Egid Filek
Die wundersame Wandlung des Herrn Melander
Egid Filek

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II.

Dennoch galt am nächsten Morgen der erste Ausgang Herrn Melanders der Schloßruine.

Nicht müßige Neugier war's, die ihn hinauszog, oder gar ein wehmütiges Sehnen nach den Tagen der Kindheit; dergleichen lag seiner Natur weltenfern. Aber ihm war, als sollte er da droben unter dem Schutt der Vergangenheit irgend einen Faden finden, der das Einst mit dem Heute verband. Denn soviel war ihm schon klar: hier mußte er ein anderer werden, als er in den letzten Jahren seines Lebens gewesen war. Der alte Melander zu Geislingen hatte keinen Platz in dieser neuen, gärenden Welt.

Er fand das Bauwerk im ganzen besser erhalten, als er nach dem flüchtigen Eindruck von gestern geglaubt hatte. Noch stand ein Teil der Grundmauern, sogar das kleine steinerne Eingangstor war noch da, an die gebrechlichen Schultern zweier brandgeschwärzter Mauern gelehnt; über ihm prangte, in Stein gehauen, das gräfliche Wappen, die Birke und darüber der gekrönte Stechhelm.

Er trat in den inneren Hof. Nun erst übersah er die Verwüstung, die jene Pulverexplosion angerichtet hatte, von der ihm gestern der alte Mann erzählt. Die Eingeweide des Gebäudes waren aufgerissen und alle kleinen Kammern und verborgenen Winkel 24 bloßgelegt. Regen, Schnee und Frost halfen das Werk der Zerstörung vollenden, und im grellen Licht der Sonne verblaßten die wunderschönen Wandgemälde, die einst dem Schlosse eine gewisse Berühmtheit geschaffen hatten. Denn der alte Graf, kunstverständiger als sein Sohn, verschrieb sich kurz vor dem Kriege ein halbes Dutzend Maler aus Italien, die ihm sein Heim mit bunten, lebensfrohen Fresken schmücken sollten, damit sich die müden Augen wenigstens am farbigen Abglanz dessen erfreuten, was das müde Herz nicht mehr genießen konnte. Es war die Zeit, da der Strom von leuchtenden Farben und beseelter Form, den die großen Meister der Renaissance entfesselt, sich in tausend Rinnsalen über die viel später und dürftiger entwickelten Länder des Nordens verbreitete; und so kamen denn ein paar Künstler aus der Schule von Bologna über die Alpen herüber, schwarzäugiges, krausgelocktes Volk, mit leichtem Gepäck und leichten Sitten, das tagsüber die Räume mit Geschnatter und Singsang füllte, auf baumelnden Leitern und Gerüsten pinselnd vor den Wänden stand, mit großen Armbewegungen von Firenze und der bella Venezia prahlend, abends spät im Mondschein auf der Laute klimperte und den schwerfälligen strohblonden Mädeln im Dorf die Köpfe verdrehte.

Die Phantasie des Knaben aber hatte sich entzündet an jenen fremden Landschaften mit dem wolkenlosen, tiefblauen Himmel, an den rundbogigen Fenstern mit dem Durchblick auf ferne, schöngeschwungene Berglinien, an den schwarzbärtigen 25 Gewappneten auf stolzen, schabrackengeschmückten Pferden, an lächelnden Mädchen mit Blumengewinden und reifen Frauen mit vollen Armen, die Fruchtschalen emporhielten, Sinnbilder der Fülle und des Reichtums. Wird er das alles draußen in der Welt erblicken, so ist es ihm nichts Neues mehr . . .

Allerdings waren die Fresken furchtbar zugerichtet, und Herr Melander schüttelte den Kopf ob der Roheit des fremden Kriegsvolkes; das hatte nämlich die Bilder als Zielscheiben für Musketen und Faustrohre benützt. Und so war hier einem Kavalier zu Pferde das Auge ausgeschossen, dort einer blumengeschmückten Schönheit das Herz.

»Was doch diese Franzmänner für Barbaren sind«, murmelte er.

Wie oft er selber im Feindesland Ähnliches getrieben, nicht um dem Gegner zu schaden, sondern aus jener sinnlosen Zerstörungswut, die als Massengift in bewaffneten Männerhorden steckt: das kam ihm nicht in den Sinn.

Langsam schritt er an der Wand entlang bis zu einem der großen Fenster, das zu einem mächtigen Loch erweitert war. Dort stand er still und sah in das Land seiner Kindheit hinab.

Da lag die weite Ebene vor ihm und wartete auf den Frühling und wußte nichts von Krieg und Not. Und dahinter hoben sich die Vorberge der Alpen, eine blaue Welle nach der andern rollte in die Ferne hinaus bis zum Rande des Horizontes, wo die starren Hochgipfel sich türmten, blaß und ahnungsvoll wie ein 26 Wort der Verkündigung. Und selige Ruhe lag über allem, kaum daß der Wind das leise Rauschen des Flusses zu ihm emportrug.

Er wanderte weiter über das braune Laub des Vorjahres, aus dem schon hie und da die weißen Köpfe der Schneeglöckchen guckten, als plötzlich ein Schatten auf seinen Weg fiel und, wie aus dem Boden gewachsen, eine weiße Frauengestalt vor ihm stand. Er sah lichtes Haar auf einem kleinen Kopf schimmern und hörte eine klingende Stimme rufen: »Wie kommt Ihr hierher?«

»Durch das Eingangstor, wie denn sonst?« sagte Herr Melander. Er sagte es grob. »Und was kümmert das Euch, Jungfer?«

Sie aber schüttelte die Locken: »Fort von hier! Hier droht Euch Gefahr!«

»Ist Eure Nähe so gefährlich, schönes Kind?« fragte er spöttisch. Als sie aber fortfuhr, ihn erschreckten Blickes anzustarren, erinnerte er sich an die Spukerscheinungen von gestern abend und tastete auf alle Fälle nach seiner silbernen Kapsel; denn er fand es doch nicht recht geheuer an dem einsamen, schauerlich öden Platz, und das hübsche blonde Ding konnte leicht ein Blendwerk des schwarzen Kasper sein. Sie trat auf ihn zu und hob gebietend den Arm; da packte er entschlossen ihre Hände und rief: »Na, das ist aber doch Fleisch und Bein und kein Gespenst!« Sie wollte sich losreißen, er ließ sie nicht und begann mit ihr zu ringen, Brust an Brust. Ein wildes Begehren flammte in ihm auf. Was er im Lager und auf dem Marsch bisher von Weibern kennen gelernt, war 27 nichts Feines gewesen. Da machte man wenig Umstände. Und wer weiß, was geschehen wäre, hätte sie nicht mitten im Ringen plötzlich einen wilden Angstschrei ausgestoßen:

»Das Eisen!«

Verblüfft ließ er von ihr ab. »Was soll's?«

»Da seht!« Sie deutete auf den Boden.

»Verdammt!« schrie Herr Melander und sprang zur Seite. Die langen, spitzen Eisenzähne einer Wolfsfalle fletschten ihn an.

»Ist noch mehr solches Teufelszeug da?« fragte er ärgerlich.

Sie strich die wirren Haare aus der Stirn und knüpfte das Busentuch zusammen, das sich während des Kampfes gelöst hatte:

»Wenn Ihr mich nimmer anrührt, so will ich Euch sicher hinausgeleiten. Sonst aber . . .«

Ein Blick voll Haß, aus den blauen Augen zuckend wie eine Degenklinge, sprach schwerere Drohungen aus, als es Worte vermocht hätten.

»Wir haben mehr denn fünfzig Eisen und Minen in der Burg. Ihr könnt von Glück reden, daß Euch nichts geschehen ist.«

»So wohnt Ihr hier in diesem Trümmerhaufen?«

Ein stolzes Neigen des Kopfes war die einzige Antwort, die ihm wurde; dann wandte sie sich und befahl ihm durch einen Wink, ihr zu folgen.

Melander zu Geislingen hätte gerne noch allerhand Fragen gestellt, aber sein Zorn überwog die Neugier. Denn so war ihm noch nie von einem Weibe geschehen, und nie noch hatte sich's ereignet, 28 daß er, der in zwanzig Bataillen mit dem Tod um sein Leben gewürfelt, der trotzig und unbotmäßig sich des öfteren weder um Verbot noch Befehl gekümmert, nun brav und fügsam in den Fußstapfen eines Mädchens dahinschreiten und ihrem Winke gehorchen mußte wie ein Kind.

»Nicht dort!« rief sie, als er Miene machte, einen schmalen Weg abzuschneiden. »Dort ist der Brunnen, mit Reisig zugedeckt. Wer darauf tritt, fällt zwanzig Klafter tief.«

Herrn Melander lief ein Schauer den Rücken hinab, trotzdem die Sonne warm vom Himmel schien.

»Das ist unser Schutz gegen Räuber und rohe Menschen«, sagte sie und sah ihm dabei so fest ins Gesicht, daß er den Blick senken mußte.

Sie standen am Eingang. Herr Melander grüßte flüchtig und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

»Verdammte Hexe«, brummte er vor sich hin. Er fühlte, wie ein heißer Strahl von Zorn gegen das fremde Mädchen in ihm aufsprang und ärgerte sich darüber. Was ging ihn die stolze Dirne an?

Im Sonnenglast lag das Dorf vor ihm. Er suchte die große Linde auf dem freien Platz, wo die Kinder am Sonntag immer getanzt hatten, während irgend ein fremder Musikant dazu die Sackpfeife blies und gabenheischend sein Zinntellerchen neben sich stehen hatte; aber die Linde war fort, nur ein armseliger verkohlter Stamm ragte empor, neben dem sich ein paar struppige Dorfköter herumbissen. Und das Dorf war wenig mehr als eine Doppelreihe von Ruinen 29 zu beiden Seiten der Straße. Von einigen Häusern war nichts mehr erhalten als der gemauerte Küchenherd oder ein kleiner Stall, in dem eine elende, abgemagerte Kuh nach Futter brüllte. Und es hatte den Anschein, als hüteten sich die Bewohner, ihren Wohnungen ein freundliches Aussehen zu geben, um nicht die Raublust fremden Gesindels zu reizen; lieber hausten sie in Schmutz und Ruinen und stellten ihre Dürftigkeit geflissentlich zur Schau. Kaum daß hie und da in einem kleinen, vergitterten Fenster ein Tonscherben mit den ersten scheuen Frühlingsblumen stand.

So ging er die Straße entlang. Blasse, zerlumpte Kinder liefen vor ihm davon wie gescheuchte Vögel und suchten Schutz hinter den Türen. Wer ihm begegnete, wich im Bogen aus, und durch schmale Türspalten flogen fragende und mißtrauische Blicke hinter ihm her.

Es war auch ein ungewohntes und aufreizendes Schauspiel, wie der fremde Kriegsmann zwischen den elenden Hütten dahinschritt in seiner bunten und prahlenden Tracht; die weiten, scharlachroten Beinkleider, die mächtigen Stiefel mit den langen Sporen, das breite, goldgestickte Bandelier und das federnumwallte Barett paßten so gar nicht in diese graue Armut hinein.

Nun stand er vor der Kirche. Sie schien besser erhalten als die übrigen Gebäude des Dorfes. Die zertrümmerten Fenster waren zur Not geflickt; in den Mauern steckte hie und da eine Stückkugel. Er trat in den hochgewölbten Raum, den er aus seinen 30 Kindertagen noch gut im Gedächtnisse hatte. Wenig war da verändert. Die vergoldeten Heiligen zur Seite des Altars starrten noch immer verzückt zur Decke; auch die Kreuzwegbilder, die Orgel, der Marienaltar – alles wie damals. Nur das große kupferne Taufbecken war aus der Wand herausgerissen und an seiner Stelle gähnte ein Loch wie ein Backofen.

Er dämpfte den Schritt, als er über die Steinfliesen auf die Sakristeitür zuging. Der eiserne geschmiedete Drücker gab nach – er trat ein und sah ein sonderbares Bild vor sich. Auf einem breiten Holzschemel saß ein alter Mann mit silberweißem Haar und einem schwarzen runden Käppchen; um ihn herum ein Rudel von Kindern. Er hielt ein großes Buch, in Leder gebunden und mit Messingspangen geschmückt, auf den Knien. Das kleinste der Mädchen saß auf seinem Schoß und schlang die dünnen Ärmchen um seinen Hals. Durch zerbrochene Fensterscheiben goß die Sonne einen Strom von goldenem Licht auf die Gruppe.

Das Buch war ein Orbis pictus mit Darstellungen aus allen Reichen der Natur; da gab es Urwälder und seltene Vögel, Schlangen und Drachen, Sonne, Mond und Sterne, Adam und Eva im Paradies, Moses mit den Gesetzestafeln und die Flucht nach Ägypten. Die Blätter, so dick und weich wie Löschpapier, waren unten ganz braun und schmutzig von den vielen Fingern, die sie umgewendet hatten. Der Alte schlug ein großes Bild auf: die Entdeckung von Amerika. Nackte braune Wilde tanzten mit hochgeschwungenen Lanzen wie toll auf einem 31 giftgrünen Rasen herum. Ernste, bärtige Krieger standen mit Fahnen und Gewehren in Reih' und Glied an Bord des Schiffes, während Kolumbus, in Purpur gekleidet und gefolgt von dicken Mönchen, feierlich ans Land schritt, Besitz zu ergreifen von einer Welt, die ihm nicht gehörte. Von den vier Ecken des Bildes bliesen vier pausbackige Windgötter lustig in die Szene hinein, und ein bärtiger Neptun hob sich aus den Wellen und sah sich das Schauspiel an.

Es war so still in dieser kleinen, zeitentrückten Welt, der alte Mann so beschäftigt mit Zeigen und Erklären, und die Kinder hörten so ernsthaft zu, daß geraume Zeit verging, bis er endlich Herrn Melander bemerkte und, das Käppchen lüftend, sprach:

»Eine kleine Geduld, und ich bin gerne dem Herrn zu willen. Wir wollen nur noch ein weniges singen.«

»Inkommodiert Euch nicht, Herr Thurneisser – der seid Ihr ja wohl, nicht wahr?« fragte Melander in dem höflichsten Ton, der ihm zu Gebote stand.

Der andere nickte schweigend und klappte das Buch zu. Die Gruppe löste sich auf; das kleine Mädel glitt von seinem Schoß herab, die Größeren wichen scheu vor dem Fremden zurück und betrachteten mit heimlicher Neugier die gespornten Stiefel und das große Schwert.

»Müsset wohl viel Geduld haben mit dem jungen Volk«, meinte Herr Melander in einem Tone, der aus Verwunderung und Mitgefühl zu gleichen Teilen gemischt war und in dem auch ein wenig von der Geringschätzung mitklang, die ein Soldat dem Schulmeister gegenüber empfindet. 32

»Die muß auch der Bauer haben, wenn er im Frühling den Samen ausstreut. Meine Saat reift noch viel langsamer, und Gott mag wissen, ob ich jemals Früchte sehen werde. Aber in meinen Jahren hat man Geduld gelernt.«

Einer der Buben holte aus einem wurmstichigen braunen Kasten, dessen Tür mit einer die Taufe Christi im Jordan darstellenden Holzschnitzerei geschmückt war, eine Laute. Es war ein schönes Instrument, mit Silber und Schildkrot eingelegt, das Griffbrett von Ebenholz. Thurneisser umfing es wie ein geliebtes Kind und stimmte die Saiten mit leisem plimplum; dann sang er mit einer weichen, ein wenig zittrigen Stimme eine schlichte, traurige Weise, und die Kinderstimmen fielen ein.

»Wir wollten wohl lieber ein heiteres Frühlingscarmen singen,« bemerkte er zu Herrn Melander, als er zu Ende war und die Kinder sich aus der Sakristeitüre ins Freie drängten, »aber es hat Gott gefallen, wieder einen von unseren Nachbarn nach den himmlischen Fluren abzurufen, und da geben wir ihm morgen das letzte Geleite und singen an seinem Grab. Doch nun sagt mir, womit ich Euch dienen kann.«

Herr Melander zog seinen Brief hervor und reichte ihn Thurneisser, der ihn nach einem forschenden Seitenblick auf den fremden, bunten Kriegsmann im langsamen Hinschreiten genau studierte und sodann mit höflicher Verbeugung zurückgab.

»Ihr habt da ein schweres Amt auf Eure Schultern geladen, Herr«, sagte er nach einer Pause. »Die Wirtschaft ist arg verschuldet, der schöne Meierhof, 33 auf dem Herr Dommeyer italienisches Geflügel gezogen, dem Erdboden gleichgemacht, und das Holz, mit dem man ihn neu bauen könnte, von den Offizieren des Generalissimus Wrangel mit hohem Profit nach Passau verkauft worden. Es fehlt an Gespann . . .«

»Müssen eben die Dorfbauern fronen, wie es ihre Schuldigkeit und des Herrn Grafen gutes Recht ist«, erwiderte Herr Melander finster.

»Gewiß, das ist Herrenrecht, aber der lange Krieg hat die Bauern verdrossen und unwillig zur Arbeit gemacht.«

»Man wird sie zwingen zu scharwerken.«

»So spricht ein Kriegsmann; wollet indes bedenken, daß unser Volk durch Hunger und Entbehrung gar sehr von Kräften gekommen ist und kaum die eigenen Felder zur Not bestellen kann. Wie wollt Ihr es zwingen?«

Herr Melander machte eine ungeduldige Handbewegung und brach das Gespräch ab, das ihm nicht behagte. Er wies auf die Bilder des Kirchenschiffes, in das sie eingetreten waren:

»Ich wundere mich, daß die Soldateska hier nicht mehr gebrandschatzt hat.«

»Das hätte sie wohl getan, hätten wir uns nicht immer wieder losgekauft mit harten Contributiones. Und das bare Geld war den Feldwaibeln und Obristen lieber als die paar frommen Bilder.«

Herr Melander nickte verständnisvoll. Er gedachte des großen Altarblattes in der Klosterkirche von Fulda, für dessen Verschonung er von den angstschlotternden Mönchen tausend Goldgulden erpreßt hatte. 34

»Am meisten freut mich, daß sie uns die Orgel gelassen haben. Ein vorzügliches Instrument, Herr, wie vom lieben Gott eigens geschaffen für den alten Thurneisser, der all sein Weh und Leid vergißt, wenn er da droben sitzen und die Register ziehen darf, bis die Töne brausen wie der Sturmwind im Wald – ach, was wär' aus mir geworden, hätte mich unsere liebe Frau Musika nicht getröstet.«

»Aber dort das Taufbecken, das haben sich die Schnapphähne doch geholt.«

»Mit nichten; das haben die verkauft, so darin getauft wurden. Es half ihm keine Heiligkeit, sie trugen es zur Münze. Wohl hat es viel Geld gebracht, das Kupfer ist gar wertvoll heute, aber füglich kann man auch hier sagen: wie gewonnen, so zerronnen. Ist keiner glücklich geworden mit dem Geld.«

Draußen auf dem Friedhof war Sonne, blaues Leuchten von Leberblümchen und Küchenschellen zwischen den eingesunkenen Grabhügeln und der erste schüchterne Amselruf.

»Beliebt es Euch, so wollen wir einen Richtweg zu meiner Wohnung einschlagen; dort kann ich Euch noch verschiedene Dinge zeigen, die Euch von Nutzen sind.«

Sie stiegen zwischen den Häusern empor und befanden sich jetzt auf freiem Felde, wo ein Bauer pflügte. Es war aber ein sonderbares Gespann, das vor dem Pflug daherschritt: ein Weib und ein halbwüchsiges Mädchen. Keuchend lagen sie im Geschirr und stampften mit den roten, nackten Füßen die harte 35 Erde. Schweißtropfen rollten über ihre Gesichter und fielen schwer zu Boden.

Unter der Pflugschar krachte es.

»Halt!«

Das Gespann stand still.

Der Pflug hatte etwas Rundes, Weißes aus dem Boden herausgewühlt. Der Bauer bückte sich und hob das Ding auf.

Es war ein Totenschädel. Er putzte die Erde aus den Augenlöchern und zeigte den Weibern seinen Fund:

»Da schaut her. Ist das nun ein Schwede oder ein Franzos gewesen? Ein Papist oder ein Evangelischer, he?«

Die Frau erblaßte und schlug ein Kreuz; das Mädchen wandte schaudernd den Kopf zur Seite:

»So tut ihn doch weg, Vater, um Himmels willen! Wollt Ihr, daß er in der Nacht zu Euch kommt?«

Kopfschüttelnd trug der Bauer den Schädel zum Feldrain und legte ihn sorgsam auf den Boden. Dann kehrte er wieder zum Pflug zurück.

»Hüh!«

Und die vier hornharten, roten Füße stampften weiter.

»Seht, das ist der Krieg«, sagte Thurneisser zu Melander, der in tiefes Sinnen verloren war. Er blickte erst auf, als der Weg steil bergan ging und die Häuser des Dorfes zurückblieben.

»Wohin führt Ihr mich?«

»Ei, auf die Ruine. Dort ist unsere Wohnung.« 36

Melander glaubte nicht recht gehört zu haben. »Wie? In der Ruine hauset Ihr?«

»Gewiß, und es haust sich gar nicht übel da droben. Dort sucht kein Buschklepper nach Schätzen, und gut bewacht sind wir auch. Gebt nur acht, daß Euch meine Hunde nicht ins Bein beißen.«

Und er lächelte über sein gutmütiges Faltengesicht.

Auch Herr Melander zwang sich zu einem höflichen Lächeln, aber ihm war nicht ganz wohl dabei. Er gedachte der Worte des Felberbauers und wußte nun: die Dirne, die er heute früh so rauh angepackt, war des Alten Enkelin. Das konnte gut werden!

Der Weg zur Ruine verlief recht einsilbig.

Als sie den Burghof betraten, griff Thurneisser nach der Hand seines Begleiters:

»Lasset Euch führen, Herr, sonst droht Euch Unheil von meinen Hunden.«

»Hunde? Ich sehe keinen.«

»War eben ein Scherz von mir: wir haben ein Dutzend Wolfseisen hier aufgestellt. Und es wäre schlimm, solltet Ihr als wunder Mann den Dienst antreten.«

Sie schritten an dem Brunnen vorbei, kreuzten den Hauptweg und gingen um den mächtigen Stumpf des Turmes herum. Efeu umwucherte ihn gleich einem dicken grünen Teppich; Haufen herabgefallenen Gerölls, brandgeschwärzte Ziegelsteine, mit Wegerich durchwachsen, sperrten den Weg. Und dennoch bemerkte Melander jetzt deutliche Spuren einer sorglichen Hand, die in diesem Trümmerwerk walten mußte. Dort im Schutze einer zerfallenen Mauer 37 lagen ein paar kleine Gemüsebeete; ein unterirdisches Gemach war zum Hühnerstall eingerichtet, und im Hintergrund kletterten ein paar Ziegen herum und zerrten an dem Efeu, der in langen Bärten aus den Mauerspalten heraushing.

»Wir müssen sie des Nachts sorgsam einsperren, denn manchmal kommt ein Wolf zu Besuch«, erklärte der Alte. »Und Doris ist ihretwegen immer in Sorge.«

Doris? Melander wagte nicht zu fragen, wer das sein mochte . . .

Sie standen vor dem Hauptgebäude, dessen unterster Teil noch gut erhalten war. Die mächtige Wölbung des Erdgeschosses hatte dem Brande und den Stückkugeln trefflich widerstanden. Einige Stufen führten abwärts zu einer halb unter der Erde gelegenen, festgefügten Tür mit starken Eisenbändern. Thurneisser klopfte dreimal.

Es vergingen ein paar Augenblicke, während welcher Herr Melander sein Herz gewaltig gegen die Rippen schlagen fühlte. Dann ging die Tür auf . . .

Da stand sie auf der Schwelle. Ihre Gestalt, kaum über Mittelgröße, schien höher und stärker als vorhin im Burghof; die Augen sahen fragend und ein wenig versonnen aus dem kleinen Gesicht, als wäre sie eben aus angenehmen Gedanken aufgescheucht worden.

Nun erkannte sie ihn. Ein leichter Schauer huschte über ihre Mienen wie Wolkenschatten über sonniges Land, und die Augen wurden kalt und hart; sie trat einen Schritt zurück und strich die Haare aus der Stirn. 38

»Mein Enkelkind Doris«, sagte Thurneisser. »Und dies ist Herr Melander zu Geislingen, den unser Herr Graf über das Gut gesetzt hat. Wir wollen hoffen, daß er mehr Fortune dabei hat als Herr Michael Dommeyer unseligen Angedenkens.«

Sie traten ein.

Ein mäßig großer Raum mit niedriger Decke und kleinen Gitterfenstern umfing sie. Er enthielt kaum den nötigsten Hausrat; das vornehmste Möbelstück war ein gepolsteter Stuhl mit Armlehnen. Und doch lag ein Schimmer jener Behaglichkeit darüber, den nur frauliche Umsicht und Sorglichkeit schaffen kann. Melanders Blick flog darüber hin und kehrte wieder zu dem starren Gesicht des Mädchens zurück; in seinen Augen lag die stumme Bitte: verrate mich nicht.

Thurneisser hatte einen Schrank geöffnet und eine bauchige Flasche nebst drei Gläsern herausgenommen, welche Doris vollschenkte:

»So heißen wir Euch denn bei uns von Herzen willkommen, Herr Melander. Ein Kriegsmann waret Ihr bis heute, uns aber sollt Ihr ein Bote dauerhaften Friedens sein, dessen unser armes Land gar sehr bedürftig ist. Und zum Wahrzeichen dessen nimm ihm das Schwert ab, Doris.«

Er löste das Bandelier und legte die Waffe in die Hände des Mädchens.

»Es wird gut sein, wenn Ihr auch die kriegerische Gewandung mit einer schicklicheren vertauschet. Unsere Bauern mögen keine Offiziersmontur mehr sehen und, bei Gott, ich kann's ihnen nicht verübeln. Aber 39 nach Herrn Dommeyers schleuniger Abreise haben wir noch allerlei aus seinem Nachlaß vor Brand und Plünderung gerettet; darunter mag sich wohl ein passender Anzug finden, nicht wahr, Doris?«

»Ich will morgen nachsehen, Vater. Doch sagt, hat Herr Melander schon irgendwo Quartier genommen? Von den Bauern im Dorfe wird ihn keiner für die Dauer herbergen können, und der Meierhof ist längst verbrannt.«

Der Alte dachte nach: »Wir könnten ihm das Häuschen des Gärtners einrichten, das die Franzosen bei der Plünderung nicht gefunden haben, weil es so abseits liegt; dort mag er bleiben, bis der Meierhof wieder aufgebaut ist.«

Herr Melander murmelte etwas von unverdienter gütiger Aufnahme und Dankesschuld, aber Thurneisser fiel ihm in die Rede:

»Sparet die Complimenta, Herr, es macht mir nur Freude, Euch in den Sattel zu helfen. Ihr scheint mir der rechte Mann, der die Lotterwirtschaft hier wieder in Ordnung bringen kann. Ein wenig Geduld, und ich lege Euch ein paar von den Büchern der Gutsverwaltung vor, da mögt Ihr Euch selbst ein Urteil bilden.«

Während der Alte nebenan in der Kammer, die noch tiefer in den Boden hineinkroch als der Wohnraum, in Staub und Moder herumwühlte und ganze Stöße von alten Wirtschaftsbüchern, Rechnungen und Aktenbündeln zusammentrug, sagte Herr Melander zu Doris:

»Auch Ihr habt mich willkommen geheißen. So 40 darf ich hoffen, daß mein übles Benehmen von heute früh Verzeihung gefunden hat?«

Sie blickte ihn kühl, aber nicht unfreundlich an und sprach nach einer Pause:

»Es ist vergeben, und es wird von Euch abhängen, ob ich's vergessen kann.«

»Ich danke Euch, Demoiselle«, sagte Herr Melander und atmete tief. 41

 


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