Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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Am Morgen klopfte es mit unbarmherzigen Fingern an seine Türe, und die Haushälterin rief mit einer Schärfe, die durch alle bettwarmen Glieder weh tat: »Hochwürden, es ist schon ein Viertel vor fünf!«

Verwirrt und unausgeschlafen erhob sich Johannes und schwankte durch den feuchten Garten der Kirche zu. Er war müde, aber voll Eifer. Am morgendlichen Himmel sah der Mond bleich und seelenlos aus und zerfloß bald. Wo war nun all die Poesie hingekommen? Bald saß der Kaplan in seinem braunen Beichthäuschen und waltete des wunderbaren Amtes, Geknickte zu heben, Müde aufzurichten und alles Verzwistete mit dem lieben Gott auszusöhnen. Ja, es war fürwahr nüchterner Tag und alle Träumerei verlosch vor dem harten, notlichen Leben, das sich durch die gekreuzten Gitterchen im verschämten Geflüster der vielen Beichtkinder offenbarte. Das idyllische Dorf war doch nicht lauter Paradies und seine Kinder waren nicht lauter Selige! Wie kam es da herein, das schwere, müde Arbeiten, das Knorzen und Geizen, das Argwöhnen und nachbarliche Ärgern, die sparsame Liebe, das Erwürgen der weichen Gefühle, das stolze Schweigen und der viele Hochmut, der sich selber am meisten wehtut, und die ungesunden Webkeller und die dumpfen Hütlerzimmer und durch alle Steilheit und Steinigkeit dieses Lebens dennoch, dennoch die gierigen Flämmchen der Sinne, die da und dort hervorzücken! Und wie spürte man da die eherne Kette der Gewohnheit und die Mutlosigkeit, auch nur einen ihrer Ringe zu brechen! Ach, wie seufzte die feige Seele auf gegen alte, verwachsene Sünden oder zeigte eine dürre, trockene Resignation, weil es einmal so ist, schon lang so ist und, wenn kein Wunder geschieht, so bleibt! . . . Ah, Kaplan Johannes Keng, das war nicht mehr Musik und Vers, das war Wirklichkeit mit allen Schärfen, . . . das war nicht Mondnacht, das war eckiger, kantiger, heller Tag. Und Therese hatte recht, für diesen Tag bin ich da, nicht für die Mondscheinnacht!

Von seinem Groll gegen die unpoetische Jungfer Köchin verrauchte jetzt das letzte Restchen. Und während der junge Mann so viele Bekenntnisse von Schuld und Reue hörte und mit Besserung und Gnade zuredete, fühlte er die eigene Unwürdigkeit peinlicher als je und bog sich in Demut tief unter alle diese Sünder da, die vor ihm knieten und erröteten. Sein Herz hüpfte ordentlich auf, wenn er an der kecken, muntern Sprache einen Buben oder am klingend frohen Stimmlein ein Mädchen erkannte, die in ihrer blühenden Sorglosigkeit noch über die Untiefen des Lebens wie Blumenblätter flogen und ihre Flegeleien und Neckereien als die Wurzel alles Bösen auf Erden angaben. Wie sie dufteten, diese lieben Kinderseelen! Da sammelte Johannes wieder Kraft, richtete sich hoch und malte von neuem ein strahlendes Morgenrot über den langen, bleiernen Werkeltag der erwachsenen, grauen Menschheit. Solchen Leutchen gab er eine ganz kleine Buße auf und sagte jedem: Geh und sei fröhlich im Herrn! –

In wenigen Wochen hatte Pfarrer Zelblein seinen Gehilfen mit den wichtigsten Persönlichkeiten der Gemeinde bekannt gemacht, so mit dem Gemeindeammann, einem wahren Patriarchen an Ernst und aufrecht getragenen achtzig Lebensjahren. Dann mit dem Lehrer Philippus Korn, der auf der Orgel ein Schwärmer, aber in der Schulfibel ein trockener Knorz war und aus seinem Bübchen Wenzel auf Tod und Leben einen Salomon des neunzehnten Jahrhunderts schnitzelte. Auch den Schulratspräsidenten und Kirchenvogt Karl Scheiwiler, einen grauen zähen Fuchs, besuchten sie respektshalber im Sonntagsfrack. Dann stiegen sie im gemütlichern Habit des Werktags dem Nachtwächter und Witzbold des Dorfes, dem helläugigen Andreas Marxele mit seiner ewig zu engen Jacke auf die von Kaffee riechende Junggesellenbude. Nach und nach führte der Pfarrer den Kaplan dann auch zu den sieben oder acht Bettlägrigen der Gemeinde und zeigte ihm die zerstreuten Häuser, wo ein schwermütiger Tropf oder ein heilloser Luftibus, aber auch wo verschämte Armut und wo irgendeine dunkle Sünde in aller Heimlichkeit wohnte. Johannes staunte mächtig, wie Cyrillus nicht bloß jeden schiefen Stegentritt und niedrigen Winkel dieser Behausungen, sondern auch die noch schiefern und winkelhaftern Zutritte zu den merkwürdigen Seelen kannte und zu jedem sogleich in der Sprache seiner besondern Welt und Weise redete. Es war, als habe Pfarrer Zelblein zu jedem Haus und Herzen nicht einen gewalttätigen Dietrich, aber einen freundlichen Extraschlüssel, dieser schlüsselgewaltige Petrus seines Dorfes.

Unterwegs, wenn der pastorale Spaziergang die beiden Priester durch einsame Felder oder ein verschwiegenes Hügelgehölze führte, brevierten sie mit einander ihre Tagzeiten, der Pfarrer, immer in festem Schritt und Tritt, aus seinem uralten Buch vorbetend, während der Kaplan aus der nagelneuen, noch vom Leder und Goldschnitt des Ladenfensters riechenden Pustetausgabe antwortete, sich in den Lektionen und Responsorien verwirrte und bei einem ungeläufigen Hymnus über eine Buchenwurzel stolperte. Aber es war dennoch schön, den Glanz der orientalischen Psalmen über einer Schweizerwiese oder einem nordischen und nebligen Tannenhügel auszubreiten. Prachtvoll scholl das Laudate Dominum . . . montes et omnes colles! . . .Lobet den Herrn . . . ihr Berge und sämtlichen Hügel . . . lobet den Herrn ihr wilden Tiere und alles Vieh . . . Ps. 148., wenn Johannes auch mit bedrängtem Atem den Stadlerhügel emporklomm . . . oder: Laudate bestiae et universa pecora! . . ., wenn der Kaplan auch vor diesen universa pecora, ja schon vor dem einzigen jungen Stier des Walomerfritz sich hinter die Frackschöße des Pfarrers versteckte.

Einmal bei einer Stelle im Hohen Liede unterbrach sich Johannes begeistert und rief: »Reverende, nein aber . . . diese . . . diese Poesie! Was ist das für eine Bilderpracht! Wie er mit Blumen um sich wirft, dieser grandiose Salomon: »Nardus et crocus, fistula et cinnamomum cum universis lignis Libani, myrrha et aloë cum omnibus primis unguentis . . .«Du bist wie ein Garten, o meine Braut, von Narden und Safran und Zimmet, mit allen Bäumen des Libanon, mit Myrrhe und Aloë und allen köstlichen Salben. Hohes Lied. 4, 14.

Cyrillus Zelblein lächelte. Er stellte sich sein schmackhaftes Obstgärtlein vor mit Zwetschen, Salzbirnen und einigen harten, schwarzen Knallkirschen.

»Den Nardus . . . den gelobten Nardus . . . kennen Sie diese Pflanze?«

Der Pfarrer schüttelte lächelnd seinen schönen runden deutschen Apfelkopf. Er dachte weiter, wie gut zumal die Lachweiler Zwetschen so um Remigi weit herum in den Dörröfen des Dorfes riechen oder was sie für ein duftiges Schnäpslein ergeben . . . .

»Ich sah den Nardus einmal im botanischen Garten in Zürich. Das vergess' ich mein Lebtag nicht mehr . . .«

. . . Ein Schnäpslein freilich zu spärlichem Gebrauch, in eine dicke Flasche wohlverzapft und in die oberste Lade des Küchenkastens gestellt und nur tropfenweise bei Zahnweh oder Bauchgrimmen oder auch nach einer blähenden Nidel genossen . . . dann aber, Abstinenz hin und Abstinenz her, ein wahres Säftlein des Himmels.

»Es ist eine wunderbare Blüte,« deklamierte der Kaplan in die Zwetschen hinein, »von einer wirklich orientalischen Bläue . . .«

»Was, was, Herr Kaplan . . . sind Sie denn schon einmal im Orient gewesen?«

»Das nicht . . . aber ich kann mir den syrischen oder palästinischen Himmel genau vorstellen.«

»Sonderbar! Ich kann mir nicht leicht etwas vorstellen, was ich nicht gesehen habe.«

»Schade, Herr Pfarrer, sehr schade! Aber der Nardus ist wirklich von einer orientalischen Bläue und zauberisch zart gegliedert wie persisches Schleierzeug . . .«

»Ach, lieber Confrater, was gibt es denn für eine schönere Blüte als die an unserem Apfelbaum?«

»Nun ja, die ist auch schön. Das Lächeln ist immer schön, und ein Dichter hat doch gesagt, der Blühet sei das Lächeln der Bäume. Ist das nicht einzig sein gesagt, Herr Pfarrer?«

»Gehen wir zu unserem Salomon zurück!« bestimmte Cyrillus freundlich. Darauf vertieften sich die so ungleichen Geister in die uralten Texte ihrer Breviere und waren sogleich wieder beisammen als Kinder eines Glaubens und Liebens.

Sie wanderten weiter. Aber plötzlich, mitten im starken zweiten Psalm, konnte der Pfarrer aus den wie von Eisen klirrenden, biblischen Versen heraus mit seiner flinken, dicken Patschhand einen Halm vom Acker streifen.

»Was ist das, Herr Kaplan, für ein Botanikum?«

Johannes schaut und schaut und entscheidet sich zuletzt für Weizen.

»Wir andern taufen es Narrenwicke; es ist das ärgste Unkraut, das in Lachweiler wächst.«

»S . . . oo . . . o!«

»Ihre famose Therese hat den Unhold gleich gewittert. Ihr erstes Wort hoch vom Möbelwagen herab war: ›Da wächst mir ja nichts als Narrenwicke im Garten!‹ . . . Die kann Ihnen die besten botanischen Kollegien lesen.«

»Ja, die Therese Legli,« sagte Johannes schier beklommen.

»Nun, da brauchen Sie doch nicht zu seufzen,« lachte der Pfarrer, . . . »oder . . . oder . . .« spottend hob er den Finger, »ist es schon so weit? . . . Wie benamsen Sie denn das da?«

»Herr Pfarrer, das ist vielleicht doch Hanf.«

»Das wäre nun wirklich ordentlicher Weizen. Aber den Baum dort kennen Sie sicher?«

»Es wird eine Kiefer sein . . . Ja, ja, eine Kiefer denk' ich.«

»Ach was, Sie schwindeln,« lachte Cyrillus; »Kiefer? . . . was stellen Sie sich denn unter einer Kiefer vor?«

»Herr Pfarrer,« lachte nun auch der Kaplan gutmütig, »alles was ich nicht weiß, ist eine Kiefer für mich. Wie heißt denn der Baum?«

»Eibe! Ich gebe zu, das war eine schwere Frage. Aber hier kennt sie jedes Kind. Man bindet aus ihren Reisern die schönsten Kränze auf Fronleichnam oder wenn der Bischof zur Firmung kommt. Die Nadeln sind größer und weicher als an der Rottanne.«

Johannes betrachtete die Eibe genau.

»Narden wachsen hier nicht. Aber ich denke, dies herzige Zweiglein duftet ebensogut . . . Doch, wie brevieren wir eigentlich? Fahren wir weiter . . .«

In der Tat, beschloß Johannes bei sich, ich muß die Narrenwicke und den Weizen und die Eibe kennen lernen. Ich bin nicht Kaplan in Syrien. Diese Wicke und diese Eibe gehören zu Lachweiler, ja, zur Pastoration eines Lachweiler Kaplans. Gleich heute abend muß mir Therese die hiesige Garten- und Feldflora erklären.

Aber als Johannes gegen Abend in sein altes Giebelhaus stieg, fuhr ihm schon auf der Treppe nicht Tannen- oder Nardengeruch, sondern ein schwerer, fast betäubender Rosenduft in die Nase. Sieh da, über der Stubentür stand auf umkränztem Karton: »Ich gratuliere!« – Der Kaplan trat ein. Da sah er nichts als Rosen, alles weiße Rosen. Auf dem Tisch prunkten zwei Sträuße, zwei standen auf dem Pult, ein fünfter ward unter dem Bild des wildhärenen Johannes des Täufers aufgestellt. Aber auch an jedem Fensterriegel und an jeder Türklinge war ein Büschelchen weißer Rosen befestigt, und der ganze Stubenboden war mit Blättern davon wie mit Schneeflocken bestreut. Hopla, morgen ist ja mein Namenstag, fiel es dem Überraschten nun glücklich ein. Johannes Baptista! – Nebenan aus der Küche flackerte und prasselte es von heißer Butter. Da wurde sicher geküchelt. Johannes bückte sich zum Schlüsselloch, aber just in dem Augenblick stieß Therese mit dem Fuß die lotterige Türe auf und stand stramm und schneeweiß gewandet vor ihm, in fließendem, gürtellosem Krepp, in der rechten Hand eine Platte voll zinkgelbem Zitronengebäck, in der linken eine Flasche mit silbernem Hals und verdrahtetem Kopf. So stand die Jungfer da, genau wie ein betagtes, aber immer noch rüstiges und schelmisch lächelndes Christkind, vor dem sich Johannes denn auch errötend wie ein ertappter böser Bube neigte.

»Ich wünsche Ihnen auf Sankt Johanni viel Glück und Segen, Gesundheit und Wohlsein und ein Zunehmen wie an Alter, so an Tugend und Weisheit, wie bei Lukas steht, und ein gesegnetes Amtieren und einst ein ruhiges Sterben und dann die ewige Seligkeit, Amen!« sagte das bebrillte Christkind mit hurtiger Feierlichkeit. Dann gebot es gütig. »Setzen Sie sich, Herr Kaplan, und probieren Sie den Imbiß da.« Die Jungfer legte zwei Teller auf den Tisch und steckte höchsteigen dem Geistlichen ein kleines herzförmiges Gebäck in den offenen Mund.

»Das schmeckt ausgezeichnet,« lobte Johannes. »Ich danke für alles, alles. Aber wie öffnen wir die Flasche da? Im ganzen Hans gibt es keinen Zapfenzieher.«

»Da, Hochwürden!« – Therese zog ein schweres Sackmesser aus dem Rock, worin ein Dutzend witziger Instrumente steckten, vor allem auch ein solider Zapfenzieher. Johannes drehte das Gewinde tief in den Kork und zog dann aus Leibeskräften. »Schief halten, schief!« schrie Therese, »sonst spritzt Ihnen aller Saft zur Diele.«

Aber Johannes brachte den Zapfen nicht heraus. Da entwand ihm das Fräulein die Flasche, klemmte sie in die Knie, sperrte die Füße, spitzte den Ellbogen und riß in einem einzigen Rupf den Stöpsel aus dem Hals. Ein weißer schäumender Spritzer schoß hervor.

»O du meine Güte, die Gläser!« rief Therese. »Nun hab' ich alle fünfe für die Rosensträuße gebraucht. Halten Sie mir doch den Hals! da! fest zu! fest zu! Aber schief, hören Sie, schief!« . . . Kommandierend und lärmend lief sie in die Küche und holte zwei Ohrlappentassen, indessen dem armen zitternden Kaplan, der die Flasche stangengerade hielt, der tosende Wein zwischen den Fingern durch bald in die Vorhänge, bald zur Diele zischte. Es blieb noch eben so viel Asti, um beide Tassen halb zu füllen. Aber die zwei Festleutchen stießen nur um so lustiger die irdenen Töpflein wohl siebenmal auf allerlei Großes und Wunderbares diesseits und jenseits der Erde an.

»Warum, Jungfer Therese, haben Sie durchs ganze Haus nichts als weiße Rosen aufgesteckt?« fragte Johannes zwischenhinein. »Nie ein rotes oder gelbes Färblein! nur immer weiß? Es ist gewiß schön und gut gemeint. Aber auf die Länge wird so was doch langweilig.«

»Weiß wird nie langweilig,« entschied das Fräulein. »Die Unschuld ist weiß. Und die Unschuld wird nie langweilig . . . Die Jungfräulichkeit ist weiß. Aber die Jungfräulichkeit dünkt mich das Kurzweiligste von allem.«

»Saperlot!«

»Für einen Geistlichen paßt doch eine weiße Blume am besten. Darum habe ich auch mein weißes Tüllkleid zum Gratulieren angezogen. Ich hab' es mir vor zirka dreißig Jahren eigens anfertigen lassen, um in der Kinderabteilung am Spital ordentlich wie ein Christkind aufzutreten. Da trug ich aber noch einen weißen Schleier vor dem Gesicht. Hei, war das eine Weihnacht von einem Bettlein zum andern!« Während es das sagte, blühte das alte graue Jungferchen förmlich im Widerschein so jugendlicher Andenken auf.

Johannes betrachtete halb ehrfürchtig, halb spöttisch die Fünfundfünfzigerin. Sie hatte ihr Quadrat in den dreißig Jahren ehrlich nach allen Richtungen verbreitert. Der feine Tüll floß nicht mehr überall schleierhaft von der Figur. Die Büste und die Hüften spannte er unleidlich ein; wie ein vollgestopfter Sack sah es da aus. Den Kaplan lächerte dieses Feenbild immer stärker an.

»Das . . . das . . . damalige Christkind ist ohne Zweifel köstlich gewesen,« neckte er. »Aber wie alt sind Sie denn jetzt eigentlich?«

»Ein höflicher . . . pardon . . . ein Tschentelmen fragt die Damen nie nach ihrem Alter,« gab Therese spitzig zurück.

Wo hat sie nun wieder dieses Gentleman her? fragte sich der Kaplan.

»Ich löffle mich,« versetzte er spaßig und sog zur Buße ein anhaltendes süßes Schlücklein ans der Ohrlappentasse.

»Sufficit!« . . . Therese nickte einen gnädigen Erlaß. Sie kannte diese Trinksprache von den Assistenten im Spital her. »Aber was hat das Alter eigentlich mit Weiß zu tun?«

»Ich meine, mit Ihren sechsundfünfzig Lebensjahren . . .«

»Fünfundfünfzig, bitte, an Lichtmeß fünfundfünfzig.«

»Mit Ihren fünfundfünfzig Jahren sollte man die Kinderfarben ausziehen, sollte sich etwa grau oder dunkelbraun kleiden und so nach und nach dem Schwarzen . . .«

»Halt, Herr Kaplan! da sind Sie kolossal auf dem Holzweg. Gerade weil wir alte Jungfern sind, müssen wir uns hell und lustig kleiden. Wir wollen doch die Welt nicht noch grauer machen, als wir sie mit unserem alten Haar und Gerunzel ohnehin machen müssen. Wir wollen da wenigstens soviel Heiteres hineinschmuggeln, als wir noch vermögen. Und wenn wir mit unserem Altweibergesicht nicht mehr hübsch lachen können, ja, sehen Sie, Hochwürden, dann wollen wir eben mit hellen Röcken und Jacken und mit schneeweißen Schürzen und Hauben lachen. Haben Sie etwas dagegen? . . . Sollen wir etwa helfen greinen und Trübsal blasen? . . . Tun das nicht mehr als genug dumme Gesichter?«

»Nein, nein, nein,« erwiderte Johannes rasch und ganz perplex von dieser gründlichen Abfertigung. Mit leiser Angst betrachtete er das blanke, scharfe und solide Quadrat vor sich. In den wenigen Wochen Haushalt hatte er reichlich erfahren, wie schlagfertig die Jungfer war und wieviel kluges Denken hinter dem steilen Viereck ihrer Stirne wohnte. Die scharfen Brillengläser waren nicht mehr und nicht weniger als die Guckausfensterchen eines dahinter hausenden ebenso scharfen Verstandes. In der Schweizergeschichte verwechselte sie zwar die Treffen bei Giornico und GislikonDie Schlacht bei Giornico fand 1478 zwischen den Eidgenossen und Lombarden, das Treffen bei Gislikon 1847 zwischen den verzwisteten Schweizern selbst statt. und hielt Rudolf von Habsburg für einen braven Eidgenossen und zürcherischen Offizier. In der Literatur wußte sie wohl, daß es einen Dante gab, dem das unterirdische Feuer die Dichterlocken versengt habe . . . und daß vielleicht gleichzeitig Christoph Schmid die Ostereier und den Heinrich von Eichenfels geschrieben habe. Aber daneben kannte sie nur noch ein paar Lieder der frommen Cordula Peregrina, wie man sie hinter den Helgen von Benziger etwa gedruckt fand. Sie schrieb mit schwieriger Hand und jedenfalls immer Baum mit P und Donner mit einem T, wie sie auch gern in den härtesten Konsonanten sprach. Aber wozu schreiben, wenn man reden kann? Und fürwahr, reden konnte Therese Legli dreimal flinker und lauter und geschliffener als Johannes Keng. Dabei konnte der Kaplan nicht leugnen, daß etwas von der schönsten und saubersten Advokatenkunst in ihrer Rede steckte, besonders wenn es sich um geistliche Dinge handelte. Er konnte sich nicht satt verwundern, wie sie in Kirche und Kirchenlehre überall tapfer zu Hause war und bald aus diesem, bald aus jenem Fenster der Theologie, wo man etwa einen Stein hinaufwarf, sogleich glorreich erschien und den Stein famos zurückgab.

So einen prachtvollen Treffer hatte Johannes soeben auf den Buckel bekommen.

»Nun also, Herr Kaplan,« warf Therese ein, nachdem sie die Verblüffung ihres Herrn ordentlich ausgekostet hatte, »so stoßen wir einmal auf die weiße Farbe an! auf diese Kurzweil der Alten!«

»Hopla,« wehrte sich Johannes und entzog seine Tasse diesem letzten Triumph der Jungfer Köchin bis an den Rand des Tisches hinaus, »so weit sind wir nun doch noch nicht . . .«

»So sagen Sie mir, wie alt wäre denn eigentlich morgen Sankt Johann Baptist? . . .« Kriegerisch stemmte die Jungfrau die Hände in die Hüften.

»Wie Sie nun wieder fragen, Therese!«

»Wie alt? . . . Ich denke, fast neunzehnhundertjährig. Und doch bekommt er morgen ein weißes Meßgewand. Ein weißes, befiehlt die Kirche. Und wenn Hochwürden über fünfzig Jahren Jubelmesse feiern, immer noch hier in Lachweiler, hoff' ich, so nehmen Sie auch die weiße Kasel. Und dito bei einer goldenen Hochzeit und dito am Kirchweihfest. Und was wollen wir lange Exempel suchen? Über alles Alter geht doch unser lieber Herrgott. Aber unsere Herrgottstage feiern wir alle auch in weißer Farbe.«

»Das wohl . . . das schon . . . ja das . . . freilich,« bröckelte es aus Johannes.

»Und wie oft steht in der alten Bibel von der weißen Farbe . . . sicher mehr als von allen andern Farben. Die fünf klugen Jungfrauen bei Matthäus fünfundzwanzig waren weiß gekleidet . . .«

»Davon weiß ich nichts.«

»Nun, sie trugen das hochzeitliche Kleid, was ist das anders? Und von unserem Herrn und Heiland auf dem Berge Tabor steht wieder bei Matthäus sechzehn oder siebenzehn: seine Kleider aber wurden weiß wie Schnee . . .«

»Das war der verklärte Christus!«

»Haben wir ein ander' Ziel, als uns aus Staub und Grau der Erde zu verklären?«

»Aber die Verklärung fängt nicht bei den Kleidern an.«

»Saperlot,« entgegnete Therese hitzig, »was heißt dann der Spruch: und wären euere Sünden rot wie Scharlach, so würden sie weißer gewaschen als Schnee . . .«

»Jetzt haben Sie recht, Sie Jungfer Theologin, aber . . .«

»Jungfer Theologin . . . wissen Sie, was Sie da sagen? Das war mein Übername im Spital. Die Doktoren, die Patienten auch bald und am meisten der Spitalpfarrer sagten mir so. 's ist nicht ganz manierlich, mit so einem großen Wort zu spaßen. Aber ich . . . ich . . .« Therese errötete leise . . . »ich wäre glücklich, wenn nur ein Körnlein Wahres darin steckte.«

»Nicht nur ein Körnlein, ein ganzer Acker voll! Aber darum behaupt' ich doch, daß ein paar rote oder gelbe Rosen sich in den Buketten da recht würdig ausgenommen hätten. Diesen Rest von Recht streiten Sie mir nicht ab.«

»Herr Kaplan, Herr Kaplan,« mahnte Therese, und ein Zug von seinem Spott kräuselte ihre langen Lippenhaare, »rote Rosen! Wollen Sie etwa gar wie verliebte, vernarrte Menschen eine rote Rose im Knopfloch tragen? Was sich küßt und herzt . . . ch, ch! . . . so Narren und Nachtschwärmer, das will immer rote Rosen. Aber so was berührt uns doch nicht,« . . . und hier machte Therese mit der flachen Hand eine unnennbare Geste der Verachtung und der Abwehr zur Türe, zum Dorf, ja, weit zur Welt hinaus, als sollte es für dergleichen erst hinter ihrem Rücken, wo man das Gerümpel und den Kehricht der Menschheit etwa ausschüttet, ein geeignetes Plätzchen geben.

Johannes dachte, daß er jetzt die rote Kirchenfarbe austrumpfen könnte, wie die Köchin noch eben die weiße. Aber das wohlberittene alte Fräulein würde ihn sicher auch hier mit einer verblüffenden Rechthaberei aus dem Sattel werfen. Nein, er durfte heute nicht alles theologische Ansehen aufs Spiel setzen. Nachdem die Tassen ausgeschlückelt waren, bat er, Therese möchte ihm einmal ihre Bücherei zeigen. Sie kenne die Kirchengebete des Jahres, die Psalmen, die Sonntagsevangelien alle auswendig . . .

Die Jungfer nickte stolzbescheiden mit dem Kopf.

. . . Sie habe ihm schon alle Irrlehrer, die Unkraut in den Garten der Kirche säeten, und alle Kirchenväter, die es wieder ausreuteten, der Reihe nach aufgezählt; sie wisse alle Namen der römischen Kaiser und ihrer Statthalter, die mit herzlosem Eisen im gleichen jungen Garten wüteten. Sie habe von den Konzilien und großen Päpsten und ihrer Mission und Politik eine so umständliche . . . wenn auch etwas hausbackene und altjüngferliche . .  doch diesen Passus verschluckte der Kaplan . . . so tapfere und freudige Einsicht, sie . . .

»Aber bitte, bitte,« wehrte jetzt Therese ernstlich, »so weit langt es denn doch nicht. Ich weiß, was ein einfältiges Geschöpf wissen kann, wenn es seit vierzig Jahren fast jeden Sonntag eine Früh- oder Hauptpredigt gehört hat. Ich habe mir nachher das Wichtigste davon schnell zu Hause aufgeschrieben, damit ich es durch die lange Woche meinen armen Patienten erzählen konnte.«

Aha, daher die rednerische Geläufigkeit! folgerte Johannes.

»Und ich las an freien Nachmittagen gern in den heiligen Schriften und wie sie auch von heiligen Gelehrten ausgelegt wurden. Item die leichteren Schriften der heiligen Theresia habe ich oft und oft durchgenommen und den Kempis und den gottseligen Kochem studiert . . . ich weiß nicht, darf ich neben einem studierten Herrn so sagen? Ach, da wird man ja nie fertig!«

Also daher das tüchtige Zitieren!

»Aber sehen Sie selber einmal in meinen Büchern nach! Vielleicht helfen Sie mir noch eine Lücke stopfen . . .« Schelmisch funkelten ihre Brillengläser.

Johannes hatte die Kammer seiner Haushälterin noch nie betreten. Jetzt staunte er, wie sauber es da war. Alles stand in geometrischer Ordnung, jeder Stuhl, jeder Teppich, jedes Wandbild, und jedes behauptete sich in einem strengen rechten Winkel zum andern. Nirgends gab es etwas Schiefwinkeliges oder Krummes, wie Johannes das in seiner krausen Laune nicht ungern sähe. Das Bett war straff und schneeweiß mit einem Leinentuch überzogen, auf dem riesengroß der Spruch eingestickt war: »Eitelkeit der Eitelkeiten und alles ist Eitelkeit«. Über dem Bett hing ein altes Kupfer: die große Spanierin Theresa mit der Heiliggeisttaube zu Häupten. Ein harter Kniestuhl stand vor dem großen, hölzernen Kruzifix der anderen Wand. In der Mitte des Nachttisches lag ein schwarzes, eisernes Sterbekreuzlein, und rings hatte die Jungfer einen Rosenkranz in Form eines harten und genauen Vierecks gelegt. Auf dem Tisch, in der Mitte der großen Schlafstube, befand sich ein Nähkästchen. Aus dem himmelblauen Samtkissen blitzten drei Reihen Nadeln wie Soldaten einer Parade, zuerst die Nähnadeln mit spitzem Öhr und geschmeidigem Leib, wohl die Pioniere; dann die Stecknadeln mit ihren gelben Metallköpfen als behelmte Angriffskolonne; zuletzt die Reserven der Sicherheitsnadeln. Rechts und links an den Flanken standen wie Offiziere zwei größere Wollnadeln. Voraus aber ging eine Nadel, die alle andern überragte. Im bürgerlichen Leben mochte es eine Haarnadel sein. Hier aber bedeutete sie den Oberst oder Fähnrich des theresianischen Bataillons. So wenigstens bedünkte es den Kaplan. Da haben wir das treue Abbild des geordneten Waffen- und Kriegswesens . . .

»Hier sehen Sie meine Bibliothek,« unterbrach Therese das Gleichnis ihres Herrn und zog ein grünes Tuch vom Gestellchen, das an zwei mächtigen Nägeln an die Wand gehängt war. In soliden braunen Einbänden mit gerieseltem Deckelpapier blickten nun dem Kaplan die Werke entgegen, aus denen Therese ihre Kraft und Weisheit zog. Wenige, aber vielgebrauchte Bände, in volkstümlicher Bearbeitung, faßlich eingeleitet und am Rand und am Fuß mit praktischen Winken verziert, dabei in einem großen, schnörkellosen Druck und alles auf starkem, dickem Papier. Da standen nebeneinander zwei Heiligenlegenden, die eine gar fromm und erbaulich mit gemütvollen Bildern vom Einsiedler Mönch Otto Bitschnau verfaßt, die andere in der saftigen Mannesart des gewaltigen Kapuziners Theodosius Florentini geschrieben. Kochems Meßerklärungen, Katharina Emmerichs »Leiden Christi«, St. Theresias »Seelenburg« aus der Sulzbacher Druckerei und ein großer Foliant »Von den Wundern unseres lb. Herrn und seiner Diener« bildeten mit jenen Legenden und einer alten »Historie von den Nöten und Erhebungen der römischen Kirche« gleichsam Baugerippe, Balken, Stützen und Untermauern der Bücherei. Zwischenhinein schob sich die Unzahl der Handbüchlein als behagliche Fütterung und Ausstaffierung dieses Weisheitstempels. Da fanden sich trauliche und heilig-lustige, aber auch wunderliche und veraltete Gebetbücher, mit außerordentlichen Titeln und naiven, steifen Holzschnitten.

»Haben Sie das alles gelesen?« fragte Johannes mit einem etwas geringschätzigen Blick auf die alten Schunken.

»Mehr oder weniger, ja! einige dutzendmal, etliche nur stückweis, wie sie mir eben zusagten!«

»Ein modernes Andachtsbüchlein seh' ich da nirgends, Jungfer Therese.«

»Mir sind noch die ältesten modern genug,« kam es klipp und klar zurück. »Der Himmel ist doch auch immer noch modern zu allem Alter, und was daran hängt, zum Beispiel der Mond, ist Ihnen doch auch immer noch modern genug, um . . .«

Der priesterliche Jüngling biß sich in die bleiche Unterlippe. »Sie mißverstehen das Wort modern,« sagte er rasch, »ich meine . . .«

»Nein, darüber wollen wir nicht streiten,« entschied Therese und zog das grüne Vorhänglein wieder vor. »Lesen Sie erst einige Werklein davon! Ich hab' manchmal in einer alten Scharteke prächtige Hiebe gegen den Unglauben gefunden. Die Herren Doktoren im Spital haben mir zuletzt gar nichts mehr antworten können.«

»Ist denn so fleißig disputiert worden?«

»Fast bei jedem Mittagessen,« rühmte das Fräulein, und ihr nüchternes Gesicht erhellte sich in der Erinnerung an jene muntern Scharmützel wie von einer roten Schlachtfeldsonne. »Aber die Ärzte sind ehrliche Streiter, das muß ich ihnen lassen. Mit so einem Doktor kann man noch redlich fechten. Er verdreht nichts und hat noch Respekt vor dem Geheimnis. Er kneift nicht aus und schießt mit seinen Gründen gerade aufs Ziel los. Da hatt' ich einmal einen Advokaten an den Herzklappen krank. Holla, war das ein Unterschied! Da hätten Sie hören sollen, wie der kreuz und quer herumruderte, wenn er etwas beweisen wollte. Ich ließ ihn stundenlang reden und sagte am Ende nur: So, Schwamm darüber, und jetzt fangen Sie meinetwegen wieder vorne an!«

Also daher die Dialektik!

Johannes überschaute auf der Schwelle nochmals die steifheilige Altjungfernkammer, durch die kein Stäublein flog und in der eine so starre Stille thronte, daß der Bach unten am Kaplanengarten kaum einen Ton seines Übermutes hereinzuklingeln wagte. Übrigens waren die kleinen, offenen Fenster mit einem dichten, weißen Vorhang geschirmt.

Welch ein Regiment! Johannes drängte es ins Freie. Er atmete auf der Stiege förmlich auf. »Nachdem Sie mir jetzt Ihr geistiges Gärtlein gezeigt,« verlangte er, »müssen Sie mir nun auch noch Ihre weltlichen Pflanzungen erklären. Sehen Sie, der Pfarrer hat mich ausgelacht, weil ich die . . . die Narrenwicke mit dem Weizen verwechselt habe.«

»Sogleich!« erwiderte Therese aus der Kammer. »Die Narrenwicke mit Weizen? . . . Hochwürden, das ist aber stark.« Sie schob noch das Theresienbild, das der kurzsichtige Johannes unmerklich verrückt hatte, senkrecht, bot dem Kaplan an der Türe das Weihwasser aus dem Geschirrchen und spritzte einen kräftigen Tropfen für die Armenseelen auf den Boden. Dann führte sie den Geistlichen von Beet zu Beet und beschrieb und benamste ihm ein volles Dutzend Gemüse und mit etwas verächtlichem Tone dann noch zwei, drei Zierpflanzen.

»Also das fette Kraut da mit den Knollen und dem Maststengel,« hörte man Johannes am Gartenpförtlein nochmals sagen, »das ist Fenchel . . . oder nein . . . warten Sie . . . helfen Sie nicht . . . ich bring' es schon noch zum Rechten . . . ist Blaukohl . . . nicht?«

»O Jeremi, nun sagt' ich doch zweimal, daß der Blaukohl . . . sehen Sie dort links am Hag . . . rot-blaue, gerippte Blätter, aber der Fenchel . . .«

»Das dort am Hag nannten Sie doch Randen.«

»O Jeremi, Randen, sagt' ich, haben tiefgeraniumrote, blanke, glatte . . .«

»Therese, Therese, lassen wir das Kolleg für heut und morgen bleiben! Es ist schwierig soviel auf einmal. Nach Johanni dann etwa wieder.«

Alles kam dem bleichen, aber entzündlichen Johannes Keng oft federleicht vor, das Predigen, die Missionen in Hindostan, das Leben der Eremiten bei Wasser und Brot und Waldkraut und das Bücherschreiben und Berühmtwerden und für Christus durch Feuer und Wasser gehen. Aber als er am Abend in nicht ganz behaglicher Laune seinen magern Leib im Bett umsonst bequem zu legen suchte, sagte sich dieser Stimmungsmensch: »Es ist wahrhaftig alles schwer auf dieser buckeligen Welt: das Klettern und das Gedichtereimen und das Griechisch des Gregor von Nazianz, aber auch das Auseinanderhalten von Blaukohl und Randen . . . oder Rettich? . . . Randen? . . . Rettich? . . . wie nur?« Und zum erstenmal in seinem jungen Kaplanenleben schlief er mit einem leisen Seufzer auf dem halboffenen Munde ein.


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