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Für den 1. Oktober 1924 hatte ich meine Entlassung aus dem Zuchthaus mit aller Bestimmtheit erwartet. An diesem Tag war das halbe Jahr zu Ende, nach dessen Verbüßung Adolf Hitler mit Zubilligung von Bewährungsfrist aus der Festungshaft entlassen werden sollte. Ich konnte und wollte nicht glauben, daß der zu Recht verurteilte völkische Hochverräter der Freiheit wiedergegeben werden und ich zu Unrecht im Zuchthaus bleiben soll.
Adolf Hitlers Freilassung verzögerte sich. Ich mußte also noch warten.
Da las ich Mitte Dezember in der Zeitung, daß das bayerische Oberste Landesgericht sich in den nächsten Tagen mit der Frage der Freilassung Hitlers beschäftigen werde. Jetzt wußte ich:
Da wird auch dein Schicksal entschieden.
Am 19. Dezember erfuhr ich von der Begnadigung des Kapp-Putschisten Jagow durch den Reichspräsidenten.
Sollten die Gerüchte, die auch bis ins Zuchthaus gedrungen waren, doch den Tatsachen entsprechen? War wirklich eine umfassende politische Amnestie im Gange? Die Begnadigung Jagow's bestärkte mich in diesem Glauben und ich erwartete jetzt jeden Tag meine Freilassung.
Am Vormittag des 20. Dezember wurde ich plötzlich zum Direktor gerufen.
Wie ein Blitz schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Du wirst entlassen!
Beim Direktor ist schon der mit mir zusammen verurteilte Redakteur Lembke.
Der Direktor erklärt uns mit feierlicher Stimme: »Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Sie beide heute noch entlassen werden. Ich gratuliere Ihnen.«
Ich frage nach der Art der Begnadigung.
»Die elfjährige Zuchthausstrafe ist auf dreiundeinhalb Jahre herabgesetzt. Davon haben Sie zwei Jahre vier Monate abgesessen, für den Rest ist Ihnen Bewährungsfrist zugebilligt.«
»Das Zuchthausurteil bleibt also bestehen und die zehn Jahre Ehrverlust auch?«
Der Direktor bejaht.
In mir kocht's vor Erbitterung.
Man will also das geschehene Unrecht nicht eingestehen und das Damoklesschwert der Bewährungsfrist soll vier Jahre über mir hängen.
Inzwischen hatte das Telefon geläutet. Mein Rechtsanwalt rief von München aus an. Er wollte der erste sein, der mich in der Freiheit begrüßt.
Trotz aller Enttäuschung, die ich über die Art der Begnadigung empfinde, beherrscht mich Freude über die neugewonnene Freiheit.
In der Kanzlei werden in aller Eile meine Papiere fertig gemacht. Inzwischen kann ich meine Zuchthausuniform ablegen und mich wieder in menschliche Kleidung stecken. Das geschieht in dem gleichen Raum, worin ich bei der Aufnahme umgekleidet wurde.
*
Ich muß zum Arzt. Dort werde ich gewogen.
Dann geht's in den Krankensaal. Ein Gefangener, der Krankenwärterdienste macht, rasiert mich.
Nachher sehe ich mich im Saal um.
In einem der Betten liegt ein Lebenslanger. Seit er zwanzig Jahre im Zuchthaus ist, hat er wiederholt Gnadengesuche eingereicht. Sie wurden immer abgelehnt.
Dann bekam er einen Schlaganfall, der ihn am Oberkörper rechtsseitig lähmte. Trotzdem blieben all seine Versuche, die Begnadigung zu erreichen, vergeblich. Er erlitt noch einen Schlaganfall und der warf ihn auf's Krankenlager.
Hilflos, ohne sich bewegen zu können, lag er nun Wochen und Monate im Bett. Sein Körper verfiel und langsam siechte er dem Grab entgegen.
Als ich ihn an meinem Entlassungstag sah, konnte man dieses Häuflein Mensch kaum noch lebend nennen. Wachsig und gelb war die Haut. Das Gesicht glich einem Totenkopf, mit dünner Haut überzogen. Und die Augen lagen in tiefen Höhlen. Matt und stier schauten sie ins Leere. Die Zunge war gelähmt. Der Mund konnte nicht sprechen. Nur unartikulierte Laute brachte er mühsam hervor.
Ein lebender Leichnam lag dort im Bett.
Er hörte, daß ich entlassen werde. Irgendwie hatte er dem Krankenwärter zu verstehen gegeben, ich solle ans Bett kommen.
Als ich zu ihm kam, machte er den vergeblichen Versuch, mir die Hand zu reichen. Er wollte mich wohl beglückwünschen. Ich faßte seine eisige Hand. Mir war, als berühre ich eine Leiche.
Er bewegte die Lippen, wollte mir irgend etwas sagen. Aber ich hörte nur unverständliche Laute, die qualvoll herausgestoßen wurden. Eine Stimme aus dem Grab.
Die Augen bekommen einen flehenden Ausdruck. Ich weiß, was mir der dem Tod Geweihte sagen will, wenn ich sein schaurig-qualvolles Stammeln auch nicht verstehe.
»Hilf mir, daß ich nicht in diesem Haus der Freudlosen sterben muß. Ich will noch ein paar Stunden draußen atmen, wo Freiheit, Licht und Sonne ist. Nur ein paar Stunden ...«
Ich weiß, daß ich ihm nicht helfen kann und bin unfähig, ihm ein Trostwort zu sagen. Ich verlasse einen Sterbenden.
Das war das Letzte, was ich vom Schicksal der Gefangenen erlebte. Der Tod im Zuchthaus.
*
Ich hole meine Papiere ab. Der Direktor hält uns beiden, die entlassen werden, eine salbungsvolle Rede. Er betont, daß er stets bemüht gewesen sei, alle zulässigen Erleichterungen zu gewähren und nur den Menschen, nicht den Verbrecher in uns gesehen habe.
Das war zwar nicht immer so, aber es hörte sich doch recht gut an von einem Zuchthausdirektor.
Dann gings zum Tor, der neuen Freiheit entgegen.
Mein Gang war unsicher, als ob ich im Dunkeln eine Treppe hinunterginge und mit dem Fuß nach der nächsten Stufe taste, während ich schon auf ebener Erde stehe. So waren meine ersten Schritte im Freien.
Und die Fläche war so endlos weit, und alles, was ich sah, so farbig und lebensvoll.
In durstigen Zügen sog ich die freie Luft ein. Sie war würzig und frisch, wie nie vorher.
Und dann gingen wir zum Bahnhof.
Der Gedanke ängstigte mich, daß alles nur ein neckender Traum sei und ich am andern Morgen beim Erwachen wieder in der engen Zelle hinterm Gitterfenster liegen könne.
Aber es war kein Traum.
Ich war wirklich frei. Und der Lokalzug kam und trug mich fauchend fort, neuem Leben und neuen Kämpfen entgegen ...