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Spoleto!
Dreimal bin ich die alte Stadt der Abruzzen bergauf gewandert. Es riecht nach Rom und Goten, nach Hannibal, der die Rocca nicht erobern konnte, nach Totila, der fluchend vor ihren Felsen stand, nach Barbarossa, der das »päpstliche Nest« endlich ausräumte, und nach seinem Sohne, dem mildesten Hohenstaufen, dem herrlichen Jüngling Philipp, wie er hier als Herzog doch recht umgriffig hauste und den alten Papst neckte.
Heimweh faßt mich, denk' ich an dich, du alttrautes Städtchen am Monte Luco im Atem der schönsten Eichen. Wie viele Fürsten und Bischöfe haben hier ihr Wort gesprochen und meinten, es verhalle nicht. Wie viele Künstler malten und meißelten hier in der Hoffnung, sich den Weg nach Rom zu ebnen. Und wenn ich die Gäßchen hinaufzog, wie viele stille Chronisten glaubte ich aus kleinen Fenstern ins Halbdunkel hinausträumen zu sehen. Denn was ward da in Türmen, Stüblein und Sälen geseufzt, stolziert, gequält, gelacht und wütend geküßt! Es ließen sich Folianten aus jeder alten Straße schreiben. Ich schlage ein Blatt auf und lese folgende rührende Geschichte:
Eines Vormittags um die neun, als nach einem heillosen Gewitter durch alle Nacht bis tief in den Morgen der Wind vom Monte Maggiore das Gewölke zerblies und aus der zornigen Himmelsfratze ein lachendes Unschuldsgesicht schuf, so daß auch Spoleto sogleich aus der Angst in den vergeßlichsten Leichtsinn sprang und die Einwohner auf die Straße hinaustraten und einander sagten, sie hätten sich gar nicht gefürchtet. obwohl der Blitz mehrmals ihr Haar gestreift habe, während sie gemütlich an den Gesimsen gesessen und ins Gekrach und Geleuchte der Lüfte geguckt hätten – um diese aufatmende, redselige Stunde marschierte gerade ein Fremder mit hagerem Gesicht und zerschütteltem, magerem Langbart über den Tessino und freute sich ein wenig, wie dieser Bach katzengrau und geschwollen aus der Schlucht herunterbrach, trat dann durch die Porta Leonina in die Unterstadt und rückte langsam gegen den Dom herauf, wobei er die durchnäßte Kapuze hintenüberschlug, um besser die alten Häuserfronten zu betrachten. Er zeigte ein sehr altes Gesicht mit überhoher, zerfurchter, grämlicher Stirne, aber von einer solchen Neugier, ja Sehnsucht der Augen überglänzt, daß es geradezu kindlich wirkte.
Die Leute grüßten ihn mit einem wortlosen Kopfnicken. »Der muß die ganze wüste Nacht unterwegs gewesen sein«, sagten sie hinter ihm, »seht nur seine Stiefel an.« Und ein Taugenichts auf der Schwelle des Schusters Troni schwang eine Bürste und rief: »Gnädiger Herr, Stiefelputzen, Stiefelputzen? . . .« Aber der Greis beachtete es nicht.
Es war unrichtig, er hatte nicht die ganze Nacht marschiert. Aber freilich war er um zwei Uhr nachts mit seinem Neffen Nino Buonarotti vom Quartier in Campello aufgebrochen, da es eine Weile aufhörte zu regnen und nur ein Zucken und Schießen der himmlischen Artillerie noch glorreich über den Bergen feuerwerkte, was dem Alten wohltat. Ungern hatte er es gehabt, daß auch Felicita Franzoni mit ihrem Gemahl Carletto ihn begleiten wollte. Das war ein junges, adliges Paar, bei dessen Eltern er Gast gewesen und das eine Wallfahrt zum Kloster auf dem Monte Luco gelobt hatte, wenn die Hindernisse, die man ihrer Heirat auf beiden Seiten bereitete, in drei Monaten besiegt würden. »In drei Monaten«, erzählte Carletto, das Schnurrbärtchen streichend und die langen, schmalen Augen bis auf eine Spalte schließend. »Und in drei Monaten hatten wir es ertrotzt.«
Diese Hindernisse bestanden in der Politik der Väter Franzoni, in der blutarmen, zarten Ungereiftheit der siebzehnjährigen Felicita und in der Unruhe und Seßlosigkeit des zwanzigjährigen Carletto. Er jagte unmäßig, reiste gerne weit und allein herum, stieg sogar, was ein Greuel schien, auf die kahlen Berggipfel hinauf und, munkelte man, unterschied nicht zwischen Gold und Kupfer und zwischen Liebe und Liebelei. Er wollte immer heiß haben, sei es von der Sonne, von den Abenteuern, vom Reiten, vom Tanz mit den Mädchen und vom dunkelroten Spoletanerwein, den er jedem andern vorzog.
Jetzt bei der hohen Gelegenheit eines solchen Gastes wollte das Paar seine Gelübde erfüllen. Aber beide mißfielen trotz ihrer hübschen, flinken Jugend dem greisen Michelangelo, besonders die unglaublich kindliche Frau, die noch auf dem Schemel ritt, Carlettos Reithosenknie mit ihren weißen Schneeglöckleinwangen rieb und so zu ihm aufsah, als sei er der Herrgott um und um. Er nahm sie aufs Knie wie eine Puppe und küßte sie, bis das Schneeglöcklein eine Rose ward, spaßte mit ihr, neckte sie, und so gar nichts von Ernst und Lebensreife atmete gestern abend aus dem Paar, gerade als säße man in einem Puppenzimmer.
Den alten Eltern, die zu Rom schöne Häuser besessen und dort ihre Jugend verbracht hatten, aber nun seit zwanzig Jahren nie mehr von ihrem geliebten umbrischen Bergsitz weggekommen waren, hatte Michelangelo nur immer von Rom erzählen müssen. »Als Ihr das Jüngste Gericht fertiggemalt hattet, sind wir zum letztenmal im Vatikan gewesen. Da nahmen wir uns an der Hand, meine Frau und ich, und liefen, den kalten Schrecken im Rücken, aus dem Palast und bald aus Rom ins Grüne hier oben. So ein Grausen, Meister!«
»Und glaubt Ihr dem Gerichte entronnen zu sein? Gibt es das nur in Rom?« fragte der Künstler ernst.
»Dort mehr als anderswo!« erklärte der Graf fest.
»Das mag wohl sein«, gab der Greis zu und hoffte, nun schweigen und sich zu Bette legen zu dürfen. Nebenan liebelten die Jungen trotz Charon, Posaune und allen Totenschädeln der Friedhöfe.
Aber man ließ dem Einundachtziger noch keine Ruhe. Er saß auch gar zu vielwissend und rüstig da. »Als die Franzoni Rom verließen, war Sankt Peter halb eine Ruine, halb ein unsägliches Baugerüste gewesen, ohne Gesicht und Gehirn«, scherzte der Graf. Wie es nun dort wohl aussehe und ob die unglaubliche Kuppel wirklich ausgeführt werde. Da vergaß sich der alte Mann, schwamm mächtig in seinem Element, erzählte, schimpfte, er habe es mit Verschnittenen zu tun, es gebe dort keine echten Menschen mehr, schlug mit der klapperigen Hand auf den Schiefertisch und zeichnete seinen Plan, das griechische Kreuz, auf die Platte. Kein Finger zitterte. Und dann riß er die Laterne hin und den himmlischen Schwung der Kuppel. Welche Bogen! Welcher Atem in jedem Strich und welche Wut, daß immer wieder die »Praktischen« kamen – o Gott, diese verfluchten Praktischen! – und das Kreuz in die Länge ziehen und die Krone des Weltdoms, die auch seines langen Lebens Krone wäre, töten oder sie ihm doch zu einer Dornenkrone machen wollten. – Nein, da saßen nicht mehr einundachtzig Jahre auf der Eichenstabelle, ein Jüngling war das, ein brausender März, ein gottgejagter, mächtiger Schaffer.
Aber Kuppel hin, Kuppel her, in der Nische hörte man das Schmeicheln und Streicheln der Jungen. Sie sahen den Bart des Alten lodern und wehen, seine unsterbliche Hand mit einem ungeheuren Schatten an der Wand hin- und herregieren und von Ewigkeitsglorie reden, und schüttelten nur das warme, junge Haar und lachten einander in die Augen und umfingen und verwirrten sich wieder in ihren kleinen, elenden Seligkeiten. Den Greis ekelte es förmlich an.
Und so war er denn unsagbar froh gewesen, als der Wind nach kurzem Nachtritt wieder anhob und schwere Regentropfen in die Gesichter schmiß und das bleichsüchtige Frauchen, von all dem Getöse erschreckt und angefröstelt, durchaus umkehren und den Morgen abwarten wollte. Nur Nino war dann weiter mitgeritten, der Sohn seines Brudersohnes, der gar nichts von Kunst und seiner Art verstand. Er hatte ihn in der Herrschaft der Franzoni, wo die Familie bauerte, besucht, dem Großenkel einen Beutel Silber als Patengabe an den Gurt gehängt und, erfreut über seine backenrote, gesunde Unwissenheit, nach Spoleto mitgenommen.
So waren der Greis und der Bub durch die Finsternis geritten. Ein hübsches Reiten trotz Regen und Lüftegebrause. Der Alte redete mit sich oder dem Himmel und der Junge mit seinem Pferde, und jeder ließ den andern in Ruhe.
Ein einziges Mal schien es Michelangelo, es wimmere etwas vom Wegrand und seufze Misericordia! Beinahe wollte er anhalten. Aber der Jüngling lachte, der Ohm träume wohl. Die Winde pfeifen so, und die Bäume jammern, und das Wasser klagt, die ganze Erde schreit. Da kann man alles hören, was man will. – Und Michelangelo hatte wirklich gerade an ein merkwürdiges Bild gedacht, an die alte, abgerackerte Mutter Erde, die müde war und nicht mehr leben wollte und aus Schweiß und Verdruß und Sünde ihre Hände zum Schöpfer hebt und bittet: ›Misericordia, nimm mich hinweg! Ich verderbe ja nur dein himmlisches Spiel. Ich bin ein Greuel für Sonne und Mond mit meinen Häßlichkeiten. Nimm mich weg! Einst war ich ja auch nicht, und du, o Gott, bist ohne mich genau so groß und so glücklich. Erlöse mich, Misericordia!‹
Dieses Misericordia hatte er von innen heraus gehört. »Aber dann«, beharrte er, »hat auch da draußen im Sturm jemand das Wort leise geschrien.«
»Ach Ohm, du bist alt. Vertrau' meinem Ohr. Ich hör' zehnmal schärfer.«
Sie schwiegen und ritten weiter, und erst der aufheiternde Morgen machte sie redseliger. Aber kurz vor Spoleto war das eine Pferd ausgeglitten, blutete am linken Knie und wollte keinen Schritt mehr weiter. Indessen Nino es in einen Bauernstall zur Verpflegung abgab und das andere müde Tier füttern ließ, um dann dem Großohm mit frischer Kraft nachzureiten, hatte der Greis das Städtlein zu Fuß erreicht und sog die gute, vom Gewitter herrlich durchsäuerte Bergluft munter ein, indem er gemach, aber elastischen Schrittes zur Domhöhe aufstieg und sich um den kotigen Zustand seiner Kleider nicht im geringsten kümmerte.
›Das werden ein paar schöne Tage sein,‹ dachte er, ›dort oben auf dem Luco, in Wald und Gestein, so unbehelligt und ungeärgert, auf der Suche nach dem gerühmten Stein, der dort oben gebrochen werde und bei seiner leichten, zähen Art so trefflich für seine Kuppel passen würde. Dann soll es auch Adern eines andern, feinen, mattweißen Marmors da oben geben, nicht der kalte, glänzende, sondern ein Marmor weich und leisrötlich wie Fleisch.‹
Fort von den Menschen zu den Steinen!
Ja, Ruhe und Steine suchen und ganze Dichtungen darin sehen, und abends bei den Mönchen im Refektorium sitzen und der Lesung zuhören und um Mitternacht, wenn das Glöcklein weckt, auch Buch und Laterne nehmen und in den Chorstuhl sitzen und psalmodieren: Ah, das ist schön. Das sind Ferien der Stadt- und Werktagsseele.
Wenn nur jenes zwitschernde, küssende Spatzenpaar ihm nicht nachflattert und die einsame Sonntäglichkeit dort oben nicht stört!
*
Michelangelo hätte leicht den Bischof oder den Governatore besuchen können; sie hätten ihm Komplimente, eine Sänfte, Diener und jedwede Erleichterung geboten. Aber es wäre ein Geschwätz dabei gewesen. Diese hohen Herren hätten von Gott und Kunst und frommem Beruf gesprochen, aber dann schon beim zweiten Becher über ihre irdischen Habseligkeiten und beim dritten über Feinde, Intrigen und andern Menschenstaub ihm Aug' und Herz versudelt. Er kennt das auswendig. Nein, fort, wenigstens ein paar Tage fort von den Menschen, die Staub sind und nur Staub machen!
›Wie anders der Stein!‹ dachte Michelangelo, trat in den Dom und musterte rasch die Skulpturen. Da sah er noch Frühchristliches, ungefüg, schwerhändig, von stumpfer Zunge; aber es lebte ein strammer, männlicher Sinn im Geschnörkel.
Jemand spielte die Orgel irgendwo. Uralte Choräle! Der Greis lehnte sich an eine Säule und horchte und sah nicht, wie ein kleines Mädchen mit einem Strohsessel kam und sagte: »Nur zwei Quattrini!« – Er nahm etwas – Gold, Silber, Kupfer? – er sah es nicht, aus dem Gurt, reichte es, setzte sich nicht, horchte weiter. Das, was er hörte, kam nicht von Menschen. Es war übermenschlich. Es tönte, als sängen die Berge und die Ströme, die Sonnen und Monde, nein, als sänge die Ewigkeit aus ihrem schweren Munde. Dem Greise war, so müßte auch der Stein und der Hammer singen in des Bildhauers Hand, aus dem kleinen Tag ins Ewige hinausschlagend.
Michelangelo ging hinaus. Da sprang ihm das Kind nach, den tropfenden Zeigefinger ihm zustreckend, und rief mit süßem Schelten: »Du bist so alt und weißt noch nicht, daß man sich in der Kirche mit Weihwasser besegnet. Auch beim Hereinkommen hast du den Finger nicht ins Weihwasser getunkt. Da, Alter, tupf' an meinen Finger! So! Und jetzt schlag das Kreuz, wie ich's dir vormache, und sag': ›Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen . . .‹ Bravo, jetzt geschieht dir heut kein Unglück.«
Es half ihm den ledernen Türvorhang beiseiteschieben und sagte »Addio!«
›Ja, die Kinder,‹ dachte Michelangelo, ›das sind noch keine vollen Adame und Even. Das sind halbe Engel und halbe Teufel, so ursprünglich, so naiv, so jenseitig. Aber dann werden sie größer und versinken im gemeinen, lauen Menschentum, das ich schon oft ausgespien hätte, wenn ich Gottes Mund wäre. Sie wollen Ja, sie wollen Nein, nicken zu und winken ab zur gleichen Minute, sie liebeln wie die Maikäfer in ihrer heißesten Dummheit und vergessen und verfressen sich in Trödel wie nicht einmal die Motten. Und ist ihnen einmal ein großer Gedanke vom Himmel in den Schoß gefallen, so können sie ihn doch nicht lange groß behalten. Da verzerren sie hier und stutzen dort und verkleinern und versetzen, bis aus dem Riesen glücklich ein Zwerg, aus dem Himmelsbild eine Grimasse wird. Ach, mein Petersdom!‹
Er ging jetzt tief unter der klotzigen Burg vorbei. Sie ist fast so alt und grau wie ein Berg. Nun schritt er über den Ponte delle Torri, mit seinen zehn über die Schlucht gehobenen schweren Bogen. Am Fensterchen in der Brückenmitte, das damals ein gutes Stück mit dem Gesimse in die Luft hinaushing, kletterte er, um alles reiner zu übersehen, ohne Schwindel hinaus und betrachtete den gewaltigen Quaderbau hinauf und hinunter und an den steilen Seiten von Ufer zu Ufer und atmete schwer aus. Von vergessenen Riesen der Völkerwanderung ist das geschaffen. Die hatten tausend starke Knechtehände und sagten kurz: »So hoch, so weit, so dick muß es sein, basta!« Da krochen keine Würmer des Zweifels, keine Tausendfüßler der Bedenklichkeiten dem Herrn ins Ohr. Er sprach und es ward! Gott, welche Brücke! Nein, damals gab es noch keine Höflinge und Kammerherren.
Jenseits der Schlucht wanderte er langsam die Ränfte empor. Seine Lunge arbeitete noch wacker. ›Himmel, wenn ich nur noch meine Kuppel erlebe‹, dachte er. ›Mit meinem Schnauf wäre es schon möglich. Aber der ewige Ärger. Der vergiftet.‹ – Und bitter trat ihm die letzte Woche ins Gedächtnis, wo die Kommission von Sankt Peter geratschlagt und ihm die Kasse geradezu gesperrt hatte.
Da war ein alter Papst, der Rom befestigen, nicht schmücken wollte. Da war ein junger Architekt. Der wollte durchaus auf seinen Posten, so kleinlich sein Talent knospete. Da war die ganze vielköpfige Fabbrica und jammerte, daß Michelangelo ihnen nicht einmal seine Pläne zeige und seine Absichten erkläre. Was hieß das? Den frischen Saft der Eingebung mit tausend Wenn und Aber verwässern.
Er verbrauche so viel Geld! Wieso? Esse und trinke ich etwa das Gold selber? Ich, der ich auf einer Strohmatte schlafe, in einer Wohnung, wo Stube und Küche zusammen ein einziges Fenster haben und das Schlafzimmer mir nur drei Schritte erlaubt.
›O, sie kritteln und ziehen ins Kleine und Niedrige jeden Schwung. Sogar der gute Kardinal Cervini sagt, es gebe zu wenig Licht ins Chor und ich sei ein alter, versteinerter Despot und wolle noch über den Herrgott hinaus regieren. O, du Großer da oben, du weißt, warum du den Menschen keine Minute voraus deine Gedanken verrätst. Das Göttliche würde vermenschlicht. Das ist der Fluch der Menschen. Sie wollen alles zu Fleisch machen, zu Fleisch, das reizt und welkt und stirbt und stinkt! Nur der Stein trotzt ihnen noch auf Erden . . . der Stein und ich. Darum sagen sie mir heimlich Unmensch.‹
Nicht der steile Marsch, sondern der schwarze Krähenflug solcher Gedanken machte ihn müde. Er setzte sich auf einen Baumstrunk und sah über das graue Städtchen hinunter und nickte im Rauschen und Strudeln des Tessino unten halbwegs ein. Und wie gewöhnlich sah er in solcher Dämmerung der Sinne etwas Hohes, wunderbar Geschwungenes, ein Gebilde ohne Erdenschwere, wie eine Melodie der Überwelt, rein vom Himmelsodem lebend und schwebend, die Peterskuppel, sah sie fertig über der Trommel geschweift und mit der Laterne diademartig gekrönt, sah das über Rom wie einen Schutzgeist der Stadt wehen, und in diesem Traume fing der Alte an wie gewöhnlich mit der Linken – denn die Rechte glaubte immer den Meißel zu halten – prachtvolle Schweife und Rundungen durch die Luft zu ziehen, bis ein lautes, klares Lachen ihn mitten in der Zeichnung abbrechen und völlig ernüchtert mit einem Satz vom Sitz aufspringen ließ.
»Ach, du Bauer«, fuhr es zornig aus seinem Barte. Doch wie er dann den Burschen Nino recht betrachtete, wie er ein Pferd rechts, ein Pferd links am Halfterriemen fassend mit seinen Beinen das Sträßchen verspreizte und aus seinen runden Backen das Lachen schüttete, daß er davon in einem Sonnenschein von Spott stand, ganz wie ein derber Engel etwa über einen Schnitzer des Gevatters Teufel lacht, nein, da zerrann augenblicklich der Grimm. Das Bild war zu plastisch schön. Er zog flink das Skizzenheft hervor mit dem Rötel und befahl weicher als ein Mädchen: »Nino, lieber Nino, steh still, ganz so wie du eben noch standest, und lache, das Gesicht aufwärts, als wolltest du allen Spaß der Himmlischen zu dem deinigen hinunterlocken . . . nicht so! . . . nur einen Augenblick, das gibt ein famoses Bild, sag' ich . . .« und er blitzte und zückte und riß aufs Papier hin wie mit einem Schwert. Aber sieh, jetzt konnte Nino nicht mehr lachen, wurde trotzig und erklärte: »Ich mag nicht.«
»So geh zum Teufel«, schnob ihn der Meister an.
Aber der Jüngling blieb steif und wiederholte: »Ich mag nicht. Das ist dummes Zeug. Steig jetzt lieber aufs Roß, Ohm, es ist schon kuriert. Schau', wie ich es noch gestriegelt hab', das deine besonders. Der Papst mit dem Sakrament dürfte jetzt darauf reiten.«
»Red' mir nicht vom Papst«, grollte der Greis, aber bekreuzte sich zugleich andächtig vor dem Sakrament. – Dann skizzierte er weiter. Was brauchte er diesen Schlingel? Er hatte in einem Augenblick genug gesehen und zeichnete jetzt herrisch weiter. Das war kein Roßbub mehr, sondern ein junger Genius, der aus der komisch kleinen, krämersüchtigen Menschheit voll Ekel entflohen war und nun mit seinen zwei treuen, beflügelten Hengsten, dem Genie und der Sehnsucht, auf einer unersteiglichen Höhe rastete und die verfolgenden Ameisenmenschen mit blendendem Hohn übergoß und jedesmal, wenn wieder so eine kribbelnde, krabbelnde Schar unverrichteter Dinge an den steilen Hängen zurückkollerte, in ein tödliches Lachen ausbrach.
»Da«, sagte der Meister und zeigte dem Enkel die Skizze. Blöde starrte Nino die Zeichnung an und sagte zuletzt: »Das ist ja gelogen, das gibt es nicht.«
»Du hast recht, das gibt es bei uns Affen nicht. Und was es hier nicht gibt, weil die meisten zu schwächlich oder zu dumm und bange dazu sind, das will ich machen. Was es bei uns nicht gibt, das allein ist das Echte. Das andere verdient keinen einzigen Kreidestrich.«
»Ach, Ohm, reden wir etwas anderes«, bat der Jüngling gelangweilt. »Gib acht . . . hopp, hopp, Bianca! Hast du gesehen, der Schimmel hinkt nicht mehr. Wir haben ihm das Bein mit Schnaps eingesalbt, mit Schnaps und Öl. Die Kerle fraßen aber auch wie toll.« – Er tätschelte sie am Hals, als wären es seine zwei Schwestern.
Man ritt nun bedächtig den krummen Weg empor, und im Anblick des Nino, dessen Backen vor Appetit am Leben geschwollen und blaurot waren, und mit seinen schweren Lippen, die sich beim Geplauder vor Frische netzten, und mit dem Heu und Schweif im Haar, aber vor allem in seinem Schwatz, der von Erde und Tier und gesunder Urmenschlichkeit roch, da übernahm es den greisen Städter und Künstler wieder. Er mußte ihm zuhorchen, er konnte nicht anders, und sich freuen, obwohl er nicht alles verstand. Ja, hie und da juckte ihn wie Flohstich die kleine Besinnung, ob so etwas Gesundes und Echtes, in Sonne, Luft und Gras Hausendes und den Himmel kindlich Ahnendes, ob es nicht noch sogar über den Stein, den vielverehrten, heiligen Stein ginge und auch über alle Steinverehrer? Es gab nichts von der Erhabenheit seines Moses in diesem Apfelmenschen da, nichts von der Grübelei seines Pensieroso, nichts von der Schwermut seiner Nacht, noch von dem idealen Schwunge seines David. Der große Atem und tiefe Gedanke seiner Marmorbilder fehlte ganz. Und doch, und doch, war nicht mehr Leben hier? Wahreres, menschenhaftes? Und plötzlich bei diesem Vergleich fühlte Michelangelo Appetit nach Essen und Trinken und sagte, dort an der Wegschleife wollten sie halten, den Sack öffnen und das Frühstück nehmen.
Indem sie vergnüglich das Becherlein Weines leerten und Brot dazu aßen und gedörrtes Fleisch, das der Junge zu dünnen Blättchen schnitt, damit der fast zahnlose Großohm es leichtlich genieße, während dieser artigen Kurzweil im Grün und Duft des Waldes wurde der Tag schon ordentlich warm, und ihre verregneten Kleider trockneten und dufteten von Sonne. Aus der Stadt herauf läutete das Konventglöcklein von St. Agatha, und schon öffnete sich von dieser Höhe aus die Talung gegen Perugia und begannen die über Nacht beschneiten Köpfe der Sibillen hinter den Vorbergen hervorzuwinken. Es summte von Mücken und leuchtete von gelben und weißen Schmetterlingen an der Lichtung, und ein Lüftchen fuhr so entzückend rein und gesund den beiden ins Haar, als bliese es geradeswegs aus der ersten Schöpfung. Leben, Leben und die große Sonne umschwoll und umdrängte den Meister, und der Wein, den die Franzoni mitgegeben hatten, durchrieselte ihn wie ein zweiter fröhlicher Sonnenschein.
»Wie schön ist es hier«, sagte der Greis und streckte und dehnte sich wie ein Jüngling im Frühherbstgras. »Daß ich doch der Natur so vergessen konnte in meinem Atelier!«
»Aber Ohm, so rede doch etwas Vernünftiges«, rief Nino lachend. »Von all dem Gefasel versteh' ich reinweg nichts.«
Der Bildhauer hörte das nicht mehr. Unverbesserlich eilte seine schwerblütige Neugier zum Stein zurück.
Denn dort im Osten dräuten trotz allen Lichtes die sibillinischen Gipfel unheimlich ins Blau empor. Waren das Berge? Waren es nicht eher Statuen Gottes, aus dunklem Stein mit dunklem Hammer geschlagen? Ein Kopf sah aus, als trüge er eine Krone, aber eine Krone, die drückte. Schmerzlich duckte er sich ob der Last in die Schultern. Ein anderer tieferer Kegel schielte mit halb verdrehtem Hals wie ein Spion zu den höhern Kameraden; etwas Hündisches klebte seiner feilen, elenden Haltung an. Ein dritter Riese schlummerte halbwegs, das Haupt leicht vornüber. Die vielen Jahrtausende hatten ihn müde gemacht. Jetzt träumte er vom Überstandenen. Durch ein paar genial hingehämmerte Züge war das halbwache Hindämmern des Giganten ergreifend gedeutet. Nur die Stirne sollte breiter sein und minder glatt. Ein tiefer Riß sollte zwischen den Brauen in die Nasengrube gehen und gleich unter dem Scheitel sollten drei, vier Runzeln gleich ebenso vielen Zeilen eines melancholischen Gedichts das Stirnblatt beschreiben. Und unwillkürlich griff Michelangelo an seinen zerfurchten Kopf und begann von da in die Luft hinaus zu zeichnen und an jenem fernen Gebilde herumzukorrigieren. Gott in seiner runzellosen, leuchtenden Stete habe da vergessen, daß wir sterblich sind und verbröckeln müssen . . . und weiter korrigierte seine Hand durch die Luft.
Aber zum zweitenmal störte ihn mitten im besten Spiel der Schlingel. Mit beiden Händen fiel er dem Meister geradezu in den Arm, tropfte Tränen vor Lachen und schrie: »Ohm, Ohm, du wirst alt. Du murmelst allein für dich hin, kein Mensch weiß, was und zu wem, und du fuchtelst in der Luft herum gerade wie der Valentino Stossi im Dorf, der Irre, wenn er etwa den Veitstanz kriegt.«
»Schweig!« herrschte der Greis ihn furchtbar an. »Ich habe gemeißelt. Ich habe den Berg dort fertiggehauen.«
Jetzt dachte Nino wirklich, der Meister sei verrückt geworden. Seine Augen wurden groß, das Lachen verging. »Welchen Berg?« fragte er. »Das ist doch alles fertig, Michel, jeder Berg . . .«
»Nichts ist fertig!«
›Er ist ganz aus dem Häuschen‹, dachte der Bursche und erhob sich. »Nichts ist da,« rief er fast zornig, »was ich anders haben möchte, als dieser holperige Weg. Korrigier' den lieber!«
Und als der Ohm schwieg, stellte er sich wieder in seinen geringen Kleidern zwischen die Rosse vor ihn hin, schlank, geradbeinig, bauernfest und frisch wie der Himmel, ein dreckiger, grober Engel, aber doch ein Engel, und sagte nicht sehr mild: »Den Berg hast du fertiggehauen? Haha! Bist du also mehr als Gott? Er hat doch das gemacht und am siebenten Tag gesagt, es sei gut. Kannst du's noch besser?«
Mechanisch packten sie die Bündel zusammen. Michelangelos Hände wurden unsicher. Er konnte die Sackschnur nicht zuknöpfen, Nino mußte es tun. Das einfache Wort des Jungen hatte ihn wie mit einem Hammer getroffen. Er wurde finster, still und brummte: »Du verstehst mich nicht.«
»Was, ich dich nicht verstehen? Das ist doch nicht schwer«, fuhr Nino unbarmherzig fort. »Du pfuschtest dem Herrgott ins Zeug, einfach so! Das sagen alle. Ich hab' das nie verstanden. Jetzt weiß ich's auch . . . ha, seine Berge fertigbauen!«
Sie stiegen zu Pferde. Nino mußte wieder helfen. Der Greis sah, daß sein Enkel noch viel auf der sprühenden Lippe hatte. »Red' nur«, gebot er. »Red' nur«, bat er ein zweites Mal.
»Wir haben in Foligno, wohin ich jede Woche mit Futter fahre, einen alten Schneider, Andrea Folli. Jetzt ist er so kurzsichtig, daß er nicht mehr gut nähen kann. Nichts ist ihm recht. Er ist so ein Narr, daß er einmal sagte, Gott hätte den Mond für den Tag brauchen sollen, wo es sowieso hell und heiß genug sei, und die Sonne für die Nacht, wo es sowieso zu dunkel sei. Er habe sich da vergriffen. Denke, so was! – Seitdem heißt er überall der Schulmeister Gottes, und die Kinder packen ihn am Ärmel und fragen, wann er endlich da oben einmal die Lampen wechsle. Da muß man lachen. Und jetzt fängst du an, die Berge zu verbessern!«
»Reite du voraus!« bat Michelangelo als einzige Antwort. Er wollte bisher hartnäckig die Spitze halten, da man nicht nebeneinander reiten konnte. »Führe du«, sagte er jetzt milde. Er war nicht mehr zornig. »Ich merke,« fügte er bei, »daß du besser siehst, lieber Nino.«
»Ja, ich bin noch jung und stark!« bestätigte der Jüngling unbarmherzig. Und er ließ sein Pferd an einer steilen Rampe in solchem Schwung nach vorne setzen, daß es einen Augenblick schien, als schwebten Roß und Reiter über dem Abgrund in lauterer Luft. So eng war der Pfad hier. Da sollte man doch sehen, wie er jung und stark und sicher sei!
*
Es wurde immer steiler und stiller. Die Ruhe des Himmels kam einem fühlbar entgegen. An der Cabanna Mesi, wie der Platz damals hieß, stieg Nino ab und führte den Schimmel des Ohms. Dieser protestierte, aber sah bald ein, daß der Weg für ihn zu jäh und wild wurde, um zu marschieren oder sicher zu reiten. Er ergab sich drein.
»Tyrann,« scherzte er selbstverspottend, »du bevogtest mich ja wie ein Kind. Nichts darf ich träumen, noch phantasieren, noch schelten, muß dir gehorchen wie ein Hündlein. Bevormundest du alles so, auch daheim?«
»Eh, eh, hör' mal, hast du denn keinen Vormund, daß er zu dir und deiner Sach' schaue?« fragte der Kerl voll ungeschminkter Neugier. »Der Conte Carletto sagte mir doch ins Ohr, du habest keine Frau und keine Magd, kochest dir sogar die Minestra und seiest zuletzt so ins Elend gekommen, daß der Papst selber dein Vormund geworden sei und dir die Steine auslese und den rechten Hammer und dich auf Schritt und Tritt überwachen lasse.«
»Das könnte schon so sein«, meinte der Ohm lächelnd. »Aber bevogten läßt sich das da doch nicht.« – Und er strich mit der Hand übers Herz. – »Kennst du meine Sklaven?«
»Sklaven? Hast du solche?« staunte Nino.
»Ich meine von Stein, Statuen.«
»Ach, immer Stein, Stein, Stein!« seufzte der Junge.
»Der eine ergibt sich, er kann nicht mehr anders. Er will sich ins Schicksal fügen. Den hass' ich, ob ihn auch alle bewundern. Aber der andere bäumt sich auf, zerrt am Strick, wird ihn zerreißen und frei sein. Den lieb' ich. Der gleicht mir. Das bin ich.«
»Du?« machte Nino ungläubig.
Man umritt eine Flanke gen Nordwest und sah weit unten im Tal den Maroggiabach und die Straße von San Giacamo her. Wie ein Falke äugte Nino in die Tiefe. Dann jubelte er auf: »Sie kommen, gottlob, dort unten kommen sie.«
»Wer?«
»Gott, wie sie sprengen. Das muß Carletto sein, der vorderste. Es sind noch zwei Diener mit, bravo!«
»Die verdammte Sippe! Wie kannst du froh sein? Alles verderben sie mir.«
»Aber Ohm Michel, was sagst du da wieder! Carletto ist ein feiner Herr, gar nicht stolz, tut mit mir wie mit seinesgleichen und weiß immer zu spaßen. Alle mögen ihn gern. Du bist mit Verlaub ein bißchen langweilig, daß du es nur weißt.«
»Ist es dir schon zu viel, mit einem alten Manne einen halben Tag zu gehen? Dann reit' in Gottes Namen diesen da unten entgegen, ich bin lieber allein.«
»Ohm,« schrie jetzt der Bub schier böse, »was ist eigentlich heut mit dir? Ich von dir weggehen! Durch alle Berge da will ich mit dir. Wie man dich nur anschaut! Das tut wohl, und dann schaut man auch mich an, und etwas bin auch ich, ha, jawohl, und nicht wenig!«
Und er lachte mit dem ganzen Gesicht zum verdüsterten Reiter auf, wie etwa der lockere Mai zum Himmel aufspaßt, wo eine greuliche Wolke wuchtet, und ihr sagt: ›Pst, du da, verdirb uns doch nicht die kurze, lustige Zeit, du Alte, Vergraute!‹ – »Aber«, zürnte der Junge nun drollig weiter, »soll ich etwa deinetwegen den andern Leuten ein so böses Gesicht machen wie – Ach, Ohm Michel, sag', warum hast du gerade heut eine so schlechte Laune? Wo wir doch wallfahrten! Das gefällt Gott und dem heiligen Isaak dort oben einmal sicher nicht. So finden wir keine Gnade.«
Da der Greis immer noch schwieg, nur hie und da unruhig nach rechts und links in den Waldschatten sah, weil er von Zeit zu Zeit etwas glucksen oder gurgeln hörte, ähnlich einem kleinen Quell, sprudelte Nino weiter: »Schaut, Ohm, Ihr hättet eine Frau nehmen sollen. Das ist nichts, so mutterseelenallein leben. Hab' ja doch ich selber schon so halb und halb ein Weiblein.«
»Wie?« entfuhr es dem Greis. »Fängt das auch bei dir schon an?« Und er wunderte sich im stillen wieder, wo es denn so eigen gluckse.
»Das heißt, wir sehen uns viel und nicken uns dann so zu, wißt Ihr, so . . . so wie sonst zu niemand.«
Nino wurde jetzt begeistert. – »Wir können nicht gut allein sein, die Eltern sind zu streng. Aber die Hände haben wir uns schon oft im Dunkel gegeben und so stark, daß sie aufschrie. Und . . . und . . . kann man zu dir eigentlich so viel sagen? . . .«
»Schwärme nur«, spottete der Greis.
»Auch einige Male haben wir uns geküßt, oh, zum Verbrennen.« – Der Jüngling erzählte es, und seine großen, gesunden Lippen dürsteten nach Neuem. – »Und du, ist es denn möglich, bist achtzig geworden und hast nie geküßt, kein einziges Mal, und gibt es doch so viele rote Münder zum Küssen, mehr als Bäche und Brunnen zum Trinken!«
Michelangelo fuhr abwehrend mit der Hand durch die Luft. Es ging ein müdes, schläfriges Weh, fast wie ein bißchen Reue, durch seine Sinne. Und nochmals wehrte er ab.
»Soll ich aufhören?«
»Ja . . . nein! Rede nur, du Maikäfer.«
»Aber so lache auch ein wenig dazu.«
»O, du hörst selber noch früh genug mit Lachen auf. Die Maikäfer surren nur einen Monat herum.«
»Ohm, jetzt paß auf: Ich werde immer lachen, immer mehr.«
Michelangelo schüttelte energisch den Kopf.
»Schau', vorher war ich ein Bub, so ein Tolpatsch, immer mit Buben, immer Raufen und Bocciaspielen. O, es war auch schön. Ich hab' gut geschlafen, und der Tag war mir nie zu lang. Dazu die Rosse, den Wagen nach Foligno oder gar Perugia fahren und auf den Sommerweiden, den Aye- und Porellealpen, ei, das ist auch gut gewesen. Aber zuletzt . . . man kann doch nicht immer mit Buben sein. Groß wird man, alt . . .«
»Alt!« spottete der Uralte.
»So alt, meine ich, daß man die Mädchen sieht, hübsche Teresen, Carlotten, Agnesen, Marien . . . man . . .«
»Und man und man und man?« nörgelte der Greis, obwohl ihm gar nicht recht geheuer war.
»Man will sie nicht bloß anschauen. He! oder?«
Eine Pause entstand. Es gurgelte wieder kräftig. Hopla, jetzt hatte der Ohm den Gluckser erwischt. Nichts Geringeres geschah, als daß Nino ab und zu bei so dursterregender Beichte zur Lederflasche seines Ohms verstohlen griff und flink ein paar Schlucke herausholte. Sie baumelte gar zu bequem vom Sattel. Und dieser Durst und dieser Wein machten dem Burschen die Lippe so beweglich.
»Trink mich nicht arm!« bat der Ohm und fuhr dem Schelm in den Haarstrudel.
»›Wenn man nicht küssen kann, muß man trinken‹, sagt Graf Carletto di Franzoni.«
»Aha, dieses weiche Kerlchen imponiert dir auch noch?«
»Weich, wie redest du?«
»Weich und supersüß wie Honig.«
Nino mußte lachen. »Woher hast du das? Carletto ist stark und rauh, wenn er will. Er hilft mir zur Heirat, sobald ich achtzehnjährig bin. Er weiß, wie das ist, einen Schatz haben und darum sorgen müssen. Und wenn mein Vater trotzdem nicht ›Ja‹ sagt, so nimmt der junge Graf mich auf eines seiner Güter. Aber der Vater wird schon nicken.«
Sie schwiegen, bis Nino von selbst weiterfuhr: »Ich gehe viel mit Carletto auf die Jagd. Er trifft immer und ist nie müd'. Wir schlafen oft im Gras, bis wir am Morgen ganz naß sind. Er hat mir die größte Ohrfeige gegeben im Leben, weil ich eine . . . eine Rehgeiß schoß. Er ist gut mit den Tieren.«
»Vielleicht,« sagte Michelangelo boshaft, da ihm dieses Lob zuwider klang, »vielleicht ist er dann auch gut mit deiner Ninetta.«
Bockstill stand der Bursche, sah zum Greis empor und lachte heillos. »O, du Alter, willst mich noch necken! Der hat an der seinigen genug. Und dann, meine Nina gefällt ihm gar nicht. ›Du so stattlich und sie so gering!‹ sagt er mir. Nein, sie ist nur klein, Ohm, versteh, sehr klein, und hat ein Mäulchen wie eine Erbse. Aber ihre Küsse sind mir groß genug. Und ich, o ich könnte sie verschlucken.«
Nino klatschte aufs Knie und riß vor Erregung am Zügel, daß Michelangelos Pferd fragend zu ihm schaute. Der Alte aber glaubte eine verschollene Musik zu hören.
»Und das hab' ich Carletto gesagt, und so will er jetzt helfen und zum Lohn doch auch einen Kuß von ihr, aber erst an der Hochzeit, vor mir, nur um zu merken, ob eine Erbse Platz hat, sagt er. O, er ist ein Spaßiger!«
»Das hätt' ich nie erlaubt«, tönte es streng vom Pferde herab.
»Du bist halt argwöhnisch und furchtsam wie alle Alten. Ich aber freu' mich, wenn er schmeckt, wie gut ich's bekomme . . . ich bin stolz . . .«
»Aber der Vater!« bremste Michelangelo.
»Ja, der Vater . . .« Nino senkte die Stimme. »Das wäre schlimm. Er mag den Carletto nicht. Seit er das Pachtgut abgekauft hat, ist er ganz frei. Ich hingegen wäre bei Carletto ein Unfreier. Ja, es wäre böse, wenn ich nicht Vaters Segen und Gut bekäme.«
»Da siehst du also!«
»Kannst du nicht helfen, Ohm? Wenn du reden wolltest mit ihm. Sag', du wolltest mein Brautvater sein. O dann! Und du hast doch meinem Vater Geld vorgeschossen, fast die Summe für das Gut, er muß auf dich hören. Und wenn du meinen Schatz siehst, Michel, Lieber, dann könntest du nicht anders, und sie würde dir den häßlichen Bart da streicheln, und vielleicht bekämst du gar einen Kuß. Ich erlaube ihr hundert.«
Der Greis blieb stille, aber Merkwürdiges rührte ihn im Innersten. Die Jugend schwoll warm an sein hohes, kaltes Alter, Jugend, nie genossene, nie verbrauchte, in Frühreife von Kunst und Ehrgeiz verlorene. Diese Jugend grüßte, wie ein Kind an eine alte, harte Pforte pocht, die doch für niemand mehr aufgeht. Aber das Kind klopft dennoch, lächelt, blinzelt wenigstens zu einer Spalte hinein.
›Leben darstellen, ja, das konnte ich, aber ungewöhnliches, übermenschliches, nie gelebtes! Und erst Leben leben, versucht' ich's je? Konnt' ich's? Und das wäre doch das Frühere, Wichtigere, Wahrere gewesen. O Raffael, der geschmeidige, und Lionardo, der üppige, waren viel gescheiter. Hat es etwa ihrem Pinsel geschadet?
›Wenn unser Herrgott am Tor des Himmels fragt: Wo hast du dein gelebtes Leben, zeig' einmal! Was zeig' ich dann? Die abgeschundene Haut etwa wie mein Bartolomeo im Jüngsten Gericht? Oder wälze ich Steine vor ihn? Da, lieber Gott, da hast du mein Leben. Und er: Das sind ja nur Steine, du Armer.
›Der Stein, der Stein! Nein, er ist nicht das Erste und Letzte auf Erden. Da kommt viel anderes vor- und nachher . . .‹
»O Michel Ohm,« unterbrach der Junge schier befehlend, »du willst doch! Du sagst ja nichts, du überlegst. Da gibt es nichts zu denken, du mußt.«
Und so herrschend stand diese zauberische Kraft der Jugend vor ihm, so fest packte der Bursche seine Handgelenke, so tapfer schürzte er seine schwere Lippe, und so unwiderstehlich drangen seine schwarzen Augensterne auf ihn ein, daß Michelangelo nicht Nein sagen konnte.
»Ohm, Guter, Frommer, du mußt! Dann brauch' ich Carletto nicht. Aber du mußt. Du bist jetzt in meiner Gewalt. Der Schimmel gehorcht nur mir.« – Er riß leicht am Zügel, und das Pferd bäumte sich hochauf.
»Mach' keine Dummheiten!«
»Ich gehe keinen Schritt weiter, ich kehre hier um, wenn du nicht augenblicklich Ja sagst«, fuhr Nino fort, und in seine natürliche Artigkeit kam etwas bäuerlich Grobes, Unerbittliches. – »Was sollen wir da oben beten?« rief er. »Ich würde nur fluchen. Und du hättest auch keinen Segen. Da wär' es besser, gar nicht zu wallfahrten. Nein, Michel, du mußt wahrhaftig!«
Er hielt mit dem Pferd steif an. Verständig blickten des Schimmels große, nachdenkliche Augen auf den jungen Herrn: ›Ich halt' es mit dir.‹ Auch das hintere Pferd stand sofort geduldig still und nickte: ›Ich auch.‹ In der linken Faust hielt Nino die Gerte, nicht wie eine Rute, sondern wie ein Zepter, so gebietend und drohend. Gewaltig blies er die Backen auf und blitzte mit den dicht verwachsenen weißen Zähnen. Michelangelo konnte sich nicht satt sehen an diesem bäurischen Erzengel. Wieder griff er inständig nach dem Skizzenheft unter dem Brustlatz, aber wagte es dann doch nicht hervorzuziehen.
»Warum sollst du denn nicht heiraten?« sagte er ruhig. »Und warum soll ich nicht ein Wort einlegen beim Neffen Cecco? Wer hat denn gesagt, daß ich so ein Unmensch sei?«
»Bravo! Bravo!«
»Du bist ein ganzer Kerl; du weißt, was du willst. Einem solchen kann ich nichts abschlagen. Ich tue alles, was du willst, junger Meister, nur treib jetzt vorwärts. Ich bin müd! Ich möchte fast schlafen.«
Sie kamen weiter Wald und Höhe empor. Nino war wie verzückt. Er streichelte dem Ohm die lange, behaarte Hand und liebelte mit der Wange über sein Knie hin oder erwies in seiner Freude dem Pferde die gleiche Zärtlichkeit, scheuchte von beiden die Mücken, hätte beide, wenn es nicht zu kindisch gewesen wäre, mit Küssen bedeckt. Er fing an zu pfeifen, mit der Gerte durch die Luft zu sausen, und seine Augen lachten tief und dunkel in sich hinein. »Ninetta, Vögelchen, klingelt es dir nicht im Ohr?«
Hinter ihnen erscholl Hufschlag. Michelangelo drängte vorwärts und wurde doch immer lahmer auf seinem Schimmel. Die schlaflose Nacht, die Nässe, der Frost, keine warme Zehrung und jetzt an offenen Stellen die mittägliche Sonnenhitze, heja, wohl auch die strenge, dünne Luft und – was weiß ich? – vielleicht auch diese ganze Reihe von Niederlagen gegen einen Knaben wie Nino, das zusammen wirkte so mächtig, daß der Achtziger plötzlich mit vernebelten Blicken vornüber sank, in Schlaf oder Ohnmacht. Er hörte noch Stimmen, die verschwammen, fühlte noch zwei Hände, an denen ein dicker Ring stecken mußte. Dann hob es ihn in die Luft, und er wußte nichts mehr.
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