, sagt Kowalewski kummervoll.
Ja, tun Sie das, und sagen Sie ihr, daß ich sonst noch eine Familie in das Haus setze, dann habt ihr nur noch Stube, Kammer und Küche. Mahlzeit, Kowalewski, mir knurrt der Magen.
Der junge Pagel setzt sich auf sein Rad und fährt nach Haus zum Mittagessen. Er ist zufrieden, daß er die Sache mit der Sophie Kowalewski endlich in Ordnung gebracht hat: so oder so. Er hat sie ein bißchen verbummelt, er hat ein wenig viel um die Ohren gehabt in letzter Zeit. Aber immer, wenn er das Mädchen einmal wieder im Dorf sah, fiel ihm ein, daß es unmöglich war, ein solches Exempel von Faulheit zu dulden. Es war schon schwer genug, die Leute in diesen Zeiten bei der Arbeit zu halten, sie fanden immer, das Geld war kein Entgelt für ihre Arbeit; aber sie bekamen ja nicht nur dies Dreckgeld, in der Hauptsache erhielten sie Naturalien. Es war nicht nötig, daß jemand im Dorf dahinlebte wie eine Lilie auf dem Felde – und unser Herrgott nähret sie doch! Im Gegenteil, ganz im Gegenteil, meine verehrte Sophie, dies sind nicht die Zeiten, sich auf seinen Gott im Himmel zu verlassen! Dies sind die Zeiten zu arbeiten, daß die Schwarte knackt!
Wolfgang Pagel kann nicht leugnen, daß er eine richtige Wut auf die Sophie hat. Früher hatte er einmal Sympathien für sie, dunkel erinnert er sich einer gewissen Szene an den Krebsteichen – sie verteidigte mutig die Kleider der Herren gegen den kriegerischen Kniebusch. Aber entweder hatte er sich in seinen Sympathien getäuscht, oder das Mädchen hatte sich geändert.
Sie hatte so eine verfluchte, nachlässige Art, im Dorf herumzuschlendern; sie stellte sich neben die Leute, die arbeiteten, und sah ihnen überlegen zu. Ja, sie hatte einmal die Frechheit gehabt, ihm, als er auf dem Rad vorbeiflitzte, nachzurufen: Immer fleißig, Herr Pagel?!
Was über die Hutschnur ging, sollte man nicht dulden, und wenn sie morgen nicht Kartoffeln buddelte, setzte er Kowalewski übermorgen die schwarze Minna mit allem schreienden, streitenden, Krach machenden Anhang ins Dachgeschoß! –
Er ist auf dem Hof angekommen, er geht noch einmal rasch durch die Ställe. Der Großspänner spricht ihn an, er behauptet, es ist zu naß zum Roggen drillen, die Schare schmieren. So etwas ist schlimm für Pagel, denn er versteht ja nichts von Ackerbau und Viehzucht, und doch muß er anordnen und entscheiden. Aber im allgemeinen helfen ihm die älteren Leute gerne; wäre er hier als vielerfahrener Inspektor aufgetreten, sie hätten ihm mit Vergnügen Streiche über Streiche gespielt. Aber da er nie so tat, als wenn er etwas wüßte, wo er gar nichts wußte, waren sie hilfreich. Man ahnte gar nicht, was an Erfahrung und Beobachtung in diesen alten Leuten steckte; Pagel hörte ihnen gerne zu, aber über den dicken Lehrbüchern schlief er ein.
So fragte er dieses Mal auch nur: Was machen wir dann, und der Großspänner meinte, daß auf den leichteren Außenschlägen das Pflügen noch ginge. Gut, sagte Pagel. Also pflügen wir.
Und ging zum Mittagessen.
Das Mittagessen nimmt er auf dem Büro ein – das Büro ist überhaupt Wohn-, Eß-, Arbeits-, Rauch- und Lesezimmer für ihn, und nebenan schläft er noch immer. Aber obwohl Herr von Studmann nicht mehr in Neulohe weilt, nimmt er seine Mahlzeiten nicht allein ein. Er hat eine Tischgefährtin, ein Gegenüber an diesem säuberlich weiß gedeckten Schreibtisch: Amanda Backs.
Ja, Amanda Backs steht schon wartend da, sie sagt zufrieden: Gott sei Dank, daß Sie mal pünktlich sind, Herr Pagel. Ziehen Sie sich nur schnell trocken an, ich hole sofort das Essen.
Schön, meint Pagel und geht in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen und zu waschen.
Es ist sehr möglich, ja, es ist sogar fast sicher, daß die bekannten Mäuler im Dorf diese Tischgemeinschaft Pagel-Backs auch in eine Bettgemeinschaft umlügen, zumal bei dem bekannten Vorleben der Backs. Aber im Grunde hatte sich alles ganz von selbst und höchst natürlich ergeben. Als an jenem ersten Oktober, nach der Verhaftung der Zuchthäusler, die Mädchen aus dem Schloß ohne Kündigung, Gehalt und Zeugnis in alle Welt flüchteten, in einer hühnerhaften Angst vor einem Strafverfahren wegen Begünstigung entflohener Gefangener, gar nicht zu erwähnen das gefürchtete Gespött der Dorfleute – da blieb die öffentlich in einer Abendandacht bescholtene Amanda Backs als einzige unbescholtene Person auf dem Schloß zurück. Mit dem alten Diener Elias natürlich, aber der fuhr dann auch am zweiten Oktober ab, zu seiner Herrschaft, zur Berichterstattung vermutlich, denn Pachtgeld hatte er nicht zu überbringen. Und kam nicht wieder.
In den ersten Oktobertagen hatte Wolfgang Pagel den Kopf viel zu voll mit tausenderlei Dingen, um sich besonders lebhafte Sorgen um die alte Fachwerkscheune, das Schloß, zu machen. Aber dann lief er der Amanda eines Tages in den Weg, und sie stellte ihn und fragte ihn auf den Kopf zu, was er sich denn eigentlich denke, was er sich einbilde? Sie graule sich ja nicht gradezu in dem großen, alten Kasten als einzige Bewohnerin, aber angenehm sei es auch wieder nicht. Und es müsse unbedingt etwas geschehen oben, ehe die alte Herrschaft wiederkomme, es liege von der Sauferei herum wie Kraut und Rüben, und im Saal seien auch zwei Fenster zerbrochen. Jetzt regne es hinein, und die Pfützen ständen auf dem Parkett seit Tagen!
Pagel, der abgehetzte, ein wenig niedergeschlagene Pagel, der in drei Tagen keine zehn Stunden Schlaf bekommen hatte, sah die rotbäckige, derbe Amanda nachdenklich an, rieb sich das reichlich unrasierte Kinn und fragte: Ja, wollen Sie denn nicht auch rücken, Amanda?
Und wer soll mein Geflügel besorgen?! hatte sie recht empört dagegen gefragt. Jetzt grade, wo es in den Winter geht, wo die Enten und Gänse fett werden sollen, und wo man gar nicht genug zufüttern kann? Ich und rücken –? Keine Ahnung!
In der Villa suchen sie händeringend nach einem vernünftigen Mädchen, hatte Pagel vorgeschlagen. Sie werden es ja gehört haben, die Lotte ist jetzt auch fortgelaufen. In die Villa möchten Sie wohl nicht?
Nein, hatte Amanda Backs mit aller Deutlichkeit geantwortet. In die Villa will ich nicht. An die Doofheit von meinem Federvieh bin ich gewöhnt, aber an die Doofheit von meinen Mitmenschen werde ich mich nie gewöhnen. Die macht mich immer fuchsteufelswild, und dann tauge ich zu nichts.
Schönschön, hatte Pagel eilig gesagt. Ich gebe Ihnen dann heute abend Bescheid. Und war fortgegangen.
Er hatte vorgehabt, mit der gnädigen Frau über diesen gar nicht in seinem Geschäftsbereich liegenden Fall zu sprechen. Aber die gnädige Frau war wieder mit dem Wagen fortgefahren, und es war ungewiß, wann sie zurückkommen würde. Der Rittmeister schied für alle Rückfragen aus; der lag noch immer recht unruhig zu Bett, und der vom Arzt bestellte Krankenpfleger saß bei ihm und hatte mit dem oft aufgeregten Mann mehr zu tun, als ihm lieb war. Und sonst gab es in dem großen, volkreichen Neulohe keinen Menschen, den er um Rat fragen konnte.
So ließ sich denn, nach einigem Nachdenken, der junge Wolfgang Pagel am Telefon das Hotel Kaiserhof in Berlin geben und verlangte den Herrn Geheimrat von Teschow-Neulohe zu sprechen.
Bedaure sehr, die Herrschaften sind abgereist.
Abgereist? Es gab ihm doch einen Stoß. Wann, bitte?
Am dritten Oktober.
Also direkt nach der Ankunft des alten Elias, nach seinem Bericht.
Wollen Sie mir bitte seine Adresse geben!
Bedauern sehr – es ist uns ausdrücklich untersagt, die Adresse weiterzugeben!
Hier spricht die Gutsverwaltung Neulohe – die Gutsverwaltung des Herrn Geheimrat selbst, sagte Pagel mit all seiner Selbstbeherrschung. Ich brauche seine Adresse unbedingt für eine sehr wichtige Entscheidung. Ich müßte Sie für allen aus der Verweigerung entstehenden Schaden haftbar machen!
Einen Augenblick bitte. Ich will mal nachfragen. Bleiben Sie am Apparat.
Nach einigem Hin und Her bekam Wolfgang dann doch die Adresse. Er brauchte sie nicht, aber es interessierte ihn, wo diese Leute hinfuhren, wenn ihre Tochter verzweifelt, ihre Enkelin verloren war.
Die Adresse lautete: Nizza, Frankreich, Azurküste, Hotel Imperial.
Ich danke verbindlichst, sagte Wolfgang und legte den Hörer auf.
Eine Weile saß er still, mit einem aufmerksamen Gesicht. Sein Auge sah nichts auf dem Büro. Sondern er sah etwas anderes. Es sah die kleine, vertrocknete Frau mit dem scharfen Vogelgesicht und den eiligen Augen. Sie hetzte die Dienstboten von einer Arbeit zur andern, sie war hohl wie eine taube Nuß, aber sie füllte sich mit dem Leben der andern, mit jedem Leben, ganz egal welchem! Sie hatte aus der Religion eine Beschäftigung gemacht, sie benützte sie, um in die andern hineinzukriechen. Sie war wie eine Made, sie lebte von den verwesten Lebensabfällen ihrer Mitmenschen.
Es sah den grimmigen Rauschebart mit seiner falschen Fröhlichkeit, kräftig schwitzend, in Loden gekleidet. Dort unten, an Frankreichs Azurküste, würde er ja nun keinen Loden tragen, aber damit war nichts geändert. Er saß und er rechnete, er setzte listige Verträge auf und schrieb Geschäftsbriefe mit Widerhaken –: Alles, was er sah, setzte sich ihm in Erwerb, Geld, Verdienst um. Jawohl, es hieß, er liebe seinen Wald – und das tat er auch. Aber er liebte ihn wiederum auf seine eigene Weise, er liebte nicht etwas Lebendiges, Wachsendes, Ewiges – er liebte mit dem Erwerbssinn, er liebte so und so viel Festmeter schlagbares Holz. Eine Fichtendickung war für ihn kein grüngoldenes Geheimnis, sie bedeutete ihm, daß man bei der Durchforstung so und so viel hundert Bohnenstangen herausschlagen konnte.
Er tot, sie tot – aber hatte man nicht doch gedacht, sie liebten sich wenigstens in ihrer Tochter, ihrer Enkelin? Da sah man, wie diese Liebe aussah – aus Furcht, in eine schmähliche Geschichte hineingezogen zu werden, fliehen sie ohne Hilfe, ohne Güte, ohne Gnade in die andere Ecke Europas, nebenbei in jenes Frankreich, das, die Ruhr noch immer besetzt haltend, sich weiter feindselig weigert, mit einer deutschen Regierung zu verhandeln.
So sahen sie aus, alte Leute, zur Ruhe gesetzte Leute, wie man so sagt. Aber die Frau ließ die eigene Hohlheit nicht zur Ruhe kommen und den Mann nicht das Geld, das er doch nicht anzuwenden wußte ...
Der junge Pagel, der noch immer am Telefon sitzt, tut etwas Merkwürdiges, als er so weit mit seinen Gedanken ist: er nimmt aus seiner Brieftasche einen Geldschein. Er brennt ein Streichholz an und verbrennt den Schein. Es ist wirklich der junge Pagel, der dies tut, der noch sehr junge Pagel. Es ist eine symbolhafte Handlung: ach Himmel, laß mich nie das Geld so lieben, daß ich mich nicht von ihm trennen kann!
Und nebenbei ist es eine Entbehrung, die er sich auferlegt. Es ist Sonnabend abend, die Löhnung hat die Gutskasse völlig entleert, es ist sein letzter Schein gewesen, er wollte sich dafür Zigaretten holen. Nun kann er bis Montag nicht rauchen. Jawohl, so jungenhaft ist er auch noch, trotz aller Erlebnisse der letzten Zeit. Aber doch auch wieder so stark! Er pfeift, wenn er daran denkt, daß er nur noch drei oder vier Zigaretten hat.
So pfeifend trommelt er einen Haufen Frauen zusammen, holt sich den Stellmacher. Noch am Sonnabend abend läßt er das Schloß notdürftig instand setzen, die Fenster werden frisch verglast, die Türen abgeschlossen! Fertig sind wir mit den Teschows!! Und Sie, Amanda, ziehen also mit Sack und Pack in Herrn von Studmanns Zimmer. Wenn Sie nämlich keine Bedenken haben?
Von wegen dem Geschwatze von den Leuten, Herr Pagel? Was ich mir dafür kaufe! Immer reden und reden lassen, das sage ich.
Richtig. Und wenn Sie sich nebenbei meines Essens und meiner Wäsche erbarmen wollen – damit sah es in der letzten Zeit etwas kummervoll aus.
Die schwarze Minna –
Die schwarze Minna muß in der Küche der Villa aushelfen, und außerdem ist sie die einzige von allen Weibern, die vor dem Rittmeister keine Angst hat. Der Pfleger muß ja auch mal an die frische Luft, da vertritt sie ihn.
So ist's richtig! sagte Amanda tief befriedigt. Dafür paßt sie! Die und vor Männern Angst, Herr Pagel –? Die hat immer viel zu wenig Angst vor den Männern gehabt, und das Gequake, das von zu wenig Angst kommt, das können Sie sich ja alle Tage anhören, wenn Sie am Armenhaus vorbeikommen, Herr Pagel.
Sie haben ein ganz schändliches Maulwerk, Amanda, hatte Pagel halb lachend gesagt. Der schwerkranke Herr Rittmeister und die schwarze Minna – nein, ich weiß doch nicht, ob es mit uns beiden lange gut gehen wird.
Ich lasse Sie reden, und Sie lassen mich reden, hatte Amanda sehr zufrieden geantwortet. Das ist doch alles ganz einfach. Warum soll es da nicht gut gehen mit uns, Herr Pagel?
Die Frau, die dicke, verfettete Frau, deren ganzer Lebensinhalt nur nach Essen war, saß schon am Tisch und löffelte aus einer Terrine, als der Leutevogt Kowalewski müde und naßgeregnet heimkam. Kowalewski warf einen Blick in die Suppenschüssel, er runzelte die Stirn, aber er bezwang sich. Er schnitt sich einen Kanten Brot ab, strich Schmalz darauf und fing auch an zu essen, aber nicht von der Suppe.
Die kauende Frau warf aus kleinen Augen einen bösen Blick auf ihn, auch sie wollte etwas sagen, aber ihre Gier war zu groß, bei ihr war es die Gefräßigkeit, die sie nicht zum Sprechen kommen ließ.
So saßen die beiden alten Leute schweigend am Tisch, beide essend, er das Brot, sie die Hühnersuppe.
Erst als der schlimmste Hunger der Frau gestillt war, tat sie den Mund auf. Sie schalt: Schön dumm bist du! Die gute Hühnersuppe! Davon wird es auch nicht anders, daß du keinen Bissen anrührst! Sie kellte in der Suppe herum, sie fand wirklich noch eine Keule. Über dem Anblick der Keule vergaß sie fast ihren Zorn auf den Mann, sie rühmte: So ein fettes Huhn, wie das war! Ja, Haases füttern gut. Über fünf Pfund hat es gewogen, und was es für Fett hatte, schönes, schieres gelbes Fett, das gibt aus für die Suppe! Sie schmatzte.
Ist die Sophie oben? fragte der alte Mann mutlos.
Kauend: Wo soll sie denn sonst sein? Die schlafen doch noch! Sie aß langsam weiter, obwohl sie eigentlich nicht mehr essen konnte. Zum Übermaß gesättigt, schwelgte sie schon in der Hoffnung auf neue Mahlzeiten: Heute nacht sollen wir eine Rehkeule kriegen, Rehkeule mag ich gerne, wenn sie richtig durch ist! Und wenn es erst gefroren hat, will er uns auch ein Fettschwein bringen ...
Ich brauche kein Schwein, ich will das Schwein nicht! rief der alte Kowalewski verzweifelt, gepeinigt aus. Wir sind immer ehrlich gewesen – und nun? Diebe und Diebsgenossen! Keinen kann man mehr grade ansehen –!
Reg dich bloß nicht auf! sagte die Frau gleichgültig. Du weißt, er läßt sich nichts gefallen von dir. Diebe –! Diebstahl ist es doch erst, wenn man gefaßt wird, aber dafür ist er viel zu schlau! Er ist zehnmal schlauer als du! Hundertmal!
Er muß endlich aus dem Haus ... murmelt Kowalewski.
Ja, das sieht dir ähnlich! schrie die Fresserin wütend. Endlich mal einer, der für uns sorgt – und da soll er aus dem Hause! Aber ich sage dir, wenn du Stunk mit ihm anfängst, ich sage dir ... Sie schwenkte den Löffel, sie wußte nicht, mit was sie ihm drohen sollte. Ihre kleinen, im Fett ertrinkenden Augen irrten von dem Mann ab, suchten in der Stube umher ... Ich esse dir alles weg, verhungern sollst du! schrie sie die schlimmste Drohung, die sie sich ausdenken konnte.
Ihr Mann sah sie einen Augenblick trübe an. Wie die Mutter die Tochter, dachte er. Eigensüchtig, gierig, gierig –!
Er drehte sich um und ging aus der Stube zur Treppe. Wenn du raufgehst zu ihm! Wenn du Stunk mit ihm anfängst! schrie sie ihm nach.
Kowalewski stieg schon die Treppe hinauf. Einen Augenblick stand er rasch atmend vor der Tür zum Zimmer der Tochter, fast verlor er wieder den Mut. Dann klopfte er.
Wer ist denn da? fragte nach einer Weile die Stimme Sophies ärgerlich.
Ich – Vater, antwortete er halblaut.
Es gab ein Tuscheln drinnen, aber dann wurde doch der Schlüssel im Schloß umgedreht. Sophie stand in der Tür. Sie sah böse in ihres Vaters Gesicht, sie schalt: Was willst du denn?! Du weißt doch, daß Hans seinen Schlaf braucht. Erst macht ihr solchen Krach unten, daß man kein Auge zutun kann, und jetzt kommst du auch noch rauf. Was ist denn los?
Treten Sie näher, Schwiegervater! rief die freundliche, falsche Stimme drinnen. Freut mich ungeheuer. Sophie, schwatz nicht, rede nicht, das ist hoher Besuch. Der Herr Schwiegervater! Platzen Sie bitte, alter Herr! Gib ihm doch 'nen Stuhl, Sophie, daß er platzen kann! Entschuldigen Sie bloß, Schwiegervater, daß wir noch im Bette liegen. Hätte ich von dem hohen Besuch gewußt, ich hätte meinen Frack angezogen ...
Er sah den verängstigten alten Mann grinsend an. Das heißt, genau genommen ist es nicht mein Frack. Aber er paßt mir ausgezeichnet, der Frack vom Herrn Rittmeister. Herr von Prackwitz war so freundlich, mir auszuhelfen. Ich war etwas knapp mit Garderobe!
Der Leutevogt Kowalewski war so viel und so gründlich verspottet und gescholten worden in seinem Leben, er ließ sich nichts anmerken, wenn es ihm vielleicht auch immer wieder weh tat. Er stand hinter dem Stuhl, er sah nicht nach dem Bett mit Hans Liebschner, er sah auf die Erde, als er leise sagte: Du, Sophie ...
Na, was denn, Vater? Erzähl schon! Sicher wieder so 'ne Meckerei, weil was weggekommen ist! Schreit der Schulze Haase wegen der paar Hühner so laut, daß du nicht mehr schlafen kannst?! Der kann noch was ganz anderes erleben –!
Treibriemen! grinste Liebschner. Schöne Treibriemen, ausgezeichnet als Sohlenleder. Lebhafte Nachfrage – guter Preis! – Ist Ihnen was, Schwiegervater? Ich beteilige Sie gerne, zehn Prozent vom Erlös – ich habe was über für meine Verwandtschaft, was, Sophiechen?
Wieder ließ der alte Mann Schelten und Spott wortlos über sich ergehen. Nun, da sie stille geworden waren, fing er noch einmal an: Sophie, der Herr Pagel hat wieder gefragt, warum du nicht arbeitest ...
Der Kerl soll ...
Laß ihn doch fragen! Wer viel fragt, kriegt viel Antwort! Ich werd ihm schon antworten, wenn er zu mir kommt!
Er sagt aber, wenn du morgen nicht beim Buddeln bist, setzt er am Abend die schwarze Minna hierher ins Dachgeschoß!
Ja, Hans, das solltest du! Gib ihm was auf die freche Schnauze, daß er sie sechs Wochen nicht aufmachen kann! Was der Affe sich einbildet –!
Richtig, Sophie! Das heißt, ich nicht. Ich danke. Ich bin nicht für so was, das schlägt nicht in meine Branche. Aber das ist was für den Bäumer! Der erledigt den Jungen mit Vergnügen, der Junge braucht keine Decke mehr, der Junge weiß bis an sein Lebensende nicht ...
Schweigend hatte der alte Mann zugehört. Jetzt hob er den Kopf, er sagte leise: Wenn dem Herrn Pagel was passiert, zeige ich euch an ...
Was geht denn dich der Pagel an, Vater?! fing Sophie an. Du bist ja verrückt geworden ...
Aber Kowalewski sagte: Ich habe das Maul gehalten, weil du meine einzige Tochter bist und weil ihr immer wieder versprochen habt, ihr fahrt nun bald ab. Es hat mir fast das Herz abgedrückt, dich hier mit so einem –
Quatschen Sie sich ruhig aus, alter Herr! rief der im Bett. Genieren Sie sich bloß nicht unter Verwandten! Zuchthäusler, wie –?
Jawohl, Zuchthäusler! wiederholte der alte Mann trotzig. Aber ich glaub darum doch nicht, daß alle im Zuchthaus so gemein sind wie Sie! Und dann das Stehlen! Immer nur stehlen ... Tut denn das ein Mensch, bloß aus Lust am Schadenstiften?! Ihr habt ja gar nichts davon, das Geld, das ihr in Frankfurt und Ostade für das Gestohlene kriegt, ist ja nichts wert ...
Gedulden Sie sich nur, alter Herr, es kommen auch wieder andere Zeiten. Sobald ich Reisegeld und Betriebskapital zusammen habe, schmettern wir ab. Meinen Sie, mir gefällt Ihre Kate hier so? Oder ich kann mich nicht von Ihrer Jammervisage trennen?
Er pfiff durch die Zähne: Du bist verrückt mein Kind!
Ja! rief der alte Mann eifrig. Fahren Sie ab! Fahren Sie nach Berlin!
Schwiegervater! Sie haben mir doch eben erst erzählt, daß wir kein Geld haben! Oder wollen Sie mir die Aussteuer für Ihr Fräulein Tochter in bar geben?! Nee, mein Lieber, ohne Geld nach Berlin – und gleich wieder verschütt gehen?! Danke! Jetzt haben wir so lange gewartet, nun muß es auch noch die paar Tage oder Wochen gehen, bis wir –
Aber was soll werden, wenn er uns wirklich die Minna reinsetzt?! rief Sophie zornig. Das hast du uns sicher eingebrockt, du willst uns bloß weghaben, Vater!
Herr Liebschner pfiff, er wechselte einen Blick mit Sophie. Sophie verstummte.
Kowalewski hatte den Blick gesehen. So wahr ich hier stehe! rief er zitternd, so wahr ich hoffe, daß mir Gott meine Schwachheit vergeben wird wenn dem Herrn Pagel was passiert, ich bringe selbst die Gendarmen hierher!
Einen Augenblick schwiegen sie alle drei. In dem Ausruf des alten Mannes hatte eine solche Kraft gelegen, daß auch die beiden andern überzeugt waren, er werde es tun.
Und du tust immer so, als wenn du was für 'n Vater wärst! sagte Sophie schließlich verächtlich.
Da kannst du nischt bei machen, Sophiechen! sagte Liebschner ergeben. Der Alte hat eben einen Narren an dem Bengel gefressen. So was gibt es. – Hör zu, Sophie, hören Sie auch zu, alter Herr! Erst einmal wirst du jetzt gleich dem jungen Mann auf die Bude rücken. Jetzt um die Mittagsstunde wird er ja allein sein. Sei ein bißchen nett zu ihm, Sophiechen, du weißt ja, ich bin nicht eifersüchtig. Da wird er schon nachgeben ... Das bringste doch fertig, was, Sophie?
So ein Stiesel! sagte sie verächtlich. Wenn ich will, rutscht der auf Knien. Aber die Backs wird bei ihm sein, er hat doch die Backs!
Die Dicke von den Hühnern –? Wenn du den Trampel nicht ausstechen kannst, bist du auch bei mir abgemeldet, Sophie!
Fahren Sie ab! Fahren Sie doch lieber bitte ab, ehe alles rauskommt! bat Kowalewski.
Bei Ihnen muß der Pastor wohl auch dreimal am Sonntag predigen, ehe Sie was kapiert haben, heh? Geld sage ich, eher werden Sie uns nicht los! – Also, Schwiegervater, seien Sie beruhigt, wir schaukeln das Kind, wir behalten die Wohnung, sie gefällt uns noch. – Und Ihrem guten Jungen wird nichts getan – einverstanden?
Sie sollten abreisen! wiederholte der alte Mann hartnäckig.
Zeig ihm die Tür, Sophie! Laß erst mal ihn abreisen! Wäre ich nicht zu faul, ich ließe Sie die Treppe runterreisen. Guten Morgen, Schwiegervater, hat mich sehr gefreut. Empfehlen Sie mich Ihrem Freunde, Herrn Pagel!
Ach, Sophie! flüsterte der alte Mann auf der Treppe trostlos. Und du warst früher so ein braves Kind ...
Amanda hatte recht behalten, es ging wirklich gut mit den beiden. Nein, es ging nicht nur gut, es ging ganz ausgezeichnet.
Zu seinem Erstaunen entdeckte Pagel, daß dieses Weibsbild Amanda Backs, von dem er geglaubt hatte, sie würde ihm schon nach einer Woche auf die Nerven fallen, ihm im Gegenteil gut tat, daß ihr Wesen ihm über viele schwierige Dinge hinweghalf. Daß sie sauber, fleißig, rasch, anstellig war, das hatte er schließlich schon so halb und halb gewußt. Daß aber dieses junge Ding mit dem Maul eines alten Schandweibes sehr wohl zu schweigen verstand, daß sie zuhören konnte, daß sie lernen wollte, daß sie andere Ansichten gelten ließ, das überraschte ihn höchlichst. Dieses im Elend herumgestoßene uneheliche Kind, das in einem Jahr seines Lebens mehr böse Worte und Schläge bekommen hatte als ein anderer Mensch in seinem ganzen Leben, das von einem grimmigen Pessimismus dem ganzen Dasein, allen Menschen und den Männern zumal gegenüber erfüllt war, diese Elends- und Kellerpflanze war von einer Empfänglichkeit für jedes gute Wort, jeden leisen Hinweis, die ihn immer wieder bewegte.
Mein Gott! rief er den dritten Tag verblüfft, als er den Schreibtisch weiß gedeckt sah, mit anständigem Porzellan und Bestecken, die sie sich aus dem Schloß geholt haben mußte. Aber er sagte dies Mein Gott! halb gerührt, weil sie aus sich erraten hatte, wie sehr ihm das abgestoßene Steingutgeschirr und die schwärzlichen Blechbestecke widerstanden hatten.
Na ja, sagte sie herausfordernd. Wat is denn nu wieder los? Jeder, wie er's gewöhnt ist! Ich sage ja immer, die Verpackung is mir wurscht, der Inhalt macht's – aber wenn's Ihnen anders Spaß macht, bitte schön!
Diese beiden jungen Menschen lebten wie auf einer Insel, ohne jeden Umgang, ohne einen andern befreundeten Menschen, ohne ein freundliches Wort. Sie waren ganz aufeinander angewiesen. Wenn Pagel außer dem Gerenne und Gehaste des täglichen Betriebes, in dem alle von ihm zehrten, ein bißchen Eigenleben führen wollte, so mußte er es ›daheim‹, nämlich auf dem Büro finden. Und wenn Amanda, diese vielverlästerte Liebste des Verräters Meier, diese letzte Angestellte des verhaßten Geheimrats, bei einem Menschen ein gutes persönliches Wort finden wollte, so mußte es bei Pagel sein.
So wurde eines der Retter des andern. Ohne diese knallbackige Amanda Backs hätte Pagel in jenen schweren Tagen vielleicht doch noch schlapp gemacht und wäre vor seiner Aufgabe ausgerissen, ganz wie ein Geheimrat von Teschow, ein Herr von Studmann oder gar ein Rittmeister. Aber daß der Fahnenjunker seine Fahne hochhielt, daran hatte die Amanda Backs kein geringes Verdienst. Und wer weiß, ob Amanda Backs heil über ihr Meiersches Erlebnis hinweggekommen wäre, wenn sie nicht immer den Wolfgang Pagel vor Augen gehabt hätte. Es gab eben doch andere Männer, saubere Männer, Männer, die nicht jeder Schürze nachliefen und auf jeden Weiberbusen losglotzten. Es war unvernünftig, auf alle Welt wütend zu sein, weil der Meier ein Lump gewesen war. Sie hatte auf sich allein wütend zu sein, weil sie nicht besser gewählt hatte. Denn im Anfang hat es doch fast jeder Mensch ein bißchen in der Hand, wen er liebhaben will – später freilich ist es meistens zu spät. Später hat sie ihr Hänsecken richtig liebgehabt.
Und da nun jedes von diesen beiden sein Gutes vom andern hatte, so gab es sich ganz von selbst, daß sie auch gut zu einander waren. Als Wolfgang frisch gewaschen und trocken angezogen wieder in das Büro kam, sah er, daß das Essen wohl geholt, die Suppe aber noch nicht aufgefüllt war.
Nun? fragte er lächelnd. Fangen wir noch nicht an?
Sie haben auch Post, Herr Pagel, sagte sie und hielt ihm zwei Briefe hin.
Er nahm sie hastig, und Amanda ging ohne ein weiteres Wort in das Schlafzimmer hinüber, um das nasse Zeug fort zu legen und den Waschtisch aufzuräumen.
Das war es, was man das Gutsein zu einander nennen konnte. Pagel dachte nicht weiter darüber nach, aber er empfand es. Er lehnte sich gegen den angenehm warmen Ofen, den Brief Herrn von Studmanns steckte er erst einmal ungelesen in die Tasche, dann riß er eilig den Brief seiner Mutter auf. Aber ehe er mit dem Lesen begann, brannte er sich doch noch eine Zigarette an. Er wußte, er würde in Ruhe und in aller Behaglichkeit lesen können, kein Ruf Die Suppe wird kalt! würde ihn stören.
Amanda empfing den Briefträger, sie machte Haufen aus der Post auf dem Tisch: Gutsverwaltung, Forstverwaltung, die Herrschaft in der Villa, der Gutsvorsteher (der auch von Herrn Pagel dargestellt wurde) – und zum Schluß, manchmal, etwas für Herrn Pagel persönlich. Aber das legte sie nicht mit auf den Tisch. Sie hielt es irgendwie im Verborgenen, sie wartete, bis er sich wieder sauber, trocken und ein bißchen erfrischt fühlte, dann sagte sie: Sie haben auch Post, Herr Pagel, und verschwand.
Nun war es aber keineswegs so, daß dies eine verabredete Sache zwischen den beiden war. Amanda hatte sich das ganz allein ausgedacht. Es war ein Wunder, daß solch grobes Frauenzimmer auch feinfühlig sein konnte! Und es war auch keineswegs so, daß Pagel Amanda Geständnisse gemacht hatte; er hatte ihr nie von seinem Daheim oder gar von seiner Liebsten erzählt, das lag nicht in seiner Art. Aber es war wiederum ein Wunder, wie dieses Mädchen ohne ein Wort erriet, wie es um den jungen Pagel stand. Sie hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, es gab keinen häufigen, dickleibigen Briefwechsel mit einer jungen Dame. Es gab überhaupt keinen Briefwechsel mit einer jungen Dame, sondern bloß mit einer Frau Pagel, die nach Handschrift und Absender nur die Mutter sein konnte. Aber Amanda hätte jeden Eid darauf geschworen, daß Herr Pagel, mit ihren Worten zu reden, ›in festen Händen‹ war. Und daß, so fest diese Hände auch hielten, bei dieser Sache irgend etwas nicht ganz im Lote war (weil eben alle Briefe von einer ›Sie‹ fehlten).
Das Mädchen räumt den Waschtisch auf, sie sieht sich noch einmal um: es ist alles wieder in Ordnung. Wenn er will, kann er hier einen Nachmittagsschlaf halten. Hoffentlich entschließt er sich dazu, nötig täte es ihm. Sie horcht hinüber in das andere Zimmer, aber dort ist noch alles still. Sie ist nicht ganz zufrieden mit dieser Stille: wenn Herr Pagel sich freut, fängt er an zu pfeifen. Aber noch ist es still ...
Amanda setzt sich auf einen Stuhl. Es wohnt kein betrübtes oder neidisches oder verliebtes Gefühl für den jungen Pagel in ihr. Im Gegenteil: was sie sieht und erfährt, das tut ihr nur gut. Es bestätigt etwas, das stark ist in ihr: den Lebenswillen.
Sieh da, denkt sie etwa, das ist nun ein sauberer und anständiger Kerl, und bei den beiden ist auch nicht alles glatt gegangen. Warum soll ich da den Mut aufgeben und verzweifeln, wo ich erst seit zwei, drei Jahren aus dem schlimmsten Dreck herausgekrabbelt bin ...?
So etwa gehen Amandas Gedanken. Aber nun werden sie unterbrochen, denn nebenan, auf dem Büro wird ein durchdringendes, gelles Pfeifen laut – nicht das melodische Gesäusel eines behaglich Zufriedenen, sondern ein wildes, kriegerisches Gegell, etwas, das sogar Amandas unmilitärischer Geist wie ein Angriffssignal empfindet: Zur Attacke, marsch, marsch! – Ran an den Feind! Und nun: Sieg, Ruhm und Gloria!
Im gleichen Augenblick, Amanda ist eben vom Stuhl hochgefahren, wird die Tür aufgerissen. Pagel steckt den Kopf ins Schlafzimmer und schreit: Amanda, Mensch, Mädchen, wo bleiben Sie denn? Hunger, Kohldampf, Suppe – los, los!
Mit all jener Entrüstung, die Menschen aus dem Volk für jede exaltierte Gefühlsregung haben, schaut Amanda in das gerötete, in das völlig veränderte Gesicht Pagels. Unnahbar sagt sie: Bei Ihnen piept's ja wohl! und geht an ihm vorbei, die Suppe aufzufüllen.
Neugierig schaut Pagel in die Teller, neugierig fragt er: Was gibt's denn, Amanda? Aber sichtlich ist ihm die Antwort auf seine neugierige Frage ganz egal.
Gänseklein mit Graupen, erklärt Amanda.
Ach, Amanda! Ausgerechnet heute wieder Gänseklein. Es müßte heute ... Ach, ich habe bestimmt keine Ruhe, Gänseflügel abzuknabbern!
Wenn Sie nicht bald dafür sorgen, antwortet die Backs mit gefährlicher Ruhe, daß die Dorfbengels mir meine Gänse nicht ewig mit Steinen lahm schmeißen, werden Sie noch alle Tage Gänseklein essen müssen, Herr Pagel.
Ach, Amanda, bittet Pagel kläglich, könnten Sie mich heute mittag nicht mal mit aller Meckerei in Frieden lassen? Ich bin seit sehr langer Zeit zum erstenmal gewissermaßen glücklich ...
Wenn meinen Gänsen darum weiter die Knochen zerschmissen werden sollen, weil Sie glücklich sind, Herr Pagel, meint Amanda, dann ist es besser, Sie laufen unglücklich rum und tun was für die Wirtschaft. Denn dafür sind Sie hier, nicht für Glücklichsein.
Pagel schaut hoch und sieht Amanda mit vergnügt funkelnden Augen in das zornige Gesicht. Verstellen Sie sich bloß nicht weiter. Denn daß Sie nicht die Spur wütend sind, das merke ich schon daran, daß Sie mir nichts zum Knabbern auf den Teller gepackt haben, sondern nur Magen und Herz. Was ich ja denn auch tatsächlich am liebsten esse. – Und was das andere angeht, so will ich Sie wirklich nicht länger ärgern, Amanda. Ich habe nämlich eben die Nachricht bekommen, daß ich demnächst Vater werde ...
So, sagte Amanda, und ihr Ton klang keineswegs besänftigt. Das habe ich ja bisher noch gar nicht gewußt, daß der Herr Pagel verheiratet ist.
Diese weibliche Antwort kam dem jungen Pagel so überraschend, daß er den Löffel nachdrücklich in die Gänsegraupen legte, seinen Stuhl zurückschob und Amanda mit großen Augen anstarrte. Verheiratet – ich verheiratet? fragte er erstaunt. Wie kommen Sie denn auf diese wahnsinnige Idee, Amanda?
Weil Sie nämlich demnächst Vater werden, Herr Pagel, antwortete Amanda boshaft. Väter sind meistens verheiratet – oder sollten es wenigstens sein.
Sie sind eine Gans, Amanda, sagte Wolfgang vergnügt und machte sich wieder an seine Suppe. Sie wollen mich bloß aushorchen – aber jetzt esse ich.
Eine Weile herrschte Stille, beide aßen.
Dann sagte Amanda hartnäckig: Ich stelle mir das so vor, ob die junge Dame auch so fürchterlich gepfiffen und ob sie auch die Leute so veralbert hat, als sie gemerkt hat, daß sie Mutter werden würde.
Sie stellen sich das ganz richtig vor, Amanda, antwortete Pagel. Die junge Dame war damals sicher nicht sehr vergnügt – obwohl sie sich vielleicht doch auch ein ganz klein bißchen gefreut hat.
Dann, sagte Amanda entschieden, würde ich auf der Stelle hinfahren und heiraten.
Das würde ich auch gerne tun, Amanda, antwortete der junge Pagel. Aber leider hat sie streng verboten, daß ich ihr vor die Augen komme.
Sie hat verboten, daß Sie –? schrie Amanda fast. Und sie erwartet ein Kind von Ihnen?!
Richtig! nickte Pagel ernst. Sie haben vollständig erfaßt, was ich sagen wollte.
Dann – sie wurde puterrot.
Dann – sie wagte es nicht zu sagen.
Dann würde ich ... sie verstummte.
Was würden Sie, bitte? fragte Pagel sehr ernst.
Sie sah ihn prüfend an. Sie war wütend auf sich, daß sie sich auf diese neugierige Fragerei eingelassen und nun etwas erfahren hatte, was sie gar nicht wissen wollte, und sie war wütend auf ihn, weil er genauso leichtfertig und dumm wie alle Männer von diesen Dingen redete, und sie hatte ihn doch sehr anders eingeschätzt.
Also sah sie ihn prüfend und ungnädig an.
Aber da waren ja nun seine Augen, seine sehr hellen Augen, in denen es blinkerte, und in den Winkeln, nach den Wangen zu, saßen viele kleine Fältchen. Und in demselben Augenblick, da sie diese Fältchen sah, begriff sie, daß er trotz seines ernsten Gesichtes voll vor Freude war, daß er sie nur veralberte, sie und ihre dumme Neugierde, und daß er genauso war, wie sie ihn eingeschätzt hatte. Und wie es immer ist, von dem Glück, das einen Menschen ganz erfüllt, weht es hinüber zu den andern. Glück ist etwas Ansteckendes ... Und so empfand auch sie etwas von seinem Glück, sie schluckte einmal rasch.
Aber dann sagte sie ganz als Amanda Backs: Ich würde mich jetzt mal ein halbes Stündchen hinlegen, wenn Sie nämlich genug in meinem Gänseklein rumgestochert haben. Warm ist es drüben, und die Wolldecke habe ich Ihnen auch aufs Sofa gelegt.
Pagel sah Amanda einen Augenblick verblüfft an, dann aber sagte er ganz folgsam: Schön, das will ich heute ausnahmsweise mal tun. Aber in einer halben Stunde wecken.
Doch in der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: Ich denke so zu Weihnachten, das Heiraten nämlich, Amanda. Der Sohn trifft schon drei Wochen früher ein.
Und damit schloß er nachdrücklich die Tür, als Zeichen, daß er auf eine Antwort keinen Wert mehr legte, ja, daß dies Thema nun überhaupt erledigt war. Und da Amanda nun auch alles wußte, was ihr zu wissen not tat, fühlte sie auch kein Bedürfnis, weiterzureden. Leise räumte sie den Tisch ab, brachte das Geschirr fort und setzte sich an den Ofen, damit er die halbe Stunde nun auch wirklich einmal Ruhe hatte.
Aber er wird ja doch nicht schlafen, sondern wieder seinen Brief lesen!
Pagel hatte wirklich seinen Brief erst noch einmal lesen wollen, aber kaum lag er da, da kam die Müdigkeit wie eine große, angenehm warme, angenehm dunkle Welle über ihn. Die Sätze, daß er Anfang Dezember Vater werden und daß Peter ihm bald einmal selbst schreiben werde, nahm er mit in seinen Traum. Eine heitere Leichtigkeit ging von ihnen aus, und lächelnd schlief er ein.
Sein Traum aber war von einem Kind, und er selbst sah dieses Kind, das er auch war. Mit einem leichten Verwundern erblickte er sich, wie er in einem weißen Matrosenanzug mit blauem Kragen und gesticktem Anker auf einem Grasplatz stand, und über ihn breitete ein Mirabellenbäumchen seine Zweige aus, die über und über voll saßen von kleinen buttergelben Früchten.
Er sah sich, wie er sich hochreckte nach den Zweigen, er sah seine nackten Knie zwischen Wadenstrümpfen und Hose und sah, daß sein eines Knie aufgeschlagen, aber schon wieder verschorft war. Das muß ich schon einmal als Kind geträumt haben, sprach er zu sich im Traum, und sah sich dort als Kind nach den Zweigen langen. Auf die Zehenspitzen stellte er sich und erreichte die Zweige doch nicht.
Da rief ihn eine Stimme an, und es mußte ja wohl der Mama Stimme von der Veranda her sein, aber nein, die Stimme kam mitten aus der dichten Krone des Bäumchens, und es war Peters Stimme:
Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich –
Wirf alle Pfläumchen über mich!
Da rüttelte sich das Mirabellenbäumchen und schüttelte einen goldenen Regen seiner kleinen Pflaumen über ihn, und sie fielen, immer mehr, immer dichter, immer goldener. Der grüne Rasen wurde ganz gelb von ihnen, als blühten hunderttausend Dotterblumen, und das Kind, das er war, bückte sich jauchzend und schreiend danach ...
Das Kind blickte lächelnd auf das Kind. Aber langsam ward ihm klar, im Traum, daß er ein Mann war, dem keine Früchte geschüttelt wurden von keiner Petra. Darüber zerrann der schöne Traum in ein mildes, weites Dunkel, in das gut einzugehen war. Der Schläfer ging gerne darin ein, er ging ein darin mit dem Gedanken: Wenn mich nur nicht gleich wieder einer stört ...!
Nein, jetzt kann ich ihn nicht stören, erklärte Amanda auf dem Büro. Da müssen Sie eben später noch einmal kommen.
Sie sah kriegerisch die Sophie Kowalewski an. Aber Sophie tat gar nicht kriegerisch. Sie bat höflich: Vielleicht darf ich hier auf ihn warten?
Wenn er aufwacht, muß er gleich aufs Feld, da hat er keine Zeit für Sie, sagte Amanda abweisend.
Wo er mich doch durch meinen Vater herbestellt hat, erklärte Sophie nicht ganz der Wahrheit gemäß. Herr Pagel möchte nämlich, daß ich Kartoffeln buddle! Sie lachte bitter.
Kartoffeln buddeln, wiederholte Amanda. Die beiden standen noch immer, die eine am Ofen, die andere am Fenster. Das hat Herr Pagel richtig gemacht. Kartoffelbuddeln ist immer noch besser als –
Sie brach wirkungsvoll ab.
Als was, Fräulein? Als den Ofen festhalten, daß er nicht umfällt? Da haben Sie sicher recht!
Manche denkt, erklärte die Backs abweisend, sie ist alleine schlau. Aber zuviel Schlauheit macht dumm, hat Fräulein von Kuckhoff immer gesagt. Und so ist es.
Sind Sie da nun auch schlau oder sind Sie dumm? fragte die Kowalewski lieblich. Sie setzte sich in den Schreibtischstuhl.
Das ist kein Platz für Sie, Fräulein! rief Amanda zornig und rüttelte an der Lehne des Stuhls. Für Sie wird woanders ein Platz frei gehalten ...
Sophie wurde hellhörig. Aber so schnell war nicht zu bremsen, erst einmal blieb sie sitzen. Wenn ich gehen muß, wird es mir der Herr Pagel schon sagen, erklärte sie kühl. Sie machen hier doch nur die Betten, Fräulein.
Aber ich lege mich nicht rein, ich nicht! rief Amanda und riß an dem Stuhl, daß die Lehne knackte.
Es wird nicht an Ihnen liegen, Fräulein. Der Herr hat vielleicht einen besseren Geschmack als sein Vorgänger.
Das sagen Sie mir, Fräulein? rief Amanda und trat mit schneeweißem Gesicht zurück.
Das Gefecht war jetzt auf dem Höhepunkt, die Pfeile waren verschossen, und mancher hatte getroffen. Es stand nun der Nahkampf bevor – ein Wunder war es, daß der junge Pagel von dem Kampfgetöse nicht aufgewacht war.
Warum soll ich Ihnen das nicht sagen? fragte Sophie trotzig, aber doch schwächer. Denn der Ausdruck im Gesicht der Gegnerin beunruhigte sie. Sie haben es ja selber vor allen Leuten in der Andacht gesagt!
Fräulein! sagte Amanda drohend, wenn andere nicht bis fünf zählen können, ich kann es! Und wenn die fünf gar nicht stimmen will, so kann man sich ja nachts unter ein Fenster stellen und hört sie reden.
Jetzt war es Sophie, die weiß wurde. Eine ganze Weile stand sie, als hätte sie ein Schlag getroffen. Aber dann besann sie sich.
Wenn man anständig ist, sagte sie in einem ganz andern Ton, braucht man nicht alles gehört zu haben, was man hört.
Und so eine redet von Betten und besserem Geschmack! rief Amanda zornig. Auf der Stelle müßte ich zu ihm gehen und es ihm erzählen. Sie besann sich. Ich glaube, ich muß es wirklich tun. Sie sah zweifelnd die Tür zu Pagels Zimmer an.
Warum soll er das denn wissen? fragte Sophie vorsichtig. Ihm geschieht doch: kein Schade damit!
Amanda sah die andere zweifelnd, unentschlossen an.
Sie hätten einen Freund haben können, flüsterte Sophie, ganz gleich wie ... Ich verstehe das, wenn man zu seinem Freund hält!
Der ist mein Freund nicht mehr, sagte Amanda abweisend. Ich bin nicht die Freundin von einem Lumpen.
Die andern wissen nie, wie einer richtig sein kann, erklärte ihr die Sophie. Die sehen nur aufs Äußere. Es kann einer auch Unglück gehabt haben im Leben.
Ich hab gehört, daß einer aus dem Zuchthaus immer schlecht ist. In das Zuchthaus kommen nur die ganz Schlechten.
Es kann sich einer bessern wollen. Und falsche Urteile gibt es auch.
Ist er denn falsch verurteilt, Fräulein?
Die Sophie überlegte. Nein, sagte sie dann zögernd.
Das ist gut, daß Sie das gesagt haben, nickte Amanda. Sonst hätt ich gedacht, Sie wollen mich nur beschmusen.
Aber zu hart war das Urteil. Er ist bloß leichtsinnig, nicht schlecht.
Amanda dachte nach. Sie konnte nicht nachdenken, wie sie wollte, immer kam ihr das Bild des Hänsecken dazwischen. Zu dem hatte sie auch noch gehalten, als sie schon wußte, er war nicht bloß leichtsinnig, er war auch schlecht. Aber schließlich fand sie, was sie fragen wollte. Warum sitzt er denn immer noch da oben? fragte sie. Wenn er sich wirklich ändern will, muß er doch arbeiten. Er ist wohl faul?
Das sagen Sie nicht! rief Sophie eilig. Er sitzt da oben – Sie überlegte. Wir haben noch immer nicht das Reisegeld zusammen, und dann, er hat doch damals bei der Flucht eine Kugel gekriegt ...
Eine Kugel? Die Wachtmeister haben doch niemanden getroffen!
Das denken die! Aber er hat einen Schuß im Bein gehabt, hier im Oberschenkel. Und nun liegt er da oben, all die Wochen schon, ohne Arzt und richtigen Verband. Ich habe ihn gepflegt, aber jetzt soll ich ja Kartoffeln buddeln.
Amanda sah zweifelnd in das Gesicht der andern. Es wird jetzt soviel geklaut hier in der Gegend, meinte sie. Ich habe mir gedacht, das ist Ihrer, Fräulein!
Wo er doch immer im Bett liegen muß, Fräulein Backs, und vielleicht muß er sogar sein Lebtage hinken! Sie dachte nach. Mein Vater hat gesagt, es ist wieder der Bäumer, der sein Unwesen treibt.
Ich denke, der Bäumer ist bloß ein Wilddieb? fragte Amanda.
Da haben Sie eine Ahnung! rief Sophie eifrig. Der Bäumer macht alles! Jetzt, wo er gesucht wird, und seine Verwandtschaft in Altlohe will ihn auch nicht aufnehmen, jetzt macht er alles, hat er gesagt, wo er nicht weiß, wo er bleiben soll ...
Woher wissen Sie denn das, Fräulein? fragte Amanda leise. Sie wissen ja sehr gut über den Bäumer Bescheid. Sie haben ja sogar mit ihm gesprochen!
Ich ... stammelte Sophie. Aber gleich hatte sie sich wieder. Jawohl! flüsterte sie erregt. Ich hab gelogen, er hat gar keinen Schuß im Bein, und er geht anschaffen, damit wir das Geld zusammenkriegen für die Fahrt! Was sollen wir denn machen, wo er gesucht wird? – Sie sind in der Andacht für Ihren aufgestanden und haben sich auch nicht geschämt. Zu seinem Freund muß man halten, grade wenn's ihm schlecht geht! Und ich glaube nie, daß Sie uns verraten werden – Sie haben ihn ja sogar gebackpfeift, weil er ein Verräter ist!
Ja, meinen Freund habe ich gebackpfeift, weil er ein Verräter ist, antwortete Amanda leise. Ihr Freund ...
Aber Sophie unterbrach sie. Und da wollen Sie ein Verräter sein?! rief sie.
Die beiden Mädchen sahen sich an. Sophie flüsterte eilig: Sie müssen doch wissen, wie einer zumute ist, wenn sie einen gerne hat, und daß man sich einen Dreck darum kümmert, wenn die andern sagen, er ist ein schlechter Kerl. Zu allen ist so einer vielleicht schlecht, aber zu mir ist er gut – und da soll grade ich ihn sitzenlassen!?! Nein, das wollen Sie nicht, und verraten wollen Sie auch nicht!
Amanda Backs stand schweigend.
Ich will dafür sorgen, daß er hier nichts mehr anfaßt in Neulohe und daß wir so schnell wie möglich reisen, sobald wir ein bißchen Geld haben – aber Sie verraten uns nicht, wie, Fräulein?
Was soll denn die Amanda nicht verraten? fragte Wolfgang Pagel und stand zwischen den beiden Mädchen, einer roten, ziemlich erregten Amanda und einer Sophie Kowalewski, die sich für diese Visite doch wahrhaftig mit Lippenstift und Puder stadtfein gemacht hatte, so daß bei ihr von Erregung nicht viel zu merken war, obwohl auch sie bestimmt nicht ruhig war.
Sophie antwortete nicht auf seine Frage. Statt dessen sagte Amanda: Ich will Ihnen schnell Ihren Kaffee machen, Herr Pagel.
Und sie ging aus dem Büro, ehe er noch antworten konnte.
Was hat sie denn? fragte Pagel verblüfft. Haben Sie sich gezankt?
Keine Spur! antwortete Sophie eilig. Ich habe sie bloß gebeten, daß sie ein Wort für mich einlegt bei Ihnen, Herr Inspektor. Sie sollten aber nicht merken, daß es von mir ausgeht. Sie zuckte mit den Achseln, sie sah zur Tür, dann sagte sie eilig: Herr Inspektor, mein Vater sagt, Sie verlangen, ich soll Kartoffeln buddeln. Aber das muß Vater doch falsch verstanden haben. Sehen Sie bloß meine Hände an, mit solchen Händen kann man doch nicht Kartoffeln buddeln.
Und sie streckte ihm die Hände hin, und diese Hände waren wunderbar manikürt und die Nägel glänzend poliert. Aber daß es freilich trotzdem einmal recht derbe Landmädchenhände gewesen waren, das hatten Maniküre und Politur nicht auslöschen können.
Pagel sah die ihm fast bittend entgegengestreckten Hände recht interessiert an, er gab ihnen sogar einen kleinen, wohlwollenden Klaps und meinte: Sehr hübsch! Dann aber sagte er: Also, Sophie, setzen Sie sich einmal dorthin, und nun wollen wir vernünftig miteinander reden.
Sophie Kowalewski setzte sich gehorsam ihm gegenüber, aber ihre plötzlich abweisende Miene verriet, daß sie nicht gesonnen war, auf vernünftiges Reden einzugehen.
Sehen Sie, Sophie, sagte Pagel freundlich. Als Sie vor ein paar Jahren von Neulohe in die Stadt gingen, da haben diese netten Hände auch ein bißchen anders ausgesehen, nicht wahr? Und sie sind doch so nett geworden! Nun werden sie wieder eine Weile nicht ganz so hübsch aussehen, dafür aber helfen Sie Ihrem Vater ein bißchen verdienen. Was meinen Sie? Wenn Sie wieder nach Berlin gehen, dann werden die Hände schnell genug wieder blank und sauber.
Sophie Kowalewski zog ihre Hände zurück, als sehe sie dies Gesprächsthema für erledigt an. Sie sagte fast weinerlich: Aber Herr Inspektor, ich muß doch meine Mutter pflegen! Sie hat doch soviel Wasser in den Beinen, sie kann gar nicht mehr gehen und stehen.
Ja, Sophie, wenn das so ist, antwortete Pagel betrübt, dann werde ich den Doktor morgen bei Ihrer Mutter vorbeischicken. Der Doktor wird dann ja sagen, ob Ihre Mutter eine ständige Pflege braucht.
Er sah aufmerksam in das hübsche Gesicht, das jetzt vom Ärger so entstellt war, und sagte lebhafter: Ach, Sophie, warum wollen Sie mich denn anschwindeln? Erst sagen Sie, Sie können wegen der Hände nicht arbeiten, und dann ist es wegen der kranken Mutter, und neulich auf dem Feld hat mir Ihr Vater gesagt, Sie wollten wieder in Stellung. Das ist doch alles nicht wahr! Ich will gar nicht vom Kontrakt reden, nach dem ledige, erwachsene Kinder mitarbeiten müssen, aber ist es denn anständig, daß Sie faul herumlaufen, wenn alle schuften? Ist es anständig, daß ein junges, kräftiges Mädchen ihrem alten verbrauchten Vater noch auf der Tasche liegt –?
Ich liege ihm nicht auf der Tasche! rief sie hastig, und langsamer: Ich habe mir Geld aus Berlin mitgebracht.
Lüge, Sophie! sagte Pagel. Wieder geschwindelt. Wir sind doch am selben Tag hier in Neulohe angekommen, wissen Sie das nicht mehr? Damals stand der Dollar auf so und so viel tausend Mark, und heute steht er auf so und so viel Milliarden Mark – was ist denn da noch von Ihrem Geld da?
Sophie machte eine Bewegung zu sprechen.
Ja, nun erzählen Sie mir noch, daß Sie Ihren Schmuck verkaufen oder daß Sie als Stütze, oder was Sie da in Berlin waren, mit Devisen bezahlt wurden – alles gelogen! Nein, Sophie, sagte er entschlossen, es ist ausgemacht: entweder kommen Sie morgen zur Arbeit, oder ich setze die schwarze Minna mit all ihren Kindern in Ihres Vaters Haus hinein!
Das Gesicht Sophies veränderte sich. Ungeduld kam hinein, Ärger, dann Zorn. Pagel sah aufmerksam in dies Gesicht, es war ein hübsches Gesicht. Aber ihm stimmte etwas darin nicht, es schien, als sitze die Hübschheit nur hauchdünn obenauf, als könne jeden Augenblick ein anderes darunter hervorkommen – das nicht gut sein konnte und nicht hübsch.
Aber diesmal bezwang sich Sophie noch, ja, sie lächelte ihn sogar an, als sie bettelte: Ach, Herr Inspektor, lassen Sie mich doch laufen! Was kann ich denn schon für Kartoffeln buddeln?! Tun Sie mir doch die Liebe –!
Und sie lächelte wieder, von der Seite her, daß er stutzig wurde.
Wieviel Sie leisten werden, Sophie, das ist eine andere Sache, sagte er hölzern und kam sich vor wie ein Herr von Studmann. Vor allem ist es das Beispiel!
Aber ich bin viel zu schwach für solche Arbeit, klagte sie. Darum bin ich ja in die Stadt gegangen, weil ich zu schwächlich bin für die Landarbeit. Fühlen Sie mal, Herr Pagel, ich habe gar keine Muskeln, bei mir ist alles weich ...
Sie war aufgestanden und war dicht vor ihm, sie streifte ihn. Sie war kleiner als er. Ein Duft ging von ihr aus – sie bewegte den Arm vor ihm, zu zeigen, daß kein Bizeps sich im Oberarm spannte. Und sie sah ihm dabei in die Augen, demütig, schelmisch, bittend.
Muskeln müssen die haben, die auf dem Feld die Kartoffelsäcke tragen, erklärte Pagel abweisend. Sie sollen nur sammeln, Sophie – das können ja sogar die Kinder!
Und meine Knie! klagte sie. Ich rutsche mir ja am ersten Tag schon meine Knie durch! Sehen Sie, Herr Inspektor, wie weich sie sind!
Ihr Rock war sehr kurz, aber sie hob ihn noch. Sie streifte am Strumpfband, er sah es weiß leuchten ...
Da ging die Tür. Machen Sie den Rock runter! befahl er heftig.
Ihr Gesicht hatte sich verändert. Jawohl, nun war unter dem hübschen das andere Gesicht hervorgekommen – und gemein sah es aus!
Lassen Sie mich zufrieden! Das also wollen Sie! Nein! Nein! rief sie laut und war schon aus der Tür, an Amanda Backs vorbei.
Mit unbewegtem Gesicht stellte Amanda Backs das Kaffeegeschirr auf den Tisch. Ihr Kaffee, Herr Pagel!
So ein verfluchtes Frauenzimmer! rief Pagel, noch hastig atmend. Amanda, ich sollte hier eben verführt werden! Amanda sah ihn stumm an. Oder, fuhr er nachdenklich fort, es sollte für Sie so aussehen, als verführte ich – das wird die Absicht gewesen sein! Er stand da, noch immer mit einem ganz überraschten, ungläubigen Lächeln. Und alles wegen ein bißchen Kartoffelnbuddeln, ich verstehe es nicht!
Ich würde sie laufenlassen, Herr Pagel, sagte Amanda kurz.
Ja, ja, Amanda, ich habe schon gehört, daß Sie ein gutes Wort für Sophie Kowalewski einlegen wollen. Aber warum eigentlich? Soll sie mit ihrer Faulheit durchkommen?
Ich lege kein Wort für die ein, Herr Pagel. Ich kümmere mich nicht um die. Und am besten ist es, Sie kümmern sich auch nicht um sie, Herr Pagel. Sie sah ihn wieder kurz und rasch an. Dann sagte sie: Ihr Kaffee wird kalt, und ging aus dem Büro.
Pagel sah ihr nach. Manches schien ihm rätselhaft, aber er hatte eigentlich zu viel zu tun, um solche Rätsel zu raten. Lieber setzte er sich hinter seinen Kaffee und las endlich den Brief Herrn von Studmanns!
Eine Viertelstunde später ist Wolfgang Pagel auf seinem Rad unterwegs in die Forst. Er muß sich eilen, denn gegen fünf wird es dunkel, und sobald es dämmerig wird, hält den Förster Kniebusch nichts mehr im Wald. Er gibt darüber keine Aufklärung, er läßt sich auch nicht halten, sobald es nur in die Nähe der Abenddämmerung kommt, läßt der Förster Kniebusch seine Leute stehen und geht nach Haus, aus dem Wald heraus.
Jetzt ist er ganz wunderlich geworden, sagen die einen.
Er hat einfach Schiß im dunklen Wald, sagen die andern.
Kniebusch läßt die Leute reden, er selbst redet kaum etwas. Er hört nicht mehr zu, wenn etwas erzählt wird. Er will nichts mehr erfahren, und er selbst erzählt auch nichts mehr. Diese bei einem so alten Mann erstaunliche Veränderung, dieses völlige Aufgeben einer Schwäche, die er in einem ganzen Leben nicht überwinden konnte, datiert seit jenem 1. Oktober, da der Förster Kniebusch still, aber kriegerisch mit einer ganzen Schar von Neuloher Bauernsöhnen nach der Festung Ostade marschiert war, um die Rote Regierung in einem großen Putsch zu stürzen.
Als Pagel die Verwandlung des geschwätzigen in den stummen Förster merkte, hatte er geglaubt, daß die Kränkung über den so schmählich mißlungenen Putsch es gewesen sei, die den Förster so verbissen und stumm machte.
Der Förster zwar erzählte nichts von der militärischen Unternehmung, aber das hätte einen in dieser Ansicht nur bestärken können. In den Zeitungen hatte man auch ohne mündliche Nachricht genug gelesen, wie einige Abteilungen nicht aufgelöster Kampfverbände mit viel bewaffnetem Landvolk vor die Kasernen der Reichswehr gerückt waren und sie aufgefordert hatten, sich dem Kampf gegen die Regierung anzuschließen.
Von der Reichswehr war kühl mit Nein geantwortet worden.
Wahrscheinlich hatte man dieses Nein auf Seiten der Putschisten für eine Art von Ziererei gehalten, für die Absicht, das Gesicht zu wahren. Und man war nach kurzem Zögern, aber immer mit viel Unentschlossenheit zu etwas wie einem Angriff vorgegangen – wiederum anscheinend nur, um das Gesicht zu wahren.
Ein halbes oder auch ein Dutzend Schüsse waren gefallen – die Masse der Putschisten war regellos zurückgeflutet, und so endete in Verwirrung, Auseinanderlaufen, mit einem Dutzend Verhaftungen, leider auch mit zwei oder drei Toten, eine Unternehmung, der viele tüchtige und auch abenteuerliche Männer monatelang all ihre Kraft, ihr Denken, ihren Mut, ihre Opferwilligkeit geliehen hatten. Aber es war ein Zeichen dieser Zeit: in dieser Zeit schien alles sich aufzulösen, schon im Werden zu zerfallen, der beste Wille blieb machtlos. Opfermut schien etwas Lachhaftes – jeder für sich, aber alle gegen einen!
(Jener Windjacke aber, die ein Leutnant von einem Gastwirt entliehen und die in einem Anfall skrupelloser Bedenklichkeit sofort wieder abgeliefert worden war, damit sie nicht beschmutzt wurde, jener Windjacke geschah es nun doch, daß sie an jenem 1. Oktober beschmutzt wurde, von Erde wie von Blut ... Umsonst hatte der Vater aus einer kleinen Budike eine anständige Kneipe gemacht. Wenn aber der Leutnant die neue Windjacke nicht abgeliefert hätte, wäre dann der Wirtssohn nicht mitgegangen –?)
Nun also, so oder ähnlich war dieser Putsch verlaufen, ein schöner, strahlender Traum, an den viele Leute ihr Herz gehängt hatten – und dann war es mit ihm vorbei. Man konnte es schon verstehen, daß ein Mensch darüber verbissen und stumm wurde. Aber als dann Pagel öfter mit dem Förster Kniebusch zusammenkam, als er außer der Stummheit diesen toten und doch immer geängstigten Blick sah, den Bart, der immer schütterer zu werden schien, die ewig zitternden Hände – als er über den Putsch und den Mann ein wenig genauer nachdachte, da sagte er sich: es ist alles falsch, es ist wieder einmal alles ganz anders.
Man kann gut eine halbe Stunde durch die Forst fahren und an nichts weiter denken als an den Förster Kniebusch. Eine gewisse sachte Beharrlichkeit im Denken war dem jungen Wolfgang Pagel nie ganz abzusprechen gewesen, und wenn die überstürzten Geschehnisse der letzten Zeit diese Eigenschaft etwas zurückgedrängt und ein fast unbedenkliches Handeln von ihm gefordert hatten, so war der Rückschlag jetzt um so stärker, da er wieder weite Wege von einem Feld zum andern Wald auf dem Rad, immer mit sich allein, zurücklegte. Pagel fühlte sich nicht wohl, wenn er nur in der Welt mittat, er wollte auch seine Welt verstehen. Es genügte ihm nicht zu sehen, daß der Förster Kniebusch jetzt stumm und verängstigt war, er wollte auch wissen, warum er sich so geändert hatte.
Und wenn er da so in seinen Erinnerungen kramte, so mußte ihm natürlich ein Herbsttag einfallen, an dem auf einem Waldweg ein betrunkenes Kerlchen auf ihn zugetaumelt war, und in dem Auto des betrunkenen Männleins hatte der noch sehr viel betrunkenere Förster Kniebusch gelegen. Daß dieser Lump von einem Meier die Hauptschuld an der Aufdeckung des Waffenlagers und damit am Ende des Leutnants gehabt hatte, das hatte Pagel stets gewußt, seit jenen Ohrfeigen der Amanda Backs.
Aber komisch – an den Förster Kniebusch hatte er damals noch nicht gedacht.
Da er aber jetzt wieder an ihn dachte, verstand er natürlich, daß Kniebusch der Nachrichtenträger Meiers gewesen war, der willentliche oder wahrscheinlicher der unwillentliche.
Und nun fällt dem jungen Pagel noch etwas anderes ein. Er sieht den verwüsteten Saal im Schloß, wo diese Orgie der Zuchthäusler stattgefunden hatte, er sieht die unter ihrem Rock heulenden Mamsell – und nun steht der dicke Kriminalist im Saal und schickt jemanden, um den Förster zu holen. Der Förster aber ist nicht da.
›Ja‹, sagt sich plötzlich Pagel, ›wozu schickt denn der Kriminalbeamte jemanden zum Förster, da er doch schon weiß, wo und was im Wald zu finden ist! Nur, weil er den Förster sehen will. Weil er den Förster vernehmen will! Weil er auf den Förster einen Verdacht hat! – Und warum ist der Förster mitten in der Nacht nicht zu Haus? Warum macht der zahme, ängstliche Mann einen Putsch mit? Weil die Angst vor dem Putsch geringer ist als die Angst vor der Nachfrage wegen des Waffenlagers, weil er abwesend sein wollte!‹
Und nun sieht sich Pagel wieder mitten im Wald stehen. Die andern sind voraufgegangen, der dicke Kriminalist sagt ihm noch ein paar Worte. Dann geht er weiter und geht durchnäßt und hundemüde nach Ostade. Da wird der Förster Kniebusch gerade den Frager getroffen haben, vor dem er weglaufen wollte, und was das für ein unbarmherziger Frager sein konnte, das wußte Wolfgang Pagel auch! Das wird eine schlimme Stunde für den Förster Kniebusch gewesen sein, sie hat ihm endgültig den Mund geschlossen. Vielleicht ist er nur um eines Haares Breite davongekommen, aber ist doch davongekommen! Er ist wieder heimgegangen. Wovor hat er denn jetzt noch Angst? Warum kann er nicht im Dämmern im Wald sein?
Pagel ist einen großen Schritt weitergekommen mit seinem Nachdenken, aber er ist noch immer nicht zufrieden mit dem Ergebnis dieses Nachdenkens, ein ungelöster Rest bleibt. Er selbst hat ja auch in den ersten Tagen nach der Nacht nicht im dunkel werdenden Wald sein können. Alle seine Nerven fingen an zu zittern, wenn nur die erste Dämmerung sank. Er setzte sich auf sein Rad und fuhr, was die Beine hergaben, ins freie Land. Aber er ist gegen dieses Gefühl, gegen diese panische Angst angegangen, immer wieder hat er sich mit dem Verstand gesagt, daß dies kein anderer Wald ist als vor dem 30. September, daß die Toten nicht umgehen, sondern daß wir nur die Lebendigen zu fürchten haben. Und allmählich hat der Verstand die Angst besiegt.
›Nun kann es ja sehr wohl sein‹, überlegt sich Pagel, ›daß der Förster an jenem verhängnisvollen Abend, als ihn die Nachricht von der Schnüffelkommission irgendwo im Dorf oder Wald erreichte, von seinem schlechten Gewissen getrieben sich in den Schwarzen Grund geschlichen hat und dort auch den Leutnant fand. Und daß er eine panische Angst von diesem Fund mit nach Haus nahm. Jawohl, so kann es sein!‹
Und doch sagt ihm eine Stimme, daß es anders ist, daß der Förster vor etwas viel Greifbarerem, Tatsächlicherem Angst hat als vor einem toten Mann, der nun schon längst irgendwo eingegraben worden ist. Nein, der tote Leutnant ist es nicht, und der dicke Kriminalist ist es auch nicht. Denn der ist wohl der Mann, sofort zuzuschlagen, aber ein Opfer wochen- oder monatelang zu quälen, dazu ist er nicht der Mann.
Vorläufig ist die Aufgabe, die Pagel sich gestellt hat, unlösbar. Er kann grübeln, soviel er will. Der Gedanke an den kleinen Meier taucht einmal auf, aber den weist er sofort zurück. Den kleinen Meier wird man bestimmt in dieser Gegend nicht wiedersehen. Der kleine Meier wird es nie wagen, sich wieder an den Förster heranzumachen. So schlapp der alte Mann ist, gegen diesen Peiniger würde er sich doch wohl zur Wehr setzen.
Wenn also das Grübeln und Nachdenken Pagels fast ergebnislos verlaufen ist, so hat es ihn doch in seinem Vorhaben bestärkt, besonders nett gegen den alten Mann zu sein. Er mag ja gewiß kein Muster noch Vorbild sein, aber zu sehr sollte sich ein so alter Mann doch auch nicht quälen müssen, die letzte Erdenzeit, ehe er in die Grube fährt. Man könnte es ja wirklich einmal versuchen, dahinterzukommen, wovor sich der Förster eigentlich ängstigt, vor etwas Faßbarem, das man ihm vielleicht ausreden kann, oder vor etwas Unfaßlichem, das in ihm selber sitzt.
Nun kommt Pagel an bei dem Jagen, in dem jetzt der Förster mit seinen beiden Regimentern arbeitet. Es ist natürlich noch nicht Schlagzeit, die großen, alten Buchen, die hier stehen, haben kaum erst ihr Laub verloren. Sie haben noch zuviel Saft, um geschlagen zu werden. Aber der Förster geht mit seinen beiden Vorarbeitern, die später das Regiment über die Holzfäller führen werden und die darum Regimenter heißen, von morgens bis abends durch den Wald. Er bezeichnet den Baum, der geschlagen werden soll: die Axt des Regimenters blitzt auf, ein breiter Streif der silbergrauen Buchenrinde fliegt zu Boden, gelblich, mit rasch rötlich werdenden Wundrändern leuchtet das weiße Holz. So, nun richte dich ein für den Winter, den Frühling wirst du nicht mehr erleben, die Holzarbeiter werden dich an deinem Mal schon erkennen.
Es ist eigentlich eine sehr epische Tätigkeit, die der alte Förster Kniebusch da als Stellvertreter des Schnitters, der heißt Tod, ausübt. Leben und Tod verteilt er, und daß der Tod den Gezeichneten nicht gleich ereilt, daß ihm noch eine gewisse Gnadenfrist eingeräumt ist, ihm, der von dem Urteil, das eben gesprochen wurde, nichts weiß – das macht diese Tätigkeit fast ein wenig unheimlich. Aber wenn Pagel den Förster da so zwischen den Stämmen herumlaufen sieht, brummelnd und hohl hustend, eigentlich nur noch ein Männchen, zusammengeschnurrt und zusammengetrocknet von Alter, Sorgen und einer nie überwundenen Lebensangst – wenn er ihn mit einem knochigen Zeigefinger, der schon zittert, auf den Stamm deuten sieht –, dann wird das Epische grotesk. Denn dieser Schnitter Tod ist sichtbar schon selber vom Tode gezeichnet, übt seine Statthalterschaft nur in einer ungewissen Gnadenfrist, und er, er weiß dies vielleicht sogar! Die Regimenter gehen von Stamm zu Stamm, der zitternde Finger deutet, die Axt klingt silbern hell, und sie gehen weiter, langsam weiter, hinter sich die weißlich-rötlich leuchtenden Wundmale.
Pagel sagt dem Förster Kniebusch ein höfliches Guten Tag, der Förster wirft von der Seite einen musternden Blick aus seinen kugligen Seehundsaugen auf den jungen Mann. Er brummelt etwas zur Antwort, dann geht er weiter und deutet weiter. Neben ihm her geht jetzt wortlos der junge Pagel, er hat die Hände in den Taschen und raucht eine Zigarette. Er geht so recht bequem, damit dem alten Mann nicht das Gefühl aufkommt, er werde beaufsichtigt. Aber Pagel muß doch merken, wie selten die Äxte der Regimenter heute etwas zu tun bekommen, wie selten der Finger deutet – und es ist doch fast alles schlagbares, ja, fast überständiges Holz! An den andern Tagen, da ging es ganz anders zu!
Nach einer Weile fragt Pagel darum doch: Sie zeichnen heute mächtig wenig an, Herr Kniebusch?
Der Förster wendet das Gesicht zur Seite, er brummt etwas, aber er antwortet nicht. Dann macht er doch ein Zugeständnis, er weist mit dem Finger auf einen Stamm. Aber als sich die Axt des Regimenters schon hebt, ruft er eilig: Nein! Lieber nicht!
Doch die Axt wird trotzdem nicht wieder gesenkt, sie schlägt zu, und der Stamm ist gezeichnet.
Der Stamm fängt ja schon an, hohl zu werden, Herr Förster, ruft der Regimenter.
Der Förster murmelt etwas wie eine Verwünschung, er wirft einen zornigen Blick auf Pagel. Dann geht er langsam weiter, den Kopf gesenkt, ohne sich um die Stämme zu kümmern, als habe er seine Arbeit ganz vergessen.
Sie haben nur zu tun, was der Förster Ihnen sagt, ruft Pagel dem Regimenter zu.
Herr Pagel, antwortet der Mann in gar keinem schlimmen Ton, es ist doch die reine Unvernunft, was wir heute hier machen! Die Tage vorher, heute vormittag noch, hat er uns anzeichnen lassen noch und noch, aber seit heute mittag, wie abgerissen! Krankes Holz, überständiges Holz, Anbruch, wir zeigen es ihm, er schüttelt den Kopf und geht weiter. Das ist doch Kinderei, was er jetzt macht; für so was läuft man doch nicht im Wald herum und bekommt sechzig Milliarden Tagelohn ...
Ach, red doch nicht lange, Karl! meint der andere Regimenter. Der Herr Pagel weiß doch auch, was mit dem Ollen los ist. Zu seinem Vergnügen kommt er doch nicht alle Tage in den Wald geradelt! Der Olle spinnt ja, und seit heute mittag ist er ganz verrückt geworden ...
Halten Sie's Maul, Mensch! schreit Pagel.
Der Förster hat zwei Schritt von den dreien gestanden und muß jedes Wort verstanden haben. Er hält den Kopf gesenkt, es ist ihm nicht anzumerken, ob ihn die rohen Worte verletzt haben. Alle drei sehen zu ihm hin, und wie von diesem Blick aufmerksam gemacht, hebt er den Kopf, sagt Feierabend! und geht rasch, den Flintenriemen mit der einen Hand haltend, aus dem Bestand heraus der Schneise zu.
Es ist kaum halb vier, sagt der vernünftige Regimenter, nach seiner Uhr greifend, und bis dreiviertel fünf kann man noch die Hand vor Augen sehen. Es ist doch eine Unvernunft, Herr Pagel, daß er uns jetzt schon nach Hause schickt!
Ach, red doch nicht, Karl! sagt der andere wieder, der lieber selbst redet. Er wird schon wissen, warum er im dunklen Wald Angst hat. Die Leute sagen ja, der Tote aus dem Schwarzen Grund geht um, und wer von dem gesucht wird, der weiß das auch und macht, daß er vor Dunkelwerden aus dem Wald kommt.
Pagel bezwingt den aufsteigenden Zorn, er sieht den Regimenter scharf an und sagt: Hören Sie, mein Lieber, der Förster ist Ihr Vorgesetzter, und was er Ihnen sagt, das tun Sie, verstanden?
Wenn einer verrückt ist, dann denke ich gar nicht daran, zu tun, was er mir sagt, antwortet der Mann. Und der Förster ist verrückt, und das sage ich ihm so lange, bis er aus dem Wald abhaut.
Hören Sie ... sagt Pagel heftiger.
Aber der Regimenter unterbricht ihn. Daß er ein schlechtes Gewissen hat, erklärt er, das sieht man doch. Den Revolver von dem Toten hat keiner gefunden, und viele sagen, es war überhaupt ein Büchsenschuß ...
So! ruft Pagel heftig. So, Sie Waschweib! Und mit plötzlich ausbrechendem Zorn: Gott, Mann, schämen Sie sich denn gar nicht, solch dummes Gewäsch nachzuerzählen!?! Das ist ein alter, anständiger Mann, dem macht man das Leben nicht noch schwerer, als es schon so ist!
Da haben Sie recht, Herr Pagel, sagt der andere Regimenter. Ich sage auch immer ...
Red nicht, Karl, unterbricht ihn der andere wieder. Das weiß man ja, Beamter hält zu Beamten. Aber ich rede, wenn was stinkt, und bei dem Förster stinkt was ...
Sie sind entlassen! ruft Pagel heftig. Sie sind auf der Stelle fristlos entlassen! Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit, die Wohnung zu räumen. Guten Abend.
Damit macht er kehrt und geht durch das raschelnde Blaubeerkraut zu seinem Rad. Er hat kein gutes Gefühl in der Brust – aber was soll man tun? Der arme Kerl kann auch nichts dafür, daß er roh und dumm ist. Aber der Förster kann auch nichts dafür, daß er verbraucht und krank ist. Der junge Regimenter findet jetzt zur Schlagzeit überall Arbeit, der alte Förster kaum je wieder im Leben ...
Er tritt kräftig auf die Pedale und versucht, einen Augenblick an den Brief seiner Mutter zu denken. Es ist kaum ein paar Stunden her, daß er fast glücklich war! Aber der Brief bleibt trotz aller Bemühungen etwas sehr Fernes, wie ein kleines Licht, das man in der Nacht durch viele Waldbäume sieht und das man doch nicht erreicht, weil sich immer wieder nächtiges Gebüsch und dunkles Gezweig dazwischen schieben und den kleinen, strahlenden Punkt auslöschen.
Nach einer Weile erreicht er den Förster, der mit gesenktem Kopf seinen Weg entlangzottelt, genau wie ein Hund, der den Herrn verloren hat. Er hebt auch nicht den Kopf, als der junge Mann neben ihm vom Rad springt, er zottelt weiter, als sei er ganz allein.
Eine kurze Zeit gehen sie schweigend nebeneinander her, dann sagt Pagel: Den Schmidt hab ich eben entlassen, Herr Kniebusch. Er kommt morgen schon nicht mehr zur Arbeit.
Der Förster schweigt lange. Dann seufzt er und sagt: Das hilft auch nichts, Herr Pagel.
Warum hilft das nichts, Herr Kniebusch? Ein Stänkerer weniger ist auch eine Sorge weniger.
Ach, sagt der alte Mann. Für jede Sorge, die weg geht, kommen zehn neue dazu.
Und welche sind heute dazugekommen? fragt Pagel. Hängt es damit zusammen, daß Sie kein Holz mehr anzeichnen?
Aber das war für den veränderten Kniebusch zu aufdringlich gefragt, er kniff die Lippen zusammen und antwortete nicht.
Nach einer Weile fing Pagel wieder an: Ich habe mir gedacht, Herr Kniebusch, ich rufe heute abend den Doktor an und spreche mit ihm. Und morgen gehen Sie zu ihm und werden krank geschrieben und ruhen sich richtig einmal aus. Dafür stehe ich Ihnen. Sie wissen doch, sechsundzwanzig Wochen haben Sie Anrecht auf Krankengeld.
Ach, wer soll denn von dem Krankengeld leben? sagte der alte Mann mutlos, aber doch nicht mehr völlig verzweifelt.
Sie haben doch Ihr Deputat, Kniebusch. Das würden wir Ihnen weitergeben. Verhungern würden wir Sie schon nicht lassen.
Und wer soll meine Arbeit im Wald tun? ruft der Förster.
Kein Holz kann ich auch anzeichnen, Herr Kniebusch, meint Pagel freundlich. Und Ihre paar Holzarbeiter kann ich gut eine Weile auf dem Hof beschäftigen.
Damit wird der Herr Geheimrat nie im Leben einverstanden sein! ruft wieder der Förster.
Ach, der Geheimrat! sagt Pagel wegwerfend, um dem Förster begreiflich zu machen, wie wenig man auf den Geheimrat geben kann. Der hat jetzt seit einem Monat nichts von sich hören lassen, da muß er es sich auch gefallen lassen, daß wir hier seine Geschäfte so erledigen, wie wir es für richtig halten.
Aber er hat von sich hören lassen, widerspricht der Förster leise. Er hat mir einen Brief geschrieben.
Ach nee! ruft Pagel verblüfft. Nun auf einmal! Und was will der Herr Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow? Will er vielleicht sogar zurückkommen und nach seiner Enkelin suchen helfen?
Aber der Förster Kniebusch reagiert nicht auf diesen Spott. Auch das Fräulein Violet interessiert ihn nicht mehr, so sehr er früher einmal Wert darauf legte, mit ihr auf guten Fuß zu kommen. Er interessiert sich nur noch für sich allein. Darum antwortet er auch nicht auf Pagels Frage, sondern sagt nach einer langen Weile nachdenklich: Glauben Sie denn wirklich, daß der Arzt mich krank schreiben würde?
Natürlich! Sie sind doch krank, Kniebusch!
Und Sie würden mir mein Deputat trotz des Krankengeldes weitergeben? Das ist aber verboten, Herr Pagel!
Solange ich hier bin, kriegen Sie Ihr Deputat weiter, Herr Kniebusch.
Dann gehe ich morgen zum Arzt und lasse mich krank schreiben, erklärte der Förster, und seine Stimme hatte einen ganz andern Klang.
Pagel wartete geduldig, aber es kam nichts weiter. Der Förster ging schweigend neben ihm her, wahrscheinlich in hoffnungsvollen Gedanken verloren an ein ruhiges Leben ohne Sorgen, Ärger, Angst.
Und was hat nun der Herr Geheimrat geschrieben? fragte Pagel schließlich.
Der Förster fuhr hoch aus seinen Träumen. Wenn ich krank bin, brauche ich auch nicht zu tun, was er mir schreibt, sagte er abweisend.
Vielleicht könnte ich tun, was er getan haben will, schlug Pagel friedlich vor.
Der Förster sah Pagel verblüfft an, und dann fing wirklich und wahrhaftig ein dünnes Lächeln über sein Gesicht zu kriechen an. Es sah nicht hübsch aus, eher so als lächle ein Toter. Aber ein Lächeln sollte es sein. – Sie wären's imstande ... sagte er, noch lächelnd.
Was imstande –?
Das Lächeln verging. Der Förster wurde wieder mürrisch. Ach, Sie erzählen es ja doch nur weiter, sagte er abweisend.
Ich halte den Mund, das wissen Sie doch, Herr Kniebusch.
Aber der gnädigen Frau würden Sie es sagen!
Die gnädige Frau ist augenblicklich nicht in der Stimmung, irgend etwas zu hören. Außerdem verspreche ich Ihnen, auch ihr nichts zu sagen.
Der Förster dachte eine Weile nach. Ich will es doch lieber nicht tun, sagte er dann. Je weniger man sagt, um so besser ist es, das habe ich nun endlich gelernt.
Das haben Sie in Ostade von dem dicken Kriminalbeamten gelernt, nicht wahr? fragte Pagel.
Und bedauerte sofort, daß er es gesagt hatte. Es war roher gewesen als das, was der grobe Regimenter gespottet hatte. Der alte Mann wurde schneeweiß, er legte seine zitternde Hand auf Pagels Schulter und brachte sein Gesicht nahe an das von Pagel. Das wissen Sie? fragte er zitternd. Woher wissen Sie das? Hat er es Ihnen gesagt?
Pagel ließ sein Rad fallen und hielt den Förster fest in seinem Arm. Ich hätte das nicht sagen sollen, Herr Kniebusch, sagte er betrübt. Sehen Sie, auch mir läuft der Mund einmal weg. Nein, Sie brauchen keine Angst zu haben: ich habe nichts gewußt, und keiner hat mir was gesagt. Ich habe es mir nur ausgedacht, weil Sie so verändert waren, seit Sie aus Ostade kamen.
Ist das wirklich wahr? flüsterte der Förster, noch immer krampfhaft zitternd. Er hat es Ihnen nicht gesagt?
Nein, sagte Pagel, auf mein Ehrenwort nicht!
Aber wenn Sie es sich gedacht haben, kann es sich auch ein anderer denken, rief Kniebusch verzweifelt. Alle werden auf mich zeigen, daß ich ein Landesverräter bin, daß ich mich an die Franzosen verkauft habe ...
Und das haben Sie nicht getan, Kniebusch? fragte Pagel ernst. Der kleine Meier –
Der kleine Meier hat mich besoffen gemacht und hat mich ausgehorcht! rief der andere. Er wußte ja, ich war schwatzhaft wie ein altes Weib. Das hat er ausgenützt. Sie müssen's mir glauben, Herr Pagel; der Dicke hat es mir schließlich auch geglaubt. Lauf heim, du alter Trottel, hat er schließlich gesagt. Und mach deinen Mund nie wieder im Leben auf!
Das hat er gesagt? fragte Pagel. Aber dann brauchen Sie ja keine Angst mehr zu haben, Kniebusch!
Oh, er war schrecklich! rief der alte Mann zitternd aus. Sich nun doch noch einmal die Bergeslast von der Seele reden zu können, versetzte ihn fast in einen Rausch. Hätte er mich gleich niedergeknallt, er wäre barmherziger gewesen! ›Der Staub von dem Manne, den Sie totgeschwätzt haben, muß Ihnen ja zwischen den Zähnen knirschen, wenn Sie das Maul bewegen!‹ hat er gesagt.
Still! Still! sagte Pagel und legte die Hand sanft über den Mund des andern. Das ist ein unbarmherziger Mann, und auch ein ungerechter. Andere sind schuldiger an dem Toten als Sie. – Kommen Sie, Kniebusch, ich schmeiße hier mein Rad ins Blaubeerenkraut, ich hole es mir morgen früh. Ich bringe Sie nach Haus und ins Bett. Und dann rufe ich gleich den Arzt an, und er kommt heute abend noch zu Ihnen heraus, und Sie haben Ruhe ...
Der Mann ging wie ein Schwerkranker an seinem Arm. Nun er einen Menschen gefunden hatte, dem er vertrauen konnte, wich der letzte Rest von Widerstand aus ihm. Was ihn noch aufrecht gehalten hatte, das war seine Vereinsamung gewesen. Willenlos ließ er sich jetzt in Schwäche und Krankheit hineingleiten, in der Gewißheit, daß ein Stärkerer für ihn sorgte.
Hemmungslos schwatzte er alles durcheinander, von der Angst, daß die Leute seine Schande erfahren könnten; von der Angst vor dem entwichenen Wilddieb Bäumer, von dem er Spuren im Wald gefunden zu haben meinte; von der Angst, daß doch noch alles herauskommen könnte, wenn das Fräulein Violet oder der Diener Räder gefunden würde; von der Angst, ob der Schulze Haase auch die Zinsen weiter zahlen würde, nun der Leutnant tot war; von der Angst vor dem Wiederauftauchen des kleinen Meier; von der Angst vor dem Geheimrat, der ihn von heute auf morgen aus der Försterei heraussetzen würde, wenn er erfuhr, sein Förster tat nicht, was im Briefe stand ...
Angst, Angst ... Das ganze Leben dieses Mannes war Angst gewesen. So viel konnte man sich also um das bißchen Leben, das keine starke Freude, keinen großen Gedanken gekannt hatte, ängstigen. Und nun es zur Neige ging, da es ganz schal und glücklos geworden war, wurde es noch schlimmer mit der Angst. Von allen Seiten drang sie auf ihn ein, nicht der Lebenswille hielt ihn noch am Leben, nein, die Lebensangst.
Schnell gab es Wolfgang Pagel auf, dem alten Mann begütigend, tröstend zuzureden, er wollte ja keinen Trost. Er saß mitten in seinen Ängsten, und sie kamen wie Wellen von allen Seiten, und hoben ihn hoch, und wenn sie ihn fast ertränkt hatten –:
Ja, Herr Pagel, ich lese es ja jetzt Tag für Tag in der Zeitung von den Selbstmorden. Und daß jetzt so viele alte Leute dabei sind, Siebzig- und Achtzigjährige. Aber ich kann es doch nicht, ich kann doch nicht einmal das, ich hab doch die kranke Frau, und immer habe ich die Angst: was wird mit der, wenn ich vor ihr sterbe?! Da ist doch keiner, der sich um sie kümmert, die lassen sie doch einfach eingehen wie ein Tier. Darum ist mir so angst ...
Ach, reden Sie doch nicht, Kniebusch, sagte Pagel müde. Jetzt legen Sie sich hier in Ihr Bett, und heute abend noch kommt der Doktor, und wenn Sie erst einmal geschlafen haben, so sieht auch alles anders aus. Und jetzt, während Sie sich ausziehen, geben Sie mir den Brief vom Geheimrat zum Durchlesen.
Der alte Förster Kniebusch klabasterte ein wenig brummend, ein wenig klagend an seinen Kleidern. Pagel stand unter der niederkerzigen Lampe und überflog den Brief, den der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow seinem Förster geschrieben hatte. Am Fenster in einem großen Stuhl saß die Frau Försterin, von der die Leute im Dorf sagten, sie würde immer wunderlicher. Die dicke, unförmige Frau hatte den Kopf abgewandt und sah bewegungslos in die Nacht hinaus. Auf den Knien lag ihr ein Buch, mit einem goldenen Kreuz auf dem Deckel, wohl ein Gesangbuch.
Wer bringt denn Ihre Frau ins Bett? fragte Pagel und unterbrach seine Lektüre.
Ach, heute geht sie wohl nicht mehr ins Bett, antwortete die Förster. Manchmal sitzt sie so alle Nächte und singt. Aber wenn sie ins Bett will – sie kommt schon mit sich allein zurecht.
Der junge Mann warf einen raschen, prüfenden Blick auf die Försterin, die unverwandt in die Nacht hinaussah, und las weiter. Der Förster kroch in sein Hemd und dann in sein Bett, und nun lag er still da, mit geschlossenen Augen, und sein Kopf, mit dem von Sonne und Wind rot gegerbtem Gesicht, mit dem weißgelblichen Bart, lag seltsam bunt auf den weißen Kissen.
Grade aber, als der junge Pagel bei der Briefstelle war, die dem Förster aufgab, jedem vom Neuloher Gut, auch der Familie seines Schwiegersohnes, und ebenso jedem von der Gutsverwaltung Neulohe, auch diesem jungen Schnösel, dem Pagel, das Betreten der geheimrätlichen Waldungen ein für allemal zu verbieten, grade, als der junge Wolfgang Pagel so weit in der Lektüre dieses Brand-, Fehde- und Absagebriefes war, da fing die alte Frau an zu singen.
Sie hatte einen Finger in das Gesangbuch geschoben, aber sie sah nicht hinein. Sie sah weiter in die Nacht hinaus, und mit einer schrillen, brüchigen Stimme sang sie leise vor sich hin das alte Lied ›Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, die dein Fuß gehen kann‹.
Pagel schielte nach dem Förster hin, aber der alte Mann rührte sich nicht. Still lag der Kopf auf den Kissen.
Ich gehe jetzt, Herr Kniebusch, sagte er. Hier haben Sie den Brief wieder. Danke schön, und, wie gesagt, ich werde schweigen.
Schließen Sie die Tür von außen zu, antwortete der Förster. Der Schlüssel steckt im Schloß. Ich habe noch einen, wenn der Doktor kommt. Ich höre ihn schon kommen, ich schlafe nicht.
Das Singen stört Sie wohl? fragte Pagel.
Das Singen? Welches Singen –? Ach, das von meiner Frau? Nein, das stört mich nicht, das hör ich gar nicht. Ich denke immerzu nach. – Wenn Sie rausgehen, schalten Sie bitte das Licht aus, wir brauchen kein Licht.
Worüber denken Sie denn nach, Herr Kniebusch? fragte Pagel und sah auf den Förster, der regungslos, die Augen geschlossen, im Bett lag.
Ach, ich hab mir so was ausgedacht, sagte der Förster ganz behaglich. Ich denke mir so, wenn ich irgendwas in meinem Leben nicht getan hätte, oder irgendwas nicht getroffen hätte – wie dann wohl alles gekommen wäre? Aber es ist eine schwierige Sache ...
Ja, schwierig ist das wohl ...
Ich denk mir zum Beispiel, wenn der Lump, der Bäumer, mich im Hohlweg nicht über den Haufen geradelt hätte, wie dann alles gekommen wäre? Es hätte doch ganz leicht so sein können, nicht wahr, Herr Pagel, ich hätte nur ein bißchen schneller zugehen müssen. Es war ja bloß im Hohlweg so dunkel, wäre ich schon aus dem Hohlweg heraus gewesen, hätte er mich von weitem kommen sehen und wäre mir ausgewichen.
Und was wäre dann anders gekommen, Herr Kniebusch?
Aber alles, einfach alles! rief der Förster. Dann, wenn mich der Bäumer nicht umgeradelt hätte, dann hätte ich seinetwegen keinen Termin in Frankfurt gehabt. Und hätte ich keinen Termin in Frankfurt gehabt, dann hätte ich den Meier nicht wiedergetroffen. Und hätte ich den Meier nicht wiedergetroffen, dann hätte er das Waffenlager nicht verraten ...
Pagel legte nachdrücklich seine Hände über die trocknen, knochigen, altersfleckigen des Försters.
Ich würde mir etwas anderes zum Nachdenken aussuchen, Herr Kniebusch, schlug er vor. Ich würde mir ausdenken, wie's ist, wenn Sie nun pensioniert werden, und Sie haben Ihre Rente von der Angestelltenversicherung. Denn vielleicht kommt nun wirklich eine andere Zeit mit dem Geld, der Geheimrat schreibt ja auch in seinem Brief davon, Sie haben's wohl gelesen. Und ich würde mir nun ausdenken, wie ich mir mein Leben einrichten würde; irgendeine Liebhaberei werden Sie wohl auch haben ...
Bienen ... sagte der Förster mit leiser Stimme.
Na also, schön, Bienen sollen ja eine großartige Sache sein, über Bienen soll man ganze Bücher schreiben können. Wenn Sie's mit so was mal versuchten –?
Das ginge auch, meinte der Förster. Dann aber schlug er zum erstenmal die Augen voll auf und sagte: Aber Sie verstehen ja noch nicht, warum ich das andere tue, Herr Pagel. Denn wenn es nur daran gelegen hat, daß mich der Bäumer umgeradelt hat, und ich kann hundert solche Sachen in meinem Leben finden, dann bin ich doch auch nicht an dem andern schuld. Dann muß ich mir doch auch keine Gewissensbisse machen, nicht wahr?
Pagel sah nachdenklich auf den alten Mann, der nun wieder still mit geschlossenen Augen lag. In ihrem Fensterwinkel, das Gesicht in die Nacht hinaus, die alte Frau sang weiter mit schriller, leiser Stimme Kirchenlied um Kirchenlied, als sei sie ganz allein.
Also ruhen Sie sich ein bißchen aus, bis der Doktor kommt, sagte Pagel dann plötzlich. Ich rufe ihn nun gleich an.
Aber warum antworten Sie mir denn nicht, Herr Pagel? rief der alte Mann kläglich, richtete sich halb auf im Bett und starrte ihn mit den kugeligen, hellen Augen an. Ist es denn nicht so, wie ich sage? Wenn der Bäumer mich nicht umgeradelt hätte, wäre doch alles anders gekommen!
Sie haben Gewissensbisse und wollen sich selbst freisprechen, nicht wahr, Herr Kniebusch? fragte Pagel nachdenklich. Aber ein Freispruch gilt nur, wenn man sich ganz unschuldig fühlt. Ich würde es doch lieber mal mit den Bienen versuchen. – Gute Nacht.
Und damit ging Pagel rasch aus dem Zimmer, er löschte das Licht, schloß die Außentür ab, und nun stand er draußen. Es war schon recht dunkel, aber vielleicht traf er doch noch die Leute bei den Kartoffelmieten.
Der Mietenplatz lag etwa fünf Minuten vom Gutshof entfernt, an einer Stelle, wo drei Feldwege zusammenliefen, an zwei Seiten begrenzt vom Wald. Diese Lage, die für die Anfuhr bequem war und die zugleich durch den Wald die Mieten vor den eisigen Ost- und Nordwinden schützte, war aus früheren Jahren beibehalten worden. Aber schon jetzt, Ausgang des Herbstes, erwies sie sich als gefährlich. Die Abgelegenheit des Ortes erlaubte den Kartoffeldieben ungesehene Annäherung, die Nähe des Waldes leichteste Flucht.
Pagel hatte ständig Ärger mit diesen Mieten. Alle Morgen war hier oder dort ein Loch in die Erddecke gebuddelt, die auf den Kartoffeln als Schutz vor dem Winterfrost lag. Schon jetzt lagerten über zehntausend Zentner hier – der Diebstahl von drei oder fünf Zentnern fiel lange nicht so ins Gewicht, wie die Arbeit, die das Verschließen der offenen Stellen machte, wie die Gefahr, in die eine Miete von fünfhundert Zentnern kam, wegen eines solchen Loches zu erfrieren. Hundertmal hatte Pagel sich schon geärgert, daß seine Unbedachtsamkeit ihn dem Vorschlag der Leute hatte zustimmen lassen, die Kartoffelmieten auf dem altgewohnten Platz anzulegen. Ein erfahrener Beamter hätte all die Schwierigkeiten, die sich in diesem Jahr aus der Lebensmittelknappheit ergaben, vorausgesehen. Pagel war überzeugt, daß ganz Altlohe bei ihm zur Kartoffelernte angetreten wäre, wenn die Mieten direkt beim Hof unter ständiger Aufsicht gelegen hätten. Aber so war es ja viel einfacher, sich nachts ohne Risiko das zu holen, was man sonst erst in vielen Tagen harter, eisiger Arbeit erworben hätte. Und man konnte es den Leuten nicht einmal übelnehmen: ihnen fehlte das Nötigste, sie litten oft Hunger, sie nahmen eine Kleinigkeit vom Überfluß – wem konnte das weh tun –?!
Sorgenvoll, nachdenklich strich Pagel in der wachsenden Dunkelheit zwischen den langen, fast mannshohen Dämmen der Mieten herum. Die Leute waren natürlich schon fort, und die Diebe noch nicht da: er hatte sich wieder einmal einen Weg umsonst gemacht.
Doch nicht ganz umsonst: denn nun stieß er mit dem Fuß gegen eine vergessene Schaufel, der ein nasser Nachtaufenthalt auch nicht grade guttun würde. Er sammelte sie auf, um sie in die Gerätekammer mitzunehmen. Aber einen Augenblick später stieß er auf zwei steckengebliebene Spaten. Auch sie nahm er mit. Doch gleich fand er zwei Forken, wieder Schaufeln – es war unmöglich, er konnte das nicht allein auf den Hof schleppen!
Entmutigt setzte er sich auf einen Strohballen, plötzlich völlig, grenzenlos entmutigt. Es ist oft so, daß ein Mensch viele harte Dinge eine lange Zeit hindurch mutig erträgt, plötzlich wirft ihn dann eine Kleinigkeit um. Pagel hatte mit unveränderter Freundlichkeit viel Schweres in den letzten Wochen ertragen, aber der Gedanke, daß er von Morgengrauen bis in die Nacht hinein herumlief, tätig war, und daß doch Nachlässigkeit, Liederlichkeit, Faulheit zunahmen, der Gedanke, daß fünfzehn Schaufeln, Spaten und Forken in dieser Nacht Rost ansetzen würden, warf ihn um.
Er saß auf einem Strohballen, den Kopf in die Hand gestützt, es wurde immer dunkler. Hinter ihm der Wald rauschte geheimnisvoll, es tropfte ständig von den Bäumen. Ein wenig fror er. Wäre er nur etwas frischer, aktiver, unternehmungslustiger gewesen, er ging jetzt auf den Hof, pfiff die Verantwortlichen an und jagte sie auf den Mietenplatz hinaus, ihr Gerät allein heim zu holen. Aber er hatte heute nicht mehr die geringste Kraft, jemanden anzupfeifen, bei dem Gedanken, mürrische und gehässige Widerworte anhören zu müssen, hätte er weinen können: er fühlte sich ausgepumpt, leer. Er saß ganz still da, eine Weile war nichts wie eine graue, weite Öde in ihm, er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich eine Zigarette anzuzünden.
So saß er lange still. Dann fingen die Gedanken an, wieder in seinem Hirn zu kriechen, aber es waren keine guten Gedanken, es waren Sorgen. Er dachte an den Brief des Geheimrats, den er eben gelesen hatte – das ist der Anfang vom Ende, dachte er. Nein, es ist das Ende, ganz und gar.
Der Geheimrat, der vor den Nöten der Tochter geflohen war, hatte sich jetzt auf sich selbst besonnen. Er selbst, das war sein Geld; er hatte sich an die noch nicht bezahlte Pacht erinnert, er wollte sein Geld. Aber da er sicher war, sein Geld nicht zu bekommen, wollte er den Pächter loswerden. Nicht nur verbot er allen, die zu seinem Schwiegersohn gehörten, die für seine Tochter arbeiteten, das Betreten der Forst, nicht nur verbot er den Fuhrwerken der Gutsverwaltung die Benutzung der Wege durch die Forst, wodurch stundenlange Umwege zu den Außenschlägen notwendig wurden, nein, er gab dem Förster auch den Auftrag, ein wachsames Auge auf die Verkäufe der Gutsverwaltung zu haben. Wurde Korn, wurden Kartoffeln, wurde Vieh abgeliefert – der Förster sollte es sofort telefonisch dem Anwalt des alten Herrn melden, der dann die eingehenden Gelder sofort beschlagnahme würde.
Jetzt zeigte es sich: vom kaufmännischen Standpunkt aus hatte Herr von Studmann recht gehabt, als er darauf bestanden hatte, dem alten Elias am 2. Oktober den Pachtbetrag nach Berlin mitzugeben – der alte Herr hätte dann Ruhe halten müssen!
In meiner jetzigen Lage sollte mir mein Vater Schwierigkeiten machen?! hatte Frau Eva gerufen. Nein, Herr von Studmann. Die Pacht hat Zeit aber einen Wagen brauche ich sofort, brauche ich immerzu. Nein, ich bezahle das Auto.
Zwischen dem fernen Vater und dem nahen Chauffeur Finger, der die Rechnung über den Wagen vorgelegt hatte, mit der Drohung, sofort nach Frankfurt zurückzukehren, wurde sie nicht beglichen, hatte sich Frau Eva von Prackwitz für den Wagen entschieden.
Wir könnten es vielleicht mit einem Mietswagen versuchen? hatte Herr von Studmann vorgeschlagen.
Der immer dann nicht frei ist, wenn ich ihn brauche, hatte die gnädige Frau gereizt geantwortet. Nein, Herr von Studmann, Sie sind ein sehr besorgter, sehr gründlicher Kaufmann – aber Sie vergessen immer wieder, daß ich meine Tochter suchen muß ...
Herr von Studmann war blaß geworden, er hatte sich auf die Lippen gebissen – er hatte auch kein Wort mehr davon gesagt, was er von diesen Suchfahrten durch das Land dachte. Er hatte sich gefügt.
Wie gnädige Frau wünschen, hatte er gesagt. Ich leiste also die vereinbarte Anzahlung. Der Rest des Geldes reicht noch für reichlich Dreiviertel der Pacht –
Sie sollen mir nicht mehr von dieser Pacht reden! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß mein Vater ... in meiner jetzigen Lage ... Verstehen Sie denn nicht? hatte Frau von Prackwitz fast geschrien. Oh, sie war so unbeherrscht in diesen Tagen, so wahnsinnig gereizt! Pagel war auch schon ein paarmal angeschrien worden, weil er nicht sofort alles stehen und liegen gelassen hatte, wenn sie ihn rief. Aber so feindselig wie zu Herrn von Studmann war sie zu ihm nicht gewesen. Es schien unerklärlich – hatte sie nicht einmal fast eine Schwäche für Herrn von Studmann gehabt –? Aber vielleicht war sie gerade wegen dieser Schwäche so feindselig zu ihm? Jetzt war sie nur noch Mutter – und eine Mutter, die wegen ihrer eigenen Liebesgeschichten die Tochter vernachlässigt, ist doch verächtlich, wie?
Ruhiger sagte sie dann: Ich möchte, daß Sie den Wagen sofort ganz bezahlen, Herr von Studmann. Ich will frei über ihn verfügen können. Regeln Sie das mit Herrn Finger und seiner Firma. Und entlassen Sie ihn. Ich kann ihn nicht als Chauffeur brauchen, ich weiß jemand anders, der besser auf meine Wünsche eingeht ...
Herr von Studmann verbeugte sich nur, weiß bis unters Haar.
Entschuldigen Sie, daß ich etwas heftig wurde, Herr von Studmann, sagte sie und hielt ihm die Hand hin. Es geht mir nicht sehr gut – aber das müßte ich ja eigentlich gar nicht sagen müssen.
Herr von Studmann verstand die Überwindung nicht, die sie schon dieses kleine Nachgeben kostete. Er nahm mechanisch die Hand, er sagte stockend: Wenn ich mir noch eine Frage erlauben dürfte?
Bitte, Herr von Studmann.
Ich müßte ungefähr wissen, was mit Herrn Finger vereinbart ist, wenn ich mit ihm abrechnen soll.
Ich weiß es nicht, sagte sie tonlos und zog ihre Hand aus der seinen. Regeln Sie das ganz, wie Sie es für richtig halten, ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen. – Ach, Herr von Studmann, rief sie plötzlich fast weinend, müssen auch Sie mich quälen?! Haben Sie denn gar kein Gefühl?!
Sie lief fast aus dem Büro. Herr von Studmann machte eine heftige Bewegung zu dem jungen Pagel, aber er schwieg dann doch. Einen Augenblick ging er hin und her auf dem Büro, dann setzte er sich an den Schreibtisch, nestelte die Uhr von der Kette und legte sie vor sich hin. Pagel fing wieder an zu tippen, er hatte während dieses Streites nicht aus dem Büro gekonnt, die gnädige Frau hatte immer unter der Tür gestanden, als wollte sie so rasch wie nur möglich gehen.
Studmann saß still am Schreibtisch, er blickte unverwandt auf die Uhr. Nach sehr kurzer Zeit, er mußte sie sich ausgerechnet haben, stellte er das Telefon nach der Villa durch, er nahm den Hörer vom Apparat, drehte die Kurbel – dann machte er eine heftige Bewegung zu Pagel: Pagel hörte mit Tippen auf.
Herr von Studmann sah erschreckend elend und verfallen aus. Wer ihn so sitzen sah, den Hörer in der Hand, auf die Antwort aus der Villa wartend, hätte nicht gesagt, daß dieser Mann ohne Gefühl war. Er war vielleicht verzwickt und vertrackt, er hatte seinem eigenen Gefühl in einem frauenlosen Leben so viel Hindernisse in den Weg gebaut, daß er sich allein nicht mehr befreien konnte. Aber Pagel sah doch, wie dieser Mann zitterte, vor Aufregung fast nicht sprechen konnte, als er am Apparat Frau Eva um eine dringende, um eine sofortige, um eine ganz private Unterredung bat.
Pagel stand mit einem Ruck auf und ging in sein Zimmer. Dieser unselige Studmann – er hatte natürlich vorhin Hemmungen gehabt zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Nun die Schlacht geschlagen und fast verloren war, nun wußte er, was er hätte tun müssen. Als Mensch mit ihr reden, nicht als Kaufmann.
Überraschend schnell klopfte Herr von Studmann. Er bat Pagel, sofort zur Villa zu gehen und mit dem Chauffeur Finger abzurechnen. – Frau von Prackwitz möchte sofort fahren. Wahrscheinlich müssen Sie mit. Zu der Firma in Frankfurt. Nein, bitte, Pagel, ich möchte es nicht selbst ... Frau von Prackwitz will mich um sechs Uhr sprechen.
Pagel hatte wirklich nach Frankfurt mitfahren müssen, den Handkoffer mit dem Geld bei sich; der Chauffeur Finger war nicht bevollmächtigt gewesen, die ganze Kaufsumme in Empfang zu nehmen.
Pagel hatte seinen Platz neben dem Chauffeur gehabt, im Fond des Wagens saß allein die gnädige Frau. Aber sie hatte sich nicht behaglich in den geräumigen Ledersitz zurückgelehnt, aufrecht saß sie da, auf einer Kante des Sitzes, das weiße Gesicht unverwandt gegen die Scheiben gepreßt. Von Zeit zu Zeit hatte sie gerufen: Halt!
Dann war sie ausgestiegen, irgendwo, an einer beliebigen Stelle der Landstraße, sie hatte ein paar Schritte in einen Querweg hinein gemacht, sie hatte den Boden aufmerksam angesehen, dann war sie wieder zurückgekehrt.
Langsam weiter!
Wieder war sie dann ausgestiegen. Sie hatte ein Stück Papier im Chausseegraben gesehen, sie lief danach, entfaltete es, sah es nachdenklich an. Schon an der hoffnungslosen Art, wie sie es auseinanderfaltete, sah man, daß sie nicht wirklich eine Botschaft ihrer Tochter darauf zu finden erwartete. Dann stiegen sie wieder ein.
Langsam weiter!
Immer wieder kam ihr Ruf: Langsamer! Langsamer! Ich will jedes Gesicht erkennen können.
Der Motor brummte ungeduldig, im zwanzig Kilometertempo kroch der starke Wagen über die Straßen.
Langsamer doch!
Fünfzehn Kilometer ...
So macht sie es jetzt immer, flüsterte der Chauffeur. Es ist ihr egal, wohin ich fahre, nur aussteigen, rumlaufen, nachsehen muß sie können. Als wenn der Kerl noch hier in der Gegend wäre!
Passen Sie doch auf – Sie sollen hier halten!
Sie steigt aus, sie geht in ein Chaussee-Wärterhaus. Sie bleibt eine Weile. Der Chauffeur erzählt: Nur durch Ortschaften und Städte darf ich schnell fahren, da sieht sie nicht aus dem Fenster. Sie denkt wohl, die beiden sind immer allein. – Nun, ich bin froh, daß ich heute Schluß machen kann.
Tut sie Ihnen denn gar nicht leid? fragte Pagel den korrekten Musterchauffeur.
Leid ... Natürlich tut sie mir leid, antwortete der. Aber schließlich fahre ich einen sechzigpferdigen Horch und keinen Kinderwagen. Glauben Sie, das macht einem Chauffeur Spaß, so nuddlig rumzuleiern?
Frau von Prackwitz kam aus dem Chaussee-Wärterhaus. Langsam weiter! sagte sie.
Pagel hätte den Chauffeur treiben mögen. Sie mußten bis zwölf Uhr den Wagen in Frankfurt bezahlt haben, Studmann hatte es ihm eingeschärft, um zwölf würde der neue Dollarkurs herauskommen ... Aber Pagel sagte kein Wort, nicht dem Chauffeur, nicht der gnädigen Frau ...
Es wurde drei Uhr, bis sie in der Stadt waren, abrechnen konnten. Der Dollar war mit 320 Milliarden gegen 242 am Vortag gekommen – die ganze Pachtsumme ging drauf. Es blieb sogar noch eine kleine Restschuld stehen ...
Das macht nichts, sagten die Herren höflich. Sie erledigen diese Kleinigkeit nach Ihrem Belieben.
Pagel wußte, daß es Herrn von Studmann viel machen würde. Er hatte gehofft, Pagel würde noch eine große Summe zur Lohnzahlung zurückbringen. Noch mehr würde es freilich Herrn von Studmann ausmachen, daß aus der erbetenen Unterredung um sechs Uhr nichts wurde. Frau von Prackwitz hatte Pagel in einem Lokal sitzenlassen, sie war fortgegangen, den neuen Chauffeur zu holen. Stunden vergingen, ehe sie wiederkam; der große, schöne Wagen stand führerlos auf der Straße.
Schließlich, es war schon fast dunkel, kam sie mit dem neuen Chauffeur. Das ist Oskar, Herr Pagel, sagte sie und setzte sich müde hin. Oskar ist der Sohn einer Hausdame von Papa. Ich dachte an ihn, er hatte Autoschlosser gelernt ...
Ich habe auch den Führerschein, sagte Oskar und setzte sich mit an den Tisch.
Oskar war ein Bengel, Anfang der Zwanzig, mit ungeheuer großen Händen und einem Gesicht, wie roh aus einem Teigkloß geformt; aber er sah gutmütig und ein wenig einfältig aus.
Frau von Prackwitz trank eilig eine Tasse Kaffee nach der andern. Aber sie aß nichts.
Iß nur ordentlich, Oskar. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.
Sie sollten auch ein wenig essen, gnädige Frau.
Nein, danke, Herr Pagel. – Oskar hat Violet noch gekannt, er wird mir helfen, sie zu finden. Wie alt war Violet, Oskar, als du von Neulohe in die Lehre kamst?
Acht Jahre.
Wenigstens wird er so fahren, wie ich es haben möchte, nicht wahr, Oskar?
Natürlich, Frau von Prackwitz. Immer ganz langsam und alle ansehen – ich habe es schon verstanden. Ich habe doch davon in der Zeitung gelesen ...
Frau von Prackwitz schloß einen Augenblick die Augen. Dann sagte sie mit Nachdruck zu Pagel: Ich habe wohl gemerkt, wie widerwillig dieser Finger so gefahren ist, wie ich wollte. Ihr alle tut jetzt oft nur widerwillig, was ich möchte – Sie auch, Herr Pagel!
Er machte eine Bewegung.
Sie sagte: Laßt mich doch tun, was ich will. Ich habe doch meine Tochter verloren, nicht wahr? Wenn einer von euch vorher klug gewesen wäre aber jetzt! Was soll das?
Pagel schwieg.
Endlich fuhren sie, es war nach sechs, es war schon ganz dunkel. Warum sie nicht den direkten Weg nach Neulohe fuhren, sondern einen meilenweiten Umweg, warum sie trotz der Dunkelheit kaum je schneller als zwanzig Stundenkilometer fuhren, warum sie auch in der Nacht noch halten mußten, und die gnädige Frau ging ein paar Schritte in einen unbekannten Wald hinein – Wolfgang verstand das alles nicht.
Vielleicht wollte sie nur allein sein, vielleicht stand sie nur da in der dunklen Nacht und wartete, bis das Motorengeräusch in ihrem Körper verstummt war, bis das Klopfen des eigenen Herzens wieder laut wurde in ihr. Meinte sie, daß sie, wenn sie das eigene Ich fühlte, auch die Tochter mitspürte, die einmal ein Teil dieses Ich gewesen war?
Oder stand sie nur da in der Nacht, mit geschlossenen Augen in dem eng geschlossenen Behältnis der Nacht, und erwartete eine Helle, in der sie durch den Wald gegangen kämen – er und sie? Wie dachte sie an diese Verlorenen? Sah sie ihn vorausgehen, den häßlichen, trockenen grauen Kopf gesenkt, zugekniffen der dünnlippige Mund – und die Tochter geht einen halben Schritt hinter ihm, auch sie mit geschlossenen Augen, immer noch im Schlaf, wie die Mutter sie zuletzt sah? Sieht sie die beiden heimatlos über eine fremde, kalte Erde wandeln – keine gastliche Tür schlägt sich ihnen auf, kein freundliches Wort erreicht sie je –?
Es ist doch erst so kurze Zeit her, daß der Pagel ihr berichtete, daß alles anders war, als sie es befürchtet hatte, daß kein heimlicher Liebhaber mehr zu suchen war, daß die halb närrische, halb verächtliche Fratze des Dieners der Feind gewesen war, der sie so beraubt hatte. Aber das ist unmöglich! Ich glaube das nie! hatte sie gerufen.
So wenig Zeit war seitdem verflossen, schon glaubte sie es. Schon wußte sie es, schon sah sie die beiden – und ihr war, als müßten sie immer wortlos beieinander sein, beide stumm aneinander gefesselt von der gleichen höllischen Qual. Sah sie denn die beiden nicht so deutlich, daß sie meinte, er müsse graue Turnschuhe aus Zeug tragen mit geriefelten Gummisohlen, so deutlich, daß sie jeden Nebenweg nach der Spur dieser Sohlen absuchte? Sah sie Violet nicht so deutlich, daß sie wußte, sie trug einen verschossenen, grauen Herrenüberzieher, über einem Kleid, das nicht recht saß, weil er es der Schlafenden angezogen hatte?
Ach, diese Männer – diese Polizei, diese Staatsanwaltschaft, die sich wichtig taten, die immerzu anklingelten, Boten schickten, dies wissen, jene Schuhgröße messen wollten! Sie würden Violet nie finden, sie wußte es genau. Sie war überzeugt, sie allein würde Violet begegnen, irgendwann einmal, es war ganz gleich, wo sie so lange wartete, nur draußen mußte es sein – irgendwann, wenn die Stunde kam, würde sie schon auf dem richtigen Fleck stehen.
Hatten diese Leute nicht sogar in Violets Zimmer eine Art Haussuchung abhalten wollen, Fingerabdrücke auf der Fensterbank, Nachsuche nach Briefen?! Sie hatte es nicht zugelassen, sie hatte das Zimmer einfach abgeschlossen. Wozu jetzt noch Erhebungen? Es war ja alles sonnenklar! Violets Zimmer gehörte ihr allein: wenn sie heimkam, völlig erschöpft von ihren Fahrten, zu müde sogar, um zu weinen, wenn sie schnell nach Achim gesehen hatte – dann ging sie in Violets Zimmer. Sie schloß die Tür ab, sie setzte sich neben das Bett, sie schloß die Augen.
Jawohl, zu Anfang warf sie noch einen argwöhnischen Blick auf das Fenster. Aber das Fenster war fest verschlossen, sie war nicht mehr unachtsam. Die Tochter konnte ruhig schlafen, sie lag in ihrem Bett. Allmählich schlief auch die Mutter ein, so in dem Korbstuhl neben dem leeren Bett sitzend, aus Wunsch wurde Traum. Schließlich schlief sie fest, erst am Morgen, wenn sie erwachte, zog sie sich um, wusch sich, rüstete sich für den neuen Tag.
Diese Morgen, bei denen das ganze Zimmer von einem fahlen, trostlosen Grau erfüllt war, wenn das kindische, zänkische Geplärr des Rittmeisters mit seinem Pfleger durch die Stille so peinvoll deutlich zu ihr herüberklang, wenn nach dem toten Nichts des Schlafes in das langsam erwachende Gehirn das Gefühl ihres Verlustes wie ein fressendes Feuer fiel – diese Morgen waren schrecklich. Aber dann stand der Wagen vor der Tür, gleich würde sie losfahren, eigentlich mußte sie sich eilen, vielleicht war das Wiedersehen mit ihrer Tochter schon ganz nahe.
Dieser törichte Pedant Studmann, der keine Ahnung davon hatte, was dieser Wagen für sie bedeutete! Daß er ihre Brücke in die Zukunft war, ihre einzige Hoffnung. Jawohl, er hatte eine höchst dringende, sehr eilige, private Unterredung von ihr verlangt, aber hier stand sie im Wald, es war neun Uhr oder zehn – er begriff nicht, daß man keinen verläßt, der vom Unglück geschlagen ist –! Vielleicht stand sie nur noch darum hier, weil er dort auf sie wartete!
Schließlich steigt sie wieder in den Wagen, sie läßt weiterfahren. Neulohe kommt näher, es ist nun wirklich zehn Uhr geworden. Aber als sie durch das Städtchen Meienburg kommen, läßt sie wieder halten. Sie kommt um vor Hunger! Es gibt hier ein gutes Hotel, den Prinzen von Preußen, als junges Mädchen hat sie hier oft mit den Eltern gesessen!
Sie läßt sich die Speisekarte bringen, sie wählt sehr lange, ehe sie bestellt. Es gibt nicht ganz das Richtige auf der Karte für ihren Hunger, aber schließlich findet sie doch das eine und das andere. Sie nimmt die Weinkarte in die Hand, die Speisenkarte reicht sie dem jungen Herrn Pagel. Sie bestellt Wein, und immer beobachtet sie dabei den jungen Pagel aus den Augenwinkeln. Er sagt, er habe keinen Hunger, er ist fast mürrisch – oh, wie die Menschen Glas für sie geworden sind, sie kann völlig in ihn hineinsehen.
Sie sieht, wie er vor Ungeduld umkommt, sie sieht, er weiß von der Unterredung, die sie Herrn von Studmann versprochen hat. Vielleicht weiß er noch von viel mehr, von Blicken, gewissen Worten, von Hoffnungen ... Eine Frau ahnt nie, wie weit Männer mit Geständnissen untereinander gehen, sie bringen das Unglaublichste fertig. Jawohl, der junge Herr Pagel, er kommt vor Ungeduld, vor Mitgefühl mit seinem Freund um, denkt er denn nicht auch einmal an sie –?! Daß sie vielleicht Gründe hat, zu zögern, zu warten –?! Er denkt überhaupt nicht an sie!
Frau von Prackwitz trinkt ein paar Glas Wein, sie ißt auch ein wenig von den bestellten Speisen. Dann läßt sie sich von dem Kellner die winterlich unbenutzte Veranda aufschließen. Sie steht da eine Weile – die Tische sind übereinander gestapelt, vor den Fenstern ist Nacht, man sieht den kleinen Garten nicht, nicht die Weiden und Pappeln am Ufer des Flüßchens.
Sie steht eine ganze Weile auf der Veranda, der junge Pagel steht höflich und vielleicht eine Spur verdrossen daneben. Er begreift nicht, warum sie hierher gehen muß. Dann sagt sie halblaut im Hinausgehen: Hier war ich mit Achim auf unserm ersten Ausflug zu zweien, grade, als wir uns verlobt hatten.
Sie dreht sich noch einmal um, noch einmal betrachtet sie die Veranda. Nein, man sieht ihr nichts an von den fast zwanzig Jahren, die dazwischenliegen, es scheint dieselbe Glasveranda. Eine ganze Ehe ist seitdem vergangen, ein Kind wurde geboren, es ging noch mehr verloren als ein Krieg. – Ade! Erloschene Lebensfeuer, die nichts wieder zum Brennen bringen kann – entschwundene Jugend, verschollenes Lachen – vorbei!
Still geworden sitzt sie wieder an dem Gasttisch des Hotels, nachdenklich dreht sie den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern. An der Haltung des jungen Pagel merkt sie, daß er nicht mehr ungeduldig, nicht mehr mürrisch ist, daß er nicht mehr drängt – er hat verstanden. Es ist gar nicht wahr, daß Jugend unduldsam ist – ein echtes Gefühl versteht echte Jugend sofort.
Etwas später kommt irgendein Herr an ihren Tisch, einer dieser Leute, mit denen sie früher verkehrt haben, irgendein Rittergutsbesitzer aus der Gegend ... Er hat wohl einiges gehört, er hat wohl einiges gelesen, er hat wohl auch einiges getrunken. Jetzt kommt er, Abgesandter einer ganzen Runde, Teilnahme heuchelnd, um zu horchen. Er hat sie ja da sitzen sehen, mit einem jungen Burschen Wein trinken, diese beiden sind sogar in der Veranda verschwunden – vor nichts macht die Phantasie dieser Männer halt?
Sie richtet sich auf, weiß vor Erbitterung. Der Herr hat sich an ihren Tisch gesetzt, seinem listigen Fragespiel mit aller Hartnäckigkeit eines Betrunkenen hingegeben, merkt er gar nicht, daß sie schon aufgestanden ist.
Weiß und böse sagt sie in das rote Gesicht: Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, Herr von ... Den Kranz schicken Sie wohl erst, wenn meine Tochter gestorben ist –?
Von dem jungen Pagel gefolgt, geht sie aus dem Lokal, ein tödliches Schweigen herrscht. Es dauert lange, bis der völlig verwirrte Kellner sich am Wagen einfindet, um sein Geld in Empfang zu nehmen.
Es ist nach Mitternacht, als sie in Neulohe ankommen. Sagen Sie bitte Ihrem Freund, sagt Frau von Prackwitz, als sie ins Haus geht, daß ich ihn morgen früh sofort anrufe, wenn ich ihn sprechen kann.
Still sitzt Herr von Studmann im Büro, still hört er sich den Bericht an. Ich habe immer gedacht, Pagel, sagt er, ein wenig kümmerlich lächelnd, daß Zuverlässigkeit eine wünschenswerte Eigenschaft auf dieser Welt sei. Aber seien Sie alles, nur nicht zuverlässig!
Er geht einen Augenblick hin und her auf dem Büro. Er sieht alt und müde aus. Ich habe Frau von Prackwitz heute abend noch einen Brief geschrieben, sagt er schließlich. Sie findet ihn drüben vor. Nun gut, ich werde bis morgen warten.
Aber er geht nicht auf sein Zimmer. Er bleibt auf dem Büro. Er wandert auf und ab. Sein Blick, der gegen seinen Willen dann und wann auf das Telefon fällt, verrät, an was er denkt: Vielleicht ruft sie doch noch an?
Pagel legt sich schlafen, er hört den andern auf und ab gehen, immer auf und ab. Er schläft darüber ein.
Es kommt der andere Morgen. Von der Frühstücksstunde an sitzt Herr von Studmann auf dem Büro, er kümmert sich nicht um die Wirtschaft. Pagel rennt hierhin, dorthin. Aber immer, wenn er zum Büro zurückkommt, sitzt Herr von Studmann noch da. Zuerst sucht er noch den Eindruck aufrechtzuerhalten, als arbeite er etwas, schreibe einen Brief – aber dann gibt er das alles auf. Er sitzt nur so da, ein elender, unglücklicher Mensch, der auf sein Urteil wartet ...
Um halb elf sieht Pagel den großen Wagen durch Neulohe fahren. Er läuft auf das Büro: Frau von Prackwitz war nicht hier? Hat sie nicht angerufen?
Nein. Warum?
Eben ist der Wagen fortgefahren.
Herr von Studmann greift zum Telefon. Diesmal zittert seine Hand nicht, seine Stimme versagt nicht, als er fragt: Hier Studmann – könnte ich bitte Frau von Prackwitz sprechen? – Sie ist eben fortgefahren? – Gut – hat sie etwas hinterlassen? – Ja, bitte, erkundigen Sie sich, ich warte am Apparat.
Er sitzt da, den Hörer in der Hand, das Gesicht gesenkt, im Schatten – im – Schatten. Dann: Ja, ich bin noch hier. – Nur, daß sie heute nicht zurückkommt? Sonst nichts? – Danke schön.
Er legt den Hörer auf, er sagt zu Pagel hinüber, ohne ihn anzusehen: Was sagte Ihnen Frau von Prackwitz gestern abend?
Daß sie heute sofort anruft, sobald sie Sie sprechen kann ...
Herr von Studmann reckt sich, er lächelt fast: Ich bin wieder einmal die Treppe hinuntergefallen, mein lieber Pagel, nur etwas schmerzhafter als damals im Hotel. – Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, daß es irgendwo auf der Welt einen Fleck gibt, wo man unbedingte Zuverlässigkeit schätzt. Ich habe mich entschlossen, eine mir seit langem angebotene Stellung anzunehmen. Ich werde in dem Sanatorium des Geheimrats Schröck arbeiten. Ich bin sicher, daß die dort befindlichen Kranken vollkommene Zuverlässigkeit, Gleichmäßigkeit des Temperaments, eine nicht zu erschöpfende Geduld zu schätzen wissen.
Pagel starrte Herrn von Studmann an, Herrn von Studmann, der jetzt das Kindermädchen der Nerven- und Gemütskranken werden wollte – ob er ironisch sprach oder ernst? Aber er sprach ganz ernst, nie war er ernster gewesen. Er war nicht geneigt, die Tollheiten dieser tollen Zeit mitzumachen, selber toll zu werden. Unermüdet, nicht verzweifelt ging er weiter. Gewiß, er hatte einen Schlag bekommen, eine Hoffnung war ihm zergangen. Aber er trug es.
Ich bin kein Mensch für Frauen, sagte er und sah Pagel an. Nein, ich eigne mich nicht für den Umgang mit Frauen. Ich bin ihnen zu regelmäßig, zu korrekt – irgendwie bringe ich sie zur Verzweiflung. Früher einmal, es ist lange her – er machte eine vage Handbewegung, um anzudeuten, in welch nebelhaften Fernen es lag –, früher einmal war auch ich verlobt, ich war jünger, vielleicht beweglicher. Nun, jedenfalls löste sie die Verlobung, urplötzlich, eines Tages. Es kam mir sehr überraschend. Es ist mir so, sagte sie zu mir, als müßte ich eine Weckuhr heiraten – sie tickt, sie tickt, du bist absolut zuverlässig, du gehst nicht vor noch nach, du klingelst genau zur richtigen Zeit – du bist einfach zum Verzweifeln! Verstehen Sie das, Pagel?
Pagel hörte mit einer höflichen, interessierten, eine Spur ablehnenden Miene zu. Dies war immerhin derselbe Studmann, der, als es Pagel schlechtging, jede vertrauliche Offenbarung schroff zurückgewiesen hatte. Der Schlag mußte ihn hart getroffen haben, wahrscheinlich war ihm auch diesmal die Lösung völlig überraschend gekommen.
Nun, Sie sind ein anderer Typ, Pagel, sagte der veränderte, schwatzhafte Studmann. Sie leben gewissermaßen nicht in einer graden Linie – mehr hin und her, auf und ab. Sie überraschen sich gerne selbst – ich, ich hasse die Überraschungen!
Seine Stimme bekam etwas Eisiges, Ablehnendes. Pagel dachte, daß Herr von Studmann Überraschungen vor allem unfein und darum verächtlich fand.
Aber weiter war Herr von Studmann auch in dieser erregten Stunde nicht mit seinen vertraulichen Eröffnungen gegangen. Gleich wurde er wieder sorgender Freund.
Sie bleiben nun allein hier, Pagel, sagte er. Sie werden es schwer haben. Aber ich fürchte, es wird nicht lange dauern. Ich nehme an, Frau von Prackwitz irrt sich in der Beurteilung ihres Vaters. Die Pacht hätte unbedingt bezahlt werden müssen. Aus rechtlichen und aus persönlichen Gründen. Nun, Sie werden das alles noch erleben und mir, wie ich hoffe, brieflich berichten. Mein Interesse bleibt unverändert. Und sollte einmal eine Änderung – drüben in der Villa – eintreten und ich werde wirklich gebraucht – er zögert einen Augenblick, dann rasch: Nun, Sie würden es mir schreiben, nicht wahr?
Natürlich, sagte Pagel. Aber wann wollen Sie denn fort, Herr von Studmann? Doch noch nicht bald?
Gleich, sofort. Das heißt, ich denke mit dem Nachmittagszug. Mit Herrn Geheimrat Schröck setze ich mich dann von Berlin aus in Verbindung.
Was? Heute schon! Und Sie wollen sich nicht von Frau von Prackwitz verabschieden?!
Ich werde nachher den Rittmeister aufsuchen. Vielleicht erkennt er mich, gestern schien es nicht so. Für Frau von Prackwitz werde ich ein paar Zeilen hinterlassen. Ja, richtig, lieber Pagel, auch Ihre Sache werde ich bei dieser Gelegenheit in Ordnung bringen.
Welche Sache? rief Pagel. Ich weiß nichts Unerledigtes.
Nun, es wird Ihnen schon einfallen. Und wenn nicht, ich bin wie gesagt, für zuverlässige Erledigungen ...
So reiste Herr von Studmann ab, ein Mann von Meriten, ein zuverlässiger Freund, aber ein bißchen vertrocknet. Ein Unglückshuhn, das sich für einen Eckstein des Weltgebäudes hielt.
Und natürlich hatte er mit jener Sache, die er für Pagel noch rasch in Ordnung bringen wollte, dem guten Wolfgang eine recht schwierig auszuessende Suppe eingebrockt.
Was höre ich da? hatte die gnädige Frau am nächsten Morgen höchst erbittert gesagt, mein Mann hat an Sie eine Ehrenschuld von zweitausend Mark in Devisen? Was heißt das?!
Dies war dem jungen Pagel wirklich peinlich. Innerlich verfluchte er den Freund Studmann, der es nicht hatte über sich gewinnen können, in einem Abschiedsbrief an die Frau seines Herzens von dieser Sache zu schweigen. (In diesen schwierigen Tagen zu einer erregten, verzweifelten Frau von dieser Sache zu sprechen!)
Pagel ließ Herrn von Studmann glatt im Stich. Die Sache sei längst zwischen ihm und dem Herrn Rittmeister erledigt. Es habe sich übrigens nie um zweitausend Mark gehandelt. Eine höchst zweifelhafte Sache – gewissermaßen halb eine Zechschuld, Reisekosten, er wüßte nicht mehr, was alles ... Aber wie gesagt, längst erledigt!
Frau von Prackwitz sah ihn unverwandt an mit ihren traurigen Augen. Warum wollen Sie mich denn anlügen, Herr Pagel?! sagte sie schließlich. Herr von Studmann, ein großer Psychologe, wenigstens in geschäftlichen Dingen, hat ja bereits vorausgesehen, daß Sie sich wegen dieser Geldgeschichte genieren würden. Es handelt sich doch um zweitausend Goldmark, die Sie Herrn von Prackwitz beim Roulettespiel geliehen haben, nicht wahr?
Den Studmann soll der Teufel holen! rief Pagel nun wirklich ärgerlich. Ich ordne meine Sachen alleine. Übrigens hat die Polizei sämtliche Spielgelder beschlagnahmt – es war ja doch alles verloren!
Sie sah ihn ruhig an. Warum genieren Sie sich in Gelddingen? fragte sie. Das müssen Sie nicht tun. Vielleicht habe ich in dieser Hinsicht meines Vaters praktischen Sinn geerbt.
Ich bin hier nicht wegen Geld, sagte Pagel verbissen. Nun sieht es wahrhaftig so aus –
Es freut mich, sprach sie mit leiser Stimme, wenn Neulohe wenigstens einem Menschen gut getan hat. Abschließend: Das Geld, Sie wissen es ja, kann ich Ihnen jetzt nicht geben, aber ich denke daran. Ich vergesse es nicht. Dann ist noch Ihre Gehaltsfrage zu regeln, schreibt mir Herr von Studmann ...
Pagel tobte innerlich.
Sie erhielten bisher nur eine Art Taschengeld. Das ist natürlich unmöglich. Ich habe es mir überlegt, die Beamten meines Vaters bekamen immer ungefähr 10 Zentner Roggen Monatsgehalt. Sie werden sich von jetzt an wöchentlich, wenn Sie die Leute löhnen, den Wert von 2½ Zentner Roggen auszahlen.
Ich bin kein gelernter Landwirt. Hier müßte ein Inspektor her.
Ich will jetzt keine neuen Gesichter. Machen Sie es mir nicht auch schwer, Herr Pagel. Tun Sie das, was ich Ihnen gesagt habe, nicht wahr?
Er nahm ihre Hand.
Und das Geschäftliche erledigen Sie vorläufig ganz wie Sie denken, ohne mich viel zu fragen. Vielleicht erholt sich mein Mann rascher, als wir jetzt glauben.
Sie nickte ihm noch einmal freundlich zu.
Er sagte bedenklich: Ich fürchte doch, es wird nicht gehen. Es ist zuviel, und ich habe keinerlei Erfahrung.
Doch, es wird gehen, nickte sie. Wenn Sie erst eingearbeitet sind, wird uns Herr von Studmann kaum noch fehlen.
Armer Herr von Studmann – dieses war sein Lebewohl von Frau Eva von Prackwitz, einer Frau, die er verehrt und vielleicht sogar geliebt hatte. Aber es ist wohl anzunehmen, daß in jenem Abschiedsbrief Studmanns nicht nur geschäftliche Dinge, wie Gehaltsfragen und Spielschulden, standen, sondern auch einer jener pathetischen Sätze, die eher das verletzte Ehrgefühl als die verschmähte Liebe der Männer zu finden scheint, und die von den Frauen stets so beleidigend und so lächerlich gefunden werden.
Wenn Frau von Prackwitz den überstürzten Abgang Studmanns von ihrem Standpunkt aus betrachtete, so konnte sie sagen, daß der Freund sie in der Stunde ihrer schlimmsten Not verlassen hatte, weil sie darauf bestand, daß zwei Zahlungen in einer andern Reihenfolge geleistet wurden, als er es wünschte. Sie konnte auch sagen, daß dieser Freund taktlos eine Unterredung in Liebesdingen erzwingen wollte, zu einer Stunde, da ihre Tochter in Lebensgefahr, ihr Mann in schwerer Krankheit sich befand.
Nein, sah man die Dinge vom Standpunkt der Frau, jeder Frau, so war Herr von Studmann völlig im Unrecht. Freilich vom kaufmännischen Standpunkt aus fing er an, recht zu behalten. Heute mittag hatte Wolfgang einen Brief von ihm bekommen –:
Also, lieber alter Freund, nein, lieber junger Freund sollte ich richtiger sagen, mir geht es hier bei dem Geheimrat Schröck ausgezeichnet. Eine putzige Kruke, der alte Knabe, aber ein Betrieb, der abschnurrt wie eine Uhr ... Sie sollten einmal hier die Diätküche sehen, mein lieber Pagel, gegen eine solche Exaktheit im Zuwiegen, Einteilen, Zubereiten, Anrichten kommt das bestgeleitete Berliner Hotel nicht auf. Nebenbei bemerkt: ich habe mich zu einer rein vegetarischen Kost entschlossen, dazu kein Tabak mehr, kein Alkohol. – Irgendwie scheint dies meiner ganzen Veranlagung besser zu entsprechen, ich wundere mich, daß ich nicht früher darauf gekommen bin. Denken Sie einmal darüber nach: der Tabak kam zu uns aus Südamerika, Mittelamerika, einem tropischen Land, und der Alkohol, der Wein nämlich, der Bibel nach aus Palästina – kann also unserer nördlichen Natur nicht entsprechen. Aber ich will Sie beileibe nicht bekehren! Immerhin muß ich doch sagen, daß das Fleischessen ... Und so weiter und so weiter über vier Seiten des Briefes hin, bis zu dem denkwürdigen Nachsatz: Hat der Geheimrat sich noch immer nicht wegen seiner Pacht gerührt? Es sollte mich doch sehr wundern.
Wolfgang Pagel, immer feuchter auf seinem Strohballen, seufzt. Nun sucht er doch in der Tasche, er findet eine Zigarette, er brennt sie an. Also: Herr von Studmann braucht sich nicht mehr zu wundern, Herr von Studmann behält recht: der Geheimrat hat sich gerührt wegen seiner Pacht. Er hat sich sogar höchst bösartig gerührt. Den ersten Maßnahmen werden andere folgen. Die Sache wird sich zuspitzen: Aus! Schluß!! Dein treuer Vater!!!
Es liegt in der Natur eines jeden Mannes, und eines jungen dazu, daß er nicht gerne für eine Sache tätig ist, die nichts taugt, die zum Untergang verurteilt ist. Die tiefe Mutlosigkeit, die den jungen Pagel angesichts einiger verrostender Schaufeln ergriffen hatte, stammte wohl vor allem hieraus. Wenn der Geheimrat doch in zwei oder drei Wochen den Betrieb lahmlegen würde, so machte ihm seine ganze Rennerei und Wirtschafterei keinen Spaß mehr. Dann dankte er dafür. Dann rührte er kein Bein mehr. Dann machte er sich keine Sorgen mehr – ausgerechnet auf diesem zugrunde gehenden Fleck des Deutschen Reiches, bestehend aus soundsoviel Ländern und vierundfünfzig Parteien! Gute Nacht!
Nahm man den alten Geheimrat als eine unbekannte Größe, also nicht als das bekannte Geschöpf in Loden, mit Knollennase und listig funkelnden Augen, sondern als Besitzer, als den Verpächter schlechthin, so konnte man ganz und gar nicht sagen, daß er im Unrecht war. (Es blieb eine verfluchte Sache, dachte der junge Pagel, schon wieder lebhafter geworden, daß die meisten Menschen bei den meisten Dingen gleichzeitig im Recht und im Unrecht waren!) Der Pächter hatte zweifellos seine geldlichen Verpflichtungen nicht erfüllt. Er erlaubte sich kostspielige Privatneigungen zu Lasten der Wirtschaft, er wirtschaftete schlecht mit unausgebildeten Kräften, außerdem war der Pächter kein geschäftsfähiger Mann mehr! Zum Teufel, welchem Verpächter mußte nicht himmelangst werden, wenn er solchen Pächter in seinem Eigentum schalten und walten sah!
Wenn man auf der andern Seite allerdings bedachte, daß der alte Verpächter ein schwerreicher Mann war, daß der eigentliche Pächter seine Tochter war und daß es dieser Tochter zur Zeit ziemlich dreckig ging, so war der Verpächter wieder verdammt im Unrecht. Aber, dachte Pagel, es sieht dem schlimmen alten Knaben auch gar nicht ähnlich, daß er diese Sache mit dem Förster so ganz ohne weiteres anfängt. Er weiß doch auch, er ist gesellschaftlich, er ist menschlich in der ganzen Gegend erledigt, wenn er jetzt seiner Tochter die Weiterführung der Wirtschaft unmöglich macht, sie gewissermaßen auf die Straße setzt ...
Nein, denkt der junge Pagel, aus heiterem Himmel kann dieser Blitzstrahl nicht gekommen sein. Es muß etwas vorgegangen sein, von dem ich nichts weiß. Es ist verdammt, denkt der junge Pagel immer tatkräftiger, daß ich dem Förster versprochen habe, mit der gnädigen Frau nicht von diesem Brief zu sprechen. Ich bin ein Schafskopf gewesen, denkt er und steht jetzt von seinem Strohballen auf, ich hätte stets die persönliche Post durchsehen müssen, die Amanda nach der Villa gebracht hat. Vielleicht, fast sicher ist ein Brief vom Geheimrat an seine Tochter dabei gewesen, und vielleicht, fast sicher, hat sie ihn weder gelesen noch beantwortet. Sie fährt ja fast nur noch im Auto durch die Welt. – Ich müßte, denkt er, in der Villa wieder einmal einen Besuch machen beim Rittmeister. Jetzt ist sie noch unterwegs. Ich habe es ja gesehen, ein ganz hübsches Päckchen Briefe liegt ungeöffnet auf ihrem Schreibtisch. Ich müßte sie einmal durch die Hand laufen lassen, an Poststempel und Handschrift sähe ich, ob der alte Knabe dazwischen ist. Dann könnte man von dieser Seite her die Sache irgendwie starten!
Er geht hin und her, er versetzt einem Spaten, der ihm das Leben schwer machen will, einen Tritt, daß er aus dem Weg fliegt.
Gott, o mein Gott! Ich will doch hier, verdammt noch mal, nicht ganz umsonst gearbeitet haben! Ich will doch hier nicht bloß eine Wartezeit versessen haben, bis der Peter mich wieder zu sich ruft! Ich will doch auch für die hier was geleistet haben –: irgendein Steinchen im Weltgebäude aufgelegt, das liegen bleibt, das der alte Knabe nicht gleich wieder runterschmeißt!
Ein anderer, ein vergnügter Gedanke kommt ihm. Die Zigarette fliegt in einem Bogen über die nächste Kartoffelmiete und erlischt in der Nacht. Schluß mit dem lasterhaften, aus tropischen Ländern stammenden Nikotin! Aber ich habe doch schon was sehr Schönes geschafft! Ich habe unsern geheimen Aufseher für die nächsten sechsundzwanzig Wochen ins Bett gepackt. Mit den Wegeverboten, mit der Verkaufskontrolle ist es erst einmal nichts, mein lieber Geheimrat. Du wolltest so schlau sein, die Forstarbeiten, das Holzschlagen hast du ihm erst einmal abgenommen, mit einem geheimnisvollen Wink auf bald geänderte Geldzustände; ich bin noch schlauer gewesen, ich habe ihm alles abgenommen: die Forst mit der Spionage – Donnerwetter ja, ich muß doch den Doktor anrufen! Volldampf aufs Büro!!
Die kurze mutlose Stunde ist vorüber. Er ist nicht mehr erschöpft und ausgepumpt, er ist ein junger Mann, dem seine Arbeit Spaß macht und der sie zu einem guten Ende führen wird! Mit eiligen Schritten strebt er durch die Nacht dem Hof zu.
Natürlich – wie immer, aber man gewöhnt sich auch daran – kam Pagel nicht sofort auf das Büro. Bei den eiligsten Wegen kam immer etwas dazwischen.
Diesmal war es der Tierarzt aus der Kreisstadt, auf den seltenen Namen Hoffart hörend, aber nicht aussehend wie sein Name. Der Futtermeister hatte ihn in Pagels Abwesenheit gerufen: das Reitpferd des Rittmeisters fohlte seit dem Morgen, eine englische Vollblutstute, Mabel hieß sie, aber sie wurde nicht fertig damit. Sie hatte Wehen und Wehen, aber die Geburt ging nicht vorwärts.
Man hatte alles getan, wie es sich gehörte: die Box der Stute war dicht verhängt worden, denn gebärende Pferde sind geschämig, sie vertragen es nicht, wenn ihnen ein menschliches Auge zusieht. Ein neugierig hereingeworfener Blick kann die Geburt für Stunden aufhalten.
Aber mit dieser Abgeschlossenheit war es nun vorbei. Als Pagel mit dem Tierarzt in die Box trat, warf ihnen das Pferd einen im Winkel geröteten Blick zu, der von Qual sprach und um Hilfe flehte. Wie bei den Menschen hatte sich die Scham verloren, als der Schmerz unerträglich wurde.
Bis vor einer halben Stunde habe ich noch die Herztöne vom Fohlen gehört. Jetzt ist alles still, ich bin überzeugt, es ist tot. Wahrscheinlich hat es sich in der Nabelschnur erstickt. – Ich bin leider zu spät gerufen.
Der Tierarzt Hoffart sah Pagel mit der ergebungsvollen Miene des Mannes an, der gewohnt ist, jeden Tod als Schuld auf seinem Konto buchen zu müssen.
Und was ist zu tun? fragte Pagel, den mehr als die Schuldfrage die Qual der Kreatur interessierte.
Ich habe nachgesehen, sagte der Tierarzt erleichtert und eifrig. Leider ist die Stute sehr eng. Ich werde das Fohlen in ihr zerschneiden und stückweise herausholen müssen. So könnte man wenigstens die Mutter retten.
Es ist bloß ein niedergebrochenes Vollblut, meinte Pagel nachdenklich. Der Rittmeister soll es für ein paar hundert Mark aus irgendeinem Rennstall gekauft haben. Aber er hat sehr an dem Pferd gehangen. – Wissen Sie was, Herr Doktor, sprach er lebhafter, gedulden Sie sich noch eine Viertelstunde, zwanzig Minuten – ich gebe Ihnen dann Bescheid.
Die Wehen hören fast auf, das Herz läßt sehr nach. Ist hier wenigstens jemand, der so lange einen starken Kaffee für den Gaul kochen kann? Ich will ihm auch eine Kampferspritze geben ... Aber alles müßte schnell gehen.
Alles wird schnell gehen. Ich schicke Ihnen den Kaffee hierher, wieviel –? Eine Weinflasche voll? In einer Weinflasche, gut! Er lief schon über den Hof, dem Beamtenhaus zu. In der Dunkelheit sprach ihn jemand an, er verstellte ihm den Weg. Es war wohl die schwarze Minna, sie jammerte irgend etwas von der gnädigen Frau, von der Sophie ... Er lief eilig an ihr vorbei und auf das Büro ...
Während er der Amanda die Weisungen wegen des Kaffees gab, verlangte er schon die Verbindung mit dem Kassenarzt. Der Arzt konnte nicht, in der Bürotür erschien die schwarze Minna und fing wieder an, irgend etwas zu plärren ... Er winkte ihr wütend ab, der Arzt entschloß sich doch noch zu kommen, er würde um neun, halb zehn auf dem Büro sein, Pagel möge ihm den Weg ins Försterhaus zeigen. Pagel sagte Ja, er rief Amanda zu: Also Sie besorgen den Kaffee ganz rasch in den Pferdestall, und schoß, an den beiden Frauen vorüber, wieder in die Nacht hinaus.
Er hatte ein undeutliches Gefühl davon, daß die schwarze Minna wirklich etwas vorzubringen gehabt hatte, etwas wie eine Beschwerde, eine Mahnung, eine Warnung. Aber wie jetzt oft, hatte er keine Zeit zuzuhören. Er mußte weiter. Hinter seinem Rücken, er ahnte es doch, spann sich schon wieder der schönste Ratsch und Tratsch zwischen den Frauenzimmern an. Er konnte es nicht hindern, er mußte laufen, eine Viertelstunde hatte er zum Tierarzt gesagt. Fünf Minuten waren davon schon vertan, übrigens war alles vielleicht Unsinn, das, was er ahnte, wie das, was er vor hatte. Nun gut, dann war es auch noch so! Weiter! Jedenfalls weiter!
Die Villa öffnete ihm auf sein Klingeln der Pfleger des Rittmeisters selbst. Dieser Pfleger, Schümann geheißen, ein älterer, fahler, etwas fetter Mann, mit ein paar ergrauenden Sardellen über dem kahlen Schädel, trug, als sei er in einer Anstalt, stets eine weiß-blau gestreifte Jacke, Ledersandalen, graue, faltige Hosen, die seit ihrem Ankauf sicher noch nie wieder eine Bügelfalte erlebt hatten. Pagel mochte den ruhigen, stillen Mann gerne. Er hatte ein paarmal einen Schwatz mit ihm gehabt. Der Pfleger Schümann hatte ihm erzählt, was er keinem gesagt hatte, nicht einmal der Frau, nicht einmal dem Arzt.
Ich glaube nicht, Herr Pagel, hatte der Mann leise, flüsternd gesagt, daß der Herr Rittmeister so krank ist: geisteskrank, wie der Herr Doktor meint. Der Herr Rittmeister hat einen Schock erlitten – aber geisteskrank? Nein! Er kann nicht sprechen, er lächelt zu allem, was man ihm sagt – aber er verstellt sich ja nur! Er will nicht mehr sprechen, er will nichts mehr hören noch sehen; er hat genug von der Welt, das ist es! Er kann ja im Schlaf sprechen ...
Aber ist das nicht auch eine Krankheit? hatte Pagel gefragt.
Vielleicht, ich weiß nicht. Vielleicht ist er bloß feige und mutlos. Die ersten Tage hat er ganz gut reden und mit mir zanken können, wenn er seinen Alkohol haben wollte. Dann hat er nur noch gesprochen, um Schlafmittel zu erbetteln, und als wir ihm die auch entzogen haben, hat er sich gesagt: das Reden hat keinen Sinn mehr, die geben mir doch nichts, also halte ich den Mund ...
Glauben Sie denn, Herr Schümann, daß er auch nichts trinken würde, wenn er ohne Aufsicht wäre?
Das ist immer das Schwierige, Herr Pagel, das weiß man bei solchen nie! Vielleicht, wenn alles glatt geht, daß er es ohne Trinken aushält. Aber wenn er wieder etwas Unangenehmes hört – und er hört alles, er paßt ja so auf! –, dann ist es möglich, daß er wieder zusammenklappt. Deswegen bleibe ich ja noch hier.
So war damals die Unterhaltung gegangen, die beiden hatten noch öfters über dieses Thema gesprochen, sie waren eigentlich recht vertraut miteinander geworden.
Jetzt fragte Pagel eilig: Nun, was macht der Herr Rittmeister? Liegt er im Bett? Ist er auf? Ist die gnädige Frau im Hause?
Die gnädige Frau ist fortgefahren, berichtete der Pfleger. Herr Rittmeister ist auf, ich habe ihn angezogen, mit Kragen und Schlips, und jetzt liest er!
Er liest –? fragte Pagel verblüfft. Er konnte sich den Rittmeister, auch in gesunden Tagen, kaum lesend vorstellen – es sei denn die Zeitung.
Herr Schümann feixte dünn.
Hätten Sie mir nicht erzählt, daß der Herr Rittmeister in diesem Sommer ein paar Wochen als Jagdgast in einer Klapsmühle gewesen ist, ich wäre ihm wirklich auf den Leim gekrochen. Jetzt lächelte der Pfleger richtig. Ich habe ihn in sein Arbeitszimmer gesetzt, ich habe ihm eine Nummer von Sport im Bild in die Hand gedrückt, ich habe ihm gesagt: Herr Rittmeister, sehen Sie sich mal die Bilder an. Ich bin gespannt, was er tun wird. – Natürlich sind ihm sofort die Idioten aus der Klapsmühle eingefallen. Er ruht nicht eher, bis er die Zeitschrift auf dem Kopf vor sich hat, trotzdem ich sie ihm ganz richtig in die Hand gegeben habe. Er guckt immer auf dieselbe Seite, runzelt die Stirn, murmelt mit sich – und nur, wenn ich sage: Herr Rittmeister, die nächste Seite – dann dreht er um.
Aber was soll das alles? fragt Pagel etwas unwillig.
Er spielt doch den Idioten! kichert Herr Schümann. Er ist ganz glücklich, wie gut er es macht. Wenn er denkt, ich sehe nicht hin, schielt er von der Seite, ob ich auch aufpasse, was er jetzt wieder anfängt ...
Aber wir würden ihn doch auch ohne diese Faxen zufrieden lassen! ruft Pagel ärgerlich.
Das würden Sie eben nicht! sagt der Pfleger bestimmt. Da hat er recht. Wenn Sie merken würden, er ist ganz vernünftig, dann würden Sie verlangen, daß er ein bißchen an seine Wirtschaft denkt, sich um Geld Gedanken macht. Die gnädige Frau würde Schmerz von ihm wegen der Tochter verlangen, Hilfe ... Das will er eben alles nicht mehr. Er will nicht mehr mitspielen, er ist leergelaufen, hat nichts mehr zu geben.
Dann ist er eben doch krank! ruft Pagel. Nun, wir werden ja sehen. Hören Sie mal zu, Herr Schümann –
Und er entwickelt seinen Plan.
Man kann es versuchen, sagt der Pfleger nachdenklich. Freilich, wenn es schiefgeht, kriegen wir beide was aufs Dach – vom Arzt wie von der gnädigen Frau. Nun kommen Sie man rein, wir werden ja gleich sehen, wie er reagiert.
Es ist ein recht trauriger Anblick, es ist auch ein sehr beschämender Anblick – wenn der Mann nicht wirklich so krank ist, wie er tut. Da sitzt der Rittmeister, in einem seiner untadligen, englischen Schneideranzüge, immer noch dunkle Augen, aber Haar und Brauen schneeweiß. Das ehemals braune Gesicht sieht aus wie vergilbt. Er hat eine Zeitung in der Hand, er kichert vor Vergnügen über das, was er sieht. Die Zeitung wackelt in seinen Händen, der ganze Rittmeister wackelt mit.
Herr Rittmeister! sagt der Pfleger. Legen Sie bitte die Zeitung weg. Sie müssen sich anziehen und ein bißchen fortgehen.
Einen Augenblick scheint es, als wenn die Stirn sich zusammenzieht, die weißen, buschigen Brauen rücken einander näher – aber dann faßt ein neues Kichern den Mann, die Zeitung raschelt in seiner Hand.
Herr Rittmeister, sagt jetzt Pagel, Ihre Stute, die Mabel, ist am Fohlen. Aber es geht nicht glatt, der Tierarzt ist da. Er sagt, das Fohlen ist tot, und die Stute wird auch hops gehen. Wollen Sie nicht einmal nachsehen?
Der Rittmeister starrt mit gerunzelter Stirn in die Zeitung, er kichert nicht mehr, er scheint ein Bild zu betrachten ...
Die beiden warten, aber es erfolgt nichts.
Kommen Sie, Herr Rittmeister, sagt der Pfleger schließlich freundlich. Geben Sie mir mal die Zeitung.
Der Rittmeister hat natürlich nichts gehört, so wird ihm die Zeitung aus der Hand genommen. Er wird auf die Diele geführt, ein Mantel wird ihm angezogen, eine Sportmütze aufgesetzt, sie treten aus dem Haus, in die Nacht hinaus.
Bitte, nehmen Sie meinen Arm, Herr Rittmeister, sagt der Pfleger mit seiner sachten, ein wenig berufsmäßigen Freundlichkeit. Herr Pagel, wollen Sie Herrn Rittmeister auch Ihren Arm geben. – Das Gehen muß Ihnen ja noch sauer werden, Sie sind ja sehr krank gewesen.
Fast unmerklich liegt der Ton auf dem ›gewesen‹.
Vielleicht ist es Zufall, aber vielleicht hat der Kranke die Betonung gespürt. Er hat sie als Herausforderung empfunden, er fängt wieder an zu kichern.
Dann geht er still, ein wenig unsicher, wankend zwischen den beiden.
Nach einer Weile, sie sind den Häusern des Dorfes nun schon nahe, merkt Pagel, daß der Arm des Rittmeisters in dem seinen zittert. Der ganze Mann zittert und bebt. Etwas wie Angst vor dem, was er unternommen hat, will den jungen Pagel überkommen. Er schwankt, schließlich sagt er: Sie zittern ja so – ist Ihnen kalt, Herr Rittmeister?
Der Rittmeister antwortet natürlich nicht. Aber der Pfleger hat wohl verstanden, was Pagel gemeint hat.
Das hilft nun nichts mehr, Herr Pagel, sagt er. Jetzt können wir nicht mehr umdrehen. Nun müssen wir durch!
Sie gehen über den Gutshof. Sie treten in den Stall. Pagel sieht wohl den Schreck in den Gesichtern der Leute, die da stehen. Der Rittmeister war ja nach dem Geschwätz ein Verrückter – nun kam der Verrückte zu ihnen in den Stall!
Alle Mann aus dem Stall! befiehlt er. Nur Sie, Futtermeister, und meinethalben Sie, Amanda, können hier bleiben. Machen Sie die Stalltür zu, Amanda.
Gottlob benimmt sich der Tierarzt ganz vernünftig. Er sagt ruhig: Guten Abend, Herr Rittmeister, und tritt etwas auf die Seite, um den Eingang zur Box frei zu geben.
Es war Pagel, als hätte er einen leichten Zug an seinem Arm gespürt. Jawohl, der Rittmeister zog nach der Box, sie konnten ihn loslassen. Er stand frei und allein da.
Das Pferd lag auf der Seite, die Beine weit von sich gestreckt. Es drehte den Kopf mit den traurigen, hilflosen Augen. Es hatte seinen Herrn erkannt, es wieherte leise, als erwarte es die immer noch ausgebliebene Hilfe nun von ihm.
Der Tierarzt Hoffart berichtete: Seit ich der Stute Kaffee und Kampfer gegeben habe, sind die Wehen wieder stärker geworden, auch die Herztätigkeit ist jetzt recht gut. Es ist mir beinahe so, als hörte ich wieder leise Herztöne des Fohlens – aber ich kann mich irren, ich bin nicht ganz sicher ...
Der Tierarzt schweigt. Sie schweigen alle. Was tut der Rittmeister? Er hat den Mantel ausgezogen, er sieht sich um, der Futtermeister nimmt seinem Herrn den Mantel ab, alle sind still, so still ... Der Rittmeister von Prackwitz zieht auch sein Jackett aus, der Futtermeister nimmt es. Der Rittmeister nestelt am Knopf seiner Manschette – Amanda ist da und hilft ihm, den Ärmel hochzustreifen.
Jawohl, das ist die rechte Geburtshelferhand, schmal, lang, mit geschickten Fingern; ein Handgelenk dünn wie bei einem Kind, aber aus Stahl! Ein langer, schlanker Arm, nichts von Fleisch, aber Sehnen, Knochen, Muskeln.
Sie sind atemlos still, als der Rittmeister hinter dem Pferd niederkniet nun zögert er, er sieht sich unwillig um – was ist los? Was fehlt noch? Warum spricht er nicht?!
Aber der Tierarzt Hoffart hat ihn schon ohne Worte verstanden, er kniet neben dem Rittmeister, er reibt den Arm mit Öl ein, daß er glatt und geschmeidig ist. Dabei flüstert er: Ein wenig Vorsicht, Herr Rittmeister! Wenn die Wehen kommen, schlägt der Gaul; man hat vergessen, ihm die Eisen abzunehmen.
Der Rittmeister runzelt ungnädig die Stirn, er preßt die fast farblosen Lippen zusammen. Dann macht er sich an seine Arbeit. Bis zur Schulter verschwindet der lange Männerarm in dem Pferdeleib, der Mund hat sich wieder geöffnet, geheimnisvoll liest man das Tasten und Suchen der Hand auf dem Gesicht des Mannes ab. Nun leuchtet das Auge auf, der alte, glühende Blitz, er hat gefunden, was er suchte!
Jawohl, jawohl – dieser Rittmeister, dieser Mann, einer unter den Menschen – er hatte sich vor dem schmählichen Untergang der Tochter feige verkrochen. Er jammerte nach Alkohol und Veronal, er spielte den Trottel aber da ein Pferd in Not ist, verläßt er die selbstgewählte Einsamkeit, er kehrt zurück zu den Menschen, er findet noch etwas auf dieser Erde, was des Tuns wert ist! O mein Gott, das sind die Menschen, so sind sie – besser sind sie nicht. Aber auch nicht schlechter.
Ein paarmal muß der Rittmeister seine Arbeit unterbrechen. Die Wehen sind da, das Pferd schlägt mit den Hufen vor Schmerz, aber er zieht seinen Arm nicht zurück, er duckt sich, denn diese Wehen, die ihn gefährden, helfen ihm auch, die Frucht von der Mutter zu lösen.
Dann wird das Gesicht des Rittmeisters dunkelrot, diese Wehen pressen ja auch seinen Arm mit unendlicher Gewalt aus dem Leib – mit aller Kraft widersteht er. Pagel läßt sich neben dem Rittmeister auf dem Stroh nieder, er stützt mit seiner Schulter die Schulter seines Herrn – ein Blick trifft ihn, ein dunkler Blick, glühend aus allem Dunkel – Nein, dies ist nicht der Blick eines Trottels. Vielleicht aber ist es der Blick eines Menschen, der Unsagbares gelitten hat ...
Als die Hufe des Fohlens erscheinen, geht eine Bewegung durch die Herumstehenden. – Siehe, es kommt die feine, samtige Schnauze, der Kopf, die Schultern folgen nur zögernd. – Dann, mit unendlicher Schnelle folgt sehr lang der Leib. Das Fohlen liegt wie leblos auf dem Boden, der Tierarzt kniet bei ihm, untersucht. Er sagt: Es lebt!
Mit einem Ruck steht der Rittmeister auf, er greift suchend in die Luft: Der Pfleger sagt: Halten Sie sich nur fest an mir, Herr Rittmeister. Das war ein bißchen viel für den Anfang.
Und der Rittmeister versteht und hält sich fest.
Amanda Backs ist mit einer Blechschale und warmem Wasser da, behutsam wäscht sie des Rittmeisters mit Blut beschmutzten Arm, als sei der auch etwas Neugeborenes, leicht Verletzliches.
Dann geht Herr von Prackwitz zwischen seinen Führern aus dem Stall. Er geht, ohne einen Menschen anzusehen, ohne ein Wort, schwer, mit schleppenden Füßen, als schliefe er schon. Langsam gehen sie zwischen den Gutshäusern durch. Dann, als sie auf den freien Weg zur Villa hinauskommen, als der aus den Wäldern wehende Oktober sie mit all seiner Frische anspringt, bleibt der Rittmeister stehen. Ein Zucken geht durch ihn, ein Krampf schüttelt seinen Leib. Joachim von Prackwitz sagt das erste Wort nach langem Schweigen. Es ist nur ein Ausruf, ein Ruf der Klage, der Verzweiflung, der Besinnung – wer weiß es? Er ruft: Mein Gott –!
Pagel und Schümann sagen nichts. Nach einer Weile nehmen sie ihren Weg wieder auf, schwer geht der Kranke zwischen ihnen. Sie kommen zur Villa, Pagel hilft noch, den Rittmeister in sein Schlafzimmer zu bringen, dann, als der Pfleger anfängt, Herrn von Prackwitz auszuziehen, steigt er wieder die Treppe hinunter und setzt sich wartend auf die Diele.
Ein Weilchen sitzt er tatenlos. Ein Gefühl guter Müdigkeit erfüllt seine Glieder. Er ist erschöpft, aber er denkt, er hat etwas Richtiges, etwas Gutes getan. Ihm fällt etwas ein: er steht auf und geht nach kurzem Anklopfen in das Zimmer der gnädigen Frau. Kaum hat er das Licht eingeschaltet, sieht er die Briefstapel auf dem Schreibtisch – jetzt sind es schon mehrere, sie sind hoch, viele Briefe liegen dort.
Er hat einen kleinen Widerwillen zu überwinden, aber, nicht wahr? man kann ja im Leben nicht nur Dinge tun, die einem angenehm sind! Er läßt die Briefe durch seine Hand gleiten, er glaubt, die Handschrift des Geheimrats zu kennen. Er wartet auf die ausländische Marke, den Poststempel: ›Nice‹ muß er lauten, wenn ihn seine Schulkenntnisse nicht trügen.
Aber den ersten Stapel durchblättert er umsonst, ebenso den zweiten. Im dritten ist auch nichts. Als er den vierten und letzten ebenso ergebnislos aus der Hand legt, fällt sein Blick auf einen Notizblock. Er will nicht lesen, aber er hat es schon gelesen – ›Vater schreiben‹ steht da. Er macht das Licht aus und setzt sich wieder auf die Diele.
Diese Notiz kann alles bedeuten: daß die gnädige Frau von sich aus ihrem Vater schreiben will, aber auch, daß sie nicht vergessen will, einen Brief von ihm zu beantworten. Also ist er soweit wie vorher. Er hat diese kleine, ein wenig deprimierende Schnüffelei umsonst betrieben, er weiß nicht recht weiter, er weiß nur, daß er weiter muß ...
Eine Weile später kommt dann der Pfleger die Treppe hinunter.
Er ist sofort eingeschlafen, meldet er. Es war wirklich etwas kräftig. Nun, man muß abwarten.
Was glauben Sie denn? fragt Pagel.
Man muß morgen sehen, antwortet der Pfleger wieder. Man weiß es nicht. Und nach einer Pause: Wie ist es? Sagen Sie es der gnädigen Frau?
Ja, richtig, stimmt Pagel zu. Einer von uns muß es ihr sagen. Sie darf es nicht von andern Leuten erfahren.
Herr Schümann sieht Pagel bedenklich an. Wissen Sie was, Herr Pagel, meint er dann. Sie haben es zwar angeregt, aber ich werde es ihr sagen und werde es auf meine Kappe nehmen. Und als Pagel eine Bewegung macht: Ich habe gehört, da ist so eine Weiberklatscherei im Gange. Die Frauen sind nun mal komisch; werde ich Ihnen wenigstens das abnehmen. Er lächelt: Freilich, wenn es gut ausgegangen ist mit dem Herrn Rittmeister, habe nachher ich den Ruhm davon ...
Ich kann mir schon denken, was wieder los ist! sagt Pagel ärgerlich. Aber die soll mir nur kommen!
Kümmern Sie sich nicht darum, Herr Pagel, tröstet ihn der Pfleger. Eiterbeulen muß man erst aufstechen, wenn sie reif sind. Also vorläufig gute Nacht.
Gute Nacht, sagt Pagel und macht sich wieder einmal auf den Weg zum Beamtenhaus.
Es ist schon nach acht, Amanda wird schon mit ihrem Abendessen warten. Endlose Geschäftspost ist zu erledigen, an die Mutter möchte er auch schreiben, der Arzt kommt, er muß zum Förster, nach dem Fohlen muß er auch noch mal sehen – aber am liebsten ginge er sofort ins Bett – und ein Klatsch ist auch im Gange!
Gib Ruhe, liebe Seele, gib Ruhe!
Ja, wenn die andern nur Ruhe gäben ...
Jetzt ist es nach zehn Uhr abends. Pagel sitzt vor seinen Lohnbüchern, Krankenkassenbeiträge müssen errechnet, Lohnsteuermarken geklebt werden, und irgendwie muß das Kassenbuch zur Übereinstimmung mit der Kasse gebracht werden.
All dies sind für einen müden Mann fast unbesiegbare Schwierigkeiten; wenn man müde ist, geht keine Arbeit von der Hand. Und dazu kommt ja noch, daß es mit dem Geld immer schwieriger wird. Er rechnet für einen Arbeiter irgendeinen Wochenlohn aus, genau nach dem Tarif, so und so viel Millionen und Milliarden – aber er kann ihm das Geld nicht geben! Es gibt nicht genug Millionen- und Milliardenscheine, Pagel muß irgendeinen großen Schein nehmen, einen von diesen Dreckscheinen über einhundert oder zweihundert Milliarden Mark. Er ruft vier Mann heran: So, faßt jeder einen Zipfel an, er gehört euch gemeinsam. Es ist zwar ein bißchen zuviel, ich weiß nicht genau, zwei oder drei Milliarden, aber nun ab mit euch in die Stadt! Kauft gemeinsam ein, ihr müßt euch irgendwie einigen. Meinethalben schimpft auf mich – ich kriege kein anderes Geld mehr.
Schön, sie gehen schließlich, sie kaufen gemeinsam ein. Sie finden einen Kaufmann, der ihnen den Schein wechselt. Aber wo findet er, wo findet Wolfgang Pagel einen Mann, der seine Kasse stimmend macht? Oh, er ist ein großer Mann, er bekommt wöchentlich ein Gehalt von zwei und einem halben Zentner Roggen – aber so viel fehlt regelmäßig in seiner Kasse! Oft fehlt noch viel mehr, er grübelt, er denkt nach, der kleine Meier hat sicher nie so viele unrichtige Zahlen in sein Kassenbuch geschrieben! Das sollte sich einmal ein Bücherrevisor ansehen – ab ins Gefängnis mit diesem Defraudanten!
Pagel stützt den Kopf in die Hand, sie kotzt ihn an, diese Zahlenwildnis. Es steckt etwas so Unsauberes darin, dieses Prunken mit immer astronomischeren Zahlen! Jeder kleine Mann ein Millionär – aber verhungern werden wir Millionäre alle noch! Die Zahlen wachsen – das Elend wächst auch. Wie hatte der Arzt vorhin zum Förster gesagt: Jetzt sollen bald die Billionenscheine kommen – eine Billion sind tausend Milliarden – höher geht's dann nicht mehr! Dann bekommen wir eine feste Währung, Sie werden pensioniert – und bis dahin bleiben Sie schön ruhig im Bett. Sie sind so verkalkt, daß ich das mit gutem Gewissen verantworten kann – auch ohne das Zureden Ihres jungen Freundes hier!
Bekommen wir wirklich noch einmal wieder anständiges Geld? fragte der Förster ängstlich. Werde ich es auch noch erleben? Ich möchte es wirklich noch erleben, Herr Doktor, daß man in einen Laden geht, und der Kaufmann verkauft einem was und sieht den Geldschein nicht wütend an, als wäre man ein Betrüger.
Sie werden es bestimmt noch erleben, alter Vater! versichert der Arzt und zog dem Förster die Decke unters Kinn. Und nun schlafen Sie schön – morgen bringt Ihnen der Milchwagen ein Schlafmittel mit.
Draußen aber sagte der Arzt zum jungen Pagel: Sehen Sie, daß der alte Mann nicht ganz zum Liegen kommt. Geben Sie ihm irgendeinen Pusselkram zu tun. Völlig verbraucht und erschöpft. Daß der noch alle Tage zehn Stunden im Wald herumgelaufen ist, zu verstehen ist es auch nicht! Wenn der erst fest liegt, steht er bestimmt nicht wieder auf.
Also wird er das Ende dieser Inflation nicht mehr erleben? fragte Pagel. Es gibt nämlich, weiß ich noch von der Schule her, Billiarden und Trillionen und Quadrillionen und ...
Machen Sie einen Punkt, Mensch! schrie der Arzt. Oder ich schlage Sie auf der Stelle mit meinem Perkussionshammer zur Erde! Wollen Sie all diese Schweinereien noch erleben? Sie haben ja einen Lebensappetit, junger Mann, davon kann einem übel werden! – Nein, flüstert er, ich weiß es von einem Herrn auf der Bank – mit vierhundertzwanzig Milliarden wird der Dollar stabilisiert.
Ach, solches Gerede hört man seit einem halben Jahr, sagte Pagel. Ich glaube kein Wort davon.
Junger Mann, erklärte der Arzt feierlich und funkelte Pagel durch die Brillengläser an. Ich will Ihnen was sagen: an dem Tag, an dem der Dollar über vierhundertzwanzig Milliarden steigt, setze ich mir eine Maske auf und chloroformiere mich selbst aus dieser Welt heraus. Denn dann habe ich es dicke!
Also – wir sprechen uns wieder, sagte Pagel.
Nicht so wie Sie denken! schrie der Arzt zornig. Ihr heutige Jugend seid ja ekelhaft! So was von Zynismus hatte zu meiner Zeit nicht mal ein hundertjähriger Greis!
Wann war denn eigentlich Ihre Zeit, Herr Doktor? fragte Pagel grinsend. Ziemlich lange her, was?
Ich habe Ihnen von dem Augenblick an mißtraut, sagte der Arzt traurig und kletterte in seinen Opel-Laubfrosch, als Sie mich so hundeschnäuzig fragten, wie lange der Mann wohl tot sein könnte ...
Still doch, Doktor!
Na schön, in dem Punkt bin ich nun wieder zynischer. Das macht der Beruf. Gute Nacht. Und wie gesagt, wenn der Dollar nicht bei vierhundertzwanzig stabilisiert wird –
Dann warten wir noch ein bißchen länger! hatte Pagel dem losfahrenden Arzt nachgeschrien.
Es wäre gut gewesen, wenn nun ein Kaffee auf dem Büro gewesen wäre, aber es würde natürlich diesmal keiner da sein. Amanda Backs war längst schlafen gegangen. Aber Pagel hatte die Amanda wieder einmal unterschätzt – der Kaffee stand auf dem Tisch. Aber leider war der Kaffee nun auch wieder nicht so, daß er ihn richtig munter gekriegt hätte, oder Pagels Müdigkeit war zu dick – jedenfalls saß er trostlos über seinen Büchern. Er kam nicht weiter, wollte ins Bett, wollte aber auch noch an seine Mutter schreiben und plagte sein Gewissen mit dem Satz: Wenn ich nicht zu müde bin, an Mama zu schreiben, darf ich auch nicht zu müde sein, meine Lohnbücher fertig zu machen.
Dieser alberne Satz, bar jeder Logik, dieser tiftlige Satz, die Ausgeburt eines übermüdeten Kopfes, plagte den jungen Pagel so hartnäckig, daß er weder zum Rechnen noch zum Schreiben, noch zum Schlafen kam. Schließlich versank er in einen Zustand quälenden Halbwachseins, dumpfer Benommenheit, in dem durch sein Hirn schreckliche Gedanken krochen, Zweifel am Leben, Zweifel an sich selbst, Zweifel an Petra –
›Zum Teufel!‹ rief Pagel und stand auf. ›Jetzt springe ich aber lieber in den saukalten Schwanenteich des werten Geheimrats voller Entengrütze und nehme das klapprigste, kälteste Bad meines Lebens, als daß ich hier noch länger verdüst und verdöst herumsitze!‹
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Eine weibliche rasche Stimme, die ihm bekannt und doch fremd vorkam, sagte an, Herr Pagel möge doch sofort in die Villa kommen, die gnädige Frau wünsche ihn zu sprechen.
Komme sofort! antwortete Pagel und hing an.
Was war das bloß für ein Weibsbild, das mit ihm gesprochen hatte? Die Stimme klang verstellt!
Er sah auf die Uhr. Es war dreiviertel elf. Ein bißchen reichlich spät für einen Mann, der um fünf, um halb fünf, um vier aufstand! Nun, es brannte wohl mal wieder da drüben! Die Sache mit dem Rittmeister war schiefgegangen, oder die gnädige Frau hatte doch endlich irgend etwas wegen Violet erfahren, oder sie wollte auch nur wissen, wieviel Kartoffeln grade heute gebuddelt waren – manchmal kam sie so etwas an! Sie war ja zuzeiten auch eine Tochter ihres Vaters, dann dachte sie, sie müsse den jungen Beamten kontrollieren.
Vergnügt pfeifend wandert Pagel durch das Gut zur Villa hinaus. Obwohl er sofort zur gnädigen Frau kommen soll, macht er doch noch den Umweg über den Pferdestall. Verschlafen fährt die Stallwache hoch – aber es ist alles in bester Ordnung. Die Stute steht schon wieder in ihrer Box und sieht sich mit ihrem lebhaften Auge nach Pagel um. Das unglaublich langbeinige Fohlen schläft. Den Wachtmann schickt Pagel nunmehr auch schlafen.
In der Villa öffnet ihm die gnädige Frau selbst. Sie hat sich sehr verändert in den letzten Wochen. Diese ewigen Fahrten mit ihrem qualvollen, irrsinnigen Hoffen, der dumpfen Rückfahrt, dieses verzehrende Warten auf etwas, das nie eintritt, diese qualvolle Ungewißheit tagaus, tagein, der die schlimmste Gewißheit vorzuziehen gewesen wäre – all das hat ihre Züge scharf gemacht.
Ihr Auge, dies sonst so freundliche, frauliche Auge, hat einen trockenen, brennenden Blick.
Aber es ist nicht nur dies allein: seit Frau Eva sich nicht mehr pflegt, nicht mehr regelmäßig ißt, hat ihre sanfte Haut mit den blonden Tönen des Pfirsichs etwas Schlaffes, Zerfallendes bekommen; der Hals hat Falten, die Backen hängen ... Diese veränderte Frau hat auch eine andere Sprache. Sie konnte früher so schön lachen, sie war eine Frau im Einklang mit sich und der Welt. Ihre Stimme hatte etwas Reifes, Schmelz und Schwingung ... Vorbei, vorbei ... Ein eiliges, fast tonloses und scharfes Gerede – die Stimme klingt, als sei ihr die Kehle ausgedörrt.
Mit dieser scharfen, leisen Stimme wird Wolfgang ein trockenes Guten Abend gesagt. Die gnädige Frau bleibt auf der Diele stehen, sie mustert ihn mit bösen Augen, sie sagt dann eilig: Es tut mir sehr leid, Herr Pagel, aber ich kann das unmöglich dulden. Ich höre heute, Sie haben schmutzige Weibergeschichten, Sie nutzen Ihre Stellung aus, um Mädchen zu zwingen ... Oh, die Frau, die arme, veränderte gnädige Frau! Gewiß tut es ihr nicht leid, sondern sie ist wütend, sie ist rachgierig. Diese Frau Eva, noch vor ein paar Wochen bereit, überall ein lächelndes Auge zuzudrücken, jetzt muß sie ihre Tochter an den Männern rächen! Es ist alles schmutzig – Schmutz, Schmutz, wohin sie sieht, aber in ihrer Nähe duldet sie ihn nicht! Nichts mehr von diesen Dingen, Schluß damit, alles Dreck und Gemeinheit!
Pagel hält dem harten Blick der bösen Frau stand, er lächelt, in seine Augenwinkel treten die Fältchen: er kann nicht ernst sein. Er steht auf der andern Seite, er denkt gewissermaßen objektiv, er kann nicht begreifen, daß eine Frau, die vor Sorgen um die eigene Tochter fast umkommt, sich nun noch mit Klatsch abgibt ... Er bewegt lächelnd den Kopf von rechts nach links. Er sagt freundlich: Nein, gnädige Frau, ich bin ganz sicher: ich habe keine schmutzigen Weibergeschichten.
Aber mir ist es gesagt worden! ruft die gnädige Frau. Sie haben ...
Warum sollen wir uns denn anhören, was gelogen wird? sagt Pagel unverändert freundlich. Da ich doch eben keinerlei Weibergeschichten habe? Ich möchte wirklich nicht, daß wir länger von diesen Dingen reden, gnädige Frau.
Frau von Prackwitz macht eine ungeduldige Bewegung, denn grade das möchte sie. Ein Haß in ihr, eine Wut treibt sie, dem jungen Kerl da ins Gesicht zu sagen, was sie von ihm gehört hat. Und dann möchte sie Erklärungen hören, Entschuldigungen – am liebsten aber ein Geständnis!
Pagel aber dreht sich rasch um, er hat längst verstanden, warum diese Unterhaltung hier auf der Diele geführt wird. Richtig, in der Einmündung der Küchentreppe aus dem Souterrain steht die Sophie Kowalewski. Sie macht eine Bewegung, sich zu verstecken, aber es ist schon zu spät.
Kommen Sie nur vor, Sophie! ruft Pagel. Sie sind die einzige, von der ich die Geschichte hören möchte. Erzählen Sie bitte hier vor der gnädigen Frau, was Sie getan haben, damit Sie nicht Kartoffeln buddeln müssen.
Frau Eva wird langsam rot, sie macht eine Bewegung, um den jungen Mann anzuhalten. Aber er geht schon auf das Mädchen los, gar nicht drohend, nein, gemütlich, freundschaftlich ...
Nun, Sophie, sagt er. Komm, mein Mädchen, erzähl, erzähl. Oder noch besser: mach mal hier bei der gnädigen Frau vor, wie du mir dein Knie zeigen wolltest! Na, wird es –?!
Hier erweist sich, daß Sophie Kowalewski nichts Ganzes ist, nicht im Guten und nicht im Bösen. Sie ist ausgerutscht, sie ist unter die Räder gekommen – schön, schlimm, aber sie ist nicht einmal richtig schlecht geworden. Sie hat nicht einmal den Mut zu ihren Bosheiten, sie ist feige ...
Trotzdem der junge Pagel doch ganz gemütlich auf sie zukommt, stößt sie plötzlich einen Angstschrei aus. Sie dreht sich um, sie läuft die Küchentreppe hinunter, klapp! geht die Tür, fort ist sie –!
Pagel kehrt zurück zu Frau Eva. Nein, nun zeigt er nichts mehr von dieser prahlenden Unbekümmertheit, er sagt erklärend, fast entschuldigend: Ich hatte ihr nämlich aufgegeben, morgen früh zur Kartoffelernte anzutreten. Ihre Faulheit ist ein böses Beispiel im Dorf.
Frau von Prackwitz sieht ihn an. Die Röte des Ärgers und der Scham ist aus ihrem Gesicht gewichen, doch nicht ganz. Etwas blieb zurück, eine Spur gesunderer Lebensfarbe. Nein, das Leben ist doch nicht nur alt und häßlich und verbraucht – es kann auch noch jung, frisch, sauber sein.
Fast entschuldigend sagt sie: Ich habe die Sophie als Bedienung fürs Haus angenommen. Sie bot es mir an, und ich war so in Verlegenheit. Aber bitte, kommen Sie doch herein, Herr Pagel.
Sie geht ihm voran, sie ist fast befangen – muß sie sich nicht schämen? Ihr Unglaube, ihr Zweifel – sie sind so häßlich gegen seinen Glauben, seine Sauberkeit.
Ich kannte ja die Zusammenhänge nicht, sagt sie noch einmal erklärend.
Sicher wird sich die Sophie für die Hausarbeit besser eignen als für das Kartoffelbuddeln, meint Pagel. Die Hauptsache ist, sie läuft nicht länger faul herum.
Aber ich habe die schwarze Minna dafür entlassen, berichtet Frau Eva schuldbewußt. Das Frauenzimmer ist mir so gräßlich ...
Pagels Mund hat sich fest geschlossen; er denkt, daß die Faule den guten Posten kriegt und die Fleißige, die sich immer abrackert, wieder in die eisigen Kartoffeln muß. Aber es hat keinen Sinn, mit der Frau darüber zu rechten. Sie urteilt nicht über die Arbeit, sie versteht sie nicht. Sie denkt an das Aussehen, die hübsche Sophie gefällt ihr besser als die verbrauchte schwarze Minna.
Ich werde mit Ihrem Einverständnis die Minna im Schloß beschäftigen, schlägt er schließlich vor. Da sieht es noch wild aus, und irgendwann werden die alten Herrschaften doch zurückkommen.
Ja, tun Sie das, Herr Pagel! ruft sie eifrig. Ich bin Ihnen ja so dankbar! Es ist sicher die beste Lösung. Fast schuldbewußt sieht sie ihn an. Sie sind mir doch nicht böse wegen vorhin?
Nein. Nein. Aber vielleicht werden Sie mir böse sein, wenn ich Ihnen sage –
Das Licht in ihren Augen erlischt.
Hat die Sophie also doch recht gehabt? fragt sie tonlos.
... Wenn ich Ihnen sage, daß ich vor ein paar Stunden hier in Ihrem Zimmer war. Ich habe, sagt er ein wenig verlegen, die Briefe dort durchgesehen, ich suchte einen bestimmten Brief –
Sie sieht ihn zweifelnd an, sie wartet ab.
Ich fand den Brief nicht. Ich wollte ihn nicht etwa lesen, ich wollte nur sehen, ob er da war. Dann las ich zufällig auf Ihrem Notizblock den Vermerk ›Vater schreiben‹ – ich komme mir vor wie ein richtiger, häßlicher Spion. Aber ich habe nicht für mich spioniert –
Aber warum denn? fragt sie hilflos. Sie hätten mich doch nur zu fragen brauchen.
Es ist, sagt er verdrießlich und scheuert sich seine Nase, gewissermaßen ein ärgerlicher Fall. Ich hatte mir ausgedacht, ich wollte Ihnen erzählen, daß der Förster bettlägerig geworden ist und daß wir darum an den Herrn Geheimrat schreiben müssen, was nun werden soll. – Aber es wäre Schwindel. Der Förster ist zwar wirklich krank, aber die Forst braucht uns darum keine Sorge zu machen.
Und was ist nun wirklich? fragt sie.
Ja, das ist es eben, ich habe mein Wort gegeben, Ihnen, keinem etwas zu sagen. Ich habe es tun müssen, sagt er eifriger, sonst hätte ich gar nichts erfahren.
Aber was ist denn nur? fragt sie unruhig. Sollen denn immer wieder neue Sorgen kommen? – Sie steht auf, sie läuft hin und her. Können Sie mir denn gar nichts sagen, Herr Pagel?
Ich möchte Sie etwas fragen, gnädige Frau. Hat Ihnen Ihr Herr Vater seit seiner Abreise geschrieben?
Ja, sagt sie. Also es ist etwas mit Papa, überlegt sie, aber ihr Ton ist leichter. Dies nimmt sie nicht schwer.
Haben Sie geantwortet?
Nein, ich habe ihm nicht geantwortet, sagt sie kurz. Er merkt, sie ärgert sich schon in der Erinnerung an den Brief.
Sie sieht ihn abwartend an, aber er fragt nichts mehr. Er scheint alles gesagt zu haben, was er sagen wollte. Endlich entschließt sie sich: Herr Pagel, ich will es Ihnen erzählen. Papa verlangt, daß ich mich von Herrn Rittmeister scheiden lasse. Er hat es schon immer gewollt, er liebt seinen Schwiegersohn nicht –
Pagel nickt langsam ...
Aber kann ich es denn?! ruft sie. Kann ich ihn denn so sitzenlassen? Ich brauche Ihnen doch nichts zu erzählen, sagt sie hastig, Sie kennen ihn doch auch. – Aber läßt man denn seine Freunde sitzen, wenn sie in der Not sind?! Ja, wenn er gesund wäre, wenn ich irgendwie sähe, daß er ohne mich leben könnte. Aber so – nein, nein! Nun erst recht nicht! Für Gut und Böse – for better and worse heißt es bei den englischen Trauungen. Ich bin auch so! Grade für Böse, erst recht für Böse!
Sie sieht Pagel starr an, ihr Gesicht zuckt.
Ach, Herr Pagel, sagt sie klagend. Ich weiß, Sie haben heute abend versucht, ihn wieder in dieses Leben zurück zu rufen. Sie sind es natürlich gewesen. Wie soll denn der Pfleger auf so etwas kommen?! Ich war zuerst sehr böse auf Sie, Sie müssen ja doch auch sehen, daß er bloß ein armer Kranker ist. Aber dann habe ich mir gedacht: es war doch freundlich gedacht. Sie sorgen sich noch um ihn. Aber mein Vater, der will nur, daß ich ihn sitzenlasse, in irgendeine Irrenanstalt stecke, einen Vormund bestelle – fertig, los! Aber wir haben fast zwanzig Jahre miteinander gelebt, Herr Pagel!
Er hat einmal O Gott! gesagt.
Ja, ich habe es gehört. Das bedeutet nichts; er weiß nicht mehr, was er sagt. Aber Sie sind eben jung, Sie hoffen noch. – Ach, Herr Pagel, wenn ich jetzt so durch das Land fahre, und sehe die Leute über die Landstraße laufen, jetzt, bei dem schlimmen Wetter! Es sind so viele unterwegs, nicht nur Stromer. Diese schreckliche Zeit macht alle ruhelos. – Heute früh, es regnete grade so eisig, sah ich zwei junge Leute. Er schob einen Kinderwagen, so einen ganz alten aus Rohr auf hohen Rädern, und sie ging neben dem Wagen her und redete dem Kind zu. – Nein, ich habe ihnen nichts gegeben, rief sie fast leidenschaftlich, ich habe gedacht, daß vielleicht meine Violet auch so herumläuft, aber sie hat kein Kind, zu dem sie sprechen kann, sie hat niemanden, zu dem sie sprechen kann! Ach, Herr Pagel, was soll ich nur tun?!
Hoffen – sagt er.
Darf ich es denn noch –? Soll ich es denn noch –?! Kann ich es ihr denn überhaupt noch wünschen, daß sie lebt? Ist es nicht bloß Eigennutz von mir, daß ich es hoffe –? Ist denn überhaupt noch ein Stückchen von meiner Violet da? Ach, immerzu wünsche ich, daß ich sie treffe, und immerzu schaudere ich davor. Herr Pagel, es sind jetzt über vier Wochen, daß sie fort ist –!
Sie hat ihren freien Willen nicht, sagt Pagel leise. Eines Tages wird sie ihn wiederfinden, dann wird sie kommen.
Nicht wahr, Sie sagen das auch?! ruft sie fast freudig. Sie schläft noch, sie schläft noch immer! Wenn man schläft, so fest schläft, fühlt man nichts, sie wird unverändert zurückkommen. Sie wird dort oben in ihrem Zimmer aufwachen, sie wird glauben, es ist nichts gewesen, sie hat sich am Abend vorher schlafen gelegt!
Mit Staunen sieht Pagel auf die Frau. Sie ist aufgeblüht, die Hoffnung, der unbesiegbare Lebenswille haben sie aufgeweckt, sie ist wieder jung – das Leben hat für sie noch große Gaben bereit!
Ich will Ihnen noch etwas sagen, Herr Pagel, flüstert sie plötzlich, mit einem Blick zur Tür. Ich suche nicht allein nach ihnen, es sucht noch einer. Er hat meinen Wagen angehalten, es ist ein Mann mit einem dicken, gedunsenen Gesicht, er hat einen steifen schwarzen Hut auf, einen glasigen Blick – vielleicht kennen Sie ihn?
Pagel sieht sie an. Ja, ich kenne ihn, sagt er leise.
Nein, sagen Sie mir nichts von ihm! ruft sie eilig. Ich will nichts von ihm wissen. Er hält meinen Wagen an, er fragt nichts, er grüßt nicht, er sagt nur: Fahren Sie einmal da und da hin! Dann sehe ich ihn wieder auf irgendeiner Landstraße, in einem Städtchen, er ist auch immer unterwegs. Er schüttelt nur den Kopf, wenn ich ihn ansehe, geht weiter ... Herr Pagel, wenn ich sie nicht finde, er findet sie! Manchmal denke ich, die reden so viel von der Liebe ... Aber der Haß ist viel stärker!
Ja, sagt Pagel. Der Mann haßt das Böse. Er sieht böse aus, aber er haßt die Bosheit, sein Haß treibt ihn ruhelos umher.
Sagen Sie mir nichts von ihm! ruft sie wieder. Ich will nichts von ihm wissen! Und ganz leise: Er ist doch jetzt über vier Wochen mit Violet unterwegs, er muß doch irgendwie für sie sorgen ...
Pagel sieht sie an. Diese Mutter, die ewige Mutter – sie verabscheut den Wurm, der ihr die Tochter unselig und elend gemacht hat. Aber da der Elende die Tochter noch immer leben läßt, ihr ein bißchen zu essen gibt, mag sie nicht daran denken, daß er in die Hände dieses Grausamen gerät!
Pagel steht auf. Gnädige Frau, machen Sie sich wenigstens keine Sorge wegen des Herrn Geheimrats. Vorläufig wird nichts geschehen. Es ist etwas dazwischen gekommen. Es bestehen wohl Pläne –
Ja, wir sollen fort von hier!
Aber sie sind im Augenblick nicht durchführbar. Wenn wirklich etwas vorfällt, gebe ich Ihnen sofort Nachricht.
Er sieht sie einen Augenblick nachdenklich an. Dann sagt er noch: Sie brauchen sich auch nicht mit einem Brief an Ihren Herrn Vater zu plagen. Da Sie doch nicht tun können, was er wünscht, ist es ebenso gut, Sie schreiben nicht.
Ich danke Ihnen, Herr Pagel, sagt sie. Ich danke Ihnen für alles. Sie gibt ihm die Hand, sie lächelt ihm zu. Es hat mir gutgetan, mit Ihnen zu reden. Und mit jenem plötzlichen, unerklärlichen Übergang der Frauen: Aber nun müssen Sie mir auch einen Gefallen tun, Herr Pagel!
Ja, bitte? sagt er. Gerne.
Dulden Sie dieses Frauenzimmer, die Backs, nicht um sich! Sie sollen ja sogar mit ihr essen, und sie soll ewig im Büro bei Ihnen sitzen. Ach, seien Sie mir doch nicht böse, Herr Pagel! ruft sie hastig. Ich mißtraue Ihnen ja gar nicht, Sie merken natürlich nicht, daß das Mädchen verliebt in Sie ist ...
Amanda Backs ist nicht verliebt in mich, gnädige Frau, sagt Pagel. Ich tu ihr nur gut – sie ist nämlich ein sitzengelassenes Mädel. Rascher: Und mir tut sie auch gut. Das Leben in Neulohe ist manchmal ein wenig viel für einen so jungen Mann wie mich. Ich habe manchmal auch gerne einen Menschen um mich, mit dem ich ein Wort reden kann.
Ach Gott, Herr Pagel! ruft sie ehrlich bestürzt aus. So habe ich es nun wirklich nicht gemeint! Ich habe doch nur gemeint, die Backs, weil sie mit dem Meier – der ist doch wirklich ein Lump ...
Pagel sieht sie an, aber sie merkt nichts. Sie merkt wirklich nichts. Sie findet keinerlei Parallelen.
Sobald ich die Backs sehe, werde ich ihr ein Wort sagen, meint sie versöhnlich. Ich glaube, ich habe ein- oder zweimal ihren Gruß nicht erwidert. Es tut mir jetzt wirklich leid –
Draußen auf der Diele fängt die Uhr an zu schlagen, sie schlägt Mitternacht.
Kommen Sie, Herr Pagel, ruft Frau von Prackwitz eifrig, machen Sie, daß Sie ins Bett kommen! Es ist wirklich zu spät für Sie! Ich glaube es Ihnen schon, daß die Wirtschaft manchmal ein bißchen viel für einen alleine ist. Schlafen Sie sich morgen früh einmal gründlich aus. Lassen Sie die Leute nur alleine wursteln, ich bin mit allem einverstanden. Ich erlaube es Ihnen. – Gute Nacht, Herr Pagel, und nochmals schönen Dank.
Gute Nacht, gnädige Frau, sagt Pagel. Ich habe zu danken.
Also bestimmt ausschlafen! ruft sie noch hinter ihm drein.
Pagel lächelt für sich im Dunkeln. Er nimmt es ihr nicht übel, in vielen Dingen ist diese kluge, erwachsene Frau wie ein Kind. Bei Arbeit denkt sie immer noch an so etwas wie Schularbeiten. Man kann wenig aufbekommen, der Lehrer kann aber auch mal einen ganzen Tag freigeben – und dann freut sich das Kind! Sie hat noch nicht begriffen (und wird es wohl nie begreifen), daß das Leben, daß jeder Tag seine Aufgabe stellt, die einem nicht erlassen werden kann.
Oben im Beamtenhaus ist ein weißer Schatten im Fenster. Die getreue Wächterin hat sich um seinetwillen gesorgt.
Alles in bester Butter, Amanda, sagt Pagel halblaut nach oben. Sophie hat sich umsonst angestrengt. Schlafen Sie ein, wärmen Sie sich und wecken Sie mich morgen früh erst um halb sechs – aber mit einem Mokka.
Gute Nacht, Herr Pagel, klingt es von oben.
Am nächsten Morgen ereignet sich vor der Villa folgendes:
Frau von Prackwitz sitzt schon im Wagen, sie gibt Oskar ihre Weisungen – da tut sich die Tür der Villa auf. Heraus tritt der Rittmeister, gefolgt von seinem Pfleger.
Der Rittmeister geht mit einem gehemmten, seltsam stolprigen Schritt an die Wagentür. Der Pfleger Schümann bleibt oben auf der Treppe stehen.
Mühsam, wie ein schuldbewußtes Kind, mit gesenkten Augenlidern, fragt der Rittmeister: Darf ich vielleicht mit dir fahren, Eva? Bitte!
Frau Eva ist so bestürzt, daß sie nicht weiß, was sie antworten soll. Sie wirft einen fassungslosen Blick zu dem Pfleger hinüber. Herr Schümann nickt nachdrücklich mit dem Kopf.
Aber Achim! ruft die gnädige Frau. Wird es dir auch nicht zuviel?!
Er schüttelt den Kopf, er sieht sie an. Seine Augen sind voller Tränen, sein Mund zittert.
Ach, Achim! ruft sie. Achim – ich bin ja so glücklich! Paß auf, es wird noch alles wieder gut. Wir zwei alte Leute. – Steh doch nicht, setze dich doch hier neben mich. Herr Schümann, helfen Sie doch bitte Herrn Rittmeister in den Wagen. – Oskar, hol noch eine Decke, die mit dem Pelz. – Herr Schümann, Sie müssen dann sofort zu Herrn Pagel gehen und ihm dies sagen, er wird sich auch freuen ... Ach, Achim ...
Endlich fährt der Wagen an.
Der Rittmeister macht eine entschuldigende Bewegung zu seinem Hals. Verzeih, Eva, sagt er leise und wieder sehr mühsam. Ich kann noch nicht richtig reden. Ich verstehe nicht ganz, aber ...
Aber was brauchst du denn zu reden, Achim? sagt sie und nimmt seine Hand. Wenn wir beide nur zusammen sind, nicht wahr, dann ist alles leichter –?