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Aus alter Zeit


Der Mönch von Sengin

Das Kloster Sengin war im zwölften Jahrhundert einer jener friedlichen Ansitze, deren selbstloses und doch so reges Geistesleben dem deutschen Volke nachmalig mehr bleibenden Nutzen brachte als manche waffenstarrende Hochburg mächtiger Fürsten. Von der Heerstraße, die jenseits des Tales über das Gebirge führte, bog nur selten ein Fuhrwerk oder Reitersknecht in den dürftigen Weg ein, der durch hohen Wald und unwirtliches Gelände nach Sengin emporleitete und die Ave-Glocke, die die Mönche sonst zum Gebete rief, erklang sonst nur wenigen Häuslern, die in der Fron des Klosters ihren Schutz gefunden hatten. Rings von Wald umschlossen stand der massige Bau, nur in der Talsohle gab es die saftigen Wiesen und wohlbestellten Äcker, und in den schneefreien Monaten hätte man die dunklen Gestalten der Brüder über die Felder schreitend sehen können, wie sie von früh bis spät dem Werke des Landmannes nachgingen. Freilich nicht alle. Die meisten saßen innerhalb der Mauern in ihren dürftigen Zellen und es war keiner, der nicht Geist und Hände Tag für Tag, nicht selten auch bis in die späte Nacht hinein, für irgend eine segensreiche Arbeit rührte, vom einfachsten Handwerk und den Verrichtungen, so die nackte Lebensnot forderte, angefangen, bis zu den mühseligsten Fertigkeiten etwa der Schreibekunst. Auch ernstem Studium und tiefem Sinnen waren einiger der Brüder gar sehr ergeben, ja, der Abt selber soll wegen seiner hohen Fähigkeiten vom Heiligen Vater seinerzeit ungern und nur über eindringlichstes Bitten aus Rom in die Einsamkeit Sengins entlassen worden sein.

Die Freuden der Welt draußen und die Schrecken der Kriege gingen gleicher Weise an dem friedlichen Tale vorüber, an dessen Grunde, just unter den jähen Hängen eines mächtigen Gebirgsstockes, das schlichte Türmchen von Sengin nur ein Weniges über uralte Tannenriesen emporragte. Die Jahreszeiten wechselten im steten Gleichmaß und brachten jede ihre Müh' und Arbeit. Aber Wintergraus und Wetternöte vermochten die stille Abgesondertheit nicht zu bedrohen, und es war der Friede endloser Wälder und der ernsten Berge, der die frommen Gemüter der Patres so innig und ergeben aneinanderschloß und ihre Seelen in Freude den Weg zu Gott finden ließ. Jeder durfte in seiner Weise dem höchsten Ziele dienen, und was ihre Hände schufen oder ihre Köpfe ersannen, war kein Suchen und quälendes Hintasten nach ewig verborgenen Mysterien, sondern die volle Hingabe an eine Einsamkeit, die in heiterem Friede mit Gott und mit sich selber ihre beste Wurzel fand.

Insonders war es einer, den sie Bruder Martin riefen, der durch sein stilles, daseinsfrohes Wesen schier der Liebling aller galt. Nicht, daß er sich irgend eine Stellung über die anderen angemaßt hätte, er saß im Gegenteil meist ganz einsam in seiner Zelle oder irgendwo in dem tiefen Schatten des Klosterwaldes, und schnitzelte und schabte an seinen geliebten Holztafeln herum, aus denen er allerlei Bildwerk gar säuberlich herausarbeitete und sogar auf Pergament oder anderes Schreibgerät abzuziehen wußte; aber er blickte so glücklich und zufrieden in Gottes herrlichen Sonnenschein, er vermochte so liebevoll ein Gräslein zu streicheln oder für ein gefangenes Vögelchen zu bitten, daß jeder wie zu Rast und Einkehr bei ihm zu verweilen liebte und stets nur mit einem Stückchen Sonne im Herzen von ihm ging. Selbst der etwas griesgrämige Pater Sebastian, der als Notarius und Rechtsgelehrter alle Art Streitigkeiten mit nachbarlichen Herren zu begleichen hatte und deshalb am häufigsten aus dieser Klosterstille ins mißgünstige Land hinaus mußte, konnte nach Ärger und Mißlingen nur bei Bruder Martin so richtig ins Gleiche kommen, und wenn sie auch über alles eher plauderten, denn über die leidigen Geschäfte draußen, so ging er doch nie von ihm, ohne wenigstens vor sich selber manch Ding und Anlaß mit ausgeglichenerem Sinne zu betrachten. Dabei mochte Bruder Martin dermalen noch kaum an die dreißig Sommer zählen, üppige braune Locken quollen unter dem kleinen Tonsurkäppchen hervor und aus einem männlich schönen Antlitze strahlten ein Paar blauer Augen gar versonnen in die Welt hinaus. Pater Rupertus, der ein Poetikus war und die damals wenig gewürdigten Verse des Virgilius in sein geliebtes knorriges Teutsch zu übertragen sich mühte, hatte einmal gesagt, Bruder Martins Augen hätten einen so sanften Blick, als hätte die Hand des Heilandes einmal darauf gelegen; und dies Dichterwort wollte vielleicht gar so weither nicht erfunden sein, denn Bruder Martin wußte in der Tat all seine Umgebung und Gedanken mit sonderbaren Blicken zu erfassen, und sooft die Brüder staunend seine wunderlichen Holzschnitte betrachteten und seine Hand lobten, wehrte er bescheiden ab und meinte, sein Geschick hätte kein sonderlich Verdienst daran, er sehe es einfach so.

Daß aber Bruder Martin manchmal auch gar bekümmert und wie von Zweifeln gepeinigt dreinsehen konnte, das wußte keiner der Brüder. Es war dies, wenn er in seiner Zelle spät nachts oft eine Reihe sauberer Holztafeln hervorholte und immer wieder eine nach der anderen prüfend zur Hand nahm, um sie wie enttäuscht bald wieder wegzustellen. Er hatte mit all seinen frömmsten Gedanken es versucht, die Leidensgeschichte Christi darzustellen. Lange Zeit war der Wille zu diesem Werk in ihm gelegen. Er hatte in den Wäldern draußen eine Art wilder Birnbäume entdeckt, deren Holz ganz besonders glatt und eben sich schleifen ließ, ohne zu splittern; er hatte in vielen Nächten zitternd und von unsagbaren Schauern ergriffen die Bilder in sich lebendig werden sehen – aber die Eisen, die er an das Holz setzte, gingen nicht immer so, wie er es heimlich in sich trug; und als der an Selbstzucht gewohnte Mann trotzdem die Tafelreihe fertig vor sich hatte, da war es ihm, als fehle irgend etwas in allen diesen Schnitten, etwas Gemeinsames und doch stets Neues, etwas, das er selber nicht bestimmen, noch als einen Mangel zu erklären vermochte. Einmal war ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen, es blicke ihm das freundliche Gleichmaß seiner Tage aus allen Bildern entgegen; aber er schämte sich dieser freventlichen Regung und konnte dennoch das innerste Erleben jener Nächte, da er die Bilder zu sehen vermeinte, in seinem Werke nicht wiedererkennen.

»Christi Hand hat wohl nimmer auf meinen Augen gelegen!« sagte er dann traurig vor sich und er fürchtete den Tag, an dem die Brüder ihre Arbeit dem Abte vorlegen mußten. Am liebsten hätte er die Bretter abgehobelt; aber das wäre wider die Regel gewesen und Bruder Martin durfte solche Sünde nicht auf sich nehmen.

Es war an den hohen Festtagen des Jahres, daß der Abt alle Patres um sich rief und diese nach einem freudigen Mahle ihre Arbeiten gegenseitig zeigten. Abschriften, Buchdeckel, Spruchbücher und allerlei Schreibwerk, aber auch Schnitzereien und kostbare Meßgeräte, praktische und Schmuckgegenstände für Alltag und Kapelle, ein buntes Schaugepränge gab es da zu bestaunen und zu loben. Schweren Herzens hatte auch Bruder Martin seine Darstellung der Leiden und Kreuzigung unseres Heilandes Jesus' dem Abte übergeben. Dieser sammelte alle Brüder um sich, die standen im Kreise um die Tafeln und blickten voll Bewunderung von den Bildern zu Martin hinüber, der verlegen an einem reich geschnitzten Betschemel herumtastete und auf nichts mehr zu achten schien. Da rief ihn der Abt, der lange wie versunken vor den Schnitten gestanden, herbei, und während die Brüder wie zufällig einen Kreis um die beiden formten, küßte er den stillen Künstler leicht auf die Stirne und segnete ihn ob seines Werkes. Keinem der Brüder aber schien dies Lob zu hoch.

Bruder Martin wehrte sich erschüttert der großen Ehrung; hastig riß er sich los und eilte in den Garten hinab. »Laßt ihn!« rief der Abt freundlich und so meinten sie, ihr sanfter Bruder sei von dem so überhebenden Zeugnis des Abtes allzu sehr ergriffen worden.

Bruder Martin aber war unter die hohen Eichen des Klosterhofes geflohen. Am Rande des Wasserspiels, das sie mit ihren breiten Kronen überwölbten, saß er lange, lange; es war eine tiefe Scham in seinem Herzen, daß er mit so regelhaftem Machwerk den frommen Sinn der Brüder getäuscht hatte. »Herr im Himmel droben, vergib mir! Ahnen sie denn nicht, was ich hätte geben wollen, wenn – wenn –« er stockte. Er konnte es sich selber nicht sagen, was ihm den Drang seines Geberwillens nicht hat erfüllen können. Die Eichen flüsterten über ihm, der Brunnen plätscherte in den schweren Steintrog, in den spitzigen Bogen des Kreuzganges fing sich spielend das Sonnenlicht. Es war alles heute wie immer, so still, so feierlich, so friedfertig.

Und mit einem Male überkam es ihn, als drücke dieser Friede auf sein Herz, als halte er irgend etwas darin gefangen, das wie das pochende Blut nach Befreiung drängte. Die stillen Gänge und wogenden Bäume, das freilich hatte er hundertfach aus dem Holze schneiden mögen, wie er es hundertfach sah – es blieb immer derselbe Strich. Wie aber durfte er sich vermessen, das Leid, den Seelenkampf seines Heilandes zu erfassen, er, der harmlose, stille Mönch auf Sengin?

Seine Hand nur war es, die sie gelobt hatten. Sein Herz hat er ihnen nicht geben können. So war er ein Lügner vor Gott!

Als die Ave-Glocke tönte, war Bruder Martin nicht unter der Schar. Sie fanden ihn unter den Bäumen, tief in Sinnen verloren. Aber der Abt hatte geboten, ihn nicht zu stören. So saß er, bis längst die Sterne schon über dem Kloster tanzten. Da erst erhob er sich, wankte über den Hof in die Kapelle und betete dort seinen Ave-Gruß, bis das Morgenlicht hinter die bunten Fenster trat. Niemand hat je erfahren, was er seinem Herrgott in diesen Stunden anvertraut haben mag.

 

In jener Zeit traf es sich, daß Bruder Sebastian öfter denn je ins Land ziehen mußte, denn die Streitsachen zwischen geistlicher und weltlicher Macht ließen damals, wenige Jahrzehnte nach dem Wormser Konkordat, selbst das entlegene Kloster Sengin nicht unberührt. Kam der Notarius dann auf seinem dürren Gaul wieder heimgeritten, harrten die Brüder schon alle neugierig der mannigfachen Erzählungen, die neben den Amtsgeschäften mitzulaufen pflegten. Von Fehde und Streit, von zahllosen Kämpfen mit Schwert und Feder war dann die Rede, auch davon, wie die Streiter Christi immer weitere und entlegenere Völker zum rechten Glauben führten. Die Brüder horchten wohl gespannt den Mären aus der Welt draußen, lobten im Herzen aber ihren Herrn, daß er sie in friedlicher Arbeit und frommen Gebeten das ihre zu seiner Herrlichkeit Preis tun ließ. Bruder Martin, der seit jener Nacht merkwürdig verschlossen und schwermütig geworden war, horchte kaum auf; die Brüder bekümmerte sein verändertes Wesen nicht wenig, aber weil sie ihn alle zu lieb hatten, um mit Frage und Teilnahme ihn etwa zu kränken, blieb er von Tag zu Tag mehr allein.

Einmal nun brachte Bruder Sebastian eine traurige und freudige Botschaft zugleich. Papst Hadrian IV. war zu Rom verstorben, und sein Nachfolger, ein weiser und gestrenger Mann, segnete als Alexander III. die Christenheit.

Da rief der Abt auf Sengin eines Tages abermals die Brüder um sich. Er eröffnete ihnen, daß er willens sei, als ehrerbietigen Gruß und Huldigung von Sengin ein wunderbar gefertigtes Neues Testamentum dem Heiligen Vater nach Rom zu übersenden; weiters, daß alle, die es vermöchten, das Beste dazu beitragen dürften. Insonderheit aber sollten die Schnitte des Bruder Martin das Buch zieren.

Aber da war der sonst so stille Bruder heftig aufgefahren und hatte wie flehend die Hände vorgestreckt: »Das dürft Ihr nicht tun, das nicht!« rief er laut, »daß Ihr das Machwerk dem Heiligen Vater bietet!« Und als der Abt, schier gekränkt über die Zurückweisung seiner wohlwollenden Hand, entgegnen wollte, stürzte Martin vor ihm auf die Knie und bat mit heißen Worten um Nachsehen und Vergebung und darum, daß der Abt ihn nach den unwirtlichsten Landen als Missionär und Prediger des rechten Wortes senden möge. Die Brüder standen voll Erstaunen. Der Abt aber hob den Knienden empor und befahl ihm, nachher allein mit ihm zurückzubleiben; den anderen aber gebot er, zu tun, wie er geheißen und eifrigst ein jeder dem Gedanken und der Tat seines Befehles nachzugehen.

Was zwischen dem Abte und Bruder Martin gesprochen worden, ist nicht überliefert. Doch soll die Unterredung lange Zeit gedauert und der Abt schließlich dem Bruder zugerufen haben, daß er nur dann die Tafeln ihm zur Zerstörung überlassen wolle, wenn heute über zwei Jahren er dieselben so vor sich habe, wie Martin sie in seinem Wahne erträume.

Martins Wille aber, in fernen Ländern, in Not und Elend für Gottes Ruhm zu kämpfen und die Seele zu festigen, mußte der Abt dennoch für richtig empfunden haben, denn schon am nächsten Morgen zog der Bruder, begleitet von den Segenswünschen aller, durch die hohe Klosterpforte, durch die dunklen, rauschenden Tannenwälder seiner friedlichen Heimat einer ungewissen, harten Fremde entgegen. Der Abt hat später den Brüdern wohl einiges erzählt; so, daß Martin ihm von seiner Kunst und Hemmung gar überirdisch feierlich gesprochen, daß sein innerster Drang in dem friedlichen Gleichmaß seinen hohen Glauben zu verlieren drohe, daß er nun wisse, was seinem Werke fehle: der eigene Kampf, die eigene Not, die einzig diesen Drang zu läutern imstande sei.

»Kann ich das Neue Euch schaffen,« – so seien seine Worte gewesen – »so werdet Ihr selber die Tafeln mir zurückgeben. Sie sind Handwerk. Müßte es aber Handwerk bleiben, dann fürchtet nicht, daß mein Mund Gelegenheit haben wird, von Euch das müßig Spielzeug zu fordern!«

»Fast höhnend gegen sich selbst hat Bruder Martin es mir zugeschrien. Wer ich verwies ihn strenge solcher Lästerung und befahl ihm kraft meines Amtes, in zwei Jahren zu uns zurückzukehren, und ich hoffe, recht getan zu haben. Gott helfe ihm auf seinem Weg. Amen!« So schloß der Abt die Andeutung über das, was er mit Martin verhandelt; die Brüder aber, die vielleicht den weiteren Blick des Abtes sich nicht ganz anzueignen verstanden, waren darin sich einig, daß Martin späterhin wohl selbst wieder Gefallen an seinen Schnitten finden werde, wie er sich ja auch früher immer an jedem kleinen Bildchen, das ihm gelungen, fast kindlich zu erfreuen vermocht hatte.

Und keiner war, dessen Gedanken nicht wohlwollend und besorgt ihn begleitet hätten, voll der Bitte, daß er mehr Freundliches finden möge als Ungemach und Bitternis, wie alles ja den Vorkämpfern Christi in fremden Landen soll widerfahren sein.

 

Ein strenger und harter Winter war über Sengin ergangen, bis der Frühling wieder Sieger verblieb; Sommer und Herbst gingen über Land, von Bruder Martin blieb jegliche Nachricht aus. Nur einmal wollte der Notarius das Gerücht verbreiten, es sei in Rom ein deutscher Mönch, der Martin geheißen haben soll und in Nordafrika als Missionär tätig gewesen, vor dem päpstlichen Stuhle harter Vergehen gegen Kirche und Priestergewalt angeklagt worden, doch sei er wie durch ein Wunder aus dem Kerker entkommen und keine Spur von ihm zurückgeblieben als an der Wand des Gefängnisses mit groben Strichen ein übergroßes Abbild, welches den Heiland, wie der Teufel ihn in der Wüste versuchte, so eigenartig soll dargestellt haben, daß der Heilige Vater selbst in das Gewölbe hinabgestiegen sei, es anzusehen. Andere wieder hätten wissen wollen, daß der Papst zuerst von dem Bilde gehört und dann dem Mönch später den Weg zur Flucht geöffnet haben soll, was aber solchermaßen aller frommen Gerechtigkeit widerspräche, daß niemand daran glaube. Der Abt verbot strenge, derlei Gerüchten das Ohr zu leihen, und so war der dunkle Verdacht, der in manchem der Brüder vielleicht erweckt worden, gar bald in dem weiter hastenden Alltag zerronnen.

Der Winter war zum zweiten Male gekommen, furchtbarer und strenger als seit langen Jahrzehnten. Diesmal brachte ein Fremder die Nachricht, daß ein Mönch Martin im hohen Norden gar hart und unwiderstehlich die Lehre Christi in Wort und mehr noch in Taten predige und alle Widersacher wie von höherem Geiste getragen überwinde. Doch gab es damals vielerlei Erzählung und Heldentaten eifriger Männer.

Martin kehrte aber doch zurück. Es war dies, als der Frühling abermals den Winter vertrieben hatte. Die Brüder waren eines Abends wieder um ihren Abt versammelt, da trat er unversehens in den Saal und schien sich nicht sogleich zurechtzufinden. Die Brüder sprangen empor, aber er schritt abwehrend zum Abte hin und erbat mit demütiger Geste dessen Segen.

Der Abt sah ihm lange ins Angesicht, in dem schwere Linien um Mund und Augen von bitterem Kampfe und hoher Seelennot zeugten. Auch Wind und Wetter mußten das Ihre getan haben. Die Augen glänzten zwar still und ergeben wie einst, aber das friedliche Sinnen war daraus verschwunden; Demut lag darin und der Stolz eines hohen Willens, der sich frei einem höheren Rufe zu beugen weiß. Da erkannte der Abt, daß nicht Sonne und Himmel ihr Licht hier widerstrahlten, sondern Feuer und Kraft der eigenen Seele.

»Und darf ich dich segnen als einen der Brüder, Martin?«

Dieser senkte nur den Kopf tiefer herab. Und der Abt hat keine weitere Frage an den Bruder gerichtet, noch der Bilder erwähnt. Wer bald konnte er sich heimlich freuen, als er den Bruder Martin wie einst da und dorten mit Schnitzbrett und Eisen einhergehen sah. Mitunter glaubte er, einen dankbaren und frohen Blick aufzufangen und er wußte sich den Grund gar wohl zu reimen. Bis tief in die Nacht warf das kleine Öllämpchen aus Martins Zelle einen schwachen Schein über die Brunneneichen. Die Brüder waren ihm anfangs scheu gegenübergestanden, bald aber hatte sein festes und doch so strahlend freundliches Wesen die Herzen aller wieder gewonnen, mehr denn je. »Vielleicht hat Christi Hand nun auf seinem Herzen gelegen!« sagte Bruder Rupert und alle wollten es gar gerne glauben. Denn es war, als ob Klarheit und Freude die Seele dieses Mannes trügen.

Am zweiten Jahrestage nach seinem Abgange hatte Bruder Martin die Bilder fertig, die das Buch an den Heiligen Vater begleiten sollten. Er übergab sie dem Abte, der sie schweigend lange betrachtete, weitergab, und so gingen sie von Hand zu Hand. Es waren fast dieselben Vorwürfe wie vor zwei Jahren. Und doch erkannten alle, daß etwas Neues, Unsagbares in den Linien liege, was die Worte des Evangeliums nicht wiederholend im Ohre anklingen ließ, sondern im Herzen neu lebendig machte; das Leid Christi um die Menschen, der Weg nach Golgatha, das Erleben in Gethsemane – die Brüder fühlten es schauernd im eigenen Verstehen, ohne Worte und Gedanken.

»Es muß Gott selber gewesen sein, der ihm die Hand führte!« So murmelten sie untereinander und konnten die Sinne nicht von den Blättern lösen. In Bruder Martins Antlitz leuchtete eine stille Freude. Er wußte ja, daß sein Ringen und Leiden in den harten Erlebnissen ihm den rechten Weg gewiesen und daß etwas nun in seinen Werken war, das er früher nie hatte finden können. Doch konnte er keinen Namen dafür erdenken.

›Es mag schon so sein, wie sie sagen!‹ dachte er bei sich selber und ein heißer Dank war in ihm, daß er auch die bittersten Stunden für dieses Schaffenkönnen zu ertragen vermocht hatte.

 

Wenige Wochen später überbrachten ein paar Mönche das inzwischen geschriebene und reich verzierte Buch dem Heiligen Vater nach Rom. Bruder Martin, dem man die Sendung anvertrauen wollte, hatte jedoch gebeten, ihn besten zu verschonen; auch solle sein Name nicht dort sich vortun, wo ein Werk zu Gottes Ehre und in seiner Gnade erstanden sei.

Nichtsdestoweniger hat das Buch, oder eigentlich die Bilder darin, am Hofe Alexander III. gar großes Aussehen hervorgerufen; von ganz Italien sollen Kleriker und Laien, die für derlei Arbeit damals Sinn und Freude hatten, nach dem Buche gefragt haben. Man nannte es die ›Bibel von Sengin‹. Es ist unter diesem Namen noch lange Zeit dem Archive des Vatikans angereiht gewesen. Den Namen des Zeichners hat niemand erfahren; ›es soll vom Kloster Sengin Eurer Heiligkeit Kunde sagen‹, wie der Abt es ausgeschrieben.

Bruder Martin hat wohl noch manches wunderbare Kleinod dem Kloster zu Ehren gefertigt; doch nur kurze Zeit. Eine tückische Krankheit riß ihn wenige Jahre später mitten aus seiner Tätigkeit. Doch ist kein Zeugnis aus seiner Hand zu und herabgekommen. Denn schon im dreizehnten Jahrhundert ward das Kloster Sengin von Feindeshand zerstört und geplündert und alle seine Werke gingen verloren. Auch die ›Bibel von Sengin‹ soll zur Zeit des Schismas, als nach dem Tode Gregors XI. so schwere Zeiten heranbrachen und der päpstliche Hof bald in Avignon, bald in Rom anerkannt war, von Hand zu Hand sich verloren haben und ist wohl später, wie so manche Schätze jener Zeit, von roher oder unverständiger Hand vernichtet worden.

Die Klage des Bruders Uto

Der Entschluß, ins Geierbachtal abzusteigen, war durch einen der seltenen Briefe meines Freundes Josef befestigt worden, jedoch, ehrlich gestanden, weniger um den dereinstigen Kameraden wiederzusehen, als weil er mich in seiner ironischen Art auf einen ›Fund‹ neugierig gemacht hatte, der ›meinem Bergrappel, der trotz der Jahre scheinbar keine Besserung erführe, wahrscheinlich willkommene Beute sein würde.‹ Der gute Josef! Er konnte im Schützengraben über einer alten Schwarte das Trommelfeuer vergessen, würde für ein wurmstichiges Pergament ein halbes Leben opfern und ist glücklich, seit er in der Stiftsbibliothek zu St. Martin am Geierbach sein verhältnismäßig junges Leben vergraben darf. Ich war in seinen Augen seit jeher eine Art Narr, weil ich alle freie Zeit hoch in den Bergen zubringe; nutzlos und lächerlich, wie er meint. Er behandelt mich auch wie ein Vater seinen guten Jungen, mit dem man nur ein wenig Geduld haben müsse.

Diesmal hatte er sicherlich einen alten Stich oder derlei in seinem Museo aufgestöbert, und er wußte, wie sehr ich gerade auf alte Darstellungen unserer Berge erpicht bin. Ich freute mich aufrichtig, daß er sich meiner gleich wieder erinnert hatte und mir wenigstens die Anerkennung zubilligte, in seinen Stichen und Schwarten auch als Laie Nützliches zu erkennen. Dabei war er im Herzen gewiß überglücklich, wenn mich ein altes Bergbild zu hellster Begeisterung entflammen konnte, wiewohl er so tat, als wäre es eigentlich ein Sakrileg, mir eine kostbare bibliothekarische Reliquie in die Hand zu geben.

»Na ja, du siehst es eben von deinem Standpunkte aus als Bergsteiger!« pflegte er mitleidig zu sagen, wenn mich ein weniger wertvolles Ding um des Motives willen fesselte. Er mag ja recht haben; ich suche in den phantastischen, mit gräßlichen Unmöglichkeiten erfüllten Bergdarstellungen früherer Jahrhunderte mehr die allgemeine Gemütsverfassung einer Zeit zu entdecken, der die Berge noch so geheimnisvoll und schrecklich gewesen waren; und mag der Kunstwert auch ein geringer sein, so spricht mir der Darsteller doch im Namen seiner Umgebung, aus der Gefühlseinstellung seiner Zeit und Welt heraus.

Ich verließ frühmorgens die Sonnenjochhütte, in der ich trotz ihrer Entlegenheit mehr wie in einer lauten Gaststätte als wie in einer Schutzhütte die Nacht zugebracht hatte. Ich schritt den ganzen Tag fest aus, da ich drei Übergänge mit ziemlicher Höhendifferenz hinter mich bringen mußte, wollte ich anders die Geierbachstraße vermeiden; diese wäre zwar landschaftlich einer der schönsten Alpenübergänge; aber gerade deswegen konnte ich jetzt im Juli als Fußgänger dort dem Staube der Kraftwagen nicht entrinnen. Doch auch der Jochweg wurde mir bald zu belebt; ich entschloß mich daher, über den Westgrat der Geierspitze abzusteigen, den ich von hier mit einer knappen Stunde Zugabe eben erreichen konnte; der ziemlich beschwerliche Grat lohnte mir die Mühe mit prächtigen Einblicken in das Wildgrabenmassiv, auf besten Fernern ich die letzten Tage so herrliche Stunden erlebt hatte; gestern noch war ich auf dem Gipfel des Wildfernerkopfes gestanden, dessen steile Eismütze wie eitel Gold in der Mittagssonne zu mir herab leuchtete. Auch die gefürchteten Brüche des Wildferners im sogenannten Mönchsboden sah ich blaugrün schimmern, harmlos in den Verhältnissen der umragenden Berge, und doch dem kleinen Menschen ein oft unüberwindliches Hindernis.

Indes schoben sich bald die nahen Kulissen der Geierspitze zusammen, mein Grat verlief in den Schuttboden eines Sattels, über den ich durch steilen Wald immer näher an das Brausen des Geierbaches herabkam. Just mit Ave-Läuten gelangte ich nach St. Martin; mit einem gewissen Behagen schritt ich diesmal an dem mehr kostspielig als geschmackvoll hingestellten Prachthotel vorüber, da ich ja wenige hundert Meter weiter an die Stiftspforte klopfen durfte.

Unter der Spitzbogendecke eines uralten Gemaches, in einem mächtigen Pfostenbette unter einem gotischen Fenster, durch dessen Marmorgitter ein Klosterbrunnen die ganze Nacht sein Murmeln herübersandte, das war freilich ein wohligeres Ausruhen nach langer Bergfahrt, als in Seide, Glanz und Jazz des ›erstklassigen Hauses‹ drüben unter der armen Geierwand.

Nur mit Mühe kann ich der Versuchung widerstehen, eingehends von den zwei freundlichen Tagen zu erzählen, die ich Dank Josefs Freundschaft in Sankt Martin verbrachte. Wenn man aus unserer lauten Zeit urplötzlich sich ins Vergangene versetzt sieht, wo über alte Mauern, über ehrwürdige Arbeit derselbe Kranz mächtiger Berge hereingrüßt wie von seinerzeit, wenn überdies noch die Wehmut, die ein Träumen an solchem Orte nur zu leicht erweckt, von lieben Menschen in helle Freude am Schauen und Nacherleben gewandelt wird, so ist es begreiflich, daß mir erst am letzten Abende der eigentliche Zweck meines Hierseins wieder einfiel und ich Freund Josef nach seinem Funde fragte.

»Ach Gott,« sagte dieser, »ich wollte dich nur überhaupt herlocken, denn allein mir zuliebe wärst du doch nicht gekommen.«

Ich senkte schuldbewußt mein Haupt. Verschmitzt lächelnd nahm mich Josef bei der Hand und zog mich ins Archiv hinüber. Er schloß eine Lade auf, entnahm ihr ein altes Papier und faltete es sorgfältig auseinander.

»Es ist nichts Besonderes,« meinte er, »für uns hat es eigentlich nur archivarischen Wert. Es ist ein Brief vom Jahre 1715. Aber der Schreiber, ein Mönch des dermalen hier seßhaften Ordens, scheint so eine Art Bergnarr gewesen zu sein –« Josef betonte das ›Narr‹ außerordentlich bedeutsam, blieb aber vollständig ernst – »und da dachte ich, es würde dich dieses Klagegeschrei mächtig interessieren.«

Ich hatte das Papier gierig an mich gerissen, roch und griff voll Freude und zum Entsetzen des Archivars dran herum und wollte gleich beginnen.

›Gegeben zu Haag, anno Domini … ‹ Etwas enttäuscht schaute ich auf. Dort droben wird wohl mit Bergen nicht viel los gewesen sein? Josef bemerkte meine Miene.

»Bitte lies alles und dann sprich. Ich sagte dir im voraus, du darfst auf keinerlei Dramatik noch sonst etwas hoffen. Ein Mönch beklagt sich, daß er ins Flachland versetzt wurde, weiter nichts. Bemerkenswert ist nur die frühe Jahreszahl, sowie daß der gute Mann hier herum viel gegangen sein muß; das ist für dich. Ein Kunstwert oder historischer Wert liegt nicht darin.«

»Es wäre denn für die Geschichte des Alpinismus?«

»Auch das nicht, denn der Mann ging nur spazieren, war ein Phantast und in eurem Sinne kein Bergsucher. Übrigens mußt du hier sitzen bleiben und die wenigen Worte lesen. Ich gehe inzwischen, dir einen Imbiß zum Abmarsch einzupacken, wenn's denn sein muß!«

Das letzte brummte er schon zwischen der Türe, nachdem er im Sprechen rasch noch ein paar Buchrücken in eine Reihe zurechtgeschoben hatte. Denn der Raum, in dem ich mich befand, war an die Decke mit hohen Bücherregalen ausgekleidet, die nur wenigen sehr schmalen Fenstern Platz ließen. Durch diese fielen jetzt dicke Staubsonnenbündeln auf die Fliesen, zitterten an den geschnitzten Bänken und legten ein freundliches Licht über diesen Raum, der die entschlafenen Gedanken einer toten Zeit hinter all den alten Buchrücken vor dem hastenden Geldsinn unserer Tage behüten zu wollen schien.

 

Hier las ich die epistula des Bruders Uto; der Mann muß eine damals seltene Liebe zu den Bergen gehabt haben und mußte sogar büßen dafür; dies mag ihn uns Bergsteigern wert machen, auch wenn er noch lange kein Vorkämpfer im späteren Sinne gewesen ist. Ich gebe den alten Stil ein wenig verändert wieder und lasse auch die unzählig sich wiederholenden Beteuerungen der Unterwürfigkeit weg. Leider konnte Freund Josef das erwähnte ›Diarium‹, welches Utos Bergeindrücke sicherlich unmittelbar und persönlich erschließen würde, bislang nicht vorfinden. So möge sich aus einem Bruchstück ein Lebensbild ergänzen:

›… so konntet Ihr, hochwürdigster Abt, mir nicht ärgeres Leid antun, als mich hieher in unseres gnädigsten Kaisers, Herrn Carolus des VI. neue Provinzen zu senden! Dieshalb fürchte ich, meiner Aufgabe ungut dienen zu können, weil mein Gemüt die Kraft nicht hat, sich aus dem Drucke der Weite hier zu erlösen. Mein Auge irrt über neblichte Ebenen und findet nicht Rast noch Fernen; mein Ohr suchet das Brausen alter Wälder und reißender Wasserfälle oder die Stille einer Einsamkeit, die Ihr nicht kanntet und doch verdammnet habt. Meiner Seele aber naget ein unerklärlich Heimweh bitterste Wunden. So klage ich, weil mir die Strenge hohen Entschlusses wohl bekannt ist, weil ich hingegen aber Eurer milden Gesinnung zu erbitten hoffe, mir für den Tod ein barmherzig Gebet zu sprechen, da meine Kraft und Prüfung bald wird ein Ende haben.

Ersahet Ihr aus den Blättern meines Diariums schwere Sünde, so kann sich nur mein Verstand kraft meines Gelöbnisses Eurer Einsicht beugen. Mein Herz traf in den Bergen droben dieselben Wunder von Gottes Schöpferhand, nein, fand noch der Wunder unendlich strahlendere denn dorten, wo des Menschen Fürwitz so lange schon in Gottes Werke pfuscht. Nichts Schreckliches noch Widernatürliches machte mich je bangen; wenn der Sturm im freien Gebälke unserer Kirche lauter sang als bei den Linden im Hofe, so mußte er tausendfältig wütender noch brausen, wo nicht mehr wankende Baumkronen seinen Aberwitz zu brechen vermögen; laßt mein Ohr in solchem Brausen Sang und Zwiesprach vernehmen, so ich es verzeichnet habe, aber des Satans Finsternis reicht nie und nimmer in jene Höhen! Des verkennet Ihr, was ängstliches Volk und verirrte Hirten in Nöten fliehend von dort her an Mären brachte. Macht nicht der Mondschein den Wald lebendig, daß aus Strünken Kobolde werden und aus Nebeln tanzendes Weibervolk? Und ist doch der klare Mondschein nicht, der solches zaubert, sondern die Angst in des Menschen Brust. Denn des Satans Reich geht keines Haares Breite weiter als über des letzten schuldtragenden Menschen Seele. Dort nur spiegelt er Spuk und Wirrnis, so von außen gar wilde einherkömmt; und gehet doch ein unschuldig Reh, ein zartes Vöglein, ein reines Kind nebenher unbeschadet durch Nacht und Waldesfinsternisse.

Dies aber hättet Ihr nicht klagen dürfen: daß eines Christen Fuß nicht hintreten solle, wo Gott der Herr mit Fels und Eis den Wanderer wehre. Wohl konnte mein Krückstab, mein leichtes Schuhwerk nimmer genügen, als ich von einem zum anderen Male immer tiefer in jene herrlichen Wildnisse drang. So habe ich denn allerlei Geräte verfertigt, ein Zacken unter den Schuh, ein spitzes Beil, ein feines Geflechte vor die Augen; auch die breiten Hölzer, so ich unter die Sohlen band, waren nur Waffe gegen den lockeren Schnee, denn was als ewiges Eis uns von oben herniederleuchtet, ist nicht anders als der Schnee unseres Winters. Euch war mein Geräte Teufelswerkzeug, Euch war der Sonnenbrand meines Antlitzes von höllischen Flammen geschlagen, Euch waren meine preisenden Worte Trug und Verblendung, so mir der Böse dort sollte widerfahren lassen haben.

Wisset, daß ich erstmalig entsetzt geflohen bin, als über der Öde und Leere hoher Täler ich mit einem Male vor blinkenden Eispalästen stand; klein und nichtig mußte mir scheinen, was Ihr von den Gewölben römischer Kirchen erzähltet, winzig und zerbrechlich alles, was Menschenhand aufzuführen vermag. Aber nicht Teufelsspuk hat solche Pracht erbauet, denn einzig Gottes Schöpferhand vermag so zu gestalten, wie meine leiblichen Augen es dorten ersahen.

In dem weiten Boden unter der Spitze des wilden Ferners, just ehe die turmhohen Kristallwände des Eises ihn mit Wirrnis erfüllen, hab' ich mit unsagbarer Mühe und Last auf einem großen Steinblocke ein Kreuz aufgestellt; ich trug wie weiland Unser Herr Jesus die schweren Balken über die Karrenfelder aufwärts, stolpernd und stürzend unter der Last auf mühevollem Pfade; ich tat es zu Gottes Ehre und damit das Zeichen unseres Heilandes jenen herrlichen Höhen nicht fehle.

Später, als meine Wege auch über jenen Boden noch weiter lockten, da hielt ich vor meinem Kreuze stets eine inbrünstige Andacht. Also sah mich einmal der Jäger aus Stronz, der sich verirrt hatte und schon schreckhaft geworden war; mit einem Schrei stürzte er von dannen, just gegen die Wände der Geierspitze los; ich ihn zu halten schrie und lief hinterdrein, was den Verängstigten nur noch mehr jagte. Ihr wißt, daß er mir entkam, daß er sich drunten zerfiel und sterbend von den Holzern ward gefunden worden; daß er im Wahne des Todes von dem Teufel in Mönchsgestalt irre sprach, so ihn droben im Boden verfolgt und über die Felsen geworfen. Gott sei seiner Seel' gnädig! Was mein Gebet vermag, wird ihm helfen, denn innigere Worte fanden nimmer über meine Lippen, als wenn ich droben unter dem Kreuze, umgeben von heiligsten Säulen und Zierden eines kristallenen Domes, mit Gott durfte ungehörte Zwiesprach halten.

Was Ihr Sünde nanntet, die Tat, hab' ich selber erst noch als solche beklaget, insolange ich Trieb und Leidenschaft immer heißer schwellen fühlte; die Tat aber nimmer. Ich weiß itzo, daß der Herr solche Sehnsucht nach seiner irdischen Himmelswelt nicht zu Qual und Fehl in der Brust eines Sterblichen entzünden kann, daß er solche Leidenschaft nicht zur Sünde entfesselt, die nur sein Werk schauen und erlauschen kommt. Denn was ich sah, nicht einmal, nicht sieben Male, sondern einzig und immer neu, dessen habt Ihr weder Mär noch Kunde, habt Ihr auch Wissen nicht, und wenn Ihr tausendfach meine stammelnden Schriften für wahr gehalten hättet. Nur das Auge kann es schauen, nur das Ohr erlauschen, nur die fromme Seele selber kann es erfassen.

Doch in Eurem Sinne muß alles Tun sichtbarlichen Zwecken dienen. Ergo fruget Ihr mich vergebens, wes Zieles und Planes mein Wandern sei. Meine Antwort war Schweigen und müßte Schweigen sein, wenn auch der Herr ernst mir Rechenschaft forderte; Gott der Herr aber kann tiefer in die Seelen schauen, und das Gebet, so in meinen Taten selber lag, wird nahe an Ihn kommen, wie es nahe den Himmeln ist gelebt worden!

Ich sah jüngst in Amsterdam wilde Tiere, Geschöpfe des Paradieses wie wir, doch ohne die Sünde; hinter engen Käfigen wurden sie für Geld gezeigt, dem irdischen Menschennutz dienend; Zweck und Plan wollt Ihr überall erkennen, doch Zweck heißet den Menschen Geld und Plan der Weg des leiblichen Wohles. Büßen muß wie die Tiere, was Gott in des Menschen Gewalt gab. So mag Er voll Absicht die Bergeshöhen mit finsterem Fels und schreckstarrendem Eise verwahret haben, um sein herrlichstes Reich vor des Menschen Gewinnsucht zu erhalten. Vielleicht wird noch mancher nach mir um des Reiches selber willen Mühe und Not verachten lernen; wehe, wenn sie nicht alle die Frage nach Ziel und Nutzen mit Schweigen beantworten dürfen; wehe, wenn ihnen Sinn und Zweck nicht sollte größer sein, als ein Wort es sagen, als es Gold erklingen machen kann!

So aber habt Ihr mein Diarium mißverstanden: denn als ich erstmalig verstört und schreckhaft den Höhen entronnen war und meine Angst den Blättern anvertraute, war es keine grause Macht, die meine Sinne verwirrte, indem der Berge Majestät ihr Antlitz um eines nichtigen Menschen willen nicht ändern; in der eigenen Seele lag es, daß diese die Bilder noch nicht zu ertragen vermochte, wie denn nur die eigene Seele erst mählich sich zum Begreifen, zu Demut, zur Liebe befreien konnte. Ihr aber sähet, fortschreitend in meiner Schrift, das Teufelswerk der Verblendung und Umgarnung, Ihr nur nähmet den ersten grausen Bericht als den des frommen Mönches und die wachsende Glücksstimme als infernalischen Niedergang. Just das Umgekehrte aber hat Gott der Herr dort droben an mir erfüllet.

Noch lebt der Urwald um uns voll der Geheimnisse; Ihr selber, hochwürdigster Abt, gehet nicht die einsamen Wege, es wäre denn, daß Euch das Allerheiligste zum Versehgang beschütze. Ich sage Euch, daß ich über dem Walde noch unendliche mehr der Wunder erblickte; ich sage Euch weiter, daß auch mich mein Glaube schützte, wiewohl ich kein Allerheiligstes in Händen trug. Die Liebe wohnt im Herzen und kann nur alldorten als Schutz oder Ohnmacht erstehen. Kein Dämon konnte mich verwirren, keines Satans Macht mir falsche Schlingen legen. Was ich kämpfen mußte, war der offene Streit wider die Geister, so in erschreckender Gewalt Gottes Bergreiche bewahren. Aber Angst und Grauen blieb mir ferne, so daß ich auch Sieger bleiben durfte in Gottes Gnade; und hätte als Besiegter nur ein gutes Ende gefunden, wie es denn kommen muß und wie ich es von Gott erbitte, daß er mir es gebe, bevor meine Sehnsucht mich in Hader und Qual verblenden mache. Mir ward es, jene Reiche zu schauen; so verlor ich alle Scheu, es möchte hinter Sturm und Donner, hinter schlagendem Gestein und wälzenden Schneebergen, hinter verzerrendem Nebel und grausem Schluchtengewirre eine teuflische Macht mich höhnen; es ist die Hand des Allmächtigen dort wie überall, sie kann dort auch wie überall uns erhöhen oder zerschmettern!

Mit solchem Glauben sind auch die Spukgestalten alle der Schönheit gewichen. Was grinsten sie mir vorerst aus Felsschründen und Eisschluchten, aus windtotem Baumwerk und verzerrtem Gestein entgegen! Ich floh entsetzt, und kehrte wieder; ich floh aber und abermals und kam doch immer zurück. Bis ein Tag des großen Lichtes kam, der alle die Gestalten verschlang. Nun ward mir um des Großen auch das Kleine lieb, und wie ich furchtlos an dieses herantrat, zeigte es mir wunderlich kleine Schönheit. Was vorerst Gespenst gewesen, Phantasmata neuhafter Gebilde, das wurden mir jetzt Lichtgestalten, wurden mir fürder Himmelswesen und ich konnte nicht anders gefährdet mit freundlichsten Gedanken meiner Einsamkeit Herr werden.

Indes ich dieses schreibe, denke ich an den verwetterten Baum, den letzten Pfadweiser meiner Steige zum Boden des Kreuzes. Kahlgefegt vom Sturme, entrindet von den Wassern, verdorrt in der Sonne; doch über sein Leben weiter will er des Berges Herbe noch nicht missen. Dort saß ich zu vielen Malen, morgens dem Walde mein Valet zu sagen oder absteigend mein Willkomm. Dort hörte ich die Grate singen und sah lockend das Eis gegen die Sonne spiegeln; dort lauschte ich Stimmen des Himmels und dem Widerklange in meiner Brust. Hochwürdiger Abt! Indem ich Eurem Gebote mich beugen muß, so wisset, daß Ihr meine Seele von dort nicht habt reißen können. Nun aber mein Inneres geteilt ist, weiß ich nimmer, ob ich Gott zu Rechten dienen kann.

Gewiß, die Menschen werden nie und nimmer Weg und Steg in meine Lichthöhen bauen, soferne sie nicht irgend Gold zu schürfen hoffen. Und solche sind wenige, die abseits der ausgetretenen Pfade ein selbstlos Glück suchen. Fast ist es Sünde worden, froh und glücklich sein zu wollen. Hätt' ich meine blutenden Hände, meinen oft zerschürften Leib, mein Bangen in Sturm und Not wüster Höhe Euch als Kasteiung verzählet, Ihr hättet mich nimmer gescholten. Ich aber konnte den Sonnenschein, der meinen Augen von droben noch innelag, in Euren düstren Gängen nicht verbergen. Um dieses habt Ihr mir nicht verziehen. Nennet denn die Berge öde und unwirtlich, fürchterlich und grausig, voll der Schrecknisse und Gefahren! Ich sah eine andere Sonne als Ihr und dies galt Euch Verblendung und Teufelswerk; so müßte denn der Herrgott selber manchen Augen als Satan erscheinen, die Ihn nicht anders erkennen wollen!

Dermaßen hätt' ich niemalen gelästert, wenn Ihr mich dem Friede der Berge belassen hättet; hier aber im Niederlande weht ein scharfer Wind und mein heimkrankes Herz kann ihm nimmer trotzen.

Ich sah den Adler über den Firnen schweben, sah die flüchtige Gemse in den Wänden und den schweren Steinbock im Fels; sah auch kleine Dohlen um die letzten Gipfel kreisen und hörte die Murmeln im ödesten Kar; wer wehrte ihnen allen, im lieblicheren Tale zu hausen? Sind Gottes Geschöpfe wie wir und täten verkümmern, so ihnen anmaßend der Drang ihres Wesens möchte beschnitten werden. Ihr wolltet ein Edelweiß im Klostergarten pflanzen und ist ein elend grünes Kraut draus worden; Ihr wolltet ein Gamskitz zwingern und hat sich an der Mauer blutig zerrannt; Ihr habt zornmütig mein kümmerlich Geräte zerschlagen und ich habe gelacht hiezu. Das war freilich ein schwer Vergehen; ich lachte, weil weder Ihr noch ich ein Titelchen der Herrlichkeit könnt ändern, so Gott der Herr sich zu offenbaren hingestellet: das endlose Meer und die eisstarren Berge. Ihr habt das eine noch das andere je geschaut; ich aber stand auf der höchsten Zinne unserer Welt, die Erde zu Füßen und den Himmel nebenan.

Ihr hättet mein Diarium wohl auch anders lesen können! Dann hättet Ihr von mir gefordert, daß ich die Bilder und Lehren, so droben meine Seele empfangen, zu jeder Stunde hätte dem Volke predigen müssen, daß ich noch andere der Brüder meine Pfade geweiset hätte, damit die Kunde von einer neuen Welt ins weite Land gelange; und diese neue Welt wäre nicht über Meeren fernab in Wildnis und Heidenland gelegen, sondern inmitten des Heiligen Römischen Reiches. Ein verstehend Wort von Euch, ein karges Lob meiner beschwerlichen Wanderschaft hätte mich leichthin auch entflammen können, die rechte Sprache für all mein Erschautes und Belauschtes zu finden: ›Nicht Nutzen noch irdischen Lohn darf euer Wandern suchen, soferne ihr meinen Wegen folget; aber euer Auge wird eine strahlende Unendlichkeit sehen und eure Seele wird frei werden und euer Herz wird den Harmonien Gottes lauschen; also führe ich euch zur Höhe auf!‹ Dies wäre Sinn und Glaube meiner Predigt geworden, solches hoffend ich vielleicht auch meinem Diarium mehr mag anvertrauet haben, als für Euer Auge Rechtens war. Und wäre mir einer unter Tausenden gefolget und jedem einen wieder einer, sie würden alle Gott in seiner herrlichsten Offenbarung gefunden haben. Und täte solches nicht not, da Finsternis und Irrlehre wütet und die Menschen verflachet?

Anitzo aber, indem eines hochwürdigen Abtes Einsicht mein Tun geißelte, indem Euer weiter Sinn meine Skripta hohnlachend verwarf, da ist mir gerade dieses zum Troste worden in der Trauer meines Heimwehs: daß Ihr mich nicht gezwungen habt, jene Welt der Schönheit den Menschen zu verkünden. Es möchte ein groß Mißverstehen platzgreifen, es möchte ein gutes Beginnen, wie so oft, einem üblen Ende weichen, und ich könnte nichts mehr dawider tun. Ergo ist es immer besser, daß mein Bestrebnis ist ungekannt blieben und ich in fremdem Lande um meine Berge einsam traure. Es kann auch nicht sein, daß ich als einziger die Herrlichkeit geschauet habe, und hat bislang doch noch keiner sie verkünden mögen; wird auch nie einer mit Erfolge tun, denn nicht immer sind die Eisriesen gnädig, nicht leicht und mühelos der Lohn zu holen und dieser kein äußres Zeichen, sondern mehrenteils nur im eigenen Wesen und Glauben belegen.

Ich frug auch Hirten, Jäger, Knappen und solche, so sonstiger Berufnis wegen manche Höhe erklimmen müssen; sie kennen kein andren Blick und ist ihres Lebens Not und Hoffnung auch zu sehr von Spiel und Laune der gewaltigen Erscheinungen in den Bergen abhängig, als daß sie nicht heftiger die grausen Mächte fürchten als die freundlichen lieben müßten; und wo des Lebens Zwang herrscht, mag ein freiwillig Weiterstreben in derselben materia wohl selten zu finden sein. Letztlich aber fehlt ihnen Wort und Schrift, sich mitzuteilen; nur wer aufmerksam höret, wird in ihrem Gebete und Erzählen alter Sage dieselbig Gewalt fühlen, die auch mich nach Eurem Sinne, verführet hat.

Und ich danke meinem Schöpfer, daß es so gewesen ist! Ich könnte von einer einzigen Fahrt zehren ein ganzes Leben lang, und würfet Ihr mich in die letzte Zelle; ich habe aber hundert Male die Fahrten gemacht, mit Eurer Befugnis; Ihr frugt ja erstlich nicht, wohin meine Wege gingen. Was mich verzehren statt fröhlich der Tage gedenken macht, ist ein unerklärlich Weh; denn das Glück der Bergfahrt ist zu mächtig für ein herkömmlich Erinnern.

Ihr konntet lesen: wie der Sturm die Felsen schüttelte und die Riesenerker überladener Eisbänke brach; wie mit Not ich prasselnden Steinen entschlüpfte und reißenden Gewitterbächen entkam; wie ich ängstlich auf kristallenen Brücken über bergtiefen Eisschluchten schwebte und mich auf schwertscharfen Kanten betend festklammerte; wie märenhafte Eiswesen, Riesen und Zwerge in Stein, wie Paläste und Grotten, ungeheure Dome, weite, leblose Täler und geheimnisvolle Felsstürze meinen staunenden Augen sich öffneten; wie der Schneesturm mich umwarf und weiße Nebelschleier die Welt verschlangen; wie Blitze unter mir zuckten und ich über Wolken stand. Aber eines, und das war das Größte, das konntet Ihr nie und nimmer lesen noch verstehen: das ist der seltsame Gottesfriede, der über den Gipfeln im Sonnenscheine webt.

Auch diesen habe ich erleben dürfen. Es ist Gottesgnade und sonder Sprache. Um dieses Friedens willen stecht mein Leben hier dahin.

Ihr habt mich zu Unrecht verbannet, hochwürdigster Abt! Mein Fehl war nichts andres, als daß ich die Berge liebte; liebte, wie Bruder Johannes seiner Orgel Phantasien, wie Bruder Antonius den bildgestaltenden Genius seiner Seele, wie weiland Bruder Martin das Schwert, so unseres Heilandes Ehre vor den Heiden verteidigte; wie Ihr selber das Heiligste liebet in dem mysterio Eucharistiae!

Und Eure Härte wird es nicht wenden können … ‹

 

Noch fuhren meine Blicke mechanisch die reichen Schnörkel der Unterschrift nach, die den alten Brief schlossen, als Freund Josef, meinen Schnerfer und Pickel in Händen, hereintrat und mich in die Gegenwart riß.

»Na, hast's gelesen?« fragte er und sah über meine Achsel auf das Papier. Ich mochte nichts erwidern. Er aber faßte den Brief und legte ihn gewendet noch einmal vor mich hin.

»Du darfst hier das Marginale nicht übersehen; es ist des Abtes Hand!«

In der Tat fand ich die energischen Züge einer verblaßten Schrift:

›Dies Skriptum ergänzet mir den Beweis, daß ich recht getan. Unser Bruder ist verblendet worden und nur Gottes Gnade bewahrete ihn vor der dementia des Grausens, so ansonsten jeden Sterblichen erfasset, der in die trügerische Eiswelt sich verirret. Des haben wir hundertfach Zeugnis. Verzeihe ihm der Herr seine Frevelworte, sie sind des Teufels Zunge; wie ich mildest an ihm verfahren, so kehre auch Gott seine arme Seel von der heidnischen Wirrnis in den Trost besserer Einsicht. Was mir zu tun in Kraft und Fugnis stand, habe ich sonder Härte gehandhabet. Gott unser Herr mache des Satans Ränke unschädlich und bewahre uns und unsere anvertrauten Seelen vor dem Bösen; Amen!‹

»Es ist höchste Zeit zum Zug!« sagte Freund Josef, der Menschenkenner, ohne Pause; er nahm das Blatt und schloß es fort. Ich fand mich allmählich zurecht.

»Du mußt unbedingt das Diarium finden, Josef, verstehst du?« schrie ich ihn an und faßte ihn an der Schulter. Er wehrte begütigend mein Ungestüm, ich sah aber helle Freude in seinen Augen glänzen.

»So, so,« meinte er trocken, »hat dir also das Geschreibsel des Narren gefallen!«

Ich schüttelte statt allen Dankes recht herzlich seine Hand. Er wandte sich ab und schob wieder an den Büchern herum, wobei seine Finger fast zärtlich über die Rücken glitten. Ich mußte unwillkürlich an Bruder Utos letzte Sätze denken, wie doch jedes irgendwohin seine Liebe verankern muß.

»Geh jetzt!«

Gehorsam nahm ich Schnerfer und Pickel; Josef begleitete mich bis unter die Pforte. Er schaute flüchtig in die Berge hinauf, gab mir rasch die Hand und trat zurück.


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