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III. Die Einkreisungspolitik

Der Verfasser kommt nun endlich auf jene Vorgänge zu sprechen, die für die Vorgeschichte und Vorbereitung des gegenwärtigen Krieges in der Tat das Wesentliche sind: die englische Politik der Einkreisung Deutschlands. Auch hier denkt er nicht daran, den einzig ernsten und loyalen Weg zu versuchen: den einer Darstellung und Kritik der Tatsachen: mit oberflächlichen Allgemeinheiten zu arbeiten ist viel bequemer. Er erklärt zunächst die «Einkreisungspolitik» – er will offenbar sagen: «das Wort Einkreisungspolitik» – «ist einer der Schleier, mit denen man die Wahrheit zu verhüllen trachtet. Was heisst das: Einkreisungspolitik? Jeder spricht das Wort nach und keiner verbindet einen klaren Begriff damit.» Nun gibt es im Gegenteil wenig politische Schlagwörter, mit denen man einen so klaren Sinn verbindet, wie mit dem der «Einkreisungspolitik»; niemand – auch ausserhalb Deutschlands – hat vor dem Krieg daran gezweifelt, was das Wort bedeute, und auch heute wissen es selbst diejenigen, die leugnen, dass es solch eine Politik gab.

Das Wort bezeichnet eine bestimmte Reihe politischer Handlungen, offener und geheimer Bündnisse, Abmachungen, Besprechungen, Anerbietungen und Einflussnahmen der verschiedensten Art, die alle einem bestimmten politischen Zweck dienen sollten. Ich werde diese Vorgänge sogleich weiter unten in gedrängter Kürze und Klarheit zusammenstellen. Nicht alle Leute kennen die einzelnen Vorgänge – insbesondere von dem Verfasser wird es bei seinen so unzureichenden Kenntnissen der neueren Geschichte niemand erwarten – aber alle wissen, was damit gemeint ist.

Auch auf der Gegenseite: noch am 23. November 1916 nennt ein italienisches Blatt, die «Italia», König Eduard VII. den wahren Schöpfer der Einkreisung, – wörtlich : «accerchiamento» – Deutschlands. Auch der Verfasser weiss es sehr gut, er verrät es durch die Ausführungen selbst, die er dagegen richtet. Allerdings gerade das, was er für den einzig möglichen Sinn des Wortes erklärt, bedeutet es nicht oder wenigstens nicht in erster Linie. Aber da die Wahrheit all seine Anschauungen und die ganze Tendenz seines Buches widerlegen müsste, so bleibt ihm nur die albernste talmudische Verdrehung übrig.

Das Wort «Einkreisung» ist ursprünglich ein Jagdausdruck. Der Jäger versteht darunter nur das Abspüren eines bestimmten Gebietes; in der üblichen Sprache aber meinte man damit allezeit die vollkommene Umstellung einer gesuchten Beute, sei diese nun ein Stück Wild oder ein feindlicher Heeresteil, so dass ihr kein Ausweg bleibt, ausser dem Versuch, an einer Stelle des Kreises durchzubrechen, wobei man sie womöglich abschlachtet. Im übertragenen Sinn wendet man den Ausdruck an, wenn Menschen einen persönlichen oder politischen Feind, sei es im privaten oder im öffentlichen Leben, mit ehrlichen oder unehrlichen Mitteln, Drohungen, Prozessen, Verläumdungen oder sonst derart bedrängen, dass ihm kein Ausweg bleibt, dass er ihrer Berechnung nach zu Grunde gehen muss.

Wenn also der Autor sagt, das Wort könne, «wenn es überhaupt einen Sinn haben solle, nur eine Politik bedeuten, die Deutschland und Oesterreich, die Zentralmächte, durch ein Gegenbündnis peripherer Mächte einzuschliessen sucht«: es sei also ein «geographischer Begriff», so ist das bereits willkürlich und falsch, denn auf die geographische Lage kommt es zunächst gar nicht an. Wenn es England gelang, alle zurzeit politisch ausschlaggebenden Mächte gegen Deutschland zu vereinigen, auch wenn diese Mächte geographisch durchaus nicht rund um Deutschland lagen, so war Deutschland politisch eingekreist. In der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts hätte kein Mensch daran gedacht, das damals noch kaum mitzählende Russland zu gewinnen, dafür wären Schweden und Holland von umso grösserer Wichtigkeit gewesen. Zur Einkreisung genügte es, dass Deutschland auf jeder Konferenz überstimmt werden und, wenn es etwa den feindlichen Kreis gewaltsam zu durchbrechen suchte, im Krieg stets eine Uebermacht gegen sich haben musste. Einkreisung ist hier gleichbedeutend mit Isolierung, und zwar mit unfreiwilliger Isolierung. Denn, wenn diese Isolierung, wie in England vor der Zeit Eduards VII, eine freiwillige, eine «splendid isolation» ist, dann könnte man den Vorgang, wenn man schon ein schlechtes Wort bilden will, – das der Autor völlig sinnwidrig auf Deutschland anwendet – allenfalls eine «Auskreisung» nennen; wenn aber diese Isolierung gegen den Willen der isolierten Macht erfolgt, wenn man ihr ihre bisherigen Freunde wegnimmt und gegen sie stellt, dann liegt zweifellos eine Einkreisung vor.

Einer der ersten, die das Wort in diesem Sinne gebrauchten, war ein belgischer Diplomat, der Gesandte in Paris, Herr A. Leghait, der bereits im Jahre 1905 am 24. Oktober in einer Note an den damaligen belgischen Minister des Aeussern, Baron Favereau, von dem «cercle de fer» sprach, «dans lequel on cherche à étreindre l'Allemagne» – «dem eisernen Kreis, in dem man Deutschland einzuzwängen trachtet» – so klar war diese Politik schon vor einem Jahrzehnt für alle Sehenden!

Dass diese Einkreisung auch räumlich beinahe vollständig vollzogen wurde, machte das Bild noch richtiger, die Tatsache noch augenfälliger, und es gehört eine ganz ungewöhnliche politische Blindheit dazu, sich ihr zu verschliessen, wenn anders diese Blindheit nicht eine gewollte ist. Wenn aber der Autor die Vereinigung fast aller umliegenden Grossmächte, einer Gruppe, die drei Vierteile der Erde beherrscht, gegen Deutschland und Oesterreich eine harmlose geographische Erscheinung nennt, so ist das ungefähr so gescheit, wie wenn er angesichts eines rings um eine Festung sich lagernden übermächtigen Heeres versichern würde : so lange kein Schuss fällt, ist der um die Festung gezogene Kreis kein militärischer, sondern ein geometrischer Begriff!

Er fragt nun weiter : «Was für eine besondere aggressive Tendenz liegt nun in dieser zufälligen geographischen Lage der Ententemächte? Werden Angriffsabsichten durch geographische Lagen bestimmt oder bewiesen?» Nein, an sich gewiss nicht. Das hat aber auch nie ein vernünftiger Mensch behauptet. Die feindseligen Absichten der Entente werden aus ganz andern Umständen gefolgert – die geographische Lage hat die Gefahr nur ausserordentlich erhöht. Dieses Aufwerfen von rhetorischen Fragen, durch die man dem Gegner Behauptungen zuschmuggelt, die er nie gemacht hat, um ihn dann billig zu widerlegen, ist ein alter Kniff unehrlicher Anwälte. Wie weit und wie oft diese feindseligen Absichten sich zu Angriffsabsichten verdichteten, wird erörtert werden.

Der Autor aber fährt mit der noch kindischeren Frage fort: «Wäre es für Deutschland und Oesterreich nicht ebenso gefährlich oder vielleicht noch gefährlicher gewesen, wenn an der Stelle der einen oder andern Ententemacht Italien dem Gegenbündnis angehört hätte?» und ergänzt diesen Gedanken einige Zeilen weiter durch die Behauptung: «Wäre Italien noch frei gewesen, so hätte König Eduard wahrscheinlich lieber Italien in sein Bündnissystem hineingezogen als Russland.» Man staunt, wie ein Mensch, der bei Vernunft ist, solch vollkommenen Unsinn hinschreiben kann, ohne den Satz beim ersten Ueberdenken wieder zu streichen. Denn selbstverständlich wäre Italien viel weniger gefährlich gewesen, einfach, weil Russland ein Feldheer von 4,110,000 Mann aufstellen konnte und Italien nur ein solches von 1,124,828 Mann (um die Ziffern eines italienischen Blattes, des «Corriere della Sera», vom 3. August 1914 anzuführen; in der Tat war der Unterschied ein viel grösserer). Die unendlich geringere Gefährlichkeit Italiens für Oesterreich, von Deutschland gar nicht zu reden, hat der Krieg hinlänglich bewiesen. König Eduard, der in keinem Augenblick so unüberlegt handelte, wie der Verfasser schreibt, wusste genau, was Russland und was Italien ihm in einem Kriege wert sein konnte. Uebrigens hat er es an Versuchen, auch Italien zu gewinnen, nicht fehlen lassen, und Italien ist ja gewonnen worden. Ebenso ist in Amerika geschehen, was geschehen konnte, wenigstens, um die öffentliche Meinung gegen Deutschland einzunehmen. Der Autor aber schliesst den Absatz mit der überraschenden Bemerkung: «Wenn man Italien und Amerika statt Russland gewonnen hätte, dann hätte man von einer Einkreisungspolitik nur noch in dem Sinn sprechen können, wie der Füsilier Kutschke behauptete, eine ganze Kompagnie umzingelt zu haben.»

Bei diesem wunderlichen Vergleich – da der Witz doch darin besteht, dass der umzingelnde Kutschke nur einer gegen viele ist, während England, Frankreich, Italien und Amerika eine riesige Ueberzahl bedeuten – wird man wie so oft stutzig. Sollte der Autor, wie seine beständige Gedankenflucht, seine Unfähigkeit zum logischen Durchdenken irgendeiner These und zu jeder Kritik dessen, was ihm eben durch den Kopf schiesst, vermuten lassen, in der Tat krank sein, so könnte man bedauern, ihm seine Krankheit darlegen zu müssen. Bedauern, nicht bereuen. Dazu ist er ein in zu hohem Grade gemeingefährlicher Kranker. Sein Buch hat ja Erfolg gehabt. Gebildete Leute schämen sich nicht, es zu lesen, es zu erwähnen, es für ein politisches Dokument unserer Zeit zu halten. Gebildete Leute lassen sich von dem Aplomb der vollkommenen Unwissenheit düpieren, oder haben plattes Wortgedrehe hingenommen, wie das auf der gleichen Seite folgende, mit dem der Autor die ganze Frage zu entscheiden glaubt: «Die Sechsmächtegruppierung in Europa ist aus historischen Umständen und Interessengemeinschaften entstanden.» Das Wort historisch ist gesperrt gedruckt, als hätte der Autor damit wirklich etwas gesagt und erklärt!

Entweder soll «historisch» hier «geschichtlich» im allgemeinen bedeuten, und dann heisst es gar nichts, denn historisch ist natürlich alles, was in der Geschichte vorkommt: andere als «geschichtliche» Umstände und Interessengemeinschaften kann es in der Geschichte nicht geben, – oder es heisst geschichtlich im engeren Sinne, also im Sinn von «überliefert», «althergebracht», und dann ist es falsch und unwahr, denn zwischen England und Frankreich bestand ein Jahrhunderte alter «historischer» Interessengegensatz in allen Weltteilen, und zwischen England und Russland ein zwar neuerer, aber umso schärferer Interessengegensatz in Asien, den der Verfasser selbst sechs Zeilen vorher als trennend erwähnt hat! Eine dritte Bedeutung des Wortes «historisch» wäre etwa «wichtig», «bedeutungsvoll», aber damit wäre wieder nichts gesagt. Was in aller Welt mag der Autor sich also hier gedacht haben? Wahrscheinlich nichts, denn wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort, insbesondere ein Fremdwort, zu rechter Zeit sich ein. Ein gedankenloser Autor hat instinktiv mit ebenso gedankenlosen Lesern gerechnet und hat Recht behalten. Die einzige «Interessengemeinschaft», die England, Frankreich und Russland verband, war das Interesse an der Vernichtung Deutschlands, oder wie es der belgische Gesandte in Berlin am 12. Juni 1908 ausdrückte: «Elles sont unies par la haine commune contre l'Allemagne.» Diese Interessengemeinschaft kann man natürlich eine historische nennen, nur ist damit weiter nichts gesagt, als dass sie sich im Lauf der Geschichte ereignet hat, und schwer von Bedeutung und Folgen war.

Nun zunächst in Kürze die tatsächlichen Vorgänge, die man in dem Wort «Einkreisungspolitik» zusammenfasst.

Bis in die Mitte der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stand England durchaus auf der Seite des Dreibundes und sah in Frankreich und Russland seine gefährlichsten Gegner. Im Jahre 1889 sagte der damalige Prinz von Wales bei einer Regatta von Cowes in einer Rede: «die deutsche Armee und die britische Flotte würden den Weltfrieden erhalten.» Ja, die Feindschaft zwischen Frankreich und England steigerte sich noch und drohte bei Faschoda im Jahr 1898 zum Kriege zu führen, und auch als die Annäherung zwischen beiden Mächten bereits im Gange war, blieb das Volksempfinden ein feindseliges und führte während des Burenkrieges zu den gehässigsten Ausbrüchen. Ueber die Stellung Englands zu Russlands braucht nichts gesagt zu werden; die kennt selbst der Verfasser.

Der erste schärfere Gegensatz englischer und deutscher Politik ergab sich in der Transvaalfrage; und man empfand damals in der ganzen Welt, ob mit Recht oder Unrecht, ungefähr wie in Deutschland. Dagegen ist es in der Welt wenig oder gar nicht bekannt, dass die deutsche Regierung im Jahre 1896 eine internationale Garantie für die Neutralität der beiden südafrikanischen Republiken anregte, die von Frankreich abgelehnt wurde. Dass man dies, wie andere Schritte zu gunsten der Buren, in England übelnahm, ist vollkommen begreiflich; auch die Freundschaft Deutschlands mit Russland verstimmte zunächst; aber all dies wäre zu überbrücken gewesen. Die viel engeren russischen Beziehungen Frankreichs haben ja England keineswegs erschreckt.

Was tatsächlich erschreckte, was den Abgrund öffnete, und die grosse Wendung der englischen Politik vorbereitete das war die steigende politische und wirtschaftliche Macht Deutschlands und das Wachsen seines Seehandels, die gefährliche Konkurrenz. Man machte in England auch gar kein Hehl daraus; Lord Rosebery sagte ganz offen, «nicht nur die Transvaalfrage, nein, vor allem die wirtschaftliche Gefahr, die von Deutschland drohe, habe das gute Verhältnis zwischen beiden Ländern gestört». Und im September 1897 erschien in der Saturday-Review jener berühmte Artikel, in dem es wörtlich hiess : «Wenn Deutschland morgen aus der Welt gestrichen würde, so gäbe es übermorgen keinen Engländer, der nicht umso reicher wäre. Völker haben jahrelang um eine Stadt, um ein Erbfolgerecht gekämpft: sollten sie nicht um einen jährlichen Handel von fünf Milliarden Mark Krieg führen?» Es war dieser Artikel, der mit den Worten «Germaniam esse delendam» schloss.

Aber noch nahm die Gegnerschaft keine offenen Formen an, noch kam es gelegentlich zu gemeinsamem Vorgehen, wie 1900 in China und 1902 in Venezuela, zu Verträgen, wie dem über die portugiesischen Kolonien im Jahre 1898, dem Yangtsevertrag von 1900 und dem deutsch-englischen Schiedsabkommen von 1904. Noch gab es englische Bemühungen um ein Bündnis mit Deutschland, die vornehmlich von Chamberlain ausgingen. Sie waren erklärlich, denn noch schwankte die Wage, noch war man sich in England nicht darüber klar, ob man Deutschland oder Russland als den nächsten Feind zu betrachten und zu bekämpfen hatte: Russland, nicht Deutschland, stand an den Toren Indiens. Um aber einen Krieg gegen einen kontinentalen Gegner zu führen, brauchte England, das kein starkes Heer hatte, allezeit eine Landmacht zum Bundesgenossen. Frankreich, das mit Russland ein Bündnis geschlossen hatte, konnte es gegen Russland nicht brauchen, daher die Werbungen um Deutschland, das vorläufig nur ein Handelsgegner war. Für Deutschland lag die Sache umgekehrt: nicht England, sondern Russland stand mit einer ungeheuren Wehrmacht an einer überlangen Grenze: der Antrag gab alle Ursache zu Bedenken. Ja, wenn die deutsche Regierung den Krieg wollte, dann konnte sie nichts Besseres tun: ein Bündnis mit England, das ihr ausser Oesterreich auch Italien sicherte, hätte Russland und Frankreich gegenüber immerhin die Uebermacht begründet; aber wenn sie den Frieden und nur die freie Entwicklung eigener Kräfte wünschte, dann sprach vieles dagegen.

Im Jahre 1894 war das russisch-französische Bündnis geschlossen worden, von dem die «Moskauer Zeitung» schon 1887 gesagt hatte : «es brauche keines geschriebenen Vertrages, bei einem Angriff auf Deutschland werde es von selbst in Kraft treten.» Viel, viel früher noch, ehe das Deutsche Reich bestand, war ihm von dieser Seite die Vernichtung durch russisch-französische Kräfte angedroht worden. Im Jahre 1849 hatte Nikolaus I. zum französischen Gesandten, General Lamoricière, gesagt: «Wenn gegen meinen und Ihren Willen es Deutschland gelingen sollte, ein geeinter Staat zu werden, so braucht es, um seiner Einigung froh zu werden, einen Mann, der vermag, was Napoleon selbst nicht zu vollbringen vermochte. Und wenn solch ein Mann käme, wenn die bewaffnete Masse gefährlich werden sollte, dann wird es unsere Sache sein, die Frankreichs und Russlands, sie zu zerbrechen.» Zitiert in einem Brief Lamorieieres an Alexis de Tocqueville, in Tocqueville's ‹Souvenirs› Paris 1893, S. 383.

Dies waren Worte; und zweifellos haben sich Ansichten und Absichten des russischen Hofes seither öfters geändert. Jetzt aber sah sich Deutschland tatsächlich von zwei Seiten bedroht; oder will der Verfasser leugnen, dass das Bündnis gegen Deutschland gerichtet war? glaubt er wirklich, dass Frankreich nur aus Liebe und Friedensliebe der russischen Regierung beinahe 20 Milliarden vorstreckte, insbesondere die letzten 2½ Milliarden, deren ausdrückliche Bestimmung für strategische Bahnen an der österreichischen Grenze von der französischen Kammer festgesetzt und von allen französischen Blättern erörtert wurde?

Dagegen hatte die englisch-französische Spannung 1898 durch den Zwischenfall von Faschoda ihren Höhepunkt erreicht. Und da ereignete sich das wunderbare, dass der neue französische Minister des Aeussern, Herr Delcassé, der ganzen erregten öffentlichen Meinung Frankreichs zu Trotz, vollkommen nachgab und auf alles verzichtete, was England begehrte – wieder nur aus Liebe zum Feinde und nicht aus anderen, für jeden, der sehen will, allzu durchsichtigen Absichten? ...

Nun folgte der weitere Ausbau Schlag auf Schlag. Zunächst wurde Italien herangezogen: Handelsverträge, Grenzabkommen, Beeinflussung der öffentlichen Meinung und Presse durch die Tätigkeit des sehr geschickten französischen Botschafters, Herrn Barrère, Flottenbesuche, Besuche der Staatsoberhäupter: 1903 konnte König Victor Emanuel in Paris von «einer glücklich vollzogenen Annäherung» sprechen. Gegen all dies konnte schliesslich nichts eingewendet werden. Aber 1900 war zwischen Italien und Frankreich ein Vertrag geschlossen worden, der 1902 erneuert und genau ausgearbeitet wurde, in welchem Frankreich der italienischen Regierung volle Freiheit in Tripolis verbürgte, wogegen diese der französischen das gleiche für Marokko zusagte. Am 17. April 1902 nahm die englische Regierung diese Abmachungen zur Kenntnis. Damit hatte Italien sich ohne Rücksicht auf die Interessen seiner Bundesgenossen an die «Entente» verkauft: selbst der Franzose Albert Pimgaud gibt in seinem schon erwähnten Buche zu: «Zur Konferenz von Algeciras ging Italien nicht mit freien Händen, es hatte durch diese Verträge eine Interessengemeinschaft mit Frankreich übernommen.» Die Folgen sind nicht ausgeblieben, und haben, wie man weiss, sehr weit geführt.

Der «Temps» behauptete, in einem Artikel vom 8. August 1916, sogar, dass Italien schon damals Frankreich für den Kriegsfall die Neutralität zusagte; natürlich nur für den Fall, dass Frankreich der angegriffene Teil wäre; da indessen in jedem Krieg beide Teile erklären, der Angegriffene zu sein, so hatte Italien die Wahl, zu glauben, wem es wollte, und der Dreibund war damit in aller Stille aufgehoben. Diesem Artikel ist von italienischer Seite nicht widersprochen worden. Uebrigens war jeder Schritt von Anfang an in dieser Richtung gedacht und berechnet worden. Bereits am 28. Januar 1898, dem Tag, an dem der italienisch-französische Handelsvertrag in der französischen Kammer genehmigt wurde, hatte Delcassé die Erklärung abgegeben: «Dieser Vertrag hat eine hochpolitische Bedeutung: wir können in der gegenwärtigen Lage an unserer Südgrenze keinen Feind brauchen.» Also schon der Handelsvertrag war nicht so sehr aus wirtschaftlichen Gründen als im Hinblick auf den Abfall Italiens von seinen Bundesgenossen geschlossen worden. Im Jahr 1902 kamen zum ersten Tripolisvertrag neue Abmachungen hinzu, deren genauer Inhalt bisher unbekannt geblieben ist; man wusste auch in Italien nur, dass Italien nunmehr Frankreich gegenüber irgendeine wesentliche Verpflichtung auf sich genommen hatte: «Unsere Abmachungen mit Rom», sagte Delcassé im Jahre 1908 in der französischen Kammer, «geben uns die kostbare Gewissheit, dass der Dreibund sich niemals gegen uns wenden wird». Nun scheint der «Temps» die Frage geklärt zu haben; aber enthielte der Artikel, der, wie gesagt, von italienischer Seite unwidersprochen geblieben ist, nicht oder nicht genau die Wahrheit, so ist der Zweck eben auf andere Weise erreicht worden.

Bei der Zusammenkunft zwischen König Victor Emanuel und Eduard VII. zu Gaeta im Jahr 1907 folgten weitere Abmachungen, durch die Italien, wie der Verfasser der «Politica Estera Italiana» sich ausdrückt, «faktisch Mitglied eines Mittelmeerbundes wurde, der unbestreitbar gegen eine eventuelle deutsche Politik gerichtet war».

Anfang 1904 wurde der Vertrag zwischen England und Frankreich über Aegypten und Marokko geschlossen, mit dem gleichzeitigen geheimen Abkommen, das dem öffentlichen scharf widersprach und Frankreich gestattete, mit Marokko zu tun, was es wolle. Ebenso wurde in denselben Tagen ein öffentlicher und ein geheimer Vertrag zwischen Frankreich und Spanien geschlossen, die einander in gleicher Weise widersprachen: im öffentlichen Vertrag wurde Marokko für unverletzbar erklärt, im Geheimvertrag wurde es zwischen Spanien und Frankreich geteilt. Damit war auch Spanien, das von 1890 bis 1895 zum Dreibund gehört hatte, an England und Frankreich gekettet.

Als Deutschland, das man – im Bewusstsein des Unrechtes, das man ihm tat Dass die französischen Pläne auf Marokko «ohne Zustimmung Deutschlands und zu Deutschlands Schaden» «senza suo beneplacito e a suo danno» verabredet wurden, das gibt auch der wiederholt zitierte italienische Geschichtschreiber zu. – von diesen Verträgen überhaupt nicht verständigt hatte, seine Rechte in Marokko zu wahren suchte, als der Deutsche Kaiser den Sultan von Marokko besuchte, dessen volle Unabhängigkeit England und Frankreich in den öffentlichen Verträgen ebenso feierlich als verlogen anerkannt hatten, da schrie die französische und englische Presse über diese «Herausforderung!» Es kam zur Konferenz von Algeciras, in der sich die Folgen der noch recht unvollendeten Einkreisung bereits deutlich zeigten: Deutschland hatte nur Oesterreich-Ungarn auf seiner Seite – sein zweiter Bundesgenosse war bereits verführt, war «nicht mit freien Händen gekommen», und es wurde in wichtigsten Fragen überstimmt.

1905 wurde das bereits 1902 geschlossene englisch-japanische Bündnis erweitert, im selben Jahr wurde Norwegen unter Englands lebhafter Unterstützung von Schweden getrennt und ganz unter englischen Einfluss gebracht. 1906 erfolgten die ersten englischen Anerbietungen an Belgien, während bei der holländischen Regierung vergebliche Versuche gemacht wurden, sie möchte im Kriegsfall die Durchfahrt durch die Schelde gestatten! 1907 gewährte England Spanien eine Anleihe für eine Flotte, die es in England bauen lassen sollte; englische Seeoffiziere übernahmen die Leitung der spanischen Häfen- und Küstenbefestigungen. Im selben Jahr wurde die Verbindung zwischen England, Frankreich und Spanien durch das sogenannte Mittelmeerabkommen noch enger gestaltet.

Aber die gewaltigste Veränderung in der äussern Politik Englands, die nur durch ausserordentliche Gründe und Pläne zu erklären blieb, war die Versöhnung mit Russland. Schon im Jahre 1903 hatte der Liberale Sir Edward Grey die Notwendigkeit solch einer Versöhnung im englischen Parlament ausgesprochen. Wenn der Verfasser von «J'accuse» hier die kindliche Bemerkung macht, König Eduard hätte einen Bundesgenossen nur ungern gesehen, «dessen politische Rückständigkeit ebenso wie seine asiatischen Gegeninteressen ihn zu einem sehr unwillkommenen Freund für England machen mussten», so hatte man ja bereits gesehen, wie wenig selbst die französische Republik sich scheute, das schreckliche russische System, das stets an seinen Geldnöten zusammenzubrechen drohte, durch Darlehen von zwanzig Milliarden aufrecht zu erhalten, wenn es nur gegen Deutschland Hilfe versprach. Die erste Bedingung für die russisch-französische Annäherung war die Verhaftung geflüchteter russischer Revolutionäre in Paris gewesen, die im Mai 1890 vom Ministerium Freycinet verfügt wurde! Und mit den «asiatischen Gegeninteressen» wusste man in wirklich genialer Weise aufzuräumen. Erst wurde Russland in Ostasien durch den Bundesgenossen Japan lahmgelegt und seine Flotte vernichtet – dann sobald das Zarenreich hilflos geworden war und einsehen musste, dass es gegen England und Japan nicht aufkommen konnte, erklärte Sir Edward Grey, der liberale Staatssekretär, auch schon – am 20. Oktober 1905 – «es sei zu wünschen, dass Russland seine Stellung im Rate Europas wiedererhalte». Warum in aller Welt wünschte die englische Regierung das nur, wenn König Eduard die vom Verfasser geäusserten Bedenken hatte? aus Christenpflicht? – Es blieb nicht bei den Worten, noch bei freundlichen Demonstrationen, wie Flottenbesuchen, sondern am 31. August 1907 wurde der Vertrag geschlossen, der die «asiatischen Gegeninteressen» beseitigte, und zwar, wie üblich, auf Kosten eines unabhängigen Landes, nämlich Persiens, das keinem von beiden gehörte und nun mehr oder minder zwischen England und Russland geteilt wurde. Wie furchtbar die Russen, dank der Zustimmung des freiheitliebenden Englands, in Nordpersien hausten, das hat eine angesehene französische Zeitschrift, der «Courrier Européen», in einer ihrer letzten Nummern vor dem Kriegsausbruch mit photographischem Beweismaterial mitgeteilt. Gleichzeitig wurden Vereinbarungen über ein gemeinsames Vorgehen auf dem Balkan getroffen, die zweifellos bei der Zusammenkunft des Zaren mit Eduard VII. in Reval am 8. Juni 1908 ihren letzten Abschluss fanden. Der Inhalt dieser Abmachungen wurde – selbstverständlich, da man hier mit ganz anderen Gegnern und Widerständen rechnen musste, als in Persien oder China – nie bekannt gegeben: es genügt vollkommen, dass ungefähr seit 1906 die beiden alten Gegner England und Russland in allen Balkanfragen gemeinsam und fast immer im Widerspruch zu Deutschland und Oesterreich sowie zur Türkei vorgehen. Es genügt, dass die Politik Englands, das so lang der Schirmherr der Türkei gegen Russland gewesen, sich ins Gegenteil verkehrte, seitdem die Türkei mit Deutschland befreundet, England aber mit Russland versöhnt war.

Im gleichen Jahr 1906 war eine Versöhnung zwischen Japan und Russland zustande gekommen, da England eine Feindschaft zwischen seinen beiden Freunden nicht mehr brauchen konnte; 1907 fand ein Uebereinkommen zwischen Japan und Frankreich statt, in dem die Interessensphären beider in Ostasien abgegrenzt wurden. Alle Freunde waren so mehr oder minder unter einen Hut gebracht und Reibungen zwischen ihnen für die nächsten Jahre verhütet. 1908 wurde der russische Minister des Aeussern, Iswolsky, zu Racconigi vom König von Italien empfangen und eine «vollständige Uebereinstimmung aller Anschauungen festgestellt». «C'était là le premier indice d'une orientation nouvelle de la politique italienne», sagt Pimgaud. Im Oktober 1909 begegneten sich der Zar und der König von Italien zu Racconigi. 1911 begann Italien gemäss seinen Abmachungen mit den Gegnern des Dreibundes den Tripoliskrieg – eine «wahre Narrentat», «une folle équipée» nennt es der belgische Gesandte Baron Greindl in einem Bericht – und wurde durch die Eroberung des Landes vollkommen von Frankreich und England abhängig, die als mächtigere Nachbarn von Tunis und Aegypten aus die Kolonie nach Belieben wegnehmen konnten oder nicht, und von Malta und Biserta die Flottenverbindung zwischen ihr und Italien, sobald sie wollten, sperren konnten. An Versuchen, auch Oesterreich-Ungarn zu gewinnen und so Deutschland seines letzten einzigen Bundesgenossen zu berauben, hat es nicht gefehlt.
Die Unterredung bei dem vielbesprochenen Besuch König Eduards bei Kaiser Franz Josef im Jahr 1907 ist noch nicht amtlich beglaubigt und kann daher nicht als Beweis gelten, so wahrscheinlich sie sein mag. Umsomehr geschah in der Presse. Man braucht nur das auch in Oesterreich seinerzeit viel gelesene Buch «The Hapsburg Monarchy», das den politischen Leiter der «Times» Mr. Wickham Steed zum Verfasser hat, zu öffnen, und findet im vierten Kapitel über die äussere Politik der Monarchie den fortlaufenden Versuch, in Oesterreich-Ungarn Misstrauen gegen die deutsche Politik zu säen, und ihm zu zeigen, dass sein Vorteil auf anderen Wege lägen.

1912 kam unter russischem Schutz der Balkanbund zustande, die Türkei wurde weiter empfindlich geschwächt, und auch im Südosten wäre eine Million weiterer Soldaten für den englischen Ring bereit gestanden, – wenn es hier nicht anders gekommen wäre.

Im selben Jahre erfolgten die berühmten «unverbindlichen» geheimen militärischen Abmachungen zwischen England und Frankreich, und im selben Jahr die nicht unverbindliche englisch-belgische Militärkonvention für den Fall eines deutschen Einmarsches Da diese Abmachungen zwischen England und Belgien immer wieder geleugnet und sogar für eine Verläumdung Belgiens – man will wohl sagen der belgischen Regierung, denn Volk und Land kann niemand beschuldigen, da sie nichts davon wussten – erklärt werden, so verweise ich auf das, was auf Seite 229 ff. dieser Arbeit darüber gesagt ist, sowie auf die Ausführungen in meiner Schrift ‹Die Politik des Dreiverbandes und der Krieg›, München, bei Georg Müller 1915, und zwar auf die Kapitel ‹England und die belgische Frage›, ‹Deutschland und die belgische Neutralität›. und endlich am 26. Mai 1914 das Marineabkommen zwischen England und Russland über gemeinsame Flottenaktionen für den Fall eines Krieges mit Deutschland. Der Ring ist geschlossen.

Ich fasse zusammen: Bündnisse zwischen Frankreich und Russland, zwischen England und Japan, Verträge einverständlichen Vorgehens zwischen England und Frankreich, zwischen England und Russland, Russland und Japan, Japan und Frankreich, England und Spanien, Russland und der Mehrzahl der Balkanstaaten; Militärkonventionen zwischen England und Frankreich, England und Belgien, England und Russland; Portugal ganz, Norwegen in bedeutendem Mass unter englischem Einfluss – das ist die Einkreisung, die kein Hirngespinst, sondern eine furchtbare Tatsache war, und insofern tatsächlich auf «historischen» Gründen beruhte, als sie der historischen Politik Englands genau entsprach, gegen den jeweilig mächtigsten Staat auf dem europäischen Festland eine übermächtige Koalition zustande zu bringen. Auf jeder internationalen Konferenz zeigte es sich, dass Deutschland und Oesterreich tatsächlich eingekreist waren und eine kompakte Majorität gegen sich hatten – ja, darin liegt der wesentliche Grund, dass der Konferenzgedanke im Jahr 1914 scheitern musste, dass Oesterreich-Ungarn ihn nicht annehmen konnte, weil es voraus wusste, dass die Majorität wie immer gegen die Zentralmächte stimmen würde.

Hiebei soll keineswegs geläugnet werden, dass eine genialere und weiterblickende deutsche Politik, besonders in den ersten Jahren, das Zustandekommen der Einkreisung, wenigstens in der Wucht, in der sie sich seither enthüllt hat, vielleicht hätte verhindern oder doch abschwächen können. Besonders Italien gegenüber scheinen Fehler begangen worden zu sein. Wenigstens versicherte Prinetti, der den ersten Vertrag mit Frankreich schloss, er habe vorher in Berlin Vorschläge gemacht, um eine Regelung der Mittelmeeransprüche Italiens durch den Dreibund zu erreichen. Dies sei abgelehnt und ihm die Vollmacht erteilt worden, sich mit Frankreich und England darüber zu einigen; «dies werde durchaus im Interesse des Dreibundes sein». So falsch diese Auffassung heute erscheint, – denn Prinetti ging offenbar viel weiter, als man in Berlin für möglich hielt, und aus seinem ersten Schritt folgten alle weiteren und zuletzt der Abfall Italiens, – so beweist sie doch wiederum die friedliche, ja vertrauensselige Gesinnung der deutschen Regierung und zugleich die Geschicklichkeit, mit der von der andern Seite die Fanggarne ausgestreckt und verwendet wurden. Ganz freilich hätte keine deutsche Politik die Einkreisung verhindern können, dazu war sie in zu tiefer Machtgier und zu schwerer Konkurrenzsorge der andern Seite begründet.

Wie schon bemerkt, wurde diese Politik von den Klarsehenden auch ausserhalb Deutschlands schon lange erkannt. Die Aeusserungen des belgischen Gesandten in Paris, Leghait vom «cercle de fer», ist erwähnt worden. Wenige Tage vorher hatte der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, geschrieben: «l'isolement de l'Allemagne est actuellement le but de la politique anglaise.» «Die Isolierung Deutschlands ist tatsächlich das Ziel der englischen Politik.» Am 18. April 1907 spricht er von der «campagne personnellement dirigée avec autant de persévérance que de succès, par Sa Majesté Eduard VII., pour isoler l'Allemagne», «dem von Seiner Majestät, König Eduard VII. mit ebensoviel Ausdauer als Erfolg geleiteten Feldzug, Deutschland zu isolieren»; fast die gleichen Worte gebraucht er, drei Jahre später, am 13. Februar 1909. Nun könnte einer sagen: Baron Greindl habe, von der Berliner Umgebung beeinflusst, sich die deutsche Anschauung zu eigen gemacht, – aber die Gesandten an den andern Höfen, die von Berlin nicht beeinflusst sein konnten, und die aus nächster Nähe beobachteten, sehen und sagen genau das gleiche! Herr Leghait in Paris erklärte am 30. Januar 1908 abermals, «le groupement nouveau des puissances» als «le résultat d'un vaste programme admirablement conçu à Londres», «die neue Gruppierung der Mächte ... das Ergebnis eines grossen Planes, der in London meisterhaft ausgedacht worden»; der Geschäftsträger in London, Herr von Cartier, sagt am 28. März 1907: «toutes les ressources de la diplomatie anglaise tendent vers l'isolement de l'Allemagne», «alle Mittel der englischen Politik zielen auf die Isolierung Deutschlands»; sein Nachfolger, Graf von Lalaing, am 24. März 1907: «Il est évident que l'Angleterere officielle poursuit une politique sourdement hostile qui tend à aboutir à l'isolement de l'Allemagne, et que le roi Edouard n'a pas dédaigné de mettre son influence personnelle au service de cette idee», «es ist klar, dass das amtliche England eine Politik stiller Feindschaft verfolgt, die die Isolierung Deutschlands zum Ziel hat, und dass König Eduard es nicht verschmäht hat, seinen persönlichen Einfluss in den Dienst dieses Gedankens zu stellen»; und am 19. Juni des gleichen Jahres nochmals: «la politique anglaise vise, de toutes façons, à l'isolement de l'empire germanique.» «Die englische Politik ist in jeder Weise auf die Isolierung des Deutschen Reiches gerichtet.» Sollte das nicht genügen? Genau so sagt ein Mann, der ganz anderer Richtung angehört, der französische sozialistische Deputierte, Francis Delaisi, in seiner im Mai 1911 erschienenen Schrift «Der kommende Krieg» («La guerre qui vient») wörtlich: «Man trachtete Deutschland durch ein System von Ententen und Bündnissen einzukreisen, suchte es für den Tag der Entscheidung in Europa so zu isolieren, dass es von keiner Seite auf militärische oder finanzielle Unterstützung zählen konnte.»

Und genau so sagt der Verfasser des wiederholt erwähnten, während des gegenwärtigen Krieges erschienenen grossen Werkes «La politica Estera Italiana», das durchaus deutschfeindlich ist, aber auf wirklichen Kenntnissen und ernsten Studien beruht; auf Seite 588 spricht er von «jener Reihe von Verträgen und Freundschaften, die vornehmlich durch die Tätigkeit Delcassés zustande gekommen waren und die in ihrem Endzweck die Isolierung Deutschlands – l'isolamento della Germania – zum Zwecke hatten», und auf Seite 451: «Die Triple-Entente baut sich allmählig in der Zeit von 1897 bis 1908 aus verschiedenen Elementen, Verständigungen und Verträgen auf... die alle im Augenblick ihres Abschlusses eine deutschfeindliche Tendenz haben«: und an anderer Stelle: «Im Jahr 1906 nimmt Eduard VII. von England... das Programm Delcassés auf und bringt durch eine Reihe von Verträgen in Asien und Europa zur Verteidigung des Status quo und zur Verteidigung verschiedener Interessensphären, aus denen Deutschland ausgeschlossen werden soll, einen Block von antideutschen Mächten zustande», und nochmals : «Die englisch-französischen Uebereinkommen, die französisch-italienische Freundschaft, die französisch-spanischen Abmachungen von einer Seite, von der andern das französisch-russische Bündnis, endlich die Freundschaft der Vereinigten Staaten für England und Frankreich behaupten ihre Stärke im Weltgleichgewicht, und während sie England und Frankreich zu Stützpunkten der politischen Bewegung machen, klemmen sie – «serrano» – Deutschlands Expansionsmöglichkeiten immer mehr in einen engen Wirkungskreis ein, der nur ein Vorspiel zu seiner vollkommenen Isolierung bildet.»

Für den Verfasser des Buches «J'accuse» aber ist diese Einkreisung ein harmloses Geographie-Spiel, und er versichert, dass man in Deutschland nicht den geringsten Grund hatte, der Entente aggressive Absichten zuzuschieben: und wenn man den Engländern Neid auf Deutschlands Handelsentwicklung nachsagte: Neid sei eine Gesinnung, für die man niemanden zur Rechenschaft ziehen kann. Er fragt: «Wo, wie und wann hat England versucht, seinen Neid gegen Deutschland in die Tat umzusetzen, das heisst: Deutschland anzugreifen?»

Das ist, als ob jemand fragen würde: «Wann hat dein Nachbar versucht, seinen Neid gegen dich in Tat umzusetzen, das heisst: auf dich zu schiessen?» Die schiefgeistige und narrenhafte Methode des Verfassers zeigt sich immer wieder: er schmuggelt eine sinnwidrige Behauptung ein, stellt Dinge gleich, die nicht gleichzustellen sind, und zieht dann aus den willkürlichen und unlogischen Prämissen die ihm passenden Schlüsse. So wie es tausend Arten gibt, im Privatleben seinen Neid in Tat umzusetzen, ohne gleich zu schiessen, so gibt es im Völkerleben tausend Arten, gegen ein Reich feindselig zu handeln und ihm schweren Schaden zuzufügen, ohne gleich Krieg zu führen. Ein Krieg zwischen zwei Grossmächten, mehr noch, ein Krieg zwischen so riesigen Mächteverbindungen, ist, wie wir alle mit Schaudern sehen, eine viel zu fürchterliche Sache, als dass England sie so und so oft dem Deutschen Reich gegenüber versucht haben sollte. Und auf diesen Unsinn läuft die Frage des Verfassers hinaus. Wenn aber der Verfasser sie zwanzig Zeilen später selbst einschränkt und fragt: «Wo bleibt der Nachweis aggressiver Absichten Englands gegen uns?» also nicht mehr vom Versuch, sondern von Absichten spricht, was natürlich mehr Sinn hat, so können wir ihm Antwort und Nachweis ohne Mühe liefern. Es gehört wieder nur etwas Wissen dazu.

Die feindseligen und tatsächlich schädigenden Handlungen Englands gegenüber Deutschland sind ohne Zahl. Wie ein erster wilder Warnungsruf tönt aus der Vergangenheit die Aeusserung des englischen Ministerpräsidenten Lord Palmerston im Jahr 1849 herüber: «er werde eine deutsche Kriegsflagge nie dulden, jedes deutsche Kriegsschiff als Seeräuberschiff behandeln.» Im Jahre 1871 wurde eine Intervention Englands gegen das allzu siegreiche Deutschland nur durch Bismarcks Staatskunst und Carlyle's Aufsatz in der «Times» verhindert. Und seitdem das Deutsche Reich besteht, fand es Englands schädigende Feindschaft auf Schritt und Tritt, so oft es seinen Handel, seine Seemacht zu entwickeln oder irgendeine koloniale Erwerbung versuchte.

Als im Jahre 1882 zum ersten Mal einem deutschen Kaufmann, Lüderitz, der Schutz des Reiches für die Erwerbung eines Landgebietes in Afrika an der später nach ihm genannten Bucht zugesagt wurde, eines Gebiets, das für so wertlos galt, dass England bis dahin es zu besetzen verschmäht hatte, als der Schritt zur Begründung einer deutschen Kolonie getan wurde, da trat England auch schon dem Deutschen Reich in den Weg und unaufhörlich machten während der folgenden Jahre, in denen allmählich die ganze Kolonie Südwestafrika erworben wurde, die englischen Behörden wie die des Kaplandes Schwierigkeiten.

Das ist lange her und ist ein bedeutsames Zeichen in Palmerstons Sinn: was für Schiffe galt, galt auch für Kolonien. Aber schliesslich waren diese und ähnliche Akte unfreundlich und sie bereiteten Deutschland Schwierigkeiten; wirklich feindselige Handlungen, die schwere politische Schädigungen bedeuteten und mit der Zeit einen entschieden aggressiven Charakter annahmen, begannen mit der dargestellten vollkommenen Aenderung der englischen Politik unter Eduard VII. mit der Einkreisungspolitik.

Gleich die erste dieser Handlungen, auf die Georg Brandes in der «Politiken» kürzlich wieder hingewiesen hat, war höchst kennzeichnend: als die deutsche Regierung im Jahre 1902 die Bagdadbahnkonzession erhalten hatte, da bot sie Frankreich die Beteiligung an, die angenommen wurde: eine gemeinsame Kommission wurde gebildet, deren erster Vorsitzender der Direktor der deutschen Bank, Herr von Gwinner, der zweite ein französischer Finanzmann, Herr Vernes, wurde. Es war selbstverständlich, dass aus der gemeinsamen wirtschaftlichen Tätigkeit sich auch ein politisches Miteinandergehen im nahen Orient ergeben musste, und es wurden Schritte in diesem Sinn getan, französische Blätter traten dafür ein – da kam anfangs 1903 König Eduard nach Paris, und siehe, am Tage nach seiner Abreise waren die französischen Mitglieder aus der Kommission zurückgetreten und die Pläne einer gemeinsamen Aktion gescheitert. Sonst wäre es zu einer für englische Interessen ohne Zweifel unerwünschten, aber für den Weltfrieden höchst erspriesslichen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich gekommen. Noch unmittelbar vor dem Kriege bedauerte der belgische Minister, Baron Beyens, die damalige Kurzsichtigkeit der französischen Politik. In einer Note vom 20. Februar 1914 spricht er von der «diplomatie à courte vue du quai d'Orsay qui a rendu impossible la participation de la Banque Ottomane à l'effort gigantesque que la finance allemande hésitait à accomplir avec ses seuls moyens».

Auch hier kann man sagen: der Zusammenhang ist nur erschlossen, nicht bewiesen, und wenn er bewiesen wäre, war der englische Schritt unfreundlich, nicht im strengen Sinn aggressiv zu nennen.

Aber im Sommer 1903 wurde die englische Heimatflotte geschaffen und die Anlage des mächtigen Kriegshafens Rosyth in der Nordsee beschlossen, im folgenden Jahr bereits die Kanalflotte mit den dazu gehörigen Kreuzergeschwadern gebildet, das Schwergewicht der englischen Seemacht, gewaltige Schiffsmassen, aus dem Mittelmeer in die Nordsee verlegt, Massnahmen drohendster Natur, die sich nur gegen Deutschland richten konnten, das damals eine Flotte hatte, die der englischen gegenüber gar nicht in Frage kam. Oder meint der Verfasser, dass Dänemark oder Schweden bedroht werden sollte? oder dass England diese ungeheuren Massnahmen und Kosten aufbot, um seinen Seeleuten Abwechslung zu verschaffen? Damit indessen über den Sinn der Sache kein Zweifel bestünde, erschien gleichzeitig ein Artikel in der «Army and Navy Gazette», in dem auseinandergesetzt wurde, «der Moment sei gekommen, der deutschen Flotte, der niemand helfen könnte, ein Ende zu machen» und angesehene englische Zeitungen pflichteten dieser Meinung durchaus bei. Wenn das nicht eine Drohung und eine Kundgebung aggressiver Absichten ist, was nennt der Verfasser eine Drohung? Vielleicht würde er erwidern wollen, «das sind Zeitungsartikel», obschon er ja deutsche Druckschriften und Kundgebungen als Beweismittel gegen Deutschland anführt, und obgleich die «Army and Navy Gazette» die angesehenste und meistgelesene Militärzeitschrift Englands ist. Aber im Februar 1905 sprach der erste Zivillord der englischen Admiralität, Herr Arthur Lee, öffentlich vom Kriege mit Deutschland und sagte in seiner Rede wörtlich: «Dreimal gesegnet, wer den ersten Schlag führt; ich hoffe, im Fall einer Gefahr wird die englische Flotte in der Lage sein, den ersten Schlag zu führen und zwar einen recht wuchtigen, noch ehe die andere Macht recht weiss, dass der Krieg erklärt ist.» Und um die Sache noch klarer zu machen, wurden im selben Jahr die englischen Flottenübungen in die Ostsee verlegt, in der seit einundfünfzig Jahren keine englische Flotte mehr erschienen war, und im selben Jahr probeweise englische Landungsversuche in Dänemark gemacht, so dass die dänische Regierung sich dagegen verwahren musste. Genügt das dem Verfasser und seinen Lesern? oder scheinen ihm Verlegung der Flotten, Erbauung von Kriegshäfen unter gleichzeitigen drohenden Artikeln und Ministerreden, Uebungen in deutschen Gewässern und Landungsproben in der Nähe der deutschen Küste nicht auf aggressive Absichten zu deuten?

Im selben Jahr 1905 brach der Aufstand der Herrero in Südwestafrika aus. Da tat die englische Regierung das Unerhörte: sie erkannte die aufständischen Neger als Kriegführende Macht an, unterstützte sie gegen die deutschen Truppen und verbot umgekehrt, den deutschen Truppen Lebensmittel und Munition durch englisches Gebiet zuzuführen. Der belgische Geschäftsträger in Berlin, Graf d'Ursel, schreibt bei dieser Gelegenheit, am 5. August 1905: «partout où l'Angleterre peut susciter quelqu'embarras à l'Allemagne, eile s'empresse de le faire». Das ist sehr milde ausgedrückt; was hätte die englische Regierung dazu gesagt, wenn die deutsche mitten im Frieden aufständische indische oder afghanische Stämme als kriegführende Macht anerkannt und unterstützt hätte? Und würde der Verfasser darin keinen «aggressiven» Akt Deutschlands erblickt haben?

Und wieder drängt sich die Frage auf : Warum verschweigt der Redliche das alles: weil er es nicht weiss, oder weil er es seinen Lesern verheimlichen will? Man muss annehmen, dass lediglich ungeheuerliche Unwissenheit vorliegt, denn dass der Verfasser in voller Kenntnis all dieser Tatsachen eine so ungeheure Lüge niederschrieb, wie den Satz: «Nicht eine Handlung Englands ist nachweisbar, aus der die Absicht eines militärischen Angriffs auf Deutschland in Gemeinschaft mit seinen Ententegenossen, hergeleitet werden könnte», das wollen wir ihm noch nicht zutrauen.

Er hat zwar die Unverschämtheit zu schreiben: «Soweit die Behauptung, dass England aggressive Absichten gegen Deutschland gehabt, von offizieller Seite, also von Leuten aufgestellt wird, die die diplomatische Geschichte der letzten Jahre kennen, ist sie eine Behauptung wider besseres Wissen, also eine Lüge.» Das wagt ein Mensch niederzuschreiben, dem man in jeder Zeile nachweisen kann, dass er selbst von dieser Geschichte auch nicht die geringste Kenntnis hat!

Da der Autor anderseits von jenen Dingen Kenntnis hat, von denen in allen Zeitungen die Rede war, so spricht er an dieser Stelle von den Militärkonventionen zwischen England und Frankreich. «Die Militärkonventionen, wird man mir einwenden», ruft er aus, «aber haben wir denn nicht mit Oesterreich militärische Konventionen geschlossen? Wenn unsere viel engere Konvention mit Oesterreich keinen aggressiven Charakter hatte, warum soll denn die viele losere zwischen England und Frankreich aggressiven Charakter gehabt haben?» Zunächst besteht der Unterschied, dass die Militärkonvention zwischen Oesterreich und Deutschland eine offenkundige Tatsache war, während das Bestehen der andern ein Geheimnis bleiben sollte. Das spricht nicht für ihren unaggressiven Charakter. Wenn ein Bündnis defensiv sein soll, macht man es bekannt, wenn es aggressiv sein soll, hält man es zweckmässiger geheim! Aber wie dem sein mag, der Inhalt beider Militärkonventionen, sowohl der zwischen England und Frankreich, wie jener, die zwischen Deutschland und Oesterreich bestanden, ist vollkommen unbekannt und ebensowenig wissen wir, was bei den Zusammenkünften der verschiedenen Generalstäben besprochen wurde. Es lässt sich also weder aus der einen noch aus der andern irgend ein Schluss ziehen, und wir haben auch keine Ahnung, ob sie an sich «eng» oder «lose» waren. Wohl aber kann und muss man sagen, die Tatsache, dass zu den eben aufgezählten feindseligen politischen Handlungen, Flottenmassnahmen, Ministerreden und Artikel einflussreichster Blätter auch Militärkonventionen und Generalstabsbesprechungen kamen, die noch dazu geheim gehalten wurden, das lässt die ohnedies so deutlichen Absichten der Entente noch gefährlicher und bedrohlicher erscheinen.

Denn, wenn auch die deutsche Regierung schon früher davon Kenntnis bekommen hatte, veröffentlicht, amtlich zugegeben wurde ihr Bestehen erst im September 1914. Unsere Kenntnis beschränkt sich auf die Briefe, die zwischen Sir Edward Grey und dem französischen Botschafter in London, Paul Cambon, im November 1912 darüber gewechselt und im englischen Blaubuch veröffentlicht wurden. Dass aus dem Wortlaut dieser Briefe eine Angriffsabsicht nicht hervorgeht, ist selbstverständlich, sonst wären sie im Blaubuch, das ja zur Rechtfertigung der englischen Politik zusammengestellt wurde, nicht mitgeteilt worden. In diesen Briefen ist ja sogar gesagt, dass all diese Abmachungen unverbindlich waren. Der Verfasser schreibt denn auch strahlend: «diese Besprechungen waren, wie aktenmässig feststeht, völlig unverbindlicher Natur, weil ihnen keinerlei Bündnisvertrag zu gegenseitiger kriegerischer Unterstützung zu Grunde lag.» Schäker! Wie kindisch die Bemerkungen des Verfassers über äussere Politik sein mögen, für so kindisch halten wir ihn nicht, dass er wirklich glauben sollte, die Regierungen zweier grosser Staaten wechseln Schriftstücke von solcher Natur, bloss um nichts gesagt zu haben, als etwa unverbindliche Liebenswürdigkeiten! oder sie liessen ihre General- und Flottenstäbe zusammenkommen und Sitzungen über ungeheuerste Kriegsfragen abhalten, bloss um nichts beschlossen zu haben! Und wie ausserordentlich seine Unwissenheit ist, so viel weiss auch er, dass die englische Verfassung dem Minister des Aeussern nicht gestattet, Verträge einzugehen, ohne sie dem Parlament zur Genehmigung vorzulegen, und dass, vor die Wahl gestellt, entweder ihre Pläne der ganzen Welt zu offenbaren oder nichts abzumachen, die englische Regierung von jeher so klug war, formell unverbindliche Verträge zu schliessen. Sie hatte dabei noch den weiteren Vorteil, diese Verträge nur dann halten zu müssen, wenn sie auch weiterhin in ihren Plan passten. Dass sie aber zur Zeit, da sie sie einging, ihren tiefsten Plänen und Absichten entsprach, ist klar, und dass sie im vorliegenden Fall zu halten beabsichtigte, das geht schon daraus hervor, dass sie gehalten wurden. Es ist ja auch niemand dadurch getäuscht worden : «Weil wir fanden, dass wir angesichts der Abmachungen Sir Edward Greys nicht mehr frei waren», mit dieser Begründung schieden drei Minister, John Morley, Charles Trevelyan und John Burns aus dem englischen Kabinet.

Wie ernst diese Briefe gemeint waren, geht schon aus dem Zeitpunkt hervor, in dem sie geschrieben wurden, im November 1912, im gefährlichsten Augenblick des Balkankrieges, als Oesterreich erklärt hatte, die Besetzung eines albanischen Hafens durch die Serben nicht dulden zu können, und auch Italien sich dagegen aussprach, während Russland die serbische Forderung unterstützte.

Dagegen sind aus der englisch-russischen Marinekonvention sehr viele und sehr bedeutsame Einzelheiten bekannt geworden, unter anderm, dass die «englische Regierung, um eine russische Landung an der deutschen Ostseeküste möglich zu machen, schon vor Beginn der Operation so viel Transportschiffe als möglich nach den russischen Häfen senden sollte». (Siehe die vom Auswärtigen Amt im Oktober 1914 veröffentlichte Akten.) Russische Zeitungen, wie die «Nowoje Zeno» vom 11. Juli 1914 verkündeten triumphierend, dass die russischen Abmachungen mit England «nicht nur defensiver Natur seien».

Aber der Autor hat noch einen Trumpf auszuspielen : «Welchen Vorteil», fragt er, «sollte England von einem Kriege gegen uns erwarten? Wir sollten doch diesem «Krämervolk» nicht den Wahnsinn zutrauen, seinen eigenen besten Kunden totzuschlagen, um bessere Geschäfte zu machen!» Angesichts der zahllosen englischen Aeusserungen über diese Frage vor dem Kriege und im Kriege, angesichts der schon erwähnten Worte Lord Rosebery's, der Bemerkung der «Saturday Review», dass, wenn Deutschland morgen vernichtet würde, übermorgen jeder Engländer um so viel reicher wäre, angesichts der ganzen grimmigen Bewegung gegen den deutschen Handel, brauchte man auf diese Albernheit eigentlich nichts zu erwidern. Aber sie ist wieder kennzeichnend für die Methode der Irreführung, die der Verfasser seinen Lesern gegenüber bevorzugt, in dem er die wesentlichen Tatsachen wegfälscht.

England ist nämlich der beste Kunde Deutschlands, aber nicht umgekehrt. Englands bester Kunde ist Britisch-Indien, das für 2492 Millionen Mark Ware von ihm bezieht. Englands Ausfuhr nach dem Deutschen Reich betrug im Jahre 1913 nur 831 Millionen Mark, das ist noch nicht 6 % seines gesamten Ausfuhrhandels. Nur wenn man die gewaltigen Gebiete der englischen Kolonien, an die Grossbritannien für mehr als vier Milliarden Waren lieferte und denen es seinen wesentlichen Reichtum verdankt, weglässt, dann steht Deutschland zwar als Käufer an erster Stelle, aber selbst dann erreicht die britische Ausfuhr dahin noch nicht 8 % des englischen Handels.

Dagegen führte Deutschland im Jahre 1913 nach England und seinen Kolonien nach englischen Statistiken für 1644 Millionen Waren aus, ein Betrag, der von keinem andern Kunden auch nur annähernd erreicht wird und 16 % des gesamten deutschen Ausfuhrhandels beträgt. Die Ausfuhr deutscher Waren nach England betrug im letzten Jahr gerade das doppelte der englischen Ausfuhr nach dem Deutschen Reich. England ist mit deutschen Waren überschwemmt; Deutschland ist Englands gefährlichster und stärkster Konkurrent im eigenen Land, wie auf dem ganzen Erdkreis; seine Gesamtausfuhr blieb im Jahre 1913 mit über zehn Milliarden um nur vier Milliarden hinter der Grossbritanniens zurück, die 14 Milliarden betrug; und macht man die künstliche Beschränkung, die der Verfasser vornimmt, und lässt Englands Ausfuhr nach den Kolonien weg, so würde der Unterschied nur mehr wenige Millionen betragen!

Bedenkt man weiter, dass der deutsche Gesamthandel in den zehn Jahren von 1901 bis 1911 um 141 % zunahm, der englische Handel im gleichen Zeitraum nur um 66 %, dass die deutsche Handelsflotte in den fünfzehn Jahren von 1897 bis 1911 um 192 % wuchs, die englische in der gleichen Frist nur um 59 %, dann sieht man, was England, das bei friedlicher Weiterentwicklung der Dinge in verhältnismässig kurzer Zeit von Deutschland überflügelt sein musste, von einem siegreichen Krieg gegen Deutschland, insbesondere von einer Vernichtung seiner Flotten zu erwarten hatte. Was bedeuteten neben so ungeheuren Einsätzen die 6 % seines Ausfuhrhandels, die nach Deutschland gingen?

Darum sind die Aeusserungen der «Saturday Review» und alle die ähnlichen, die seither von Engländern getan wurden, – wie etwa die liebenswürdige Erklärung, die im «Engineer», dem Organ der englischen Eisenindustrie, im September 1914 erschien: «das Ziel des Krieges muss die methodische Zerstörung aller deutschen Fabrikanlagen in den Gebieten, die wir besetzen, sein», – zwar alle feindselig und brutale Drohungen, aber doch alle ehrlicher und ehrenhafter, als die des Verfassers.

Nachdem dieser so seine wirtschaftlichen und handelspolitischen Einsichten bewiesen hat, erklärte er mit seiner hier schon hinreichend beleuchteten Geschichtskunde: «Diese letzten fünfzehn Jahre, seit der ersten Haager Konferenz von 1899 sind nichts anderes als eine fortlaufende Kette von englischen Versuchen, zu einer politischen Entente mit Deutschland und auf der Basis einer solchen zu einer Beschränkung der beiderseitigen Seerüstungen zu gelangen – Versuche, die jedesmal an dem Unverstand oder dem bösen Willen der deutschen Regierung gescheitert sind.»

Wie in all seinen lapidaren Geschichtsaussprüchen mengt der Autor auch in diesem Satz einen winzigen Rest missverstandenen Zeitungswissens mit unendlicher Unwahrheit.

Es ist richtig, dass die englische Regierung und zwar speziell Mr. Chamberlain sowohl im Jahr 1898, zur Zeit des Faschodakonfliktes, als nach dem Ende des Burenkrieges gewisse Anerbietungen gemacht, die auf eine politische Annäherung hinausliefen, und die, wie auf Seite 38/39 ausgeführt wurde, von Deutschland wesentlich darum abgelehnt worden sind, weil sie einen Bruch mit Russland unvermeidlich nach sich zu ziehen drohten. Da wir gar nichts näheres darüber wissen, was England damals eigentlich anbot und was es als Gegendienst verlangte, so ist auch jedes Urteil darüber, ob die damalige deutsche Regierung wohl oder übel daran tat, diese Annäherungsversuche zurückzuweisen, vorläufig noch nicht möglich.

Anders liegen die Sachen seit 1903. Wie die englische Politik Deutschland gegenüber seither vorgegangen ist, das ist soeben auseinandergesetzt worden. Seither sind auch die Annäherungs- und Befreundungsversuche wesentlich von Deutschland und nicht von England gemacht worden. Der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, der darüber etwas besser unterrichtet sein dürfte, spricht von diesen Annäherungsversuchen und sagt ausdrücklich: «die Initiative dazu ist stets von Berlin ausgegangen», «les tentatives répétées de rapprochement dont l'initiative est partie invariablement de Berlin», und im Jahre 1912 schreibt sein Nachfolger Baron Beyens, der Kaiser gebe trotz allen Enttäuschungen seine Versuche, zu herzlicheren Beziehungen zu England zu kommen, nicht auf.

Ebenso sagt der sehr unterrichtete Verfasser der «Politica Estera Italiana» auf Seite 597: «In der zweiten Hälfte des Jahres 1906 versucht Deutschland eine geschickte Politik der «détente» als Vorbereitung für eine weitere Annäherung an Frankreich», und auf der folgenden Seite: «Deutschland versucht mit gleicher Intensität eine Annäherung an London, Paris und Petersburg.» Weiter auf Seite 772: «Im Jahr 1911 sucht Deutschland vor allem den Faden guter Beziehungen mit England aufzunehmen» und von den politischen Vorgängen des Jahres 1912 sprechend: «Deutschland besteht auf seinen Annäherungsversuchen an England und Russland.» Der durchaus deutschfeindliche Verfasser sieht diese Annäherungsversuche mit Misstrauen und Abneigung, aber wie immer ein Gegner sie auffassen mochte, die Versuche wurden von Deutschland immer wieder gemacht, während der Autor dem Leser das Gegenteil vortäuschen möchte.

Richtig ist, dass die englische Regierung wiederholt Beschränkungen der gegenseitigen Seerüstungen vorgeschlagen hat. Wenn aber der Verfasser schreibt, sie habe um dieser Rüstungsbeschränkung willen eine politische Entente mit Deutschland gesucht, so fragt man sich, ob er hier, wie so oft, nur gedankenlos ins Blaue redet, oder einen nicht ungeschickten Fälschungsversuch macht. Denn die Sache lag gerade umgekehrt. Auf Grund einer Beschränkung der Seerüstungen, wenn Deutschland darauf verzichtet hätte, zum Schutz seiner Kolonien und seines riesigen Seehandels eine Flotte zu bauen, wäre England wahrscheinlich bereit gewesen, auf dieser Basis auch zu einem politischen Einvernehmen mit Deutschland zu kommen. Wenigstens für einige Zeit. Darum hat England seit 1903 zwar niemals Versuche, zu einer politischen Entente mit Deutschland, wohl aber sehr ernsthafte Anträge zur Einschränkung des Flottenbaus gemacht. Was diese Anträge in Wirklichkeit bedeuteten, wird erörtert werden, und zwar an der Stelle, an der der Autor selbst auf die Flottenfrage näher eingeht.

Wie es um die vom Verfasser einfach erfundenen englischen Annäherungsversuche im Lauf des letzten Jahrzehnts wirklich stand, darauf geben nicht nur all die feindseligen Handlungen der englischen Politik eine Antwort, darauf wirft vor allem ein diplomatischer Vorgang ein sehr deutliches Licht: im Jahr 1908 nahm der langjährige englische Botschafter am Berliner Hof, Sir Frank Lascelles, seinen Abschied. Zu dieser Entlassung schreibt der belgische Gesandte, Baron Greindl, an seine Regierung: «Sir Frank Lascelles ist nicht freiwillig gegangen, er wäre sehr gern in Berlin geblieben, und sein Verbleiben ist von der kaiserlichen Regierung wiederholt erfolglos in England verlangt worden. Die englische Regierung hat ihm den Rücktritt befohlen...

...Sir Frank Lascelles hat durch fünfzehn Jahre, ohne sich durch wiederholten Misserfolg entmutigen zu lassen, daran gearbeitet, eine Annäherung zwischen Deutschland und England herbeizuführen. Aber dieser Eifer, den er daran wendete, Missverständnisse zu beseitigen, die er töricht und beiden Ländern im höchsten Grade nachteilig findet, entspricht den politischen Absichten seines Monarchen nicht« («ne correspond pas aux vues politiques de son souverain». Note vom 18. Juli 1908.)

Das heisst: der Autor spricht auch an dieser Stelle, wie auf fast jeder Seite seines Buches, die Unwahrheit.


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