Heinrich Federer
Sisto e Sesto
Heinrich Federer

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2. Kapitel

Der alte Pfarrer und Benefiziat da Dia kam am Samstag nachmittag von Surigno herauf. Zwei Frauen knieten im Kirchlein und wollten ihre Sünden bekennen. Hernach besuchte der Priester den Pietro Solio in der obersten Dorfhütte. Der Mann litt an Wassersucht und sah heute so erbärmlich aus und schnappte so knapp nach Luft, dass Donaldi da Dia beschloss, ihm morgen die heilige Wegzehrung zu reichen. Indessen nahm er ihm die Beichte ab, salbte ihn mit dem Krankenöl und sprach ihm einige tröstliche Gebete mit seiner tiefen, stillen Greisenstimme mehr aus dem Herzen als aus dem geöffneten lateinischen Büchlein vor.

Ernst und ein bisschen missmutig schritt er dann das einzige Lottergässchen Paritondos zurück zum verfallenen Pfrundhaus. Nur ein Raum zum Kochen und Schlafen und Predigtstudieren war da noch leidlich erhalten. Was brauchten auch die Paritonder ein Pfarrhaus wegen zwölf Gottesdiensten im Jahr? Nun, ja, darüber wollte sich da Dia nicht mehr ärgern. Aber von den Samstagskindern, die er nach dem Tridentinum hier jedesmal im Glauben unterweisen sollte, liess sich kein Bein sehen. Die Wildlinge trieben sich noch immer mit den Herden auf den obern Weiden von Pratalpe herum. Da war vor Mariä Himmelfahrt nichts zu machen. Verdrossen zog er sein Brevier hervor und betete, im struppigen Gärtchen auf und abschreitend, die Nokturnen, während ihm die Küstersfrau, Anizia Peretti, eine Minestra aus Kräutern, Erbsen und dünner Hühnerbrühe faustdick zusammenkochte.

Ihr Gatte begab sich inzwischen in die Sakristei und legte mit ungewöhnlichem Eifer die gottesdienstlichen Gewänder für die heutige Abendandacht und den morgigen Gottesdienst bereit. Besonders stattlich hing er die weiss–seidene Kasel über den Kniestuhl aus, die schönste von den drei vorrätigen, die einzige auch, die auf ordentlichem Stiftungsweg in den Kirchenschrank von Paritondo gelangt war. Auch den besonderen Kelch für hohe Feste nahm er aus dem Beschluss und setzte dicke, weisse Kerzen in die Altarstöcke. Dann breitete er einen Teppich aus echtem Persergewebe, weiss Gott woher gestohlen und wieso dahergekommen, über die krachenden Altarstufen und zog ein prachtvoll gehäkeltes Linnen über den morschen Messtisch, in dessen Zipfeln man ein englisches Baronatswappen sah. Das Kreuz in der Mitte des Altars war einem päpstlichen Legaten auf seinem Zug nach Spoleto abgenommen und das selige Madonnenbild auf dem Steinsockel aus einem reichen Gubbierkloster schon zur Zeit der Fehde zwischen Papst und deutschem Federigo geholt worden. Diesem Liebfrauenbild hing Sesto zwei schwere Ketten aus altem, dunklem Gold und Armbänder mit echten Rubinen um und setzte ihm ein Krönlein aus haardünnem Silberdraht mit eingeflochtenen Goldrosen aufs Haupt. All dieser Schmuck war gestohlen, aber die Paritonder protzten damit hochmütiger, als wenn sie den ganzen Zierat selber gewirkt oder doch gekauft hätten. Besonders auf das Krönlein hielten sie hohe Stücke. Denn beim damaligen Überfall zweier französischer Bischöfe mit reisigem Gefolge hatten sich die Franzmänner glorreich verteidigt und drei Paritonder, darunter Sestos Schwiegervater, mit kunstgerechten Fronthieben erschlagen. Vom Szepter Mariens rührte auch der lahme Arm des Giosue Cardini, vom Armband die stumpfgehauene, nur noch dreifingrige Hand des Pietro Gualfi. Sesto Peretti selbst verdankte die tiefe Narbe von der hohen Stirne mitten in die schöne Braue dem Altarkreuz aus handgetriebenem Eisen. So oft er den heilig Gekreuzigten daran erblickte, schlug er sich brummelnd auf die Brust: Miserere nobis! und lachte dann mit beiden kieselgrauen Augen vor anregender Erinnerung ans Abenteuer. Wahrhaft, sie hatten für ihre Schätze mehr als Goldbatzen, sie hatten ihre gesunden Glieder und ihr rauchendes schweres Abruzzenblut dafür bezahlt. Darum wachten sie eifersüchtig über dem lebensgefährlichen Reichtum und verriegelten gleich nach der Kirchenfeier die ganze heilige Herrlichkeit wieder schnell in der eisernen Truhe der Sakristei. Diese Räuber fürchteten auf der Welt nichts als Räuber.

Etwas fehlt. Jedes Weib in Paritondo hat einen Schleier, nur die Madonna nicht. Einst trug sie einen. Silberfädig war er, und man staunte, wie Lilienstengel und Lilienkelche da zu einem Nesseltuch verschlungen waren ohne jedes andere Zwischengewebe. Dieser Schleier blitzte wie der Weihnachtsschnee am Sasso Rompo zu Mittag. Seit er fehlte, ward es schattig ums Madonnenhaupt. Jeden Sonntag bildet es für die Paritondergemeinde eine neue Überwindung, diesen berühmten Schleier zu entbehren. Wenn doch nur eine hohe Edelfrau wieder mit einem solchen himmlischen Gespinste ihren tüchtigen Raubburschen in die Hände liefe!

Jetzt schwingt Sesto das einzige scherbige Glöcklein zum Rosenkranz in den frühen Gebirgsabend hinaus. Wie das verloren aus den Bergecken zurückhallt! Schnell humpeln die alten Weiblein hinein. Dann mit einem Ruck stösst sich das Trüppchen Halbwüchsiger vor. Nun die paar Männer, die immer und so genau wie der Samstag selbst hereinkommen. Die paar? Was ist das? Mannsschritt um Mannsschritt schallt auf dem Steinboden. Das ganze Dorf kommt, füllt die Bänke, atmet schwer und sinkt wuchtig auf die Knieschemel. Der Pfarrer wundert sich gewaltig ... Die haben Angst! ... Sesto zündet sechs Altarkerzen an. Warum sechse wie zu Ostern? Zwei sind gerade recht. Per Dio, die Paritonder sind und bleiben Sonderlinge.

Der Küster ringelt den Rosenkranz auf und betet vor. Da Dia setzt sich ins Chorstühlchen und beginnt bei einem züngelnden Wachsstöcklein die Laudes halb aus dem Brevier, halb auswendig zu lispeln.

Aber er kann sich nicht sammeln. Immer wieder springen seine Gedanken über die alten Buchdeckel ins Kirchenschiff hinaus. Es fällt ihm auf, dass man anders betet als sonst. Es klingt weniger schläfrig und schleifend, mit einer ernsten, herzlichen Betonung. Mitunter, wie in bekümmerter Sprache, fallen Seufzer dazwischen. Es dünkte Don Dia, so stark hätten die Leute erst einmal gebetet, als das Hochgewitter eine Sintflut von Wasser und Schlamm von den Bergen niederwälzte und das Häufchen Paritondo mit Mann und Maus zu verschlingen drohte. Draussen vor der Kirche strudelten die Fluten fürchterlich, drinnen streckte man die Arme aus und überschrie den Lärm mit immer neuen Paternostern.

Dennoch war es anders. Vor den Kirchenmauern lag diesmal eine stille dunkle Nacht, und in der Halle wurde ohne Geschrei, aber schön und eindringlich gebetet. Perettis Samtstimme klang noch tiefer und melodischer als gewöhnlich: »Der für uns Blut geschwitzt hat! Erbarme dich unser!«

Don Dia klemmte den Daumen ins Buch und sann nach. Dieses Volk leidet. Es hat Hunger. Es kommt arm zur Welt und geht ärmer aus ihr, die doch so voll Reichtümer ist. Nicht ein Splitterchen merkt es von ihnen. Es kann wahrhaft dem Herrgott nichts davon erzählen, wenn es hinüberkommt, wie gut der Vesuvwein, wie süss die Kuchen von Siena, wie lustig der Fasching von Rom und wie prächtig die Stanzen Raffaels im Vatikan seien. Es kennt nur seine Paritonder Kirchenschätze, eine Stunde lang zum Anschauen und sich daran zu blenden. Dann kommt wieder die wochenlange glanzlose und kahle Armut des Werktags.

Es gibt Räuber unter diesen Leuten. Man munkelt tief ins Tal hinunter allerlei Unsauberes. Aber müssen sie denn nicht stehlen? Sie sollten vielleicht betteln. Aber hier ist niemand, den man anbetteln könnte. Kein Signore lebt da oben. Alle sind sie Bettler. Also an die Strasse liegen und den zu Hablichen und zu Gesegneten vom Überfluss etwas abzwacken. Ach Gott, was ist das für eine Welt!

»Der für uns ist gegeisselt worden«, betete Peretti, »Erbarme dich unser!« rauschte es dumpf durch die Kirche.

Es sind gute Leute, spann Don Dia fort. Wie hat nicht mit heiterer Demut Pietro Solio vor einer Stunde sein geringes Sündengepäck abgeladen und Stück für Stück herzlich bedauert. Augen wie ein Kaninchen machte er dabei und nickte und dankte siebenmal dem Reverendo für den Segen. Der Pfarrer zieht entschlossen den Finger aus dem Psalmenbuch. Er bringt doch keinen Vers mehr über die Lippen. An dieses Völklein muss er nur immer denken.

Er hat sie gerne, die rauhen Schweiger hier oben. Je weniger sie klagen, um so inniger fühlt er ihr Heimliches mit. Jeden zehnten April müssen sie, und sollten sie es von den eigenen Knochen schnitzeln, dem Grafen von Spenchi fünf und dem päpstlichen Legaten in Spoleto nochmals fünf Pfund Silber zinsen. Das bedeutet ein Vermögen für Bettler. Aber sie bringen es immer zusammen. Sonst würde ihr blitzendes Dutzend Jünglinge in die Garnison von Ancona oder Perugia gesteckt. Das wollen sie nicht. Krieg führen am hellen Tag, auf offenem Plan einem Menschen, der mich nichts angeht, entgegenreiten, ihn totstechen oder ihm eine Kugel durch den Kopf jagen, das widersteht ihrer sanften höflichen Gemütsart. Sie verkaufen das wenige Gemüse ihres wilden Bezirks und das erlegte Raubgetier und die Fuchs– und Marderfelle und begnügen sich mit ihren Disteln und magern Ziegen und dem Sackleinen bei Schneewetter, nur um dem Soldatendienst zu entgehen. Auch sind sie gastfreundlich und lieben einander ohne Falsch. Das ist ihre gute Seite, sozusagen die Sonnenseite ihres Lebens. Die Schattenseite, die heimliche, na ... aber vor sechs Jahren haben sie den kostbaren Schleier der Madonna, den Zwischenhändlern tausend Dublonen, ihnen hunderttausend wert, den Talgenossen nach Surigno hinunter geschickt, weil das Dorf nach langer Pest und Dürre halb verbrannt und halb verhungert dalag. Die elenden Brüder möchten Milch und Brot daraus machen. Das bleibt ihnen unvergessen.

Dieser Peretti, wie er nur vorbeten kann. Wie ein Cherubim. Und wie er jetzt die Hilferufe der Litanei betont. Der Messner in der Sixtinischen Kapelle kann es sicher nicht halb so geschickt. Dieser Sesto macht eigentlich alles anders als die Hiesigen; nicht niedrig, herrisch ist sein Antlitz geformt. Und steckte sein Bube Poz'do in einem Junkerhabit, man würde den Kerl für einen Herzogssohn halten. So weisse Stirnen und schmale Nasen und lange silbergraue Augen und so leises, feines, rotbraunes Haar wachsen nicht hier. Ich wette, die haben noble Gevattersleute. Peretti ist ein grosser Name. Seine Heiligkeit in Rom heisst auch Peretti. Und sucht ja Vettern und Brüder aus dem Dunkel der gemeinen Abstammung in sein Weltlicht zu ziehen und findet sie nicht. Wer weiss, wer weiss! Nur ist der Peretti hier zahm wie ein Lamm. Der andere gebärdet sich wie ein Löwe Gottes. Sein Brüllen schallt weit über Italien hinaus. Die Könige zittern davor, und Gesetz und Recht werden wieder Herr. Sauber und vollkommen hobelt der Papst die Welt, bis sie dem reinen, runden Himmel über ihr gleicht. Der Hobel freilich tut weh. Und das Stammholz der Christenheit knirscht darunter, wenn ihm das Eisen in die harten und verwilderten Schösslinge fährt.

Hier fallen dem greisen Donaldi da Dia die Galgen und Pfähle der letzten Woche ein. In Gottes Namen, Gerechtigkeit muss sein. Dem Wegelagerer, dem Brandstifter, dem sakrilegischen Dieb gehören Rad und Beil und Hänfling. Aber die Bergler hier tun einem leid, gegen die man jetzt loszieht. Das ist eine andere Sorte. Gemeine Verbrecher sind das nicht. Sünder, gut, wer heisst nicht so! Santissima Madonna, ich werde doch keine Räuber entschuldigen. Lieber beten! »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt' für uns arme Sünder ...«

»Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens, Amen.«

So summt es hoch und tief das Kirchlein hinunter. Dem Pfarrer wird es eigen zumute, fast wie damals, wo das Wildwasser um das Chor klatschte. Seine alten dünnen Ohren hören fein. Und er hört wieder leise glucksen, wie von kleinen Wellen, dann nagen, kerben, beissen, zischen um die Friedhofmauer. Ist das so starke Erinnerung oder was?

Nach dem Rosenkranz gibt er mit dem eisernen Kreuz des Legaten von Spoleto den Segen. Tief senken sich die Kopftücher und weit ausholend bekreuzigen sich die Männer. Aber darnach rennt niemand hinaus, wie es sonst Brauch ist, um auf der Friedhofmauer noch ein wenig zu sitzen und in den grellen Bergmond oder in die mildere Himmelfahrt der Sterne ein langsames, eintöniges Hirtenlied zu singen. Selbst die Kinder bleiben.

In der Sakristei fragt Peretti den Pfarrer, ob es recht sei, morgen den besseren Kelch und das feinere Messgewand aufzulegen.

Ja, ja, er macht es ja immer recht.

»Noch ein Wort!« Sesto Peretti wächst wie ein Übermensch dem kleinen, magern, von dünnen Silberfasern umwehten Geistlichen über den Kopf und streckt die Arme wie Eisenhämmer aus. Sein weisses Gesicht wird grau wie Stein. Die kieselfarbenen Augen leuchten und das dichte weiche Haar loht fahl an der Stirne empor. »Noch ein Wort«, droht der Riese gewaltig.

»Redet doch, so redet doch, Sesto!« versetzte da Dia bange und sich duckend vor dem grossen Lamm Peretti, das urplötzlich wie ein Löwe tut.

»Es sind unterm Rosenkranz Soldaten von Spoleto gekommen. Sie stehen hinter den Friedhofbüschen und wollen Räuber holen. Habt Ihr denn nichts gehört? Wir wussten, dass alles so kommt und nicht zu vereiteln ist. Jetzt sagt mir: werdet Ihr uns helfen wie ein Hirte oder uns verraten wie ein Mietling? Rasch!«

Er hob den rechten Eisenhammer über das dürre Greisenköpflein, als wollte er es, sowie ein Nein hervorkäme, mit aller leiblichen Zubehör auf einen Hieb ungespitzt in den Boden schlagen, dieses sanfte Lamm Peretti.

»Ich weiss nichts anderes«, schrie Don Dia, »als dass ihr gute Leute seid, ich weiss nichts anderes und will nichts anderes wissen.«

»Gut, so ziehet Euch da an und kommt mit uns vor die Kirche! Ihr seid ein Reverendo, Ihr könnt am besten mit den Häschern unterhandeln.«

»Wozu Albe und Kasel? So wie ich bin! Es ist jetzt nicht Messzeit.«

»Da,« gebot Sesto mit furchtbarer Stimme, »und da und da!« Dabei warf er ihm Schultertuch und den langen weissen Linnenrock um, kreuzte ihm die Stola über die Brust und schob ihm einen wunderschönen, goldbortigen Manipel über den linken Arm. Dann holte er die Kasel, die nur beim heiligen Opfer getragen werden darf.

»Es geht jetzt nicht zur Messe«, wiederholte der alte, kleine Priester ängstlich und half dabei doch hastig mit, dass die geweihten Gewänder gut lagen. Aber bei der Kasel weigerte er sich nun doch entschieden.

»So nehmt den Vespermantel,« sagte Sesto kühl und legte ihm auch sofort statt der morgendlichen Kasel den festabendlichen, weiten Purpurmantel um, von dem es im Kircheninventar hiess, ein burgundischer Bischof habe ihn auf der Durchreise hier zurückgelassen. Gelbe Flammen loderten durch diesen schweren Brokat, die Flammen des französischen Fahnentuches. Indessen musste der geplünderte Prälat ein wahrer Roland von Grösse gewesen sein. Denn wie jetzt, befohlen und gestossen, Don Dia zum Altar trat, schleifte er den halben Purpur als Riesenschleppe hinter sich her. Er nahm das Kreuz vom Altar und schritt zur Porte hinunter, ohne zu wissen, was er nun sagen, was tun sollte. Kein Gebet, keine passende Zeremonie, nichts fiel ihm ein als eine grosse Angst vor dem, was seiner da draussen harrte, und noch mehr von dem, was hinter ihm mit der steinernen Miene Perettis drohte. Rechts und links hörte er im Vorbeigehen sich die Bänke leeren, sah das Volk ihn umringen und Sesto mit Weihwasserkessel und Wedel stramm neben ihm marschieren. Aber das Geschirr hielt der Mensch wie einen Schild und den Wedel wie ein Schwert in Händen.

Als er den Ledervorhang mit dem Ellbogen zur Seite schob, blickten ihm ins Kirchlein ein Dutzend gezogener Pistolenläufe entgegen. Ein Hauptmann erhob die Hand wie zum Signal: Feuer! Hinter den zwölf Mordröhren starrten zweimal so viele spanische Piken und lange Mantuanerflinten mit ihren eisernen Beschlägen in die vom Sterngeflimmer leise erhellte Nachtluft empor. Schwarz lagen über dem Strässchen die Hütten. Nirgends äugte ein noch so schwaches Dorflicht. Am Monte Rosso oben hörte man deutlich den Wind blasen.

Der Pfarrer wich zurück, aber auch die Angreifer waren auf einen solchen frommen Aufzug nicht gefasst und stutzten. Nur Peretti tunkte kurzerhand den Weihwasserwedel ins Gefäss und reichte ihn dem Priester. Instinktiv, wie jeden Sonntag vor der Hauptmesse, nahm ihn Don da Dia und besprengte die Bewaffneten, indem er dazu innig sagte: »Im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!« Da senkten die Soldaten ihre Feuerwaffen, bekreuzten sich unwillig, aber brummten dennoch: »Amen!«

»Mit wem wir da Händel kriegen, fragt, Curato, mit wem?« raunte der Küster dem Pfarrer ins Ohr.

»Wozu seid Ihr gegen uns ausgezogen?« rief nun Don Dia im lauten Pathos der Bibel und mehr noch seiner Angst. »Was traget ihr den Krieg da herauf, wo fast keine Menschen mehr und bald nur noch Felsen sind? Was möget ihr von uns? Wasser und Steine, mehr können wir nicht geben.«

Der Hauptmann ward immer verwirrter. – »Wir sind keine Verbrecher«, tuschelte Peretti dem Pfarrer als Stichwort ins Ohr.

»Sucht ihr Verbrecher hier,« fuhr da Dia weiter. »Was können wir verbrochen haben bei Wasser und Stein? Verbrecher suchet drunten im Land beim Wein und Geld der Stadtleute. Gibt es hier ein Verbrechen, so ist es das, dass wir arm sind und so wenig haben als der Wind dort oben auf dem Monte Rosso und dass wir gleich ihm nie aus dem Hunger kommen. Müsset ihr das züchtigen, so züchtiget den Herrgott. Er hat uns so mit dem Hunger zusammen erschaffen. Nein, nein, gehet von uns und suchet euere Sträflinge in Florenz oder Rom!«

»Bravo, Curato!« raunte ihm Sesto zu.

Don da Dia, der schüchtern war, aber immer ein braves Mass von Beredsamkeit besessen hatte, das diesmal durch die Not und die Stichworte Sestos noch erheblich gewürzt wurde, Don Dia erhob beim letzten Satz beschwörend die Rechte, und da funkelte im Laternenlicht des Ministranten der Manipel auf, und deutlich gewahrte man das adelige Wappen und den harten, in der fremden Sprache der Inglesi geschriebenen Namen des bestohlenen Eigentümers.

Sogleich erholte sich der Hauptmann von aller Scheu, trat fest herzu und sprach: »Mann, woher hast du denn dieses teure Kleid? und woher das seltene Kreuz? Wächst so was hier oben? Heraus mit den feinen Meistern! Wo sind euere Stickerinnen, die silberne Madonnenschleier machen, wie den von Surigno? Lasst einmal sehen, wie man solche Kunst wirkt! Ihr verbergt noch viel Ähnliches da innen. Platz da! im Namen seiner Heiligkeit, Platz!«

Wieder erhoben die Soldaten ihre Terzerolen und blitzten die Piken.

Der ratlose Pfarrer sprengte aufs neue das Weihwasser über die feindliche Armee. Er wusste nichts Besseres und Stärkeres zu tun.

»Lass das, Pfaff, du willst wohl nur das Pulver verderben. Zieh deine gestohlenen Kleider aus, bei dir wollen wir anfangen, he, Mannschaft!« Damit riss er dem ehrwürdigen Priester den Manipel vom Arm, andere zerrten am Rauchmantel, einer griff nach dem Kreuz. Da reckte sich Sesto Peretti blitzschnell in seiner alles überragenden Grösse auf und schlug den vollen Weihwasserkessel dem Hauptmann über den Kopf, dass die Hirnschale krachte und die heilige Flut an ihm wie Regen vom Dache troff. Zugleich schrie Peretti, aber nicht mehr mit dem Psalterton des Sigrist, sondern im Gewaltskommando eines Bandenhäuptlings: »Männer, Büchsen vor!« – Und Fahnen und Kreuze und Rosenkränze fielen, und im Nu blinkte aus jedem Kittel eine Pistole oder ein Dolch hervor.

»Jetzt seid so höflich und stellt euch vor!« rief Peretti. »Wer seid ihr, Feind oder gut Freund?«

Der Hauptmann schüttete das gesegnete Wasser aus den Hutkrempen und sammelte sich ein kurzes Weilchen. Dann wandte er sich in seine Reihe zurück und sagte kurz und höflich: »Verlies das Dekret, Tommaseo!«

Ein stangenlanger, waffenloser Mann trat aus dem Haufen. Er zog eine Rolle aus dem Ledersack und hielt sie ans Laternlein des Ministranten, um besser zu lesen. Da blies Peretti die drei Wachskerzen im Drahtgitter mit einem Atem aus. Zugleich gab der vielgewandte Mann dem Pfarrer einen bedeutsamen Wink zur Kirche hinein.

»Nicht hier, nicht hier! Kommt in die Kirche«, bat Don Dia. »Dort brennen sechs Altarstöcke. Dort verleset! Gott, was Gottes, und dem Cäsar, was des Cäsar ist!«

Man ging also ins Kirchlein zurück und im Schein des Altars, unter dem Blick der schleierlosen Madonna, begann Tommaseo zu lesen:

»Sixtus der Fünfte, Knecht der Knechte, Statthalter der römischen Kirche und Verwalter des Patrimoniums Petri ...«

Bei diesen volltönenden Namen beugten sich die Dörfler und die Kriegsleute tief. Aber am tiefsten Don Dia. Durchs ganze Kirchenschiff rauschte die starre, gewaltige Seide seines Mantels bei der Reverenz.

»Kund und zu wissen, dass im Gebiet zu Spoleto und Nursia unser Diener Markgraf Antonin Saavedro Gebot und Macht hat, für die Sicherheit der Provinz, vorab für strenge Säuberung der Strassen zu sorgen und dem gottlosen Treiben der Wegelagerer, Abenteurer, Räuber und Totschläger mit unserer ganzen richterlichen Schärfe zu begegnen. Auf Diebstahl über einen Dukaten ist der Strang gesetzt, auf jeden Raub desgleichen, auf Schädigung von Gut und Habe, Misshandlung und Mord desgleichen. Wird der Maleficant auf frischer Tat ertappt, oder in sonstiger Dringlichkeit des Gerichts, mag ohne Prozess exekutiert werden. Wer einem Banditen Unterschlupf gewährt oder sich ihm sonst hold erzeigt, sei an den gleichen Galgen geknüpft. Doch sorge der Richter, dass jeglicher Delinquent in Reue und Busse scheide, damit dem Tode des Leibes nicht auch der Tod der Seele folge.«

Grabesstille herrschte. Nur der Rauchmantel schauderte ein weniges zusammen.

Der Hauptmann winkte mit der früheren Höflichkeit und nun entrollte Tommaseo einen zweiten Pergamentbogen:

»Auf mehrfaches, inständiges Klagen der Edelleute dal Pres und dal Ferri, des erlauchten Prinzen Giovanni Massari di Mugnone, des Bischofs Guereldo und der Kaufleute von Ancona, Spello, Nursia, Foligno, Spoleto und Aquila verfügen wir Markgraf von Spoleto und Bevollmächtigter des Heiligen Stuhles:

«primo, das Verhör der Alpleute von Paritondo,

»secundo, Festnahme und stante pede Exekution der Überwiesenen,

«tertio, Auslieferung und Expedierung eines jeden, so des Raubes oder Vagantentums anrüchig ist, ans Gericht von Spoleto.

»Im glorreichen fünften Jahr des Pontificats und in unterschriftlicher und besiegelter Bestätigung seiner Heiligkeit, des Papstes Sixtus des Fünften.«

Wieder bogen sich alle Häupter, einige Frauen mit dem Pfarrer knieten sogar nieder, und viele Männer, diese grossen Kinder des Gebirgs, klopften wie beim Segen mit dem Allerheiligsten an ihre Brust. Nur der Messner zeigte nichts von all diesem ehrerbietigen Respekt und Schrecken. Vielmehr reckte er den Hals mit dem felsigen Kopf im Verlesen der Proklamation immer sicherer in die Höhe, und während die Seufzer des Volkes im Dunkel verschwammen, leuchtete sein fuchsgrauer Scheitel in den sechs Kerzenlichtern wie ein Berggipfel, den die Nacht am spätesten erreicht. Und über ihm lächelte jemand noch unbesieglicher und lächelte sogar unter dem rabenschwarzen Gelock hervor mit roten Wangen und kindsblauen Augen: die schleierlose Madonna auf dem Altar.

»Und wie hat dieser unterschriebene Papst geheissen, bevor er auf den Thron kam?« fragte nun Sesto mit rollender Stimme. Alles war wieder still, denn die Frage hatte den Ton eines Mächtigen, der nicht vor Gericht steht, sondern selbst zu Gericht sitzt.

»Felice Peretti!« riefen mehrere.

»War er nicht ein Winzerbub in den Marken, der Sohn des Gianbattista Peretti?«

»Ja, Felice Peretti aus Grottamare!«

»Eben, so liegt der Vater dieses Papstes da draussen vor der Kirchtüre, und ich, schaut mich an, ich bin sein Kind so gut wie Sixtus der Fünfte.«

Der Tod kann nicht starrer sein als die Stille, die nun ward.

»Sagt ihr es, Hochwürden, habt nicht Ihr eigenhändig meinen Vater da draussen eingesegnet und ihm die erste Schaufel Erde auf den Sarg geschüttet? Und habt Ihr nicht meinen Brief an den Kardinal Felice Peretti mit einem lateinischen Satz und Euerem Namen unterschrieben und nach Rom geschickt, als mein Stiefbruder von dort wissen wollte, wo seine arme Familie lebe und wie er ihr aufhelfen könne? Perbacco, damals lachte ich, aber jetzt schrei' ich ihn an: hilf Bruder, jetzt brauchen wir dich!«

Er blickte auf Poz'do, aber der Bub nickte nicht ja! Das kannte er nicht, Hilfe. Das hatte er noch nie gebraucht.

Die Soldaten sperrten vor endloser Überraschung ihre bärtigen Mäuler weit auf. Doch der kleine Priestergreis im verzogenen Mantel und schiefen Birret nickte gewaltig für sieben Poz'dos mit dem dürren Köpflein, und so nass waren seine stummen Blicke und so bleich wurde Sesto selber beim Reden, dass jeder sozusagen die Wahrheit seiner Aussage mit Händen griff.

»Ihr wäret ...« brachte der Kapitano endlich über die schwere Zunge und wich respektvoll einen Schritt zurück »... der Bruder unseres heiligen Vaters zu Rom!«

»Wartet,« befahl Sesto bündig und verschwand in der Sakristei.

Ein halblautes Gerede pflanzte sich von Kopf zu Kopf durch den bewaffneten Kirchengang hinunter. Was tun wir jetzt? ... Ob er's beweisen kann? ... Klingt nicht alles wie ein Märchen? ... Aber Dieb ist Dieb und Mörder bleibt Mörder! Der Papst hat in seinen grauen Bart geschworen, dass er den eigenen Vater nicht schonen würde. Pst, pst! Da kommt der Riese zurück! ...

Der Sakristan brachte das alte Kirchenbuch, woran zwei Silberschlösschen gar lustig in die so unlustige Stunde klingelten. Er öffnete ein mittleres Blatt nach allen Gesichtern hin. Es war mit guter, dickgezogener Tinte durchschnörkelt. Zuletzt hielt er es dem Pfarrer gebieterisch vor. Und mit zitteriger Stimme begann der Alte sein Skriptum zu lesen: »Anno Domini 1576 obiit in hacce villa Paritondense Joannes Baptista Peretti, nonnagenarius, ex Ancona, quem sepului die septimo Octobris 1576. Natus 1486, pater Sixti, vulgo Sesti, sacellani nostri, ex posteriore, Emminentissimi D. D. Princ. Cardinalis, Felicis Peretti, ex primo matrimonio. Cui Deo indulgeat! R.I.P.«

»Vater Ihrer Eminenz,« wiederholte der Vorleser in der Landessprache, »des hochwürdigsten Kardinals und Kirchenfürsten Felix Peretti!«

So stand es, so hiess es, so war es. Dem Hauptmann schwindelte. Die Mannschaft war nahe daran, vor dem Küster, über dem der Purpur des Bruders, nein, nunmehr der Schnee des Papstgewandes leuchtete, sich bis auf den Gurt zu verneigen.

Stolz überschaute Sesto das volle, zu Tod verblüffte Kirchlein. Dann ergriff er seinen schlanken, rothaarigen Sohn am Arm und kommandierte ruhig:

»Ihr habt es gehört. Nun führt uns zwei nach Rom. Auf mich und mein Kind nehme ich alles. Der Bruder selbst soll uns richten. Die andern,« beschloss er mit milderem Kameradenton, »die lasset bis dahin nur im Frieden. Ich bürge für sie. So ist's am gescheitesten.«

»So ist's am gescheitesten,« murmelte auch der Hauptmann mit erleichtertem Herzen. Noch in der gleichen, lauen Sommernacht schritten die Soldaten mit Sesto Peretti und seinem Sohn Poz'do gegen Surigno hinunter. Die Sterne blinkten ob den schwarzen Bergmassen, die kleinen Gewässer plauderten in den Abgründen, ein Wolf bellte über Pratalpe und hinter dem weissen, kalten Stirnlein des Papstneffen schimmerte es von köstlichen Bildern. Marmortürme, Domkuppeln, hohe Flussbrücken, worunter unsäglich breite Fluten glitzern, dann Kanonen und grelle Garden, Glockengeläute bis in die Wolken, Strassengefechte, die dreifache Krone des Onkels! Und zwischen diesen Wundern zog das kühne Knabenherz wie ein junger Bergfalke nach Abenteuern aus.

In Paritondo tröstete Don da Dia indessen den Pietro Solio aus, der in der Morgenfrühe, auf der Hausstiege sitzend, seine alte Älplerseele zu den Häuptern der sibyllinischen Berge emporschickte. Frau Peretti, zugleich um Bub und Mann trauernd, wachte an der Leiche mit den Mienen einer Witwe. Aber jedermann wusste, dass nicht dieser Tote, sondern zwei Lebende sie zur Witwe gemacht hatten.

Aber im verlassenen Kirchlein lächelte, nachdem alle sechs Kerzen heruntergebrannt waren, noch hell und unverzagt, wie eine, die sich Lichts genug ist, die schleierlose Madonna.


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