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Sybille stellt einen Räuber

Sybille kam von ihrem Heimabend.

Es war diesmal wieder wundervoll gewesen, und sie würde den Abend lange nicht vergessen. Er hatte eine Überraschung gebracht, einmal ganz etwas anderes. Es hatte schon vorher ein Geraune gegeben, irgendwie war es durchgesickert, es würde eine Dichterlesung geben, jemand würde aus seinen eigenen Werken vortragen. Und es gab eine ganze Menge unter den Mädels, die hatten ein etwas langes Gesicht gemacht oder auch sogar ein wenig gegrinst. Sie hatten sich nicht viel davon versprochen. »Pöh ... Dichterabend«, hatte die lange, dünne Dowideit, die mit den vielen Sommersprossen, gespottet. »Was ich mir schon dafür kaufe! Wenn da irgend so ein Jüngling, vielleicht gar noch mit Locken oder einer langen Haarmähne ...« Und sie hatte sehr lebendig ausgemalt, wie sie sich den Mann vorstellte, den man sich für diese große, gemeinsame Veranstaltung, an der mehr als hundert Mädels teilnahmen, verschrieben hatte. Und die andern hatten lachen müssen. Sie auch. Ja, sie, Sybille, auch.

Aber dann war alles ganz anders gekommen. Es stand mit einem Male einer unter ihnen – Luserke hieß er, Martin Luserke, Sybille hatte den Namen noch nie gehört, aber sie hatte ihn gut verstanden, und sie würde ihn nun nie mehr vergessen ja, der stand also vor ihnen, nein, mitten zwischen ihnen, und man brauchte ihn nur anzuschauen, um ihn sogleich furchtbar gern zu haben. Er trug keine Lockenmähne, und er sah eigentlich überhaupt gar nicht so aus, als ob er viel hinter dem Schreibtisch sitze. Er sah aus, wie ein richtiger Mann aussehen mußte, und er hatte ein gebräuntes, starkes und doch gutes Gesicht, alles andere als stubenblaß und so.

Er sprach ein paar Worte zur Einleitung, ganz einfache Worte, aber sie genügten, um sofort eine große, fast andächtige Stille eintreten zu lassen. Alle hingen an seinen Lippen wie gebannt, sogar die Dowideit. Und er las auch gar nicht vor, er erzählte, er erzählte so, wie man vielleicht immer Geschichten vortragen muß. Man mußte denken, daß alles, etwa die Geschichte von dem Riesen Bran, der durchs Meer watet, oder die andere von dem Hexenmeister, nie vorher ausgeschrieben worden waren. Daß sie dem Mann in dem Augenblick einfielen, als er vor den Mädchen stand.

»Am schönsten war aber doch all das, was er von seinen eigenen Erlebnissen bei den Fahrten auf seiner ›Krake‹ erzählte«, mußte Sybille denken. »Schade, daß Peter nicht dabei sein konnte – der wäre begeistert gewesen. Aber vielleicht geht dieser Luserke ... ja, vielleicht geht er auch noch zu den Jungs.« Und sie tröstete sich: »Sicher wird er es tun.«

Die Abenteuer mit der »Krake« ließen Sybille an die See denken. Und gleich stellte sich so ein merkwürdiges traurig-süßes Ziehen ein, es saß nicht im Körper, es saß in der Seele. Sybille hatte Sehnsucht nach dem Meer. Sonst waren sie fast jeden Sommer für ein paar Wochen an die See gefahren. Auf irgendeine wunderbare Art hatte Sybilles Mutter das möglich gemacht, immer wieder, obwohl sie doch nur eine bescheidene Rente bekam aus dem Geschäft des verstorbenen Vaters, das nun längst in andere Hände übergegangen war. In vielem anderen hatte man sehr sparen und manchmal sogar ein bißchen knausern müssen, aber an der Ferienreise, an der hatte Frau Beise festgehalten. Ihre Kinder, die sollten nicht nur in den Straßen der Großstadt aufwachsen, sie sollten die Verbindung mit der Erde, mit der freien, ungebundenen Natur, nicht ganz verlieren. Diesmal hatte man sich das verkneifen müssen, Sybille sah das ja auch ein, so dumm und so verständnislos für die Notwendigkeiten der Zeit war sie ja nicht mehr. Und es hatte ja auch immer wieder in den Zeitungen gestanden, man solle nur die unbedingt notwendigen Reisen unternehmen, damit die Eisenbahn frei bleibe für die Aufgaben, die der Krieg ihr stelle.

Trotzdem war Sybille mit einem Male schlechter Stimmung. Sie haderte mit dem Wettergott, sie war richtig böse mit diesem Sommer, der nicht die Spur von dem gehalten hatte, was man von ihm doch erwarten durfte.

»Ein Sommer des Mißvergnügens«, flüsterte Sybille vor sich hin. Sie hatte diesen Ausdruck einmal aufgeschnappt in einem Gespräch der Erwachsenen oder in einem Buch, genau wußte sie das nun nicht mehr. Aber er hatte ihr sehr gut gefallen, und er war nun in ihrem Gedächtnis haften geblieben.

»So ein scheußlicher Sommer«, schimpfte Sybille in Gedanken. »Das ist doch sonst die schönste Zeit. Aber jetzt ... richtig schubbrig, kalt beinahe, und so früh dunkel. Zehn Uhr erst und schon fast Nacht, rabenschwarze Nacht, obwohl wir doch Sommerzeit haben, und es also eigentlich erst neun Uhr ist ...«

Sie brummelte vor sich hin, obwohl gerade sie natürlich unter der Dunkelheit gar nicht sehr litt. »Du hast Katzenaugen«, hatte ihre Mutter oft genug bewundernd gesagt, und das stimmte wohl auch, besonders wenn man dabei an Mutti dachte, die hilflos wie eine Blinde durch die verdunkelten Straßen ging und Sybilles Arm immer ängstlich festhielt.

Nein, Sybille machte diese Dunkelheit nichts aus. Und hier, in ihrem Viertel, schon gar nicht. Wo sie doch jedes Haus kannte, jeden Straßenzug, jeden Stein beinahe.

Da, plötzlich, nahe der Ecke Gartenstraße, traf irgendein Geräusch Sybilles Ohr. Ein Laut erst, hart, knurrend, bösartig, gleich darauf ein hilfloses Wimmern, erbärmlich anzuhören und ins Herz schneidend.

»Was ist denn ...?« überfiel es Sybille. Ihre Augen, ihre Pupillen weiteten sich. In dem tristen, schmierigen Dunkel der nebelfeuchten Luft, in diesem Dunkel, das durch eine dicke Wolkendecke, die den Himmel überzog, noch schlimmer wurde, sah sie, gar nicht weit von sich, zwei schattenhafte Gestalten. Groß, breit, massig die eine, schmal, winzig fast die andere. Die große löste sich, entfernte sich. Die andere blieb stehen, schien noch dünner, noch erbarmungswürdiger zu werden.

Eine Frau – ein ältliches Frauchen. Sybille stand schon neben ihr, sie witterte, sie ahnte dumpf die Zusammenhänge, noch ehe die andere gesprochen hatte. Ein verhutzeltes, ein verwittertes Altweibergesicht schwamm in der milchigen Dunkelheit, sicher war es von Tränen überschwemmt. Aber das konnte Sybille natürlich nicht sehen.

»Die Handtasche ...«, stammelte die Frau. »Mein ganzes Geld ... und auch all die Karten ...«

Sybille begriff sofort. Sie besann sich keinen Augenblick, sie überlegte auch gar nicht, was sie tun könnte und was sie nicht tun könnte. Sicher war nur das eine, daß sie versuchen mußte zu helfen. Daß sie dem Räuber die Tasche wieder abjagen mußte.

Ihre schmale Gestalt straffte sich. Sie hatte nicht nur die Augen einer Katze, sie hatte auch die Zähigkeit, die Gewandtheit, die Ausdauer einer Katze. Sie war immer eine der besten Läuferinnen in ihrer Klasse gewesen, das hatte sie oft genug unter Beweis stellen können. Plötzlich fiel es ihr ein, und es machte sie stolz.

Mit einem jähen Sprung begann Sybille ihre Verfolgung. Sie war jung, sie war leicht und behende. Und sie kannte diese Gegend genau, sie war sehr ortskundig. Das sicherte ihr manchen Vorteil. Der Schatten vor ihr lief zwar auch, aber sie spürte mehr, als daß sie es richtig beobachten konnte, daß sich der Abstand zwischen ihnen beiden von Augenblick zu Augenblick verminderte.

Ein paarmal, mit keuchenden Lungen, schrie sie laut, gellend: »Hilfe! ... Hilfe! ...« Sie schämte sich nicht zu schreien. Da war ein starker, kräftiger und gewalttätiger Mann, einer, der eben ein Verbrechen begangen hatte. Wie sollte sie wohl, ein vierzehnjähriges Mädel, mit ihm fertig werden? Nein, es war keine Schande, um Hilfe zu schreien. Hier galt es ja etwas anderes als die Spiele zu Hause mit den andern Jungens und Mädchen, wo es zwar oft genug heiß herging, aber es doch immer ein Spiel blieb.

Die ganze Zeit, während Sybille so dahinlief, nicht so schnell wie bei Tage, aber immerhin schnell genug – diese ganze Zeit über hatte Sybille mächtige Angst. Ja, sie fürchtete sich sehr. »Wenn ich ihn erreiche, dann schlägt er mich tot!« dachte sie. »Und wenn ich nach ihm greife, dann zieht er ein Messer und sticht mich nieder!« Das schien Sybille ganz sicher zu sein. Aber diese Furcht, die tief in ihrem Herzen zusammengeduckt kauerte, sie ließ sie nicht einmal zögern in ihrem Lauf.

Einmal dachte sie an ihre Mutter, einmal an Ludwig Zelter, »ihren« Soldaten. Angst? Nieder mit ihr! Furcht? Hinweg mit ihr! Was sollte der Soldat von ihr denken, wenn sie vor Angst schlapp machte?

Der Mann vor ihr, dieser graue Schatten in der grauen Dunkelheit, wollte in die nächste Querstraße links hineinschießen. Aber da ertönte plötzlich, grell, durchdringend, eine Signalpfeife. Der Mann stutzte, lief weiter geradeaus. Und nie war ein Laut Sybille so herrlich, so beglückend vorgekommen wie dieses schrille Signal aus der Dunkelheit.

Ein anderes Signal, von der rechten Seite her, antwortete. Es wurde mit einem Male, ohne daß man richtig etwas wahrnehmen konnte, lebendig in der Straße.

Sybille war dem Flüchtenden nun schon ganz nahe. Irgend etwas fiel ihr vor die Füße. »Die Handtasche«, dachte sie. Aber sie bückte sich nicht. Die würde man schon später finden. Sie mußte jetzt weiter, weiter.

Der Räuber sah nun wohl das Aussichtslose seiner Flucht ein. Plötzlich blieb er stehen. Er duckte sich, er zog den Kopf ein – Sybille glaubte, seine Augen glühen zu sehen, böse, wölfisch.

Sie flog auf ihn zu wie ein Pfeil. Wenn sie dreist wollte, sie hätte jetzt nicht mehr anhalten können. Aber als sie nur noch drei oder gar bloß zwei Meter von ihm entfernt war, da schob sich etwas vor, schob sich zwischen sie und den Verfolgten. Ein Mensch und da, von rechts her, ein zweiter. Etwas fuhr von oben her durch die Luft, man sah es blitzen, kalt, metallisch, trotz der Dunkelheit. Es gab einen scheußlichen Laut, wie von brechenden Knochen, ein dumpfes Stöhnen ...

Sybille hatte oft gelesen, daß irgend jemand bei irgendeiner Gelegenheit in Ohnmacht fiel. Sie hatte sich nie denken können, wie das geschah. Jetzt plötzlich fühlte sie für eines Augenblicks Länge, wie ihr das Bewußtsein schwand, wie sich alles um sie herum drehte. Aber das dauerte nicht lange. Sehr schnell ging es vorüber.

»Den hätten wir«, hörte sie jemanden sagen. Und da war auch schon, wie aus dem Boden geschossen, ein Auto neben dem Bürgersteig, es war wohl der Überfallwagen der Polizei, Sybille hörte es an der Hupe. Der Mann lag noch am Boden, jetzt wurde er hochgerissen und in den Wagen getragen.

Einer, auch in Uniform, blieb bei Sybille zurück. »Na, kleines Fräulein«, brummte er mit gutmütiger Bärenstimme, »das hätte leicht schief gehen können.« Und dann, nach kurzer Pause, anerkennend: »Immerhin, alle Hochachtung! So, und jetzt werde ich Sie mal nach Hause bringen – Sie wohnen doch gewiß in dieser Dreh', was?«

»Ja«, nickte Sybille und nannte ihre Wohnung. »Aber wir müssen erst die Handtasche suchen.« Und sie erzählte, wie alles gekommen war.

Langsam gingen die beiden den Weg zurück, den sie eben erst gelaufen war. Der Polizeibeamte ließ seine Taschenlampe aufleuchten, es dauerte nicht lange, da fanden sie die Tasche – eine einfache, alte, abgeschabte Tasche.

Dann gingen sie das Frauchen suchen, der man sie geraubt hatte. Sybille wunderte sich, wie weit das war, wie lange sie also gelaufen war vorhin.

Die Frau saß an derselben Stelle, wo Sybille sie vorher getroffen hatte. Ganz allein saß sie auf der Bordsteinkante und weinte vor sich hin. Als sie sich jetzt wieder im Besitz ihrer Tasche sah, wußte sie sich vor Glück nicht zu fassen. Am liebsten hätte sie wohl Sybille geküßt. Aber die duldete das nicht, so streichelte die Frau nur immer wieder den Arm des Mädchens.

Der Uniformierte brachte Sybille bis ganz nach Hause, ja er ließ es sich nicht nehmen, der Mutter alles genau zu berichten. »Ein kleiner Held, Ihre Tochter«, sagte er. »Sie können stolz auf sie sein. Ich würde ihr heute etwas besonders Gutes geben zum Abendbrot, irgendeinen Leckerbissen.«

Es hätte dieser Anregung wirklich nicht bedurft. Frau Beise holte herbei, was der Speiseschrank an bescheidenen Schätzen barg. Und Peter sah ausnahmsweise einmal neidlos zu, wie es Sybille schmeckte.

Frau Beise saß blaß am Tisch – sie konnte nicht einen Brocken herunterbekommen. Nachher, beim Gutenachtsagen, schloß sie ihre Tochter ganz fest in die Arme.

Sybille spürte, wie die Mutter zitterte.

»War es nicht recht?« stammelte sie.

»Doch ... doch«, nickte die Mutter unter Tränen. »Nur ... wenn ich denke, was hätte geschehen können ... Aber man muß wohl dem Gesetz gehorchen, das man in seinem Herzen trägt. Du hättest ein Junge werden sollen, Sybille.«

Aber das wollte Sybille nicht wahr haben. Gerade in diesem Augenblick war sie ganz zufrieden damit, ein Mädchen zu sein.

»Ich habe jetzt wenigstens etwas, was ich meinem Soldaten schreiben kann«, dachte sie, schon im Bett liegend, vor dem Einschlafen. Aber gleich besann sie sich eines Besseren.

»Es würde so eingebildet klingen«, überlegte sie. »Und das will ich nicht. Ich werde so schreiben, als ob das alles Peter passiert wäre. Und Peter – ja, Peter, er würde sich ja genau so verhalten haben, trotzdem er noch viel kleiner ist.«

Und mit diesem Entschluß schlief sie ein.


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