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Anno domini 1512. In seiner Heimat, in seiner Vaterstadt Thorn, starb der Bischof, starb Lukas Watzelrode. Dieser starre, unbeugsame, in vieler Beziehung harte Mann – ach, fast ein Vierteljahrhundert hindurch hatte er von ferne das Leben, das Schicksal des Neffen Nikolaus Kopernikus geleitet und begleitet. Hatte dem Schwestersohn den Weg in eine gesicherte Zukunft, in ein angesehenes Amt geebnet. Hatte ihm einen zehnjährigen Studienaufenthalt in Italien – nicht vielen geschah ein solches Glück – vergönnt und bald mit ernsthafter Zustimmung, bald mit kopfschüttelndem Nachdenken zugesehen, wie Kopernikus den Bogen seines Erkenntnisdranges immer weiter und weiter spannte. Wie er, niemals sich selbst genügend, tief und immer tiefer in ein Wissensgebiet und in ein zweites und in ein drittes dann eindrang. Und doch nie, nie, weder über den Pandekten noch über den Geheimnissen der Heilkunde, jenes große, jenes größte Geheimnis aus den Augen verlor: den Bau des Weltalls. Er hatte den Neffen während runder sechs Jahre eng zu sich herangezogen, hatte ihm ein weites und schwieriges Tätigkeitsfeld eingeräumt, hatte ihn sich bewähren lassen, bald da, bald dort.
Was er wohl über den Astronomen gedacht haben mochte, der unter dem halb weltlichen, halb geistlichen Gewand des Domherrn atmete? Nie war er mit seiner Meinung darüber herausgekommen, nie hatten sich die Gespräche zwischen Onkel und Neffen längere Zeit um jene Fragen gedreht, die dem Neffen so besonders am Herzen lagen. Aber gewußt hatte er viel, vielleicht alles von dieser Leidenschaft eines von seinen Ideen Besessenen. Und wenn er die Flamme auch wohl nicht genährt, wenn er solches Bemühen gewiß auch nicht gerade gefördert hatte – er hatte es auch nicht behindert. Und schon dafür mußte man ihm dankbar sein. Dafür auch, neben vielem anderen, das verpflichtete.
Nun also war er tot.
»Er wird mir fehlen«, dachte Kopernikus an der Bahre des Bischofs, und eine leise Rührung, beinahe so etwas wie Angst, wollte in ihm aufkommen. Es hatte sich nicht schlecht gelebt im Schutz, unter der schirmenden Hand des Bischofs. Der geistliche Beherrscher des Ermlandes – sicher, das war schon eine Macht gewesen.
»Sehr wird er mir fehlen«, dachte Kopernikus erneut.
Des Lukas Watzelrode Tod … nun, es könnte sein, daß er von tief einschneidendem Einfluß auf das weitere Leben von Kopernikus werden könnte.
Eine erste Auswirkung zeigte sich alsbald. Heilsberg – das war nun vorbei. Was er dort getan hatte, das war mehr die Erfüllung eines persönlichen Auftrags als die Bekleidung eines offiziellen Amtes gewesen.
»Persönlicher Adjutant des Bischofs von Ermland«, so hätte man zu Kopernikus sagen können, wenn man einen militärischen Ausdruck hätte anwenden wollen. Einen Ausdruck, der gar nicht einmal so abwegig gewesen wäre. War doch nicht nur die Heilige Römische Kirche seit jeher eine ecclesia militans gewesen, eine kämpfende, kämpferische Kirche. Der Ordensstaat selbst war von Anbeginn als eine Organisation solcher Art in Erscheinung getreten. Und nie hatte das schwarze Kreuz auf dem weißwollenen Mantel das Schwert des Ordensbruders, der ja auch ein Ordensritter war, verdecken können oder auch nur verdecken wollen.
Mit Heilsberg, damit also war es nun vorbei. Da war niemand mehr, der der Dienste von Kopernikus bedurfte. So ging denn der Domherr dorthin zurück, woher er damals nach Heilsberg gekommen war, nach Frauenburg, zum Dom. Man nahm ihn gern und willig auf, gehörte er doch zum Kapitel, zu dieser so reichen, so mächtigen und weithin angesehenen Körperschaft. Und noch nach seinem Tode hielt der Bischof über Kopernikus die Hand, brachte diese nahe Blutsverwandtschaft dem Neffen mancherlei Förderung. Seine Dienste? Nun, seiner Dienste bedurfte es anfangs nicht sehr. Vielleicht auch hatte es sich bei den andern Herren des Kapitels herumgesprochen, daß dieser Thorner sein besonderes Steckenpferd ritt. Ein Steckenpferd, das ihn nachts oft und oft nicht ins Bett finden ließ. Man war ihm wohlgesinnt, man duldete, mit einem heimlichen Lächeln vielleicht, seine ungewöhnlichen Interessen, man wollte ihm das Leben nicht schwerer machen, als er selbst es sich machte.
Man ließ ihm Zeit, viel Zeit sogar. Und während der Dauer von vier Jahren konnte er sich, durch dienstliche Tätigkeit kaum beschränkt, kaum in Anspruch genommen, mit aller Energie dem Ausbau seiner weltbewegenden Theorie über die Bewegungen der Himmelskörper widmen. Konnte er weiterhin Stein für Stein zusammentragen, um zu beweisen, was er so kühn behauptete. Konnte er jeden Satz zehnmal hin und her wenden, wie er es bislang getan hatte. Konnte er prüfen, verwerfen, Neues in den Umkreis seines immer wachen, immer kritischen Verstandes ziehen.
Aber Kopernikus war nie einseitig gewesen. Er hatte auch schon als Begleiter seines bischöflichen Ohms zur Genüge bewiesen, daß er alles andere war als ein in irgendeinem Wolkenkuckucksheim lebender, stubenhockender und weitabgewandter Gelehrter. Daß er mit beiden Füßen fest auf dieser rollenden Erde stand. Auf derselben Erde, die er von ihrem Thron herabzustoßen eben im Begriff stand. Daß ihm die Dinge des Lebens und der Menschen durchaus vertraut waren. Und daß es für ihn keinen Sprung bedeutete, sich nachts mit dem Mond oder dem Saturn zu beschäftigen, tags aber mit den Sorgen und Mühen und Kämpfen der Menschheit.
Auch in Frauenburg erkannte man das bald. Kopernikus – das war eine Kraft, die man nicht nur so zur Dekoration verwendete, sondern die man entsprechend ihren Gaben ansetzen müßte. Darum fiel schon vier Jahre später, 1516, auf Nikolaus Kopernikus die Wahl als Kapitularstatthalter in Allenstein.
Unter diesem auf den ersten Blick etwas undurchsichtigen Titel verbarg sich ein schweres und verantwortungsvolles Amt. Ein weitreichendes Amt mit bedeutenden und für die rechtliche und wirtschaftliche Stellung des Domkapitels überaus bedeutungsvollen Aufgaben. Galt es doch nicht nur, das gesamte, dem Frauenburger Domkapitel zugehörige Teilgebiet innerhalb des Bistums Ermland zu verwalten, sondern verbunden war damit auch die oberste militärische Leitung.
Dies aber bedingte, daß Kopernikus nicht nur seinen Wohn- und Amtssitz von Frauenburg nach Allenstein verlegen mußte, sondern auch, daß er jetzt tagsüber und oft bis in die sinkende Nacht hinein, statt sich mit Weltachsen und Umdrehungsgeschwindigkeiten, mit Fixsternen und Planeten und Horizont und Schiefe der Ekliptik zu beschäftigen, Entscheidungen zu fällen, Urteile zu sprechen, Verträge zu schließen hatte. Da gab es Zinsverpflichtungen, die nicht innegehalten wurden, Streitigkeiten, die nicht nur Wohl und Wehe der Beteiligten, sondern auch des Domkapitels selbst berührten. Verpachtungen wollten geregelt, durch Verträge schriftlich festgelegt werden, dies und jenes erforderte die persönliche Anwesenheit des Kapitularstatthalters, ließ sich nur durch Augenschein und Lokaltermine und Vernehmungen an Ort und Stelle zum gedeihlichen Abschluß bringen; kurz, es mußten auch häufige und anstrengende Reisen innerhalb des Bezirks gemacht und eine wachsende Fülle von täglich anfallender Verwaltungskleinarbeit erledigt werden.
Über die einsichtige, weitsichtige, gewissenhafte und sorgfältige Art, in der Kopernikus diesen ihm neuerdings aufgebürdeten Pflichten gerecht wurde, gibt es zahlreiche urkundliche Belege. Besonders finden sich solche in den Geschäftsbüchern des Kapitels, und sie erweisen, daß der große Astronom mit derselben Gewissenhaftigkeit und mit derselben vorbildlichen Hingabe seine beruflichen Pflichten erledigte, wie er sie an die Beobachtung des Himmels und die Erforschung der Bewegungen der Weltkörper wandte. Aber man darf sich darüber nicht wundern. War doch Kopernikus dank seiner natürlichen Veranlagung und dank der Ausbildung, die er genossen hatte, ganz das, was man einen universalen Kopf zu nennen pflegte. Mit vielseitigen Interessen, mit vielseitigem Wissen und auch auf Gebieten, die weit abseits von seinem geistlichen Beruf und von seiner Sternkunde lagen, äußerst beschlagen und alles andere als ein Dilettant. Er war eine lebendige und überzeugende Verkörperung des Begriffes Humanist. Und er war, trotz seines halb geistlichen Standes, alles andere als ein moralinsaurer Pharisäer. Denn hätte er sonst wohl als erstes Buch die schon 1509 bei Haller in Krakau erschienenen Episteln des Theophylaktus Simocatta aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt? Briefe, von denen er selbst in seiner Vorrede an den bischöflichen Oheim Lukas Watzelrode zugab, daß sie »das Leichte mit dem Schweren, das Schlüpfrige mit dem Ernsten mischten«. Natürlich wußte er dafür eine Begründung, eine Rechtfertigung, die allein schon ausreichte, um die Widmung des Buches an den Bischof zu ermöglichen. »Was aber die Liebesbriefe anbelangt«, so schrieb er, mit einem heimlichen Lächeln auf den Lippen, »so mögen diese dem Titel nach leichtfertig sein, aber es verhält sich hier so wie bei den Ärzten, welche die Bitternis der Heilmittel durch süße Kräuter mildern, damit sie den Kranken leichter eingehen.«
Das war freilich eine Art jesuitischer Rechtfertigung. Aber sie spricht doch mehr für Kopernikus als gegen ihn, sie zeigt ihn uns als einen weltzugewandten Mann, der die Menschen sah und nahm, wie sie waren, mit all ihren kleinen Vorzügen und großen Schwächen, mit ihren Tugenden und auch mit ihren Fehlern. Und vielleicht waren es in seinen Augen gerade diese Fehler und Schwächen, die ihm den Menschen liebenswert machten.
Der Vergleich mit den Heilmitteln des Arztes lag einem Kopernikus nahe. War er doch selbst ein Arzt, nicht nur durch sein Studium, sondern auch aus Neigung. Freilich: ein Arzt von der Art eines Theophrastus Paracelsus war er nicht, aber doch ein in dem Wissen seiner Zeit durchaus beschlagener Mann. Befangen freilich auch in dem Aberglauben und den Irrtümern seiner Zeit. Ganz ernsthaft erklärte er in den uns überkommenen Rezeptnotizen in deutscher Sprache etwa: »Kressesamen im Munde gekaut, unter die Zunge gehalten, ist gut gegen ihre Lähmung und macht wiederum reden«! Nun, mancher Arzt und medizinischer Wissenschaftler der heutigen Zeit wäre sehr froh, wenn Stummheit bezw. Taubstummheit auf so einfache Art zu heilen wäre oder wenn man gar mit einem »Kraut, genannt Gottesvergessen – Marubium –« die Pestilenz heilen könnte. Und so mancher von Schnupfen und Husten Geplagte griffe gern zu dem von Kopernikus empfohlenen Mittel »Pollei, in Wein gesotten«, wenn es nur wirklich helfen würde. Aber es hilft wohl nicht, möchten wir annehmen, selbst wenn wir nicht wissen, was Pollei ist.
Ach nein, dieser Domherr und Junggeselle Nikolaus Kopernikus war dem tatsächlichen Leben keineswegs abgeneigt, dem Leben und den Freuden des Lebens, und sein Oheim, der Bischof und Junggeselle Lukas Watzelrode, war es gewiß auch nicht gewesen. Und er wird, seiner hohen geistlichen Würde zum Trotz, schmunzelnd in seinem Stuhl gesessen und sich an der Übersetzung jener Episteln durch den Herrn Neveu erfreut haben. Dieser Briefe, die der Scholastiker Theophylactus zusammengestellt hatte und in denen teilweise recht gewagte Situationen dargestellt wurden. Gerade an solchen »tolldreisten Geschichten« hatten ja aber Bischöfe und Vikare, Domherren und Pfarrer seit jeher ihre Freude gehabt, und warum dann nicht in diesem Falle, wo das aufgescheuchte Gewissen sich so leicht besänftigen ließ. Denn hat nicht der Simocatta, wie Kopernikus schrieb, »bei alledem so sehr den Nutzen im Auge gehabt, daß seine Sammlung nicht sowohl Briefe als Gesetze und Vorschriften für die Lebensführung darzustellen scheint«?
Gerade aus diesem, dem eigentlichsten Interessengebiet von Kopernikus so fern liegenden Werk sprach aber auch die tiefe Verehrung, die er seinem Ohm entgegenbrachte, seine große und aufrichtige Dankbarkeit. »Alle Leistungen meines geringen Geistes«, so schloß er in betonter Bescheidenheit seine Vorrede, »sollen von rechts wegen Dir zugeschrieben werden. Wenn anders wahr ist – und das ist es jedenfalls – was auch Ovidius einstens zum Kaiser Germanicus sagte: »Mein Geist steht und fällt mit deinem Blick!«.
Was vorher über die Verwaltungstätigkeit des Kapitularstatthalters gesagt worden ist, lag freilich, genauer betrachtet, nur ganz am Rande des ungeheuren Aufgabengebietes, vor das sich Kopernikus durch sein hohes Amt plötzlich gestellt sah. Viel bedeutsamer war ja, daß der große Forscher nun auch in die politischen und kriegerischen, also militärischen Kämpfe jener so ungeheuer bewegten, an Gärungen und Spannungen überreichen Zeit hineingerissen wurde. Der dreizehnjährige Städtekrieg war ja noch längst nicht verwunden, seine Spuren würde man noch nach Jahrzehnten, noch nach Jahrhunderten ausfindig machen können. Der Abfall der preußischen Stände von ihrer Landesherrschaft, dem deutschen Ritterorden, mochte mancherlei Ursachen gehabt haben, die überwiegend sozialer und wirtschaftlicher Natur waren; nationale Ursachen hatte er jedenfalls nicht gehabt. Aber was auch immer zu ihm geführt hatte, in jenen blutigen dreizehn Jahren, die er zur Folge gehabt hatte, waren von etwa 21 000 Dörfern an die 18 000 zerstört worden, nur ein Siebentel war erhalten geblieben. Weite Strecken blühenden, fruchtbaren Landes waren in dürre, weglose und ungeheure Einöden verwandelt worden, ja die gesamte Kulturarbeit des Ordens, seine von keinem gerecht Denkenden abzustreitende vorbildliche Leistungen auf kulturellem Gebiet, waren so gut wie völlig vernichtet worden. Der zweite Thorner Frieden, der diesem Vernichtungsfeldzug ein Ende bereitete, hatte fast untragbare Verhältnisse geschaffen, unter denen mehr oder minder alle Beteiligten schwer litten. Nun nahmen die beiden voneinander geschiedenen preußischen Gebietsteile sehr bald eine Entwicklung nach völlig entgegengesetzter Richtung. Der ostpreußische Teil war unverkennbar auf dem Wege, sich zu einem Territorialstaat zu entwickeln, zu einer Art territorialen Fürstentums, in den westlichen Teil drangen staatsauflösende Gedanken der verschiedensten Art. Klare Linien, klare Fronten waren überhaupt nicht mehr zu erkennen. Völlig verwirrend wurden die Verhältnisse, als nun auch noch die Reformation sich ausbreitete und damit die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Fronten noch einmal von1 innen heraus durchbrochen und durch neue religiöse und dogmatische Vorstellungen überlagert wurden. In diesem wirklich heillosen Durcheinander ertrank und versank mählich das ehemals so fest in sich geschlossene Ordensgebiet, vordem das am modernsten verwaltete Gebiet des deutschen Reiches. Aus einem ehemaligen Musterstaat war ein kraftloses, in sich aufgesplittertes, von vielen und oft undurchsichtigen Kräften hin- und hergezerrtes Staatswesen geworden, dem jede klare Linie, jede Erkenntnis über die wirkliche Lage und die sich aus ihr ergebenden Möglichkeiten fehlte und das manchmal schnurstracks dem vollkommenen Chaos entgegenzusteuern schien. Ein klar ausgerichteter Lebenswille war hier nun schon seit langem nicht mehr zu entdecken.
Noch unklarer war in diesem allgemeinen Durcheinander die Stellung des Bistums Ermland. Das hatte schon innerhalb des Ordensstaates eine große Selbständigkeit genossen. Jetzt, inmitten des Ordensstaates, Polens und des westlichen Preußens gelegen, war es für jeden Einfall des Hochmeisters offen, war jedem Zugriff der einander befehdenden Parteien ausgesetzt. Und seine Stellung wurde um so gefährdeter, als seine Interessen mit keinem der angrenzenden Staatsgebilde restlos übereinstimmten und zusammengingen.
Die Spannungen, die seit langem bestanden, drängten immer mehr vom rein politischen oder gleichsam diplomatischen Geplänkel zu einer kriegerischen Entladung. Es fing, ganz wie in den Kriegen unseres blutenden zwanzigsten Jahrhunderts, mit Wirtschafts- und Verkehrssperren – mit Zollsperren, Einfuhrverboten und Paßschwierigkeiten, würden wir heute sagen – an. Dann gab es Einfälle bewaffneter Banden ins Ermland und einen richtigen Guerillakrieg. »Ein Straßenkrieg, ein Raubkrieg ohne Kriegserklärung«, so hat ein Historiker jenen Zustand einmal sehr treffend charakterisiert. Der richtige Krieg erfolgte erst später. Zunächst gelang es noch, durch geschickte Verhandlungen, an denen auch Kopernikus teilnahm, und durch Ausspielung mehr diplomatischer Mittel die schon glimmende Lunte auszutreten.
Aber es war ein ewiges Hin und Her. Der Kampf wurde fortgesetzt, die Stadt Heilsberg wurde beschossen. Während des ganzen Jahres 1521 wurde der Krieg vornehmlich im Bezirk von Allenstein geführt. Das aber hieß, daß gerade auf die Schultern des Kapitularstatthalters von Allenstein die volle Verantwortung für die Sicherheit des Bistums gelegt wurde. Zwar: der Domherr Johannes Sculteti, der im Namen von Kopernikus das Kapitelsiegel führte, saß in Elbing und unterstützte von dort den Statthalter mit Lebensmitteln und Waffen, vor allem mit den sogenannten Hakenbüchsen. Aber die übrigen Domherren waren doch noch über Elbing hinaus bis nach Danzig geflüchtet und beklagten sich von dort aus – ach, keineswegs über die bedrängte Lage, in die das Bistum geraten war, sondern über die dadurch verursachte Schmälerung ihrer sonst so hohen und angenehmen Einkünfte.
Kopernikus aber verharrte in Allenstein, tapfer, klug, überlegend, weitsichtig. Seine Politik verfolgte eindeutig eine einzige, klare Linie: sich sowohl dem Orden als auch Polen gegenüber zu sichern und ihnen zu widerstehen. Nach der Flucht der meisten Angehörigen des Kapitels herrschte er und entschied er in allen seinen Angelegenheiten mit diktatorisch anmutender Gewalt. Der Name, den er in diesen kriegerischen Auseinandersetzungen gewann, machte ihn zu einem der wichtigsten, ja vielleicht zum angesehensten Mitglied des Kapitels überhaupt. Er nahm deshalb auch in hervorragender Stellung an den Friedensverhandlungen teil, die einen von ihm gefertigten Entwurf zur Grundlage hatten.
Auch an dies alles muß man sich erinnern, wenn man versucht, sich ein wirklich zutreffendes Bild von der Persönlichkeit eines Kopernikus zu machen. Seine Leistungen auf rein wissenschaftlichem, astronomischem Gebiet treten umso klarer ins Licht, je mehr und je deutlicher man sich zu vergegenwärtigen versucht, mit welchen Widrigkeiten er zu kämpfen hatte. In welcher erschütternden und erschütterten Zeit er lebte. Welche Unruhen die doch so nahe, so vertraute Erde durchtobten, während oben, am Himmel, die ewigen Sterne in majestätischer, göttlicher Ruhe und Ordnung ihre ewig gleiche, wenn auch manchmal nur schwer zu deutende Bahn zogen. Hinter einem derartigen Pflichtenkreis mußte notwendigerweise die wissenschaftliche Arbeit des öfteren zurücktreten. Aber nie hat sie ganz aufgehört, und vielleicht holte sich Kopernikus gerade aus der Betrachtung des nächtlichen Sternenhimmels die Kraft, die Kämpfe des Tages immer wieder und erfolgreich zu bestehen.
Geistlicher, Arzt, hoher Verwaltungsbeamter, Politiker, militärischer Befehlshaber auf Schloß und Burg Allenstein – auch damit war der Umkreis der weitverzweigten Tätigkeit von Kopernikus noch nicht erschöpft. Etwa aus den gleichen Jahren, die ihn in die politischen Wirren der Zeit so tief und fast gewaltsam, ganz gegen seinen Willen vielleicht, hineingerissen hatten, stammen auch seine klugen, wohlüberdachten Vorschläge über die Verbesserung der preußischen Münze.
»… wie denn gemeldet ist, daß der achtbare und würdige Herr Nicolaus Koppernick sich etwa mit hohem Fleiß in dieser Sache bekümmert und eine Ausarbeitung gemacht, haben die Herren Räte begehrt, daß seine Würden ihnen dieselbe günstiglich und der Sachen zu gut nicht verbergen. Darin sich seine Würden gutwillig hat finden lassen und ist in Gegenwart königlicher Räte gelesen worden«, so stand es im Protokoll des preußischen Landtags zu Graudenz 1522.
Aber die darin erwähnte Arbeit lag in ihren Quellen bereits Jahre zurück. Wohl hatte sich schon der erste Landtag nach dem Thorner Frieden mit der Münze – mit der Währung, würden wir heute sagen – befaßt; aber eine durchgreifende Maßnahme war nicht getroffen worden, niemand hatte den Mut zu einem entscheidenden Schritt aufgebracht. Immer wieder gab es Verzögerungen, Bedenken, Verschleppungen, immer wieder glaubte man, bald auf diese, bald auf jene Interessen Rücksicht nehmen zu müssen. Und so war die Münze im Laufe der folgenden Jahre immer mehr in ihrem Kaufwert gesunken. Da hatte Kopernikus in die schwebende Angelegenheit eingegriffen und ein Gutachten in deutscher Sprache verfaßt, das er auf dem Landtag in Graudenz vorlas. Später hatte er dann eine zweite, ausführlichere Ausarbeitung dieses schwierigen Fragenkomplexes in lateinischer Sprache verfaßt und seine Gedanken in einem Schreiben an den Domherrn Felix Reich ergänzt.
Dies alles war nicht die Arbeit eines Dilettanten oder blutigen Laien. Es zeugte vielmehr jeder Satz, jede Zeile beinahe von der tiefen Einsicht des Kopernikus in die komplizierten Zusammenhänge von Geldentwertung und Teuerung, von schlechter Münze und dem dadurch hervorgerufenen Niedergang des Handels, von schlechter Münze und dem dadurch entstehenden allgemeinen Absinken der öffentlichen Moral, von der Kulturfeindlichkeit der Münzverschlechterung oder gar Münzverfälschung. Ja, auch hier erkennt man den durch seine wissenschaftliche Arbeit geschulten Geist von Kopernikus, der in jeder Frage auch des öffentlichen Lebens Ursache und Folgeerscheinungen schnell und richtig erkannte und durchschaute.
Man lese aus jenem Gutachten, aus dem Brief an den Domherrn Reich nur die folgenden, auszugsweise wiedergegebenen Sätze, man setze darin anstelle der Worte Gold und Silber die Begriffe Devisen und – durch Gold gedeckte – Festwährung, anstelle von Kupfer den Begriff des ungedeckten Papiergeldes, und man wird mühelos erkennen können, wie modern Kopernikus dachte, wie klar er wirtschaftliche Zusammenhänge erfaßte.
»Es ist eine Schmach und Schande«, so zürnte Kopernikus in dem erwähnten lateinischen Gutachten, »was für Geld später in Umlauf gekommen ist und in welchem Zustand es sich jetzt befindet. Es ist heute so wertlos geworden, daß dreißig Mark kaum noch ein Pfund Silber enthalten. Wenn hier keine Abhilfe geschieht, kann es nicht ausbleiben, daß schließlich Preußen gar kein Gold- und Silber-, sondern nur noch Kupfergeld hat. Dann muß bald die Einfuhr fremder Waren und das ganze Geschäftsleben zusammenbrechen. Welcher auswärtige Kaufmann wird denn seine Waren für Kupfer einhandeln wollen? Und wer von den unsrigen wird mit solchem Geld in den fremden Häfen ausländische Waren beschaffen können?« Und später: »Wo aber schlechtes Geld in Gebrauch ist, da fehlt es infolge Trägheit, Müßigung und Untätigkeit an der Pflege der Künste so gut wie der Wissenschaften, und der Wohlstand liegt darnieder.«
In seinem – undatierten – Brief an den Domherrn Felix Reich erläuterte dann Kopernikus noch einmal die Kernpunkte seiner Abhandlung. »Wie es aber zuweisen sich ereignen mag«, so schrieb er eingangs voller Bescheidenheit »daß jemand etwas Richtiges empfindet, diesem aber nicht Ausdruck zu verleihen vermag, so wird, fürchte ich, zuweilen auch mir desgleichen begegnen … Es soll mich daher nicht wundern, wenn das, was ich geschrieben habe, nicht gleich allen verständlich ist. Ich will daher versuchen, was Du nicht verstanden zu haben scheinst, deutlicher zu erklären …«
Kopernikus ging dann auf einen ihm zu Ohren gekommenen Plan ein, über eine Erhöhung der Steuerabgaben zu verhandeln, um die durch die schlechte »Währung« in Mitleidenschaft gezogenen öffentlichen Kassen zu füllen. »Ich entnehme daraus«, schrieb er, »daß über die Münze gegenwärtig nicht verhandelt werden wird. Denn es ist doch nicht anzunehmen, daß die Untertanen durch doppelte Belastung beschwert werden sollen. So werden wir die Abgaben erheben, das Geld aber wird liegen bleiben oder vielmehr es wird nicht liegen bleiben, sondern wir werden es noch schlechter werden lassen. Und wir werden dem Könige, unserm Herrn, eine große Geldsumme geben, aber es ist nur Spreu! Die Körner aber, wo werden die bleiben? Ich weiß es nicht, ob es nicht schöner, großzügiger und königlicher wäre, vor allem aber viel nützlicher, die Eintreibung sein zu lassen, und dafür die Münze zu verbessern, und erst dann, wenn dieses nicht genügte, zur Steuerabgabe zu schreiten«.
Das sind wahrlich ganz modern anmutende Gedankengänge, und wenn sie auch nicht gerade die Prägung des Genialischen in sich tragen, so beweisen sie doch, wie wenig die Beschäftigung mit den Sternen dem großen Forscher den Blick für das praktische Leben und für die Erfordernisse des praktischen Lebens zu trüben vermochte. Es ist deshalb auch nicht wichtig zu wissen, ob solche Gedanken nun von den gesetzgebenden Körperschaften aufgegriffen und in die Tat umgesetzt wurden – was nicht geschah! – sondern an ihnen wie an vielem anderen den umfassenden Geist von Kopernikus zu messen und abzuschreiten. Gerade darin zeigte sich zweifellos eine innere Verwandtschaft mit der Persönlichkeit eines Leonardo da Vinci, zu dem schon der junge Student in Italien mit fast andächtiger Verehrung aufgeblickt hatte. Weniger glücklich waren die Vorschläge der sogenannten »Allensteiner Brottaxe«, in der versucht wurde, der allgemeinen Preistreiberei dadurch zu steuern, daß nach einem bestimmten Plan bei gleichbleibendem Brotverkaufspreis, dem wechselnden Getreideeinkaufspreis entsprechend, das für diesen fixen, d. h. gleichbleibenden Preis auf den Markt gebrachte Brot in seinem Gewicht entweder erhöht oder vermindert wurde. Hier unterlief dem Verfasser der »Brottaxe« ein kardinaler Irrtum. Denn wenn das Brot, trotz seines gleichbleibenden Preises, ein verringertes Gewicht aufwies, so wurde es faktisch ja doch teurer, und der Verbraucher mußte mehr Brote für seine Familie kaufen, also auch mehr bezahlen, um die hungernden Mägen zu sättigen. Aber vielleicht hat man Kopernikus in dieser Beziehung zu Unrecht belastet, denn gerade für diese Vorschläge gibt es keinen Beweis, daß sie wirklich von dem großen Astronomen stammen – sie werden ihm nur zugeschrieben, und die Vermutung stützt sich auf einige Umstände, denen wirkliche Beweiskraft nicht zuerkannt werden kann.
Eine Persönlichkeit dieser Art und Artung konnte natürlich nicht unberührt bleiben von der größten und tiefgreifendsten geistigen Bewegung, die das beginnende sechzehnte Jahrhundert erschütterte, von der Reformation. Sprang doch gerade um diese Zeit die reformatorische Bewegung aus den deutschen Ländern auch nach Preußen über. Wie Kopernikus im einzelnen über sie dachte, wie weit die religiöse Gedankenwelt eines Luther in der Lage war, anregend oder zu Widerstand herausfordernd auf Kopernikus einzuwirken, läßt sich heute kaum mehr feststellen. Zu fest stand der katholische Geistliche und hochangesehene Domherr von Frauenburg auf dem Boden einer überlieferten Überzeugung. Derselbe Mann, der auf astronomischem Gebiet ohne weiteres bereit war, ein System, dessen Mängel er erkannt hätte, über Bord zu werfen und durch ein neues, besseres zu ersetzen, stand auf religiösem Gebiet ganz auf dem Boden der katholischen Kirche, der er diente.
Aber gleich wie er als Wissenschaftler, als Mathematiker und Astronom, hundertmal prüfte und erwog und sich selbst unter die strenge Zuchtrute der Kritik nahm, ehe er verwarf, was ihm als Irrtum erschien – auch dann noch sachlich und ohne Angriff gegen die Vertreter anderer Meinungen –, so enthielt er sich auch in Fragen des kirchlichen Dogmas jeglicher persönlichen Gehässigkeit. Das ergibt sich aus einem indirekten Zeugnis. Kopernikus nämlich war es, der dem ehemaligen ermländischen Domherrn und späteren Bischof von Kulm Tiedemann Giese, mit dem ihn eine tiefe und herzliche Freundschaft verband, die Anregung gab, eine Schrift gegen die evangelische Lehre, »Antilogikon« betitelt, herauszugeben. Diese Streitschrift unterschied sich wohltuend von dem Geist, den andere Flugschriften atmeten. Wohltuend vor allem durch das vorsichtige und maßvolle Urteil, in dem sie gipfelte, durch die Tendenz, die sich lediglich warnend gegen innere und äußere Auflösung wandte. Viele Sätze in diesem kleinen Werk atmeten so ganz den Geist eines Kopernikus, daß der Einfluß des Astronomen auf die Äußerungen von Tiedemann Giese völlig unverkennbar ist. Sätze wie diese: »Wer aufbaut, das wird besser« oder »Nicht nur durch die Seele, auch durch das Auge sieht der Mensch. Der Glaube ohne gute Werke ist tot, die Sehkraft ohne Auge unnütz« oder schließlich: »Die christliche Freiheit wird in Unfreiheit verkehrt«, die könnte ebenso gut Kopernikus selbst geschrieben haben. Freilich war Tiedemann Giese eine äußerst gütige, auf Versöhnung und Harmonie gerichtete, tief gebildete Natur. Immer hatte er mit fast leidenschaftlichem Interesse und größtem Verständnis an den Arbeiten von Kopernikus innerlich teilgenommen, um ihren Abschluß und um ihre Veröffentlichung hatte er sich späterhin größte Verdienste erworben. Und Kopernikus bedurfte eines solchen Freundes – nicht etwa, weil er einen ständigen Ansporner haben mußte, sondern weil er wie jeder Große im Geiste mindestens einen Menschen haben mußte, als vertrauten Umgang, der an ihn glaubte.