Egid Filek
Die wundersame Wandlung des Herrn Melander
Egid Filek

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XIII.

Der Abend war gekommen.

Ein ambrosischer Hochsommerabend mit den schweren, süßen Düften von Kleefeldern und Geißblattbüschen, mit schwärmenden Leuchtkäferchen und dem fernen Quacken der Frösche in den Wiesen am Flußufer, von denen der silberne Nebel emporstieg; dahinter aber hing der dunkelblaue Sternenmantel der Nacht, und aus ihm schnitt das große offene Fenster in Herrn Melanders Stube ein kostbares viereckiges Stück, das lag vor seinen Augen wie ein Vorhang, als sollte eine neue Szene seines Lebens beginnen.

Da saß er und wartete auf das Unerhörte, das ihm angekündigt war und von dem sein Schicksal abhing, wenn anders des Weibes Leidenschaft das Schicksal des Mannes bedeutet; Gedanken von Einst und Jetzt kreuzten sich in seinem Bewußtsein, er legte den Kopf auf die Lehne des Stuhles und starrte vor sich hin ins Leere.

Also Belinda würde kommen . . . Belinda . . . Welch seltsame Kühnheit! Sie spielte mit ihrer Zukunft, mit ihrem Leben vielleicht, wenn sie jetzt zu ihm schlich in dieser heimlichen Stunde, und in seine Erregung mischte sich ein gutes Stück Neugier, ob sie das Wagnis wirklich unternehmen würde. Er stellte sich ihre hohe, schlanke Gestalt vor, wie sie gestern 181 aus dem Dunkel des Gebüsches hervorgetreten war, leuchtend vor den anderen hübschen Frauen; er malte sich aus, wie nun alle Flammen des Damals in seinem Herzen wieder emporschlagen würden durch den Zauber ihrer lichten Gegenwart; dort irgendwo in den Auen, hinter Nebelschleiern und Weidenbäumen standen die Pferde; sie schwangen sich hinauf und ritten in sausendem Galopp durch die Nacht, und hinter ihnen blieb alles zurück, das arme Dorf und der reiche Graf und das Schloß und Doris und Thurneisser mit dem schwarzen Käppchen im Silberhaar; denn sie waren jung und kühn und solchen Menschen gehört die Welt. Sie ritten weiter und weiter; mählig ward die Gegend fremder, sie brauchten nimmer so rasch zu galoppieren, nun waren sie wohl schon in Sicherheit; der Abend sank, da tauchte ein Schloß vor ihnen auf, sie ritten über die Brücke, dumpf dröhnten die Holzbalken unter den Pferdehufen, scharlachrote Diener mit blau brennenden Fackeln standen da und erwarteten sie; und die Treppe hinab kam der Schloßherr, es war Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, gefolgt von Juppiter im Purpurmantel, und Melander und Belinda wurden in den Rittersaal geleitet, da schwebten weiße Nymphen und Genien in silberner Rüstung im Reigentanz, und ein Schäfer kam und legte ihnen huldigend die Armbrust des Kriegsgottes zu Füßen; Juppiter hob die Arme und segnete sie, nun waren sie Mann und Frau und ruhten auf einem Lager von blauem Damast, und zu ihrer Ergötzung ließ Hans Jakob ein Feuerwerk abbrennen mit buntleuchtenden Raketen, die stiegen 182 unter rauschender Musik in die Lüfte und zerplatzten mit leisem Knall . . . Aber frühmorgens mußten sie weiter, sie kamen durch dichten Wald, da stand die Hütte des Einsiedlers, er hatte eine große Brille auf der Nase und ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien; und vor ihm saß der junge Simplizissimus und sprach mit ihm, und Melander erkannte sich selbst, wie er als Knabe gewesen war, damals als er noch Hand in Hand mit dem Grafen von Birckenfeld durch die Wälder streifte; aber wo war Belinda geblieben? Er sah sie nicht mehr; da warf er sich auf das Pferd und stürmte davon, dem weißen Schimmer nach, der von ihrem Kleid ausging und gespenstisch durch den Wald leuchtete; und er ritt und ritt und konnte sie nicht erreichen, er ritt Tag und Nacht, viele Tage, oder waren es Wochen, Monate, Jahre? Da sprengten ihm plötzlich feindliche Reiter entgegen; sie legten auf ihn an, Schüsse krachten, Kanonendonner dröhnte in der Ferne, auf einmal fand er sich mitten im Getümmel der Schlacht; er wußte, daß er um Belinda kämpfen mußte, er zog sein Schwert und hieb um sich, und mitten in dem Lärm griff er an seine Brust und tastete nach dem Passauer Zettel, der ihn kugelfest machte; wieder und wieder dröhnten die Kanonenschüsse, bum . . . bum . . . bum . . .

Da wachte er auf. Was war das? Wer stand in der dunklen Fensteröffnung und klopfte an das Holz des Rahmens . . . Belinda!

Er fuhr empor und sprang mit einem Satz durch das Fenster hinaus ins Freie.

Da stand sie. 183

Ein weiter Mantel schlug dunkle Wellen um ihre Gestalt. Und er, noch immer traumbefangen, griff ihre Hand und küßte sie; sie sanken nebeneinander auf die niedrige Steinbank an der Wand des Hauses.

Seine Augen forschten in ihrem Gesicht. Nun, da die Schminke weg war und der Flitter und Schmuck der Komödienfigur, sah er die leisen Zeichen des Verfalls, mit denen die Grausamkeit der Natur das Weib um so viel früher brandmarkt als den Mann; und doch: noch immer erschien sie ihm schön, von einer anderen, reiferen, gesättigteren Schönheit als damals; so tief und wissend blickten die Augen, als wüßten sie um wunderliche Dinge, unverständlich für junge Menschen.

»So seh' ich dich endlich wieder, Belinda – endlich! Wie blaß du bist! Wie ist es dir gegangen – sag'!«

Sie strich mit der Hand über die Stirn. Ihr Haar war feucht vom Tau und schwarz wie die Nacht.

»Wir haben nicht lange Zeit, Melander. In einer Stunde muß ich wieder in meinem Zelt sein. Er zecht mit den Kavalieren . . . Schwer genug hab' ich mich fortgestohlen, glaub' mir.«

»Was ist die Stunde?«

»Mitternacht vorüber. Ach, wie ich müde bin! Das Leben, das ich führe, das macht so müd.«

Sie lehnte leise den Kopf an seine Schulter. Er hielt ihre Hand in der seinen und sah vor sich hin.

»Laß mich ausruhen bei dir, ein Weilchen nur. Du bist die Ruhe . . . die große Ruhe. Und frage nicht, was ich erlebt. Ich will dir alles sagen, was ich von mir weiß. So . . . Ja, so ist's gut. Wir ganz 184 allein . . . allein wie damals im Sturm auf der Feste Oberaus . . . erinnerst du dich noch, Melander?«

Er nickte langsam.

»Wie selig ich damals war. Und auch du, Melander. Wollte so gern wieder so empfinden, so stark und heiß. Nun bin ich einsam und im Dunkeln. Und arm in meinem Reichtum . . .«

Sie weinte. Ein lautloses, stilles Weinen; die Tränen flossen langsam über das weiße Gesicht, und doch verzog sich kein Muskel, es blieb starr wie bleicher Marmor.

»So bist du doch nicht glücklich geworden, Belinda!«

»Glücklich? Nein. O nein.«

Da fuhr er auf. Irgend etwas bäumte sich auf in ihm, der Krieger, der Empörer gegen das Schicksal regte sich, der in jeder Mannesseele schlummert.

»So sag' ein Wort, und wir fliehen miteinander hinaus in die weite Welt!« flüsterte er leidenschaftlich. »Hab' ich nicht schon mehr denn einmal in meinem Leben mein' Sach' auf das Nichts gestellt? Und war ich stark genug, hier mein Haus zu zimmern, warum sollt' ich's nicht auch wo anders können? Bin ja derselbe Melander wie damals! Ist nicht überall noch Platz für zwei, so festen Willens sind?«

Sie atmete tief.

Ein Klang aus früheren Zeiten ihres Lebens schwang mit in seiner Stimme wie Glockenton der Heimat, der ihr wohl und weh zugleich tat. Stolz und Freude regten sich in ihr. Sie wußte, wenn sie wirklich wollte, so würde er alle Bande zerreißen, die ihn hier hielten, jetzt noch . . . heute noch. 185

Aber sie schüttelte das Haupt.

»Es ist zu spät, Melander. Wir können nimmer fort. Damals – damals war Kriegszeit, und die Welt war auf Beute und Eroberung gestellt und wir selber jung und glühend. Heut weht die Luft anders. Die Welt ist des Kampfes müde . . . und wir auch. Versuch's und reite mit mir fort . . . hinter uns reitet die Reue und neben uns die Not.«

Und nach einer langen, gedankenschweren Pause sprach sie weiter:

»Weißt du noch, wie ich dir manchmal Geschichten erzählt habe, damals, als wir noch halbe Kinder waren? Vom Kaiser Oktavianus und von der schönen Melusine und von Fortunat und seinen Söhnen . . . Heut will ich dir das Märchen meines Lebens erzählen. Freilich, es ist nicht lang und nicht lustig und nicht so schön wie die alten Geschichten . . .«

Er vergrub sein Gesicht in den großen, braunen Arbeitshänden und lauschte.

Und wie sie sprach, zogen Bilder und Gestalten an seiner Seele vorüber; er sah sie am Fenster sitzen und hinausblicken in die weite Welt mit heimlicher Lebenssehnsucht, während der Vater als armseliger Junker voll Dünkel und Hochmut reiche Verwandte besuchte, um irgend einen erbärmlichen Vorteil von ihnen zu gewinnen; er hörte, wie sie schon als Kind leidenschaftlich nach Glanz und Pracht und allem was schön war, gestrebt, wie es ihr heimlicher Ehrgeiz war, zu jenen zu gehören, die den Ruhm und die Ehren altadeliger Abstammung genossen wie einen von Ewigkeit her ihnen gebührenden Besitz. Und wie 186 ihr dann, nach dem kurzen Liebesfrühling, den sie mit ihm genossen, das heiße stürmische Blut keine Ruhe gelassen und sie endlich doch der Bewerbung Herberts von Birckenfeld Gehör geschenkt, der ihr mit vollen Händen gab, was ihr so begehrenswert schien. Wer aber einmal die Luft jener anderen Welt in sich gesogen, der kam nimmer von ihr los, und so war ihr bald zumut wie einem Vogel, der Jahre hindurch in einem goldenen Bauer gefangen sitzt bei gutem Futter und köstlichem Wohlsein, und trotz aller leisen Sehnsucht nach den freien Wäldern und dem blauen Himmel doch wieder zurückkehrt in die Gefangenschaft.

Und da erkannte er endlich, daß sie ihm verloren war, so unrettbar verloren, als lebe sie auf einem anderen Stern; und als sie von ihm ging und in der Dämmerung der Sommernacht verschwand gleich einem Schatten, war es still in ihm geworden, so still, daß er vermeinte, das Rauschen des eigenen Blutes in seinem Körper zu hören oder die stumme Arbeit der Gedanken in der Werkstätte des Gehirns.

Da färbte sich der Himmel mit jenem tiefen Violblau, das dem Erwachen des Tages vorangeht; matter funkelten die Sterne, und im Osten hob sich fahl und grau ein schimmerndes, unbestimmtes Leuchten. Er aber saß noch immer regungslos gleich einem jener Granitblöcke, wie sie da und dort in der ärmlichen Landschaft verstreut sind; und wie im Stein, trotz seiner starren Ruhe, die ewigen Kräfte der Natur um die Herrschaft ringen und im innersten Gefüge seiner kleinsten Teilchen rastlose Bewegung herrscht, so strömte auch durch ihn ein neues, wunderbares 187 Empfinden und er fühlte gleichsam seine letzte, geheimnisvollste Wandlung sich vollziehen, die ihn mit einem tiefen Glück erfüllte, so tief, daß das Senkblei des Gedankens keinen Grund mehr darin fand.

Nur seinem Fühlen erschloß sich die Offenbarung, daß sein Leben, wenn es auch den Höhepunkt schon überschritten, nicht vergebens, nicht nutzlos gewesen; daß von jeder Handlung, von jedem Gedanken heimliche Kräfte ausgingen und andere Handlungen, andere Kräfte in der Seele der Mitmenschen weckten, bis alles in den wunderbaren Teppich des großen Weltgeschehens versponnen war.

Und wie der Dichter, dessen Werk er gestern gehört, die tausenderlei bunten Dinge des Lebens gerettet hatte aus der Flut der Zeit, sie zum Mosaikbild seiner Dichtung zu vereinigen: so mußte er, dem es nicht gegeben war zu schaffen, sein ganzes Dasein mit männlicher Kraft zusammenfassen und in die Welt werfen; und er fand es so gut und wertvoll wie ein Werk der Poesie oder sonst irgend einer Kunst, daran die Menschen Freude und Ergötzung haben.

Denn er gab Tag für Tag denjenigen, die um ihn waren und deren Wohl ihm anvertraut war, das schlichte Beispiel der Arbeit. Er hatte die Felder verbessert und den Viehstand gemehrt, hatte gezeigt, was der ewig spendende Boden zu geben vermochte, hatte Roheit zu Kraft, Starrsinn zu Beharrlichkeit, knechtischen Gehorsam zu freudiger Arbeitswilligkeit veredelt. Wenig war das und doch unendlich viel, Samen einer Zukunft für Land und Volk, die er nimmer erleben würde; ein Bereiten des Bodens für jenen 188 deutschen Helden, von dem Hans Jakob sprach in seinem Buche, der keiner Waffengewalt bedurfte und doch stärker war als alle Krieger und Waffen der heutigen Welt; jenes Helden, für den die Zeit noch nicht reif war.

Im Osten glomm das erste Frührot in düsterer Glut durch die Wolkenrisse; ein Schauer von Kälte ging durch die Luft, fröstelnd erhob sich Melander zu Geislingen, um ins Haus zu gehen zu kurzer Ruhe. Einen Augenblick noch stand er still; im Westen dehnten sich im Tale des Flusses ziehende Nebel, dort lagen die Zelte der vornehmen Gesellschaft, die in wenigen Stunden die Reise nach dem lustigen Frankreich fortsetzen würde; dort war sie, die er heut wohl zum letztenmal gesehen, das Glück und die Leuchte seiner Jugend, die für ewig dahin war.

Aber in der Nähe des Dorfes lagen die fruchtbaren Breiten mit dem Segen der kommenden Ernte, seine freudige und arbeitsfrohe Gegenwart. Und zur Rechten hob sich das Gemäuer der Ruine, trotzend den Mächten der Zerstörung, und die alten Steine gewannen in der Purpurglut des Morgens wunderliches Leben; ja, dort hinter jenen Mauern hatte die Zukunft ein neues und süßes Glück für ihn bereitet, lange schon, und er hatte endlich die Arme frei und durfte es an sich ziehen zu dauernder Vereinigung. Und die gute Müdigkeit kam über ihn, wie sie am Ende einer großen Angst zu stehen pflegt; er freute sich auf köstlichen Schlaf und noch viel köstlicheres Erwachen.

 


 


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