Felix Fechenbach
Im Haus der Freudlosen
Felix Fechenbach

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Die erste Nacht

Gegen neun Uhr abends war der Lokalzug von Bamberg fauchend und prustend in den kleinen Bahnhof eingelaufen. Kalte, feuchte Oktoberluft bläst mich beim Aussteigen unfreundlich an und macht mich frösteln.

Zwischen den zwei Transporteuren gehts von der Station weg eine mattbeleuchtete Straße entlang. Mein rechtes Handgelenk ist mit der Schließzange gefesselt.

Nach wenigen Minuten stehen wir vor einem großen Gebäude. Es ist nicht hell genug, als daß ich Einzelheiten erkennen könnte. Nur einen mächtigen Portalbau und viele Fenster sehe ich.

Auf ein Glockenzeichen wird die schwere Pforte geöffnet. Wir gehen hinein. Dumpf fällt die Tür ins Schloß.

Ich bin im Zuchthaus.

Rechts neben dem Eingang ist die Torwache. Hier treten wir ein. Es ist angenehm durchgeheizt. Das tut gut nach der Fahrt im kalten Gefangenenabteil.

Die Übernahmeformalitäten sind bald erledigt. Die Transporteure lassen sich ein Gasthaus zum Übernachten empfehlen und verabschieden sich.

Der Transportschein liegt auf dem Tisch. Am oberen Rand lese ich: »Vorsicht!« Das Wort ist mit Rotstift stark unterstrichen.

Der Anstaltsdirektor wird durch die Wache verständigt, daß ein »Zugang« eingetroffen. Gleich darauf werde ich abgeführt.

Ein Beamter der Torwache und ein Nachtwächter begleiten mich. Die großen Gittertüren, der geräumige Hof mit seinen mächtigen Arkadenbögen, die hohen gewölbten Gänge, durch die wir kommen, das alles sieht so düster aus und wirkt in der Beleuchtung der mitgeführten Handlaterne fast gespenstisch und unwirklich. Und doch ist's nur zu bittere Wirklichkeit. Der Nachtwächter ist mit Karabiner und Pistole ausgerüstet. Neben ihm geht ein großer Polizeihund, der mich mißtrauisch anknurrt.

*

Wir stehen in einem hohen Kreuzbogengang vor einer Zellentür. Sie wird geöffnet. Wie der Beamte Licht macht, pralle ich entsetzt zurück.

Ich hatte mir unter dem Begriff »Zuchthaus« allerhand Unangenehmes gedacht. Was ich aber in dieser Zelle zu sehen bekomme, übersteigt meine schlimmsten Vorstellungen.

In die Zelle ist ein großer Käfig aus rotlackierten Eisenstangen eingebaut.

Mich überläuft ein kalter Schauder.

Die Käfigtür wird geöffnet und mir bedeutet, daß ich eintreten soll. Ich halte das zuerst für einen rohen Scherz, den man sich mit mir machen will. Aber es ist brutalster Ernst.

»Da soll ich hinein?« frage ich, noch immer ganz ungläubig.

Der Beamte bejaht. Dabei dreht er seinen martialischen, schwarzen Schnurrbart.

»Das ist ja der reinste Tigerkäfig!«

»Jetzt sind's halt im Zuchthaus,« kommt's lakonisch zurück.

»Aber ich bin doch kein Raubtier.«

Der Beamte lächelt überlegen und rasselt dabei mit seinem großen Schlüsselbund.

»Wenn's amal a Zeitlang da sin', na werns scho einsehn, daß 's hier Leut' gibt, für die ma so was braucht.«

Es war nicht zu ändern, ich mußte hinter die roten Eisengitter.

Jetzt scheint mir nichts mehr unmöglich, selbst nicht die Ungeheuerlichkeit, längere Zeit in diesem Raum bleiben zu müssen. Ich frage mechanisch danach. Meine Sorge wird nur zum Teil behoben.

»Morgen is Sonntag. Bis Montag müssen's also Geduld haben. Es is jo a nit so schlimm, wie's ausschaut.«

Mir ist's schlimm genug.

Ich werde allein gelassen. Der Beamte geht, um Matratze und Schlafdecken zu holen. Ich schaue mir den Käfig näher an.

Er ist zwei Meter hoch. Die oberen Querstanzen kann ich bequem mit der Hand erreichen. Die Rück- und die linke Seitenwand werden von der Zellenmauer gebildet. Ganz unten, fast am Fußboden, ist ein eiserner Ring in der Mauer befestigt, eine Vorrichtung für Fußfesselung. Der einzige Einrichtungsgegenstand steht in der Ecke: ein Holzkübel mit Deckel ohne Handgriff, die obligate Opferschale.

Ich gehe auf und ab.

Mit drei Schritten habe ich den kleinen Raum durchmessen und muß dann immer wieder kehrt machen. Unwillkürlich denke ich an Raubtierkäfige in Menagerien, in denen gefangene Tiere ruhlos am Gitter hin- und herstreichen.

Da geht die Zellentür wieder auf. Matratze, Kopfkeil, zwei Schlafdecken und ein Leintuch werden gebracht und auf dem Boden des Käfigs zum Schlafen gerichtet. Ich muß mich nackt ausziehen. Vor Kälte zittre ich.

Leibesvisitation.

Kein Winkel, keine Öffnung des Körpers bleibt undurchforscht. Dem Beamten ist das schon zum alltäglichen Handwerk geworden. Er fühlt nicht mehr, welch tiefe Demütigung der ganze Vorgang für den Gefangenen bedeutet.

Mein Hemd bekomme ich wieder. Alles übrige an Wäsche und Kleidung wird mir abgenommen. Käfig und Zellentür werden verschlossen und verriegelt. Gleich darauf löscht das Licht aus.

*

Es ist dunkel und kalt.

Ich bin müde von der langen Bahnfahrt, aber die neuen Eindrücke beschäftigen mich, und der Gedanke an den schauderhaften Eisenkäfig, worin ich liege, läßt mich keine Ruhe finden.

Ich kann nicht schlafen.

Die nahe Turmuhr zeigt jede Viertelstunde die Zeit an. Ungeduldig zähle ich die Glockenschläge. Träge schleichen die Stunden und dehnen sich zu Ewigkeiten. Eine schlaflose Nacht scheint endlos, besonders in solcher Lage.

Ich habe immer nur den einen Gedanken: Wie komme ich aus dem Eisenkäfig heraus?

Bis Montag hat mich der Beamte vertröstet. Dann soll ich in eine ordentliche Zelle kommen. Also einen ganzen Tag und noch eine volle Nacht hier zubringen! Ich nehme mir vor, gleich am nächsten Morgen den Versuch zu machen, in einen anderen Raum zu kommen. Wenn man mich aber abweist? Dann bleibt's beim Käfig.

So kreisen meine Gedanken unaufhörlich um den einen Punkt.

Der Nachtwächter kommt wiederholt, knipst das Licht an und schaut durch den kleinen Spion in der Tür. Er will sich vergewissern, daß alles in Ordnung ist.

Auch in der längsten Nacht rinnt eine Stunde nach der andern ab und die letzte dämmert dem Tag entgegen.

Es schlägt sechs Uhr.

Ich stehe auf, will mich ankleiden, um dann auf und ab zu gehen. Aber ich finde meine Kleider nicht. Da fällt mir ein, daß ich sie ja am Abend hatte abgeben müssen. Im Hemd spazieren gehen, wäre doch etwas ungemütlich; es ist auch zu kalt dazu.

Es bleibt mir also nichts übrig, als mich wieder auf die Matratze zu legen.

Bis halb acht Uhr bleibe ich unter den Schlafdecken verkrochen, dann wird's lebendig im Haus. Ich höre Schritte, Stimmen, Schlüsselklirren, Türen auf- und zugehen.

Illustration

Die Zellentür wird geöffnet.

Ein Wachtmeister bringt mir meine Kleider und Wasser zum Waschen. Bald darauf kommt die Morgenkost, eine Blechschüssel voll Brennsuppe und ein Stück Brot. Ich habe Hunger und lasse nicht den kleinsten Rest übrig.

Nach acht Uhr geht die Türe wieder auf. Ein älterer Oberwachtmeister tritt ein. Er will wissen, wann ich gekommen sei, ob ich die Morgenkost schon bekommen hätte. Auch sonst fragt er noch manches. Etwas freundlich Teilnehmendes und Ruhiges hat er im Ton und in seinem ganzen Wesen, trotz des feldwebelhaften Schnauzbartes, der ihm buschig über die Mundwinkel hängt.

Nur wer eine Nacht in solcher Käfigzelle im Zuchthaus zugebracht hat, weiß, wie gut dann ein paar freundliche Worte tun. Sie sind wie Balsam auf offene Wunden. Das um so mehr, je weniger man Freundlichkeit erwartet hat.

Ich sage dem Beamten, wie sehr mich der Raubtierkäfig bedrückt.

Er versteht das.

»Ja, das glaub' ich gern. So was schreckt ab. Das wirkt wie ein kalter Strahl.«

Mir scheint die Gelegenheit günstig, meinen Wunsch nach Unterbringung in einem anderen Raum vorzubringen.

Er zuckt bedauernd die Achseln.

»Heut ist Sonntag. Da wird's schwer gehen. Aber ich will schauen, vielleicht läßt sich's doch machen.«

Damit geht er, um eine Viertelstunde später wiederzukommen. Mein Käfig wird aufgeschlossen und ich werde zum Direktor geführt, trotz des Sonntags.

Ich atme befreit auf.

In den schauderhaften, barbarischen Eisenkäfig brauche ich nicht mehr zurück. Aber die Erinnerung an diese erste Nacht im Zuchthaus bin ich nicht wieder losgeworden.


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