Heinrich Federer
Unter südlichen Sonnen und Menschen
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Wilderer Augusto Sarti

Hie und da braucht es Wochen und Monate, bis aus der Gewöhnlichkeit unseres Lebens ein ungewöhnliches Ereignis mit großer Miene und starker Wirkung emportaucht. Oft aber gehen dann wieder in die Spanne eines halben Sonnenlaufs die eindrücklichsten Erlebnisse.

An jenem sommerlichen Abend im Weiler Piagghia las ich das Gras vom Kleid und trat noch schnell ins verfallene Santuario, denn eine Kapelle konnte man es kaum mehr nennen. Die Sonne, unter einer tiefen Wolkenbank hervorkugelnd, bestrahlte die verblichenen Farben und zwei rostig angelaufene Kerzenständer mit einem schmerzlich schönen, grüngelben Glanz. Ich mußte noch immer an jene Sage von der pfiffigen Sandra und dem braunen Fanciu denken. Da hörte ich Schritte von eisenbeschlagenen Schuhen und das Aufstoßen von Reisestöcken mit der Spitze. Geredet wurde nicht. Ich stand hinten in der linken Ecke, als einige Arme zur Pforte hereinlangten und einen schlampen Menschen vorstießen. »Warte hier«, sagte jemand nicht unfreundlich. Dann fiel die Türe zu, und der Außenriegel ward vorgeschoben. Gleich wandte sich der Mann um und versuchte mit dem Ellbogen den großen innern Riegel auch in die Zwingen zu stoßen. Es gelang. Dann sagte er laut: »Diesmal nicht! Hundertmal . . . aber diesmal nicht. Es soll mich keiner anrühren.«

Nun erst sah ich, daß er die Hände im Rücken zusammengeschlossen hatte, ziemlich verlottert gekleidet war und ein heißes, mageres, dreißigjähriges Gesicht trug, dessen Mundwinkel immerfort zuckten. Er tat einen Schritt vorwärts, ließ sich müd' auf einen Schemel fallen, und ich meinte etwas wie leises Schluchzen zu hören. Meiner war er noch nicht gewahr geworden.

An der Wand vorne, wohin die Sonne jetzt fiel, war ein kleines Franziskusbild aufgehängt. Er war nicht mehr der Kettenbrecher, sondern der verzückte Einsiedler. Er streckte die Arme aus und zeigte die Wundmale. Fünf Blitze durch die Luft zuckten daher und durchschossen ihn wie glühende Pfeile. Der Heilige blickte dorthin, woher diese süße Gottesqual kam, und nichts als Dank sprach aus seiner Miene.

Der Eingesperrte schien das Bild ein Weilchen zu betrachten, dann ließ er den Kopf hängen, vornüber, fast bis in die Knie.

Mir war sehr unbequem zumute. Eingeriegelt, das gefiel mir nicht, und eingeriegelt mit einem fremden Vagabunden, das war mir erst recht unbehaglich. Aber am meisten fürchtete ich mich vor dem Lautwerden. Wenn ich jetzt huste oder einen Schritt tue, Gott, wie wird er erschrecken. Am besten, ich rede ihn schnell an, dann ist's vorbei. Aber ich schluckte und würgte lange, bis mir endlich der Satz heiserig genug gelang: »Da sind wir zwei also eingeschlossen! Das ist lustig . . . nicht?«

Blitzschnell schoß der Mann in die Höhe und wandte sich nach mir um. Ganz zitronengelb war sein Gesicht von der Sonne, ein müdes, bekümmertes Gesicht mit den steten nervösen Zuckungen der Mundwinkel. Er hob unwillkürlich die in Handschellen gelegten Arme im Rücken ein bißchen und lächelte matt. ›Seht, so einer bin ich‹, sollte das heißen oder vielmehr: ›als so einen vermutet man mich.‹

Ich dachte sofort, daß er beim Wildern überrascht worden sei. Denn vom Wildern hatte ich in diesen Gegenden viel gesehen und erlebt, und jeden Abend war das Geplauder der Bergler am Feuer auf dieses Thema gekommen. Gesetze gab es strenge genug, aber so gemächliche Gesetzesorgane. Jetzt hatte ein Ministerwechsel stattgefunden, und ein Scharfmacher bekam das landwirtschaftliche Departement. Von Spoleto und Norcia her fühlte man eine eifrigere Hand. Es kamen amtliche Besuche, halbamtliche Spione, Weisungen, Reglemente. Forstbeamte erschienen, die weniger den Wald als die Jäger beobachteten, und an das Patent wurden lästige Bedingungen geknüpft.

»Augusto Sarti!« stellte sich der Mann indessen mit ungewohntem Anstand vor.

Ich entgegnete, daß ich gemütlich den sibillinischen Bergen zuwandere und zwei Tage in diesem stillen Nest weile. Den Namen Augusto Sarti hatte ich mehrfach als den eines abgefeimten, gar nicht zu erwischenden Wilderers aus dem nahen Chiusita erwähnen hören.

»Müssen wir wohl lange hier im Arrest sitzen?« fügte ich meiner Erklärung scherzhaft bei.

Augusto blickte zu den hohen Fenstern empor. Wenn einer auf des andern Schultern stand, konnte er hinaussehen und rufen.

»Es tut mir leid,« begann der Wilderer wieder mit unvergleichlicher Grazie trotz seiner übeln Verfassung, »daß Sie meinetwegen hier eingesperrt sind. Man könnte da hinauf und jemand herbeirufen.«

»O, so lange halte ich es schon aus, besonders zu zweit. Aber warum haben Sie denn auch noch den innern Riegel vorgeschoben? So kommen wir erst recht nicht hinaus.«

Jetzt wurde er brennend rot.

»Ich weiß selber nicht«, stotterte er. »Vielleicht war es dumm. Ich dachte, sie sollen mich einstweilen nicht herausbekommen. Ich verschanze mich da bis zur Nacht. Dann helfen mir gute Freunde schon weg, und morgen können sie mich oben bei den Murmeltieren suchen.«

Er saß wieder ab, wurde fahl über Stirne und Wangen und schnaufte sonderbar. »Bitte, mir wird übel von all dem Gehetz. Seit Vormittag hab' ich nichts mehr in den Mund bekommen. Da hängt meine Feldflasche und die Patronentasche am Gurt. Seien Sie, bitte, so gut und reichen Sie mir zu trinken.«

Ich schnallte die Flasche ab und setzte sie ihm an den Mund. Er schluckte gewaltig. Dem Geruche nach war es Grappa mit Zucker und Wasser.

»Ah, das tut wohl«, stieß er erleichtert heraus, indessen ihm große Schweißtropfen über die Schläfen rannen. Er schöpfte Atem und bat dann höflich: »Jetzt essen, bitte!«

Also sperrte ich das Säcklein an der Ringelschnur auf.

»Das Schießzeug haben mir die Kerle herausgenommen. Oh, ich will ihnen! Gebt Brot, Herr, bitte, gebt!«

Es war hartes Brot. Ich brach es zu Brocken und reichte ihm Stück um Stück, sobald er eines fertiggekaut hatte und den Mund wieder aufsperrte. »Wie einem Kind«, sagte er mit einer Stimme, die jetzt ruhiger und ausnehmend melodisch wurde. »Babbo« (Vater), lächelte er mir zu.

Welch ein gutes, innerliches Lächeln! Und dieser gemütvolle, singende Klang der Stimme! Nein, der konnte kein Verbrechen begehen. Sein Wildern . . . na, es schien mir auf einmal etwas Natürliches, das lediglich durch Menschenschwachheit oder Menschenpedanterie zu einer Sünde gestempelt worden war.

»Ich danke, genug, gentilissimo Signore, packt gütigst wieder alles zu. Ich brauche es noch sehr.« – Er schielte wieder eigentümlich zu den Fenstern empor.

»Hat man Sie mitten im Wildern ertappt?« fragte ich mitleidig.

»Ich habe nicht gewildert«, versetzte er heftig. Ungläubig glotzte ich ihn an. »Zwölf Patronen hatt' ich. Eine verschoß ich an einen Habicht. Das darf man. Ich traf. Aber wo ist er? Hätte man nur gesucht! Aber sie ließen mir nicht Zeit.«

»Lieber Freund,« bat ich, »von Ihnen und von Ihrer unfehlbaren Flinte hab' ich viel gehört. Großartige Streiche! Die Polizei kommt immer zu spät. Sie verspritzt vor Wut. Aber diesmal . . .«

Augusto durchspähte mein Gesicht. Gleich erkannte er den Fremden, den Friedlichen, den, der zum Volke und nicht zu den Herren Regenten gehört. Seine Augensterne waren klein, scharf, blitzendgrau wie frisch gegossene Schrotkügelchen.

»Vielleicht hab' ich gewildert, vielleicht hundertmal. Warum waren sie nicht da und nahmen mich am Schopf? Aber diesmal, wie sie mich bekamen, hatte ich gerade nicht gewildert.«

»Das ist ein böser Zufall«, bedauerte ich.

»Seht,« sagte er und fiel ins bequemere Voi, Ihr, zurück . . . »aber könntet Ihr mir nicht die dumme Sache dahinten etwas lösen . . . die Manette? Es ist verteufelt lästig, so zu hocken und zu plaudern.«

»Aber die Guardia, die Polizisten?«

»O, Ihr könntet sie mir wieder schließen, wie Ihr sie mir geöffnet habt. Bitte, lieber Herr, ich verdufte Euch ja nicht durch die Mauer.«

Einen Augenblick zauderte ich. Darf man dem berühmten Arm der Gerechtigkeit auch nur einen kleinen gutmütigen Gegenfinger strecken? Ach wohl, ich tu's. Das ist kein Kapitalverbrechen.

»Wenn sie uns überraschen, sagt Ihr, es sei mir übel geworden. Das ist nicht gelogen. Und wenn sie grob werden, werdet Ihr noch gröber und beschwert Euch, daß sie Euch hier unbesehen einschlossen, statt erst nachzusehen, wohin sie mich schaffen.«

Seine Schrotkugeläuglein blinzelten überaus listig aus dem verwetterten Gesicht. Aber er hatte recht. Das konnte ich triftig den Polizisten zurückgeben, wenn sie gar zu wichtig tun wollten.

Es waren die ersten Handschellen, die ich sah. Da gab es gottlob keinen Schlüssel zum Öffnen, ich brauchte nur zwei kreuzweis eingeschnappte Stahlreifen aus den sogenannten Gebissen auszuspannen, und sogleich fiel das Zwangsinstrument nichtig auseinander.

»Tausendmal Dank«, sagte Sarti und rieb sich die Handgelenke. »Das sind verdammt solide Handschuhe.«

Dann griff er in den Hemdschlitz, zog einen Lederumschlag hervor, entnahm ihm ein von Fingertupfen beschmutztes Briefböglein und sagte andächtig: »Lest das!« – Dabei wurde er rot und verlegen wie ein ungeschicktes Kind.

Eine schmale Feder vom Eichelhäher mit den blaugrünen Bändern fiel aus dem Brief, wo in wenigen Worten mit Knabenschrift gebeten war, der Vater möge ihm doch auf den 10. September den versprochenen Vogel nach Visso bringen, einen Raben oder Häher, aber am liebsten einen Habicht . . . ›Ferruccio Sarti‹ war hübsch wild unterschrieben. Der 10. September war sein Geburtstag.

»Mein Bub geht in Visso zur Schule«, erklärte der Sarti. »Ich habe eine ledige, gute Schwester dort. Als meine Frau starb, hat Monika den Kerl zu sich genommen. Was tät' ich mit einem Dreijährigen? Aber jetzt ist er zehnjährig, groß, schön, wild wie ich. Ich hab' Heimweh, möcht' ihn zu mir nehmen. Meine Hütte ist so gar ungemütlich. Keine Frau putzt ein wenig und stellt die Sachen in Ordnung. Und doch, eigentlich nur so zum Holzen und Jägern und im Rauch liegen . . . ach, ich besuch' Feruccio alle vier Wochen. Zuletzt nehm' ich ihn doch.«

»Käme er gerne?«

»Und wie gerne! Buch und Tinte sind ihm Mist. Entschuldigt, fremder Herr, aber es ist so. Den Vogel, den Wald, das Jägern mit mir möcht' er haben. Und ein Zeichen soll ich ihm dafür bringen, einen ausgestopften Habicht! Glaubt Ihr jetzt, daß ich auf ein Reh schoß, wie die Poliziotti behaupten, und nicht den Habicht! Was ist mir das schwerste Reh, wenn Ferruccio den Falken will! Aber mit meinem Schuß ging fast in einem Knall ein zweiter los, und wahrhaft, so toll es klingt, ein Reh sprang mir beinahe an die Beine, rannte dann seitlings ins Gestripp und fiel hin, aber war noch nicht tot. Ich lief herzu und schlug ihm die Schläfe mit dem Gewehrkolben ein. Absichtlich gab ich ihm keine Kugel, damit man sehe, daß ich nur den Habicht schoß . . .«

Er zeigte die elf Patronen im Gurt. Nur der zwölfte Stecker war leer.

»Kein Jäger nimmt eine Patrone mehr, als im Gurt vorgesehen ist. Dreizehn, wohin damit? Wer nimmt noch eine dreizehnte? – Dann band ich das Reh an den Beinen zusammen. Denn der Wilderer – ich kenn' ihn gut – hat sich nach meinem Schuß und Gelärm nicht hinzugewagt. Ihm schlich die Patrouille ja nach. Das hatte er längst gemerkt. Nun verschloff er sich irgendwo, und ich in meinem Eifer für Ferruccio dachte nicht, daß es jetzt über mich komme. Lange zögerte ich, das Reh anzurühren. Aber sollt' ich so ein flottes Wild da faulen oder andern Leuten lassen? Das wär' zu blöd'. So trag' ich's in einen Erdschlupf, den ich nahe weiß, und hol' es dann nachts. Aber wie ich so meinen Habicht vergesse und den Vierbeiner aufgable, überlaufen mich diese blauen Strolche. Jetzt sagt' ich alles. Aber sie lachen mir ins Gesicht und meinen, daß ich Habichte schieße, aber nicht hole, und Rehe packe, die andere schossen. ›Wir wollten den Gherardo Plegni fangen, wir hatten seine Spur. Nun fiel uns statt des Fuchses der Wolf in die Fänge‹, brüllten sie. O, wie sie lachten! Ja, der Gherardo Plegni hatte geschossen, aber ich sagte kein Wort mehr. Wir sind gute Kameraden. Wir verraten einander nicht.«

»Und der Brief von Ferruccio?«

»Ist das ein Beweis?«

»Vielleicht! Vielleicht suchen sie dann noch den Habicht.«

Sarti ließ eine Pause vergehen. Dann meinte er: »Das Papier da zeig' ich nicht. Nein, diese Affen, die nur auslachen und Handschellen anlegen können, müssen mir so einen Brief nicht beschmutzen. Nein, und wenn es mir an den Kragen geht, ich kann nicht. Mir war schon lange wind und weh deswegen, falls einer mir unter den Kittel griffe. Nehmt den Brief zu Euch, bitte! Die Feder auch! Tut es mir zulieb'! Ich meld' mich dann schon. Oder kommt Ihr mal nach Visso . . . dann . . .«

Man hörte von außen Geräusch. Kinder, die etwas gerochen hatten, umlauerten das Kirchlein. Ich steckte den Zettel widerstrebend ein. Wir flüsterten nur noch. Sarti wurde sehr unruhig.

»Was würde wohl der Mann da uns raten?« fragte ich und deutete auf den heiligen Franz.

»O, der hätte keine Handschellen gebraucht.«

»Aber er würde vielleicht doch sagen: ›Wildere nicht mehr, treib ein ehrlich' Geschäft!‹«

»Das könnte er leicht sagen. Ihm sind alle Tiere eben wie Hündlein entgegengesprungen. Aber uns riechen sie von weitem und laufen davon.«

»Franz wollte eben nicht töten, sondern Leben, Leben.«

»Und wir und ich? Ich will auch nur leben, leben, leben. Und da helf' ich mir, wie ich kann. Oder soll ich verderben, damit ein Reh lebe? Dummes Zeug! Aber entschuldigt, guter Herr, ich bin so aufgeregt, ich rede wüst, entschuldigt!«

Ach, wie lieb war mir dieser offene, herzliche Schlaumeier schon geworden! Was litt er beim Gedanken an Gericht, Zuchthaus, Zelle, Fußketten, Unfreiheit, kein Wald und keine Berge und keine Büchse mehr und das geliebte Bübchen fern und fremd. Und dazu schuldlos! Er dachte nicht, daß er hundertmal diese Strafe riskiert hatte, ihr hundertmal verfallen wäre. Er dachte nur, daß er sie dieses eine einzige Mal nicht verdiene. Und ich dachte genau so und überlegte, ob ich denn gar nichts für den Häftling tun könne.

Wir schwiegen. Oft schien mir, er bete auf seine Weise. Als wir endlich die genagelten Schuhe der Gendarmen herzuklappern hörten, riß Augusto plötzlich einen schwarzen Tuchfetzen, der unter dem Hemd an einer Halsschnur gehangen, aus dem Latz und zeigte ihn mir. Es war das Skapulier, wie die Verehrer des heiligen Franz es tragen, die sich geistigerweise als Laien mit seinem Orden verbinden und sich Drittordensbrüder nennen, und deren es in allen Ländern Millionen gibt.

»Ich lieb' ihn auch, wisset«, flüsterte er. »Meine Frau hat es mir beim Sterben gegeben, dies da. San Francesco«, rief er leise gegen die Wölbung, »o, San Francesco . . . Ferruccio mio!«

Eben riegelte man von außen auf.

Viele werden beim Lesen dieser Stelle lächeln oder gar spötteln. Ich hindere sie nicht. Wer nichts von den Geheimnissen des Heilig-Unheiligen weiß, wer vor dem Unbekannten, gerade weil es ihm unbekannt ist, Witze reißt, gut, der lache eben! Er lacht ja im Grunde sich selber aus.

Drei Stimmen riefen: »Zum Teufel, was geht da vor? Willst du nicht hinaus, Sarti? . . .« und lachten heillos gemütlich.

›Das sind keine Schlimmen‹, sagte ich mir, ließ rasch die Handschellen wieder einschnappen und öffnete.

»Hab' ich's nicht gesagt, er ist da drinnen, unser Fremder«, rief der fette Sindaco Paolo Conzi. »So macht ihr's, Unschuldige riegelt ihr ein, hahaha!«

»Ja, Unschuldige«, schrie Sarti den verblüfften zwei Poliziotti ins Gesicht.

»Sei nicht vorlaut, du da!« gebot der Ältere von den beiden. »Tut mir leid«, wandte er sich an mich. »Warum haben Sie uns nicht gerufen?«

»Ihr ließet mir ja keine Zeit«, versetzte ich. »Nun bin ich froh, daß es so kam. Ich weiß jetzt, ihr habt einen Unschuldigen gepackt. Ich werde helfen, das zu beweisen.«

Die beiden Grenzwächter, wie man damals diese Gendarmen eigentlich hieß, sahen sich belustigt an und zuckten die Achseln. Der Sindaco blinzelte unsicher durch die fetten Lider. Es war unklar, auf welche Seite er neigte.

Wir gingen nun in seine Stube, wo eine Art Wirtschaft geführt wurde. Die zwei Männer der Guardia, der Wirt, seine viel jüngere Stiefschwester und ich saßen an den Tisch. »Du kannst jetzt auch mit uns halten«, meinte der ältere Polizist zu Augusto Sarti und löste ihm die Zwingen. Ich winkte den Frevler zu mir. Es kam Wein und gutes Brot und Käse. »Der Braten ist noch nicht fertig«, sagte die Jungfer streng.

»Welcher Braten? Doch wohl nicht . . .«

»Doch, doch, Sartis Reh. Was sollen wir es durch die vermaledeite Hitze talab schleppen? Es riecht ja schon an den Läufen. Du darfst auch davon essen, Augusto, du erst recht. Mußt ihn ja teuer zahlen, den Braten, und bekommst lange keinen solchen mehr. – He da, so mach' doch kein so böses Gesicht! Wir tun ja bei Gott so was ungern. Aber du treibst es auch gar zu toll.«

»Keine Gabelvoll rühr' ich an«, trotzte Sarti. »Dieser Braten gehört zu einer andern Flinte. Habt ihr die Hülse gefunden? Paßt sie etwa auf mein Rohr? He, ihr Gescheitleute, was sagt ihr?«

»Du bist ein elender Fuchs«, machte der Sindaco und tätschelte dem Wilderer gütig auf die Achsel. »Du hast viele Flinten. Freilich«, wandte er sich an die Guardia, »habt ihr ihn mit dieser und keiner andern betroffen.« – Und wieder blinzelte er zwischen den Fettpolstern der Augen schlau hervor.

»Sollen wir etwa in allen hohlen Bäumen herumkriechen, wo du dein Arsenal versteckst?« scherzte der Jüngere der Guardia, ›Beppo‹ genannt.

»Ja, das müßt ihr, wenn ihr mich anschuldigen wollt!«

»Und auch den Habicht müßt ihr suchen, unbedingt«, fügte ich bei. »Ihr seht doch, was für kleine Patronen er trägt. Noch elf! Wer tötet damit Hirsche und Rehböcke? Aber wenn der Falke gefunden wird und gar noch die Kugel dazu, dann ist die Sache klar. Dann hat ein anderer das Reh geschossen.«

»Sie sind hier fremd«, versetzte der ältere Polizist Ugo, sehr höflich, aber sehr bestimmt.

»Aber wo habt ihr denn die Ohren gehabt?« fragte Augusto zornig. »Ihr müßt doch zwei Schüsse gehört haben, piff, paff, so schnell nacheinander.«

»Piff paff, jawohl!«

»Und da soll einer mit zwei Flinten so flink gefeuert haben? Bedenket!«

»Ja, einmal in die Luft.«

»Nein, Freunde«, bat ich, »den Habicht muß man um jeden Preis suchen. Ja, Herr Ugo, ich bin ein Fremder. Aber auf der ganzen Welt gibt es kein Gericht und keine ehrliche Polizei, die eine solche Unterlassung begehen darf. Mag meinetwegen Augusto tausendmal gewildert haben, ihr müßt beweisen, daß er gerade dieses Mal gewildert hat. Alles andere geht euch nichts an. – Aber Signora Marta, bringet noch Wein, gelben Orvieter. Ich zahle diesen Abend allen lieben Freunden das Trinken.«

Das durfte ich wohl. Das Getränk war so gut wie billig, ich lebte hier wohlfeil, man hatte mir schon manche Gefälligkeit erwiesen, und das goldene Weinstündchen freute mich selber tüchtig.

Wir essen, wir trinken, wir schlafen zusammen«, betonte Ugo zum Sarti. »Aber morgen wird nicht gemarktet. Du mußt mit uns nach Spoleto. Wenn sie dich dann laufen lassen, um so besser.«

»Niemals werd' ich mit euch gehen.«

»Seht unsere Leute«, munkelte mir der Sindaco zu; »sie stehen alle zu Augusto, besonders die Kinder. Da ist keines, dem er nicht schon etwas geschenkt hat.«

In der Tat, draußen standen Buben, Mädchen, etliche Männer und Weiber. Sogar durch den Gang und die Küche drückten sie sich vor und guckten zur Stube herein.

»Man sollte ein Dutzend ins Gehölze hinaufschicken, um den Habicht zu suchen.«

»O. das liegt zu weit hinten, am Monte Valiano, und jetzt wird es schnell dunkel. Morgen!«

»Aber morgen ist es zu spät. Die Füchse, die Marder . . .«

Der Sindaco zwinkerte mit den fetten Äuglein. Er hatte wohl etwas anderes vor. Vielleicht in der Nacht läßt er den Wilderer entschlüpfen. Das ganze Dörflein wird mithelfen. Diese Leute schauen die Guardia ordentlich gehässig an.

»Trinkt Wein, unser Gast zahlt, ein Svizzero«, schreit der Sindaco und füllt vom Gelben den Polizisten die hohen Standgläser wieder voll. »Evviva la Svizzera!«

»Gibt es dort auch Jagd?« fragte Beppo.

»Sicher.«

»Und Wilderer?«

»Warum denn nicht!«

»Und Polizei?«

»Jetzt tupft ihr am rechten Fleck. O ja, auch wir haben Polizei, aber ein bißchen andere als die hiesige. Die dürfen einen nicht so mir nichts dir nichts wie einen Mörder fassen und in Eisen legen und elend und verdurstet in eine Kapelle werfen. Sterbensübel ist dem Sarti geworden. Gottlob war ich da und konnt' ihn tränken und füttern, sonst . . . Er fiel ohnedies hin fast wie eine Leiche. Was geschähe mit euch, wenn er im Kirchlein gestorben wäre?«

»Man stirbt nicht so schnell«, sagte Ugo. Aber er schien doch ein wenig eingeschüchtert.

»Bei uns«, fuhr ich fort, »würde nicht der Jäger, sondern der Polizist ins Gefängnis geworfen, der ohne Beweise und Gegenbeweise kommt wie ihr. Nicht einmal den Habicht suchen! Und die Kugel im Reh paßt gar nicht in Sartis Gewehr. Und ein anderes findet ihr nicht. Und trotzdem schleppt ihr ihn in Handschellen ins Land hinunter. Herrgott, das sollte uns einer bieten . . .!«

»Aber er trug doch das Reh weg. Er wollte es behalten.«

»Und ihr, Männer der Gerechtigkeit, ihr bratet und esset es!«

Alles lachte. Niemand war böse als der Sarti. Man aß voll Appetit und wünschte gewiß den Wilderer in alle Wälder und Freiheiten fort. Aber nun hatte man ihn eben zwischen die Finger bekommen, war soweit gegangen mit dem bittern Amt . . . wie konnte man da zurück?

Dennoch war weder dem Sarti, wie er auch immer grollte, noch mir das Herz auf weiteres schwer. Wir schmeckten es sozusagen mit der Zunge, daß die Nacht Rettung bringe. Mir wäre freilich lieber gewesen, man hätte den Vogel gesucht und daraus einen gültigen Beweis für Sartis Unschuld in diesem einen Falle gezogen. Denn wenn er entfloh, blieb er doch immer ein Angeklagter und Verfolgter, trug den Schein der Schuld auf sich und konnte nicht mehr in der frühern Sicherheit über Weg und Steg gehen.

Die Polizisten soffen wie Kühe, lachten, nestelten den Revolver los, knöpften schließlich Rock und Hemd auf und begannen zu singen. Der Jüngere fing an, zu dem stillen, nüchternen Sarti Freund und Bruder zu sagen.

Kerzen wurden festlich angesteckt, als es dunkelte, vom Kapellchen läutete es das Angelus die Hügel hinauf. Die Holzschuhe der Kinder klapperten heim. Es ward Nacht. Aber nicht das starke Wald- und Wassergeräusch, das so herrlich unsere schweizerische Taleinsamkeit durchschauert, klang von den Bergen her, sondern eine tiefe, unermeßliche Stille von Himmel und Erde regierte hier. Ich sah, wenn ich mich übers Gesimse lehnte, ein paar Sterne hoch oben. Mir war, ich müsse ihr fernes Feuer knistern hören, so lautlos lag die Nacht da draußen.

Aber plötzlich wurde es laut. Leutegemurmel, ruhige, feste Schritte, ein großer, ernster Mann mit einem schweren Sack auf der Rückengabel poltert in die Stube, rückt sich einen Stuhl zu uns an den Tisch, mitten zwischen die Guardia, schaut alle kühl an und sagt langsam, als könnte etwas verlorengehen: »Guten Abend! Habt ihr mir auch einen Bissen?«

»Guten Abend, Marzo Plegni«, grüßt der Sindaco mit tiefer, zufriedener Stimme. Aber die Polizisten, der Sarti, die Jungfer Marta machten Gesichter voll Verwunderung. Dem war man doch auch auf den Fersen.

»Jungfer Marta, wollt Ihr ein paar Pilze? Schöne, fette Steinpilze, bevor ich den Sack nach Preci trage und verkaufe. Den ganzen Tag sucht' ich Pilze.«

Die herbe Stiefschwester des Sindaco lief sogleich zum Sack.

»Lest Euch ein Dutzend aus, aber dann lasset mich hier über Nacht!«

»Schon recht!«

»Und erschreckt nicht. Zu oberst liegt ein Vogel, bringt ihn her!«

Wir saßen wie an die Bank geleimt. Ein währschafter Habicht wurde auf den Tisch geworfen. ›Was der Teufelskerl wagt‹, dachte der Sindaco. ›Er ist halt ein echter Kamerad‹, frohlockte Augusto Sarti mit dem ganzen Gesicht. ›Jetzt bin ich frei.‹

Dann unter andauerndem Schweigen langte Marzo, derselbe Marzo, dem man unzweifelhaft den Rehschmaus verdankte, langte eine Patrone aus dem Sack. Sie war noch schmutzig von Blut und Fett. »Die steckte in der Brust«, brummte Marzo Pogni. »Seht nur an der Wunde nach! Deine Flinte, Augusto, ich wette. Zeig' mal!«

Sarti schnallte heftig die Patronentasche ab. Marzo zählte eins, zwei, drei, fünf, zehn, elf . . . und schob die Hülse in den zwölften Lederschlitz. Ringsum zeigte er die Patronentasche. Ja, das war dieses zwölfte Geschoß gewesen.

Jetzt ernüchterte die Polizei. Sie griff in die Wunde, holte Sartis Flinte, legte die Patrone ein, wirklich, es klappte. Augusto hatte nicht gelogen. Diesen Raubvogel hatte er mit dieser kleinen Kugel getötet. Fraglos! »Der zweite Schuß . . . na . . . Marzo, der ging nicht weit von Euch los«, hieß es heiter; »sehr nahe muß es geknallt, Euch fast die Backe versengt haben.« Alle lachten, nur nicht Marzo Pogni.

»Ich weiß von keinem zweiten, nicht mal von diesem ersten Schuß da«, betonte er frostig. »Jetzt schießen ja viele, Jagdzeit oder nicht. Ich habe Pilze gesammelt, das seht ihr. Aber jetzt hab' ich Hunger und Durst, und der Rücken schmerzt, als hätt' ich nicht Schwämme, sondern die beiden Polizeihunde da zwölf Stunden lang auf dem Buckel gehabt. Bücken, immer bücken und bücken und dazu zwei Gendarmen am Hals . . .«

Man lachte wieder. Nicht einmal die Guardia nahm das ›Polizeihund‹ übel. Die saftigsten Bratenstücke lud man ihm auf den Teller. Er aß und ward redselig. »Das ist ein Reh! Mein Lebtag aß ich kein solches. Welcher Spitzbube hat das erlegt? Ihr etwa, Blauhösler?« wandte er sich an die Uniformen rechts und links. »Schießt ihr wirklich so gut?«

Da war nichts zu machen. Die ganze Bande hier steckte unter einer Decke. Das merkten die zwei gut genug. Jetzt nur nicht noch die Gefoppten spielen! Lieber lachen und mitschmausen.

»Und jetzt, was sagt ihr Hunde?« schnauzte Sarti sie an. »Gebt mir schleunigst Flinte und Rucksack und seid froh, wenn ich euch nicht verklage.«

Sie holten das Abgenommene und mußten sich bescheidentlich darein ergeben. Geglaubt haben sie nichts. Sie fühlten, daß der richtige Kerl zwischen ihnen sitze, ja, zwei Kerle. Aber sie hatten an der ersten Probe genug. Also Hände weg und dafür essen und trinken bis zum Umfallen.

Jetzt endlich aß auch Augusto Sarti vom Wildbret. Nachdem alle andern genug hatten und müde, übersättigte Köpfe hängen ließen, schmatzten und nagten er und Marzo noch gewaltig am Braten herum. Sie hatten ja das beste Recht darauf. Ihr Appetit wurde jedesmal frisch, wenn sie überlegten, wie lustig es eigentlich sei, vor den langen Nasen des Staates gewildertes Fleisch behaglich zu verzehren. »Wir dürfen doppelte Portionen nehmen«, höhnten sie, »sind wir doch arme, geplagte, unschuldige Waldleute und hier zu Tische geladen. Aber eine ganz andere Frage ist, ob ihr Herren Blauröcke von diesem Fleisch, das jedenfalls gewildert worden und für euern Magen und euer Gewissen ganz sündhaft ist, ob ihr auch nur eine Gabel voll essen durftet.«

Nun mußten auch die Polizisten erschütternd lachen. »Nein, so etwas!«

Marta kochte zwei, drei Kannen voll Kaffee. Den tranken wir in der Küche am großen Herdfeuer, und hier hockte es sich so vergnüglich, daß es unter Geschichtenerzählen und Spaßen fast Mitternacht wurde, bis man das Lager aufsuchte. Man hatte zuletzt noch alte, schwermütige, eintönige Lieder gesungen und sich dabei Arm in Arm gehalten, auch die Polizisten!

Ernst, feierlich, ehrlich war man geworden. Da konnt' ich's nicht verhalten, zog den Knabenbrief hervor, las ihn laut, Stempel, Unterschrift, Feder und fragte: »Wer zweifelt jetzt noch, daß unser Freund Augusto Sarti heute nichts anderes, gar nichts anderes hätte schießen können als einen Habicht?«

Der Sarti schoß mir böse Blicke zu. Aber als alles ›Bravo‹ schrie und Beppo und Ugo ihm die Hände schüttelten und nun wirklich herzliche Abbitte leisteten und sogar versprachen, sie wollten ihm nie anders als so am guten Eßtisch begegnen, und sie würden ihm in Zukunft Signale geben, etwa durch die Finger pfeifen, wenn er im Walde zu tun hätte, damit so ein Habichtschütze nur ruhig bleibe . . .

»Oder noch ruhiger davonlaufe«, ergänzte Marzo Pogni.

»Um nicht den Braten mit einem Dutzend Mäuler teilen zu müssen; denn«, spaßte Sarti, »mich reut, was ihr mir da alles weggefressen habt . . .«

Jetzt wollte das tiefe, rauschende italienische Lachen gar kein Ende mehr nehmen. –

Am Morgen gab ich dem Sarti den Brief Ferruccios zurück. Er schob ihn unters Hemd, neben das Skapulier. »Die zwei sollen beisammenbleiben, mein Sohn und San Francesco. Es ist genug, daß ich nicht dabei sein kann.«

»Ihr könnt es doch.«

Der hagere Mann zuckte die Schulter, hing den schönen, großen Vogel an den Rucksack, schlug ein Kreuz vor der Kapelle und wanderte in großem Schritt mit Kamerad Marzo die Höhen von Renaro hinauf. Die Freiheit, der Bergwind und die unwiderstehliche Jagdlust wirbelten ihm das schwarze Haar auf. Er blickte kein einziges Mal nach uns zurück.

Was ist wohl aus ihm und seinem Büblein geworden? Ich trieb mich noch zwei Tage in der Gegend herum. Dann nahm ich die mir so unvergeßliche Bergstraße nach Visso, den sibillinischen Häuptern entgegen.


 << zurück weiter >>