Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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24

Im Gang zwischen der offenen Küche und der offenen Haustüre, wo es am kühlsten war, saß die Stadlerin an einem Drehstuhl und hütelte eilig. Ihr bleiches Gesicht und ihr weißes Strohgeflecht schimmerten aus dem Halbdunkel wie zwei Lichter. Der Kaplan bat sie, doch weiterzufahren, setzte sich still auf ein Stabellchen an die Wand und schaute zu. Die Frau netzte einen langen Halm, steckte ihn ins Ende des vorigen, der schon ringsum am Hutdeckel festgeknüpft war, und knüpfte und zog nun auch den neuen Halm um und um. So liefen wohl hundert dünne Strohhalme rundum, bis nur der Hutboden geflochten war. Jetzt, da der Wirbel beschirmt worden, ging es am Hinterkopf und gegen die Ohren und die Stirne die Runde hinunter und fuhr nach diesem hohen Absatz den Hutrand hinaus, breit, weit, schattig, mit hundert und hundert neuen Halmen.

Johannes sah zuerst nichts als immer nur das Grinsen der alten Schulratsgesichter. Aber dann konnte er sich diesem wunderlich schnellen Knoten und Knüpfen, diesem Wichsen und Fliegen der Fäden, diesem fließenden Schimmer der Halme, die sich bogen und wanden und in ein eingliedriges Nutz- und Prunkstück des Menschen, sozusagen in seine Krone und Vollendung ausliefen, auf die Länge nicht entziehen. Es war eine Kunst und ein Kunstwerk, was er da erblickte.

In einem großen Korbe lag eine ganze Beige solcher Kronen. Aber ach, der Lohn war gering. Fünfundzwanzig Rappen für so ein stolzes Stück mit seinen hundertmal hundert Köpfen.

»Ist das nicht langweilig?« fragte der Kaplan endlich.

»Langweilig?« – die Witwe wunderte sich aufrichtig. »Mir scheint gerade, der Herr Kaplan sollte es öfter langweilig haben. Immer nur Bücher und Schriften und gelehrtes Zeug. Ich kann nicht schreiben und nur langsam deutsche Buchstaben lesen. Aber mich dünkt, das müsse sehr langweilig sein.«

»Gibt es hier noch viele Leute, die nicht lesen und nicht schreiben können, Frau Annaseppa Stadler?«

»Fast mein ganzer Jahrgang und zwei frühere dazu! Wir hatten damals böse Jahre. Zuerst die Blattern und davon ein großes Sterben, im zweiten Jahr die Klauenseuche im Stall, was schier noch schlimmer tut, und im dritten von dem allem eine Teuerung, daß Gott erbarm'. Da konnt' hier kein Lehrer leben. Das alte Schulhaus wurde ein Dorfspital. Der Lehrer entfloh, und wir bekamen erst wieder einen, als ein neues Schulhaus gebaut wurde. Wir bauten es klein und billig in so knapper Zeit. Der Karl Scheiwiler war dann drei oder vier Jahre der erste Schulmeister. Aber er hatte keinen Lohn. Jeder Bub brachte ihm ein Holzscheit, die großen ein buchenes, die kleinen ein tannenes, und jedes Mädchen mußte ihm drei Kaffeebohnen oder einen Rappen bringen. Damit war der Scheiwiler . . .«

»Was? Der Schulrat, der Vize . . .«

»Ja gewiß, Hochwürden. Er war ein schöner, großartiger Bub. Alle Mädchen sahen ihn gern. Er studierte damals Doktor oder sonst etwas Gescheites auf einer fremden Schule. Das ganze Dorf war stolz auf ihn. Aber da starb die Mutter an den Blattern, dann verdarben die zwei Kühe, dann ward der Vater selbst elend, daß er nicht mehr weben konnte. Und da hat das Studieren aufgehört. Karli mußte heimkommen und sich wieder an den Webstuhl gewöhnen. Zwischenhinein hielt er Schule, bis wir einen richtigen Lehrer bekamen. Das Pedaltreten ging ihm zuerst schwer. Dann hat er gesagt: es sei doch auch so kurzweilig! . . . ich glaub', viel kurzweiliger.«

»So–o–o!« sagte Johannes langsam und sehr viel und sehr schwierig nachdenkend.

»Glauben Sie's nicht? . . . In den Büchern steht doch auch nur, was einer denkt. Aber zum Denken brauch' ich nicht erst etwas zu lesen. Ich denk' grad hier . . . fertig!«

»Kommt Euch denn soviel in den Sinn, Frau Stadler?«

»Nur zu viel! Zum Beispiel . . . doch nein,« – sie hielt inne und errötete. »Ich schwatze so dumm vor einem hochwürdigen Herrn!«

»Nein, nein, liebe Frau, sagt es mir! Ich höre das so gern!«

»Nun ja, so sehen Sie mal, wie das so rund mit Halmen und Schnüren umgeht! Und die Welt ist doch auch rund . . . und geht auch so herum . . . schon sechstausend Jahre, sagt der Pfarrer. Ist ihr aber noch nie langweilig geworden, macht geduldig immer einen neuen Halm um ihren Hut. Am Morgen, wenn ich es am Fensterbrett hell werden sehe, denk' ich: so, du große Hütlimacherin, fängst wieder an, . . . werd' auch müssen! . . . Und dann . . .« sie zögerte, aber der Kaplan nickte heftig . . . »und dann, wenn's mir mal verleidet, so denk' ich: wie müßte es erst unserem Herrgott verleiden, die Weltkugel immer und immer wieder in seiner unendlichen Hand zu drehen, wie ich den Gupf da, die Bösen hinauf, die Guten hinunter, die Guten hinauf, die Bösen hinunter, hin und her, hin und her . . . Jetzt Schatten, jetzt Licht, Schatten, Licht . . . seit die Welt steht! Und das ist lang, sechstausend Jahre, sagt der Pfarrer. Jetzt, wenn mir ein Faden reißt, werd' ich wild, oder wenn ein Halm verfasert oder die Form nicht recht rund werden will, gerat' ich ganz in Zorn. Hab' dann auch schon die ganze Hütlerei vom Stock heruntergezerrt. Aber zuletzt fang' ich doch wieder von vorne an und schäme mich. Unser lieber Herrgott, ja, wenn der wegen jedem schlechten Faden und jedem falschen Knopf und jedem geringen Halm wollte zornig werden, wir erlebten ja keinen ganzen Tag. Und der Herrgott sieht doch ganz genau, wie viele Menschen ihm alles Werk verderben wollen, die ganze große Arbeit . . . ich kann's nicht anders sagen . . . an seinem Welthütlistock. Da wollen sie ihm den Faden verwirren und das Stroh kaput machen und die schöne, runde Form verludern, und weiß ich, was noch! Aber er bleibt so gelassen und dreht die Erdkugel auf und ab und schmeißt sie kein einziges Mal im Zorn aus allen seinen goldenen Lichtern heraus in einen finstern Winkel der Unendlichkeit . . . wohin man den Dreck der ganzen Welt wischt . . . nein, das tut er nicht. Und da sollte mir das Hüteln verleiden? Wo ich noch dazu bezahlt bin?«

Der Kaplan staunte. Das ist die Frau, die nicht schreiben und kaum lesen kann.

»Glauben Sie mir,« fuhr die alte, stramme Witwe redseliger fort, »so beim stillen Hüteln hier im Gang, wo ich nur das graue Gras und ein paar Bäume und ein Ritzlein Himmel hereingucken sehe, da fällt einem allerlei ein, was sicher noch niemand aufgeschrieben hat. Wisset, Hochwürden, das Runde da gefällt mir so. Und rund ist eigentlich doch alles, was gut ist. Oder? . . . der Pfarrer hat oft gesagt, die Vollkommenheit sei rund. Und die Ewigkeit sei rund. Das fängt nie an und hört nie auf. Nein, das macht mir Kopfweh, das verstehe ich nicht. Aber was schön ist, das ist auch sicher rund. Je runder, je schöner! Mir tut es jedesmal wohl, wenn ich so steife, starre Halme biegen und rundum gewöhnen kann. Aber ich rede dumm, ich kann Ihnen das nicht erklären . . .«

»Ich versteh' Euch schon . . . Ja, ja, das Runde!« seufzte Johannes.

»Und noch etwas . . . Sie wissen, wenn alte Weiber einmal im Zug sind, dann geht's wie eine Kaffeemühle . . . aber ich denke auch oft beim Hüteln, wie doch die Menschenköpfe verschieden sind. Eigentlich ist es ja nie ganz rund, wie ich's machen muß. Denn ich muß immer Hut für Hut nach Maß machen. Nein, es ist oval. Sehen Sie, ein bißchen mehr nach beiden Seiten gezogen. Und da ist es kurios, wie jeder Kopf ins Runde gehen sollte und jeder wieder einen andern Zwick und Rank hat, ein wenig aus dem Runden herauszustrolchen. Einige machen sich ganz spitz und schmal. Das sind die Schlauen, denk' ich. Andere werden vorne fast eckig, das sind die Groben und Verstockten. Viele werden breit von Ohr zu Ohr, und die sind dumm und gutmütig. Wenige runden sich hinten und schmälern sich vorne, und das sind die Gescheiten oder die Nobeln. Aber selten, selten treffe ich einen, der sich ganz schön kreisrund herumschleift. Das wäre dann ein Hut für den Kaiser oder den Bischof oder . . . darf man's sagen? . . . für den Heiland, wo er noch Mensch war . . . Ja, ja, Herr Kaplan, die ganze Menschheit läuft mir durch die Finger. Das kann ich schwören! Aber,« sie lachte mit ihrem bleichen, kränklichen Gesicht, »Euere Jungfer Köchin, die hat einen Hut gebraucht, wie ich noch keinen gemacht habe. Sie wollte ihn wegen der Hitze in Italien. Das ist, nichts für ungut, ein Kopf wie ein Viereck, gleich lang und gleich breit. Ich mußte denken: das ist ein mächtiger, harter Weibskopf . . . wie bei einem Stier! Der stößt sich schon bis nach Italien hindurch . . . das hat gar keine Not, bis zum lieben, kranken Herrn Pfarrer . . .«

»Und ich?« fragte der Kaplan und hielt ihr scherzhaft seinen schmalen, heiterbraunen Kopf entgegen. »Was gebt Ihr dem für eine Note?«

»Bewahre, ich werd' mich nicht unterstehen, einem Hochwürdigen . . .«

»Bitte, sagen Sie,« flehte Johannes, »ist es ein Kopf, der sich noch runden kann? Oder hat er schon zu große Ecken? Das möcht' ich wissen!«

»Herr Kaplan!« beschwor die kecke Witwe nun in ernstlicher Angst.

Gottlob, da rannte jemand mit flinken Sätzen ans Haus. Ernst schoß herein, einen Haufen Sonne auf seinem blitzweißen, geschorenen Scheitel.

»Eine Karte, eine Karte aus Italien, Herr Kaplan,« rief er atemlos.

Rasch hielt sie der Geistliche gegen das Türlicht und las: »Herr Pfarer ist jetzt zur Bessinung gekommen. Fieber vorbei! Gerrettet! lacht und grüßt alle. Brief morgen, Therese. Pissa, am 27. Heumond.«

»O Himmel, ist das eine frohe Botschaft!« jubelte der Kaplan und setzte den Hut auf.

»Geben Sie mir die Marke,« bettelte der Schlingel, »weil ich so eine schöne . . .«

»Das muß man im ganzen Dorf verkünden,« rief Johannes, Schulrat und alle Schreibfehler und die Form seines Kopfes vergessend. »Spring, Ernst, die Marke bleibt auf der Karte. Aber du darfst morgen auf die Alp zum Seppli Zeipel und dem Kronenhansli. Ich zahl's. Spring! Der Pfarrer werde gesund! Die Therese habe geschrieben!«

»Gott sei Lob und Dank!« betete die Stadlerin und faltete die Hände. »Und hernach allen Dank Ihrer herrlichen Jungfer Köchin! Wenn die nicht ins Italien hinunter gegangen wäre und selber nachgeschaut und gepflegt hätte, so hätten wir heut sicher keinen Pfarrer mehr.«

»Wohl möglich, wohl möglich!« schrie Johannes und sprang in seliger Hast und ohne richtigen Abschied von der Witwe weg ins Dorf hinauf.

Aus der Krone schlürften die Schulräte, die sich einen Trunk Roten und einen Viererjaß nach so glanzvoller Sitzung gegönnt hatten. Johannes zeigte dem Vorstand die Karte und sagte: »Hier, auf dieses Brett wollen wir das Papier nageln, damit alle Vorübergehenden es lesen und sich mit uns freuen können. Hammer! Reißnägel!«

An der Krone, so recht in den Kirchplatz schauend, hing nämlich das Anschlagbrett für öffentliche Bekanntmachungen, wie Ehen, Spritzenproben, Konkurse und Ganten.

»Mit allen diesen Schreibfehlern?« fragte der alte Karli Scheiwiler schalkhaft, »sehen Sie, Besinnung ist mit zwei ›s‹ geschrieben. Aber Pfarrer dafür mit nur einem r! Man könnte sich daran schwer ärgern. Wollen wir den Zettel nicht zuerst im Schulrat mit Beizug des Lehrers korrigieren? Und dann eine Abschrift . . .«

»Was?« zürnte der Kaplan, ohne den Spott zu merken. »Das Papier wie es ist! So hat es historischen Wert! So ist es ein Dokument wie die alten Urkunden. Das wollen wir aufs Fädlein so behalten. Eine Abschrift ist nur noch ein Schatten davon . . . Ernstli, einen besseren Nagel . . . Ja, den da!«

»Aber, Hochwürden . . . mit einem Dutzend Schreibfehlern!«

»Was tun da die Schreibfehler? Meinetwegen drei Dutzend! Was liegt daran, ein s oder zwei s? Ach Gott, seien wir doch nicht klein in einem so großen Augenblick. Die Hauptsache bleibt, daß unser lieber Pfarrer drunten in Pisa wieder bei heller Besinnung ist und nicht, ob man sein Amt mit einem oder zwei r schreibt! Ich möchte nicht, daß dieses Papier auch nur einen Schreibfehler weniger hätte, so lieb ist es mir schon.« Fliegend sagte der Kaplan das und hieb drei, vier Nägel grenzenlos krumm ein. Schon viele Leute umstanden das seltsame Plakat. Alle voll Neugier und Freude.

»Bravo, Herr Kaplan! So mein' ich's ja auch!« rief jetzt der Vize und lachte gewaltig heraus. Johannes blickte ihn nun erst recht an und verstand auf einmal dieses gesunde, siegreiche Lachen. Aber er wurde weder rot, noch wild, sondern packte jetzt seinerseits die wetterharte Hand des Alten und sagte spaßigernst: »Ich hoffe, wir verstehen einander in Zukunft immer besser . . . Aber mir fällt was Gutes ein . . .« Er lief wie ein Bub zur Kirche hinauf.

Die Stadlerin hörte das Getöse durchs Dorf, das Rennen durch die Gäßlein, das Fensterklingen scheibenauf, scheibenzu und allerlei helle Rufe von Haustüre zu Haustüre. Und horch, jetzt löste das kleine Glöcklein im Turm sein Kindermäulchen und fing an lustig zu schwingen und in die Luft hinaus zu lachen. Es ist die Taufglocke. Man läutet sie nur, wenn ein neues Leben ins Dorf kommt und zur Kirche getragen wird.

Alles verstand den geistlichen Glöckner. Das galt Pfarrer Cyrill Zelblein. Er war dem Dorf zum zweitenmal geschenkt.

Andächtig hörte die Witwe am Hütlerstock dem Geklingel zu. Sie ließ die Halme fahren und betete ein stilles, dankbares Vaterunser in ihrem dunklen Hausflur. Es war ums Zunachten herum. Vielleicht betete in dieser Minute auch eine Königin hoch im Norden: »Vaterunser, der du bist im Himmel!« und unten, tief unten zu Rom ein Purpurmann: »Geheiligt werde dein Name!« und in einer Steinklause am Karmel der heilige Einsiedler Basil: »Zukomme uns dein Reich!« Und alle diese drei Gebete flogen empor wie schneeweiße Tauben und ruhten nicht, bis sie zu den Füßen des allerheiligsten Gottes sich niedersetzen durften. Aber das Vaterunser der Stadlerin flog am schnellsten empor und hatte das weißeste Gefieder und durfte unserem lieben Herrgott sogar aufs Knie niedersitzen.

Dann aber netzte die blasse, arme Witwe den Finger und knüpfte und fädelte mit doppelter Eile weiter, Halm um Halm biegend, am Runden und Vollkommenen der Menschheit.


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