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Dieses also war der Mann: ein Astronom, ein »Sterngucker«, verhaftet der Unergründlichkeit des Raumes und den ihn durchfliegenden Welten, dieser seiner eigentlichen Aufgabe mit allen Fasern seines Herzens, mit allen Regungen seiner Seele zutiefst verschrieben. Ein Geistlicher, ein Domherr, Ansehen und Ehrfurcht genießend in weitem Umkreis nicht nur des Bistums Ermland, sondern der beiden Preußen und noch weit darüber hinaus. Ein Politiker, immer bestrebt, innerhalb der einander teilweise gegenüberstehenden Interessen des Ordensstaates, der Polen, des Bistums jene Linie zu finden, die dem Wohl und dem Frieden Ermlands am günstigsten war. Ein Arzt, der diese Tätigkeit beinahe bis an sein Lebensende ausübte. Befangen gewiß noch in den überlieferten Anschauungen des Mittelalters, aber auch hier mit praktischem Blick und den gesammelten Erfahrungen vieler Jahrzehnte. Hätte ihn sonst der Herzog Albrecht, als Kopernikus schon sehr betagt war, noch nach Königsberg kommen lassen? Hätten sich sonst sein Oheim, Lukas von Watzelrode, der Bischof, ebenso wie späterhin der Bischof Moritz Ferber von ihm behandeln lassen? Ein humanistischer Gelehrter, der die Kunst und die Dichtung der Griechen und Römer kannte und liebte, der sogar lateinische Verse schrieb, griechische Prosa ins Lateinische übersetzte. Ein Volkswirtschaftler, ein Nationalökonom mit einem über das übliche hinausgehenden Einblick in wirtschaftliche und währungspolitische Zusammenhänge. Ein hoher Verwaltungsbeamter; nicht anders konnte man ja seine Tätigkeit als Kapitularstatthalter auffassen und kennzeichnen – mit großen juristischen Kenntnissen und nicht minderer Kenntnis der menschlichen Natur, des menschlichen Charakters. Und sogar noch ein Stückchen Künstler, mindestens künstlerischer Dilettant, angezogen, verlockt durch das Geheimnis seines eigenen Antlitzes, das er schon früh, vor dem Spiegel, zu porträtieren bemüht war, über das noch einiges zu sagen sein wird.
Man hätte meinen mögen, daß in einem so reich ausgefüllten, mit so vielen Aufgaben belasteten, so voll und randvoll ausgewogenen Dasein, das seine Kraft nach vielen Richtungen hin zog, an dieser Kraft so vielfach zehrte und sie verbrauchte, einfach kein Platz mehr war für all das, was wir »privates Leben« zu nennen pflegen. Daß dieses private Leben ganz zurückgedrängt, ganz und restlos überschattet wurde von den mehr oder minder großen Aufgaben, denen dieser Unermüdliche sich verschrieben hatte. Von der besonderen Aufgabe zumal, den Bewegungen im All ein neues Gesetz zu finden.
Aber jedes Leben folgt seinen eigenen und besonderen Gesetzen. Und selbst für die Größten, für die in gewissem Sinne einsamsten Menschen gilt das Wort: »Wie gerne ging ich an der Welt vorüber, jedoch die Welt geht nicht an mir vorbei.«
Sie ging auch nicht an Nikolaus Kopernikus vorbei. Sie schattete dunkel und erregend, ja zuweilen tragisch in dieses Dasein hinein, das man sich gern behütet von allen Erschütterungen vorgestellt hätte, von all jenen Erschütterungen, denen wir andern mehr oder minder alle ausgesetzt sind.
Es fing früh an. Da war etwa der Bruder, Andreas Kopernikus, älter, immerhin ein paar Jahre älter als Nikolaus. Einmal – wann war es nur? Ach, wie die Zeit verrann! – hatten sie zusammen studiert, unten, in Italien, in dem zauberhaften Land mit der großen Geschichte, der schicksalträchtigen Vergangenheit, dem azurnen Himmel, der strahlenden Sonne, die man so hier oben, in dem rauhen Nordosten, nicht kannte. Es war, bei aller Hingabe an das Studium, bei allem Eifer, mit dem man seine Kollegs und Seminare besuchte, eine schöne, blühende und beinahe sorglose Zeit gewesen. Allzu wenig Sorgen hatte man sich öfter gemacht. Hatte vielleicht allzu oft bei fröhlichem Pokulieren nicht nur die Becher, sondern auch die Dukaten klingen lassen. Bis einem schließlich, wie der Ermländische Gesandte Bernhard Sculteti am 21. Oktober 1499 aus Rom dem gestrengen Ohm der beiden, dem Bischof Watzelrode, berichtete, nach Scholarenart das Geld ausgegangen war. Da hatten sie denn des Bischofs Sekretär in Rom, Herrn Georg Pranghe, bestürmt und seinen Rat erbeten, aber »wahrlich wie ein Pracher den anderen«. Andreas, der ältere, hatte sich schließlich sogar angeboten, in Rom in Dienst zu treten, um auf diese Art für sie beide etwas Geld zu verdienen und der drohenden Armut zu steuern. Nie würde er, Nikolaus Kopernikus, dies dem Bruder vergessen. Schließlich hatte dann eine Bank den beiden Brüdern hundert Dukaten auf Wucherzinsen geliehen, und der Gesandte hatte für die Neffen seines Bischofs, nicht ohne Zögern und die Schande fürchtend, falls die Summe nicht rechtzeitig eingelöst werden sollte, gebürgt. Ach, es war eine schöne, wilde Zeit gewesen – lang; lang war's her. Damals, da war Andreas noch ein dem Leben und den Freuden des Lebens aufgeschlossener junger Mensch gewesen. Und was sich später in seinem Wesen immer deutlicher herausarbeitete, die Herbheit, die Strenge, ja die unduldsame Heftigkeit, mancherlei Charakterzüge, die an den Oheim, den Bischof, erinnerten, es hatte sich in jenen jungen Jahren noch nicht so deutlich gezeigt.
Dann … ja, dann war Andreas Domherr in Frauenburg geworden, wie der Jüngere es wenig später wurde. Er hatte, mit der ihm eigenen Energie und Leidenschaft, einen zähen und tapferen Kampf um die Selbständigkeit der ermländischen Kirche gekämpft. Auch das würde ihm, und nicht nur bei Nikolaus Kopernikus, nicht vergessen werden. Aber plötzlich, und sozusagen aus heiterem Himmel, hatte ihn das Schicksal geschlagen. Ein schmerzliches Schicksal. Eine Krankheit hatte ihn getroffen – erst hatte man an Pest geglaubt oder an Ähnliches, bis jene verräterischen Spuren auftraten, die keinen Zweifel mehr zuließen über den Charakter dieser Krankheit. Es war Aussatz, Lepra, es war jene schauerliche Krankheit, die schon aus der Bibel bekannt war, die die davon Befallenen einem grausigen, langsamen Sterben überlieferte, einem mählichen Zerfall und Verfaulen an lebendigem Leibe. Jahrelang hatte er so dahingesiecht, der vornehme Domherr, ausgeschlossen von jeder menschlichen Gesellschaft und Gemeinschaft, ausgeschlossen auch von der Gemeinschaft des Kapitels. Bis ihn dann schließlich, den so furchtbar Gezeichneten, der Tod erlöste. Nikolaus Kopernikus hatte schwer an dem Schicksal des andern getragen – gewiß, sie waren sehr verschieden geartete Charaktere gewesen, zeitlebens. Aber feindliche Brüder waren sie nie gewesen. Und der Andreas – nun, wie er auch immer gewesen sein mochte, es hatte niemanden unter den Lebenden gegeben, der ihm, Nikolaus, blutmäßig näher gestanden hatte. Und Kopernikus hatte sehr um ihn getrauert.
Und dann die Freunde. Brauchte nicht gerade ein Mann, der so sterneneinsam die Einsamkeit der Sternennächte durchforschte, jemanden, der an ihn glaubte, an den er sein Herz hängen konnte, der ihm mit ganzem Herzen und gläubigem Vertrauen anhing? Und er durfte nicht undankbar sein, wirklich nicht. Gerade jetzt, wo er die zunehmende Last der Jahre zu spüren begann, wurde es ihm, rückblickend, bewußt. Viele waren durch sein Leben gegangen, und sie hatten dieses Leben erwärmt und bereichert. Da war Felix Reich, Domherr gleich ihm selbst. »Ehrwürdiger Herr«, so pflegte er ihn in seinen Briefen anzureden. Aber niemals vergaß er hinzuzusetzen: »und teuerster Freund!«. Reich hatte in dem Menschen zugleich den Astronomen, den Genius des Wissenschaftlers, des Forschers, des Philosophen bewundert. Und Bewunderung … Nikolaus Kopernikus war immer aufrichtig genug vor sich selbst, um zuzugeben – mindestens in stiller Stunde sich selbst zuzugeben –, wie sehr er Bewunderung brauchte, wie sehr sie ihn wärmte und förderte, bei aller Bescheidenheit. Aber verstanden – verstanden hatte Felix Reich ihn wohl nie ganz, sein in überkommenen Bahnen kreisender Geist war des Höhenfluges, der Kopernikus zur Sonne und zur Unsterblichkeit tragen sollte, nie mächtig gewesen.
Viel mehr galt das von Tiedemann Giese, viel tiefer wohl waren auch die Empfindungen, die diese beiden Männer miteinander verknüpften. Den Thorner Kaufmannssohn, den Neffen eines Bischofs, und den Sproß eines angesehenen Danziger Patriziergeschlechts. Domherr war auch Tiedemann Giese gewesen, in den ersten Zeiten ihrer Bekanntschaft, die mählich zu einem so innigen Freundschaftsbund führen sollte. Ein Domherr, in dem sich Würde und Ansehen eines hohen Geistlichen mit der Weltkundigkeit, mit der Gewandtheit und Erfahrenheit eines Weltmannes verbanden, mit jener Aufgeschlossenheit und inneren Bereitschaft, die vielleicht Erbschaft des Blutes waren, für die schon in einer sorgsam gehegten und planmäßig geleiteten Jugend der Grund gelegt worden war. Er war reich und nicht auf die Einkünfte aus seiner Pfründe angewiesen, dieser Domherr und jetzige Bischof von Kulm. Und: »Niemals«, so dachte Kopernikus oft, »niemals habe ich einen gütigeren Menschen kennen gelernt. Nie einen, in dem alles sich zu vollkommener Harmonie derart zusammenfand.« Güte, Harmonie, ungewöhnlich umfassende und tiefe Bildung auf vielen Gebieten, das waren die charakteristischsten Eigenschaften des Kulmer Bischofs. »Er versteht mich«, sagte Kopernikus sich immer wieder, »er versteht mich oft beinahe besser, als ich mich selbst verstehe.« Es gab so vieles, was sie miteinander verband. Nicht nur die humanistische Grundeinstellung, nicht nur die Gemeinsamkeit ihres geistlichen Berufs, nein, sogar die gleiche politische Anschauung, die sie bei der wachsenden inneren Spaltung innerhalb der Geistlichkeit Preußens noch enger zusammengeführt hätte, wenn etwas Derartiges möglich gewesen wäre. Sie waren sich einig in der gemeinsamen Abwehrfront, in der sie standen, sie waren sich einig in dem Geist der Versöhnung, den alles atmete, was sie dachten und was sie taten. Es war gut, es war trostreich, einen solchen Freund zu haben. Denn die Jahre gingen dahin, das Werk, das große Lebenswerk, früh skizziert, stand doch immer noch erst in seinen Fundamenten. Allzu viel war den Schultern von Kopernikus aufgebürdet worden an Lasten und Aufgaben, hinter seinem wachsenden praktischen Pflichtenkreis hatte seine wissenschaftliche Arbeit oft Jahre hindurch erheblich gelitten, hatte zuweilen für geraume Zeit völlig zurücktreten müssen. Aber Tiedemann Giese, der Bischof, der Freund – immer wieder hatte er mit behutsamer Hand ihn, Kopernikus, zu seiner eigentlichen Aufgabe zurückgeleitet. Und hätte doch selbst eines Helfers oft genug bedurft.
Ein Danziger wie Giese, das war freilich auch Johannes Dantiscus, der dem Oheim des Kopernikus auf dem Bischofsstuhl von Ermland gefolgt war. Einmal hatte er auf den echt deutschen Namen Flachsbinder gehört. Aber seit er sich mit dem gelehrten Namen Dantiscus, »der Danziger«, bezeichnete, war sein Deutschtum leider mählich immer mehr verblaßt. Mit ihm hatte Kopernikus fast die meisten von allen Briefen, die er je geschrieben, gewechselt. Er hatte sich früher stark angezogen gefühlt durch diesen ungewöhnlich gebildeten Geist, durch diesen Humanisten von Rang und dichterisch begabten Gelehrten, dessen Elegien wirklich einen weit über den Durchschnitt gehenden Grad erreichten. Aber Freundschaft – nun, wirkliche Freundschaft hatte er für Dantiscus nie empfunden. Der war immer ein zwar sinnenfreudiger Lebemann großen Stils gewesen, aber doch auch glattzüngig und allzu gewandt, ein wirklich aalglatter Diplomat, allen inneren Bindungen an Familie und Sippe entwachsen. Einstmals Sekretär des polnischen Königs, Botschafter an vielen europäischen Höfen, dann Oberhaupt der ermländischen Kirche, hatte Dantiscus immer einen gewissen Abstand zu seinem Domherrn gewahrt. Und Kopernikus hatte dies nicht nur gefühlt, sondern die Zurückhaltung des andern erwidert, hatte in all seinen Briefen, die zu schreiben sich ja nicht vermeiden ließ, bei aller betonten Höflichkeit nicht die heimliche Abneigung gegen den Bischof völlig verhehlen können. Nein, ein Freund war ihm Dantiscus nie gewesen – daß er ihm aber noch anderes, Schlimmeres werden sollte als nur ein gleichgültiger oder gar zuweilen etwas unangenehmer »Vorgesetzter«, das sollte sich erst mählich herausbilden.
Ja, das entwickelte sich eigentlich erst von dem Augenblick an, als Dantiscus nicht nur eine politische Kehrtwendung innerhalb des Bistums zugunsten Polens vornahm, sondern als sich gleichzeitig die Gegenreformation vorzubereiten begann, zu deren eifrigstem Vorkämpfer sich der Bischof Dantiscus machte.
Da kamen nun allmählich, oder eigentlich sehr schnell, jener Muff und jene Dumpfheit des Denkens, jene innere Unfreiheit, jene fanatische Verranntheit und Einengung alles frischen, frohen, gesunden Lebensgefühls zum Durchbruch, die für diese ganze Epoche kennzeichnend werden sollten. Das war freilich nur eine natürliche Folge des großen Sturmes, den die Reformation erregt und weiterhin gespeist hatte. Nun galt es, gegen die drohende Erschütterung des überlieferten, gegen die vielen äußerst bedenklich erscheinende Auflösung, die sich da und dort bemerkbar machte, hastig schirmende Dämme zu errichten. Auch der Bischof Johannes Dantiscus stellte sich mit seiner ganzen Kraft und mit dem vollen Gewicht seines hoben Amtes, seiner hohen geistlichen Würde in den Dienst der Gegenreformation. Aus dem Saulus war so beinahe über Nacht ein Paulus geworden. Kopernikus persönlich wurde, obwohl ihn so mancher als einen »Freigeist« verlästerte und verleumdete, durch den scharfen Wind, der nun innerhalb der von Dantiscus betriebenen Kirchenpolitik wehte, zunächst nicht betroffen. Anders und schlimmer erging es seinem Freund Andreas Sculteti. Kopernikus war mit ihm seit langem nicht nur durch Bande des Herzens, sondern auch durch gemeinsam betriebene geographische Studien und durch gemeinsame politische Arbeit verknüpft gewesen. Aus dieser Übereinstimmung ihrer Interessengebiete und ihrer politischen Ansichten hatte sich mit der Zeit eine aufrichtige, herzliche, tiefe Freundschaft entwickelt. Sie kam auch zum Ausdruck in dem Streit um die Koadjuterie für den Bischof von Ermland, in dem sie Seite an Seite für Tiedemann Giese und gegen Dantiscus Stellung bezogen hatten.
Es mag sein, daß gerade dieser Umstand in dem Herzen des nachtragenden Bischofs weiter gefressen hatte. Lange wartete er, ehe er zu einem Gegenschlag ausholte. Endlich schien die Gelegenheit gekommen. Sculteti hatte sich, nach dem Beispiel, das Luther gegeben hatte, ein Weib genommen und lebte mit ihm und seinen Kindern in Danzig. Da erhob der Bischof, derselbe Dantiscus, der einst, in jungen, blühenden Jahren in Brüssel, in Spanien, in Innsbruck die Freuden der Liebe in Fülle genossen und sich noch lange danach seiner Abenteuer und Erfolge gerühmt hatte, gegen Sculteti die Anklage der Häresie. Derselbe Bischof, der früher einmal gedichtet hatte: »Wo Venus und Bachus ihr köstliches Fest bereiteten, ließ ich mich gern nieder«, hatte die Stürme und die Träume und die Abenteuer seiner Jugend längst vergessen, er war ja seit langem nun schon ein harter, kirchlicher Eiferer geworden. Und sein Hieb saß. Sculteti, dieser kluge, wissende Mann, dieser Gelehrte, der sich nicht nur durch seine geographischen Studien, sondern auch durch seine geschichtlichen Arbeiten einen weithin geachteten Namen gemacht hatte, wurde das Opfer seiner Überzeugung. Der gegen ihn erhobenen Anklage folgte die Beschlagnahme seiner Einkünfte fast auf dem Fuß. Dann erwirkte der ehemalige Geheimsekretär des Königs, Stanislaus Hosius, dem es gelungen war, unter Umgehung der preußischen Privilegien in das Kapitel zu kommen, die Verhängung der Reichsacht gegen Sculteti. Das wiederum hatte zur Folge, daß Kopernikus jeglicher Umgang mit dem Geächteten verboten wurde.
Es spricht für den Menschen Kopernikus und für die innere Größe, mit der er über die Freundschaft und die Verpflichtungen, die eine solche Freundschaft uns auferlegt, dachte, daß er das strikte Verbog jeden weiteren Umgang mit Sculteti aufzugeben, nicht beachtete. Im Gegenteil: er setzte seinen vertrauten Verkehr mit Sculteti weiterhin fort. Das konnte natürlich, bei aller etwa geübten Vorsicht, auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Jedenfalls gibt es einen Brief des Dantiscus an den Domherrn und späteren Bischof Tiedemann Giese, in dem Dantiscus den Astronomen dieser Mißachtung seines Verbotes bezichtigte und das Verhalten von Kopernikus als besonders anstößig geißelte.
Zweimal hatte das Schicksal warnend, drohend die Hand erhoben. Als es das dritte Mal zuschlug, da traf es nicht mehr einen seiner Freunde, sondern Kopernikus selbst.
Die Tragik im privaten Leben des großen Astronomen, jene Tragik, die im Letzten keinem Menschen im Verlauf seines Lebens erspart bleibt, wird für immer mit dem Namen Anna Schillings verbunden sein.
Was wissen wir von ihr? Wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen, eigentlich nicht viel mehr, als daß sie ungewöhnlich schön gewesen sein muß und daß sie um vieles, um mehrere Jahrzehnte jünger war als Kopernikus.
Aber die Welt liebt die romantische Verklärung der Großen im Geiste. Und so hat die Dichtung aus jener Anna Schillings eine alte Jugendliebe von Kopernikus gemacht, eine ewig unerfüllte Liebe, die den Astronomen jahrzehntelang begleitete.
Für eine solche Vermutung gibt es jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte, und wenn sie wirklich die Tochter des Thorner Münzmeisters Schillings gewesen ist, so kann man daraus noch nicht ohne weiteres entnehmen, daß Kopernikus sie von Jugend an gekannt oder gar heimlich geliebt hat. Dagegen spricht allein schon der große Altersunterschied. Als Kopernikus ein halbwüchsiger Knabe war, war Anna Schillings noch nicht geboren; später, während seines zehnjährigen Aufenthaltes in Italien, hat er gewiß von dem heranwachsenden Kind noch nichts gewußt, und daß er mit ihr etwa schon nach seiner Rückkehr nach Preußen, vielleicht von Heilsberg oder Allenstein aus, eine Verbindung aufgenommen hat, dafür gibt es keinerlei Beweise irgendwelcher Art.
Die Wahrheit wird also gewiß anders liegen. Die Wahrheit wird sein, daß der Alternde, immer mehr Vereinsamende, den zudem die Last der großen Idee, der er sich verschrieben hatte, bedrückte, einen Menschen brauchte, der in die Kühle und Einsamkeit seines Alters Wärme, Jugend, Vertrauen und menschliche Nähe hineintrug.
Anna Schillings war zudem mit ihm verwandt, wenn auch sehr weitläufig. Was lag also näher, als daß der Domherr die jugendliche Verwandte zu sich heranzog, daß er sie bat, seinen Haushalt zu betreuen, ihm die Last der Alltagssorgen und -aufgaben von der Schulter zu nehmen. Das war keineswegs etwas Ungewöhnliches, das war im Gegenteil beinahe das übliche und also die Regel, und der Begriff der »Pfarramtsköchin« ist nicht erst in der Neuzeit entstanden. Und selbst wo aus solchen zunächst überwiegend wirtschaftlichen Beziehungen im Laufe der Zeit innigere, gefühlsmäßige Bindungen erwuchsen, hatte man das als etwas beinahe Selbstverständliches hingenommen, als einen natürlichen Ausweg gegenüber dem unnatürlichen Zölibat. Gegenüber einer kirchlichen Vorschrift, die ja, genau genommen, auch gar nicht die Frauenlosigkeit, sondern nur die Ehelosigkeit den Priestern der katholischen Kirche vorschrieb. Hatte doch sogar des Kopernikus eigener Onkel, der Bischof Lukas Watzelrode, von einer »ehrlichen« Jungfrau einen Sohn gehabt, den er zeitlebens niemals verleugnete, ja dem er mit der Macht seines Namens und dem Gewicht seines hohen Kirchenamtes, als einer der angesehensten geistlichen Würdenträger im Osten, sogar einen ansehnlichen Posten verschafft hatte.
Aber seit der Reformation und seitdem Luther eine »entlaufene Nonne« geehelicht hatte, war das alles anders geworden. Seitdem machte sich in den Kreisen der katholischen Kirche – vor allem mit Einsetzen der Gegenreformation – die Ansicht geltend, daß derartige Beziehungen den strikten Vorschriften der Kirche widersprächen und daß sie als Häresie, als Ketzerei anzusehen wären.
Auch des Domherrn Bischof, Johannes Dantiscus, hatte sich seit langem schon, unter Verleugnung seiner eigenen, durchaus weltlich betonten und beschwingten Jugend, eine derartige Überzeugung zu eigen gemacht.
Motive anderer Art mochten hinzukommen, um die Handlungsweise des Bischofs Kopernikus gegenüber auszulösen und für die Folgezeit zu bestimmen. Vor allem wohl auch das Bewußtsein der inneren Ablehnung, mit der der Domherr seinem Bischof gegenüberstand und die sich unter betonter Höflichkeit in ihrem persönlichen und schriftlichen Verkehr nur mühsam verbarg.
Nachdem Dantiscus bereits, um seine weiteren Schritte vorzubereiten, eine allgemeine Mahnung hatte ergehen lassen, forderte er gegen Ende des Jahres 1538 Kopernikus durch ein direktes Handschreiben auf, einem Zustand ein Ende zu machen, den er als ärgerlich und als unvereinbar mit dem Kirchenamt, das der Astronom bekleidete, bezeichnete.
Noch zögerte Kopernikus. Er schrieb zwar, er habe diese väterliche und mehr als väterliche Ermahnung sich tief zu Herzen genommen – ach, was hätte auch wohl ein Domherr anders schreiben können, wenn sein eigener Bischof ihn auf diese Art anfaßte? – aber ob er auch bereit sei, ihr Folge zu leisten, so sei das doch keineswegs leicht. Denn es gelte ja, für jene Anna Schillings einen Ersatz zu finden, der sich so schnell wie gefordert nicht heranschaffen lasse. Er bitte, des Bischofs Ehrwürdigkeit möge nicht etwa unterstellen, daß er, Kopernikus, Vorwände zur Verzögerung suche. Aber es ließe sich kaum schneller machen als bis zum Weihnachtsfest, um eine solche Frist müsse er also bitten.
Damals war Kopernikus bereits fünfundsechzig Jahre alt!
Nein, er wollte, wie er an den Bischof schrieb, nach Möglichkeit nicht den guten Sitten zum Anstoß gereichen. Aber ganz gewiß war es nicht so sehr die Rücksicht auf seine eigene Stellung, die ihn dazu veranlaßte, in solchem Tone Dantiscus gegenüber seine Bereitwilligkeit zum Gehorsam zum Ausdruck zu bringen. Viel mehr bewegte ihn die Verpflichtung jenem Mädchen gegenüber, das ihn nicht nur umsorgte, sondern an das er gewiß auch sein Herz gehängt hatte. Sie sollte nicht ins Gerede kommen – was aber leider nun schon, in gewissem Umfange jedenfalls, geschehen war –, und lieber unterwarf er sich dem strengen und unmißverständlichen Gebot seines Bischofs, als daß er Anna Schillings den Anfeindungen der Kirche ausgesetzt hätte.
Es mag für beide Teile ein Opfer gewesen sein, das sie zugunsten des anderen auf sich nahmen. Das Mädchen hätte sich wohl gesträubt, hätte sich nicht so leicht gefügt, hätte um das, was sie als ihre Aufgabe erkannte, gekämpft. Aber zweifellos war sie viel zu klug – ein töricht-geschwätziges und oberflächliches Wesen hätte ein Kopernikus auf die Dauer kaum um sich geduldet –, als daß sie nicht einsah, daß mit jedem Widerspruch, jedem Sperren dem Mann, den sie verehrte, den sie liebte, zu dem sie aufsah wie zu einem Gott, am schlechtesten gedient war.
Hatte er nicht ein Buch geschrieben – ach, noch immer lag es, vielfach umgearbeitet, überarbeitet, nur wenigen als Handschrift und auch so nur auszugsweise bekannt, – in der Tischlade! – ein Buch, das vielleicht einmal die ganze bestehende Weltordnung umstürzen, ganz neue Gedanken und Vorstellungen in die Menschheit werfen würde? Diente nicht jede nächtliche Stunde, die der Alternde dem Schlaf – ach, wie nötig hätte er den Schlaf gehabt! – abrang, der Vervollkommnung, der immer tieferen Durchdringung dieses ungeheuren Gedankengebäudes, das Anna Schillings in seiner ganzen Bedeutung, in seinem vollen Gewicht natürlich nur ahnend erfassen konnte? Und konnte man wissen, wie die Kirche auf diesen Vorstoß ihres Domherrn in die Bezirke des Unbegrenzten antworten würde?
Freilich, das konnte niemand wissen. Und manchmal schon hatte das junge Wesen es mit der Angst zu tun bekommen. Vielleicht hatten ähnliche Gefühle, ähnliche Besorgnisse sich zuweilen auch im Herzen des Astronomen selbst gemeldet. Nun, wie dem auch immer sein mochte, es war wohl das Richtigste, dem Bischof zu gehorchen. Gerade wenn sie Kopernikus liebte, – und sie liebte ihn doch! – war es so am richtigsten. Kopernikus stand sich nicht gut mit Johannes Dantiscus, alles, was dagegen sprach, war letzten Endes nur beflissene, weltmännische Höflichkeit. Nichts Herzliches verband die beiden, keine wirkliche Wärme kam je zwischen ihnen auf. Das hatte schon zu manchen gelegentlichen Unerquicklichkeiten geführt. Aber Dantiscus, den Bischof, zum Feinde zu haben, das war ausgesprochen gefährlich.
Die Trennung, unvermeidbar geworden und in den beiden Wochen nach Weihnachten 1538 vollzogen, hinterließ blutende Wunden in den Herzen beider Menschen. Man darf da nicht etwa seinen Schluß aus dem Brief des Kopernikus vom 11. Januar 1539 an seinen Bischof ziehen, in dem nur trocken und sachlich gemeldet wurde: »Ehrwürdigster Vater in Christo und Herr! Aller gnädigster Herr! Ich habe bereits erledigt, was ich hätte keineswegs unterlassen dürfen oder können, und hoffe, daß ich den Mahnungen Euer Ehrwürdigkeit nunmehr Genüge geleistet habe …« Das war eine sachliche, eine dienstliche Meldung. Und Dantiscus, gerade Dantiscus, war nicht der Mensch, dem ein Kopernikus sein Herz und die tiefsten Empfindungen und Erschütterungen seines Herzens offenbart hätte.
Eher kann man darüber etwas aus einem Brief Tiedemann Gieses an Dantiscus aus dem Herbst des gleichen Jahres entnehmen. Giese war vom Bischof beauftragt worden, den Domherrn ernsthaft ins Gebet zu nehmen und zu vermahnen, weil Dantiscus zu Ohren gekommen war, Kopernikus habe weitere Zusammenkünfte mit Anna Schillings trotz ihrer äußerlich vollzogenen EntIassung gehabt. »Er war offensichtlich nicht wenig bestürzt«, schrieb Tiedemann Giese. »Er bestreitet nämlich, daß er jene, nachdem er sie entlassen hatte, bei sich gesehen habe, außer einmal, als sie auf der Reise zum Markt nach Königsberg flüchtig bei ihm vorgesprochen habe. Ich bin völlig davon überzeugt, daß er nicht so von der Leidenschaft ergriffen ist, wie die meisten meinen. Dahin überzeugt mich auch leicht sein hohes Alter, seine ununterbrochenen Forschungen und vor allem seine Tugend und Ehrbarkeit vor den Menschen. Dennoch habe ich ihn ermahnt, selbst den bloßen Schein einer Verfehlung zu vermeiden, und ich schätze, er wird es tun. Wiederum halte ich es auch selbst für billig, daß E. E. H. dem Zwischenträger nicht viel Glauben schenken, in der Erwägung, daß auf die Tüchtigen immer der Neid lauert, der selbst E. E. H. zu verwirren sich nicht scheute.«
Das war ein klug abwägendes, warmherziges, menschliches Urteil, das Urteil eines Freundes über ein Vorkommnis, dem aus persönlichen und auch aus kirchenpolitischen Gründen viel mehr Gewicht beigelegt wurde, als ihm von rechtswegen zufiel. Und man hätte annehmen können, daß damit das letzte Wort in dieser Angelegenheit gefallen war.
Aber seit eh und je war die Kirche grausam und zäh in der Verfolgung jener, die sie aus dem einen oder, dem anderen Grunde verwarf oder gar glaubte, als ihre Feinde ansehen zu müssen. Und selbst das Eingreifen des Todes konnte sie da nicht milder, nachsichtiger, menschlicher stimmen. Die private Tragödie des großen Astronomen mochte mit jenem Bericht des Tiedemann Giese ihren endgültigen Abschluß gefunden haben – jene von Anna Schillings erstreckte sich über einen viel längeren Zeitraum. Noch drei Monate nach dem Tode von Kopernikus fühlte sich das Domkapitel von Unserer lieben Frauen Burg, von Frauenburg, verpflichtet – vielleicht eingeschüchtert durch das strenge, harte Eingreifen des Bischofs – an Dantiscus zu berichten, daß die »ehemalige Haushälterin« des ehrwürdigen Doktors Nikolaus, Anna Schillings, die zu dessen Lebzeiten aus Frauenburg – erst jetzt erfuhr man das – förmlich ausgewiesen worden war, wieder dorthin gekommen sei, für einige Tage. Sie habe, so schrieb das Domkapitel, die Absicht, hier ihre Angelegenheiten zu regeln, und das Haus verkauft, das sie in Frauenburg besaß. Das Kapitel hegte begründete Zweifel, ob man wohl einen solchen Vorgang durch gesetzmäßigen Einspruch verhindern könne, zumal ein rechtlicher Hinderungsgrund nicht vorliege, denn »wenn eine Ursache beseitigt ist, so fällt auch ihre Wirkung fort«. Aber trotzdem bat das Kapitel um die Entscheidung des Bischofs, den zu befragen man sich für verpflichtet fühlte.
Und wirklich: Dantiscus, der Bischof von Ermland, von dem man annehmen mußte, daß ganz andere und schwerer wiegende Geschehnisse alle seine Kraft in Anspruch nehmen würden, in dieser politisch so äußerst bewegten und gefährlichen Zeit, hielt die Angelegenheit für wichtig genug, sozusagen postwendend zu antworten. Schon drei Tage später ging ein kurzer, scharf gehaltener Brief an das Domkapitel, in dem Dantiscus erklärte, er könne den Aufenthalt »jener Person« in Frauenburg, aus welchen Gründen auch immer er erfolgt sei, keineswegs billigen. Und weshalb? Auch dafür gibt der Bischof eine Erklärung, und eine sehr derbe und boshafte. »Es steht nämlich zu befürchten« schrieb er, »daß sie, wie sie den jüngst Verstorbenen umstrickt hat, vielleicht auch einen anderen von Euch Brüdern gewinnen könnte.« Und dann, abschließend: »Aber es steht bei Euch, zu entscheiden, ob Ihr jener den Aufenthalt in Eurem Gebiet gestatten wollt. Wir sind jedoch der Meinung, daß es besser wäre, die Berührung mit einer solchen Pest weiter zu entfernen als zuzulassen. Wie sehr dies unserer Kirche Abbruch getan hat, ist Euch Brüdern nicht unbekannt.«
»Eine solche Pest.« – Das also war das »schmückende« Beiwort, mit dem die Kirche die Gefährtin, die Kameradin, die verständnisvolle Helferin und Pflegerin eines ihrer größten Söhne belegte. Das war das Zeugnis, mit dem ein Bischof dieses warmherzige, harmlose, gütige Wesen verstieß, ins Dunkel des Unbekannten hinein. Die Spur ihres weiteren Lebens ist nicht mehr auffindbar, sie verlor sich irgendwo im Dunkel. Aber die Nachwelt hat an Anna Schillings, die zweifellos alles andere war als eine verworfene, sittenlose Person, wie Dantiscus sie gern hinstellte, gut zu machen versucht, was ihr die Mitwelt versagte. Auf den Adlerfittichen eines Genies schwebte ihr Name aus der Zeitgebundenheit ins Ewige und Unverlierbare. Und niemand, der die Umrisse der Persönlichkeit von Kopernikus in ihrer Vielgestalt, in ihrer Mannigfaltigkeit abzuschreiten bemüht ist, der auch die menschlichen Seiten dieses bedeutenden Denkers abtasten und darstellen will, kann an jener Anna Schillings vorübergehen. Bringt doch gerade diese Herzensbindung uns Kopernikus auch menschlich näher. Läßt sie uns doch erkennen, daß selbst ein Mann, der in der Eiseskälte des Weltenraums zu Hause ist, der gefühlsmäßigen Bindungen, der aus dem Herzen geborenen Regungen nicht völlig zu entraten vermag.
Und so teilt, in gewissem, abgewandelten Sinne, die späte Liebe eines Kopernikus das gleiche Schicksal wie, zwei Jahrhunderte und mehr danach, die frühe Liebe eines Goethe. Was für das zärtlich-zierliche Pfarrerstöchterchen aus Sesenheim galt, für Friederike Brion: »Ein Strahl der Dichtersonne fiel auf sie, so reich, daß er Unsterblichkeit ihr lieh«, das galt und gilt auch in entsprechender Abwandlung für jene Anna Schillings, von der, was ihr Äußeres anbelangt, wir nur wissen, daß sie »sehr schön« war. Und so lange wir um Kopernikus wissen, so lange wird nun auch der Name Anna Schillings unvergessen sein.