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Auf diesem Gipfel, hoch über der schönen Stadt am Inn, bin ich zu vielen Malen gestanden; und immer dann, wenn ein Glück oder Leid mein Herz zerdrückte, oder wenn meine Sinne müde und stumpf waren. Das ist aber noch viel schrecklicher als fressendes, erbarmungsloses Leid: wann der Kopf erkennt, daß das Herz tot ist und die Seele keinen Schwung mehr hat; wann Sorge und Alltagsfron alle Kräfte verbraucht und alle unmittelbare Leidenschaftlichkeit ausgehöhlt haben; wann jede Freude, auch die geheimste am Leid und an sich selber, einer teilnahmslosen Leere gewichen ist. So aber war es Jahre und Jahre, und dann hat auch die Schau, die Reinheit und Erinnerung dieses Gipfels nichts mehr zu wirken vermocht. Nennt mir einen Mann, der nicht die Stunden der Leere kannte und nicht das Leben verfluchte – ich will ihn zum Übermenschen erheben! Wohl dem aber, dem ein Gipfelsturm die Augen klar blies und ihm das Glück lehrte, das sich bescheidet.
Heute ist Sonnenschein und Herbstgold um die Berge. Im Inntal weben leichte Dunstschleier, aus denen grell die blinkenden Kuppeln und Türme der Stadt ins reinere Blau stechen. Wo sich das Tal windet, spiegelt der Fluß flimmernde Silberscheiben herauf. So schön die Berge und Ferner der Runde auch hersehen, ich kann meinen Blick von der Stadt nicht lösen und von der Erde, auf der unser aller Leben geht. Ich bin heute heraufgestiegen, um die ersten Zeilen dieser Blätter auf dem gleichen Platze niederzuschreiben, der mir zwanzig Jahre lang eine Zuflucht und ein Heiligtum war. Wir lieben in späten Jahren immer inniger jene Dinge, die, stets sich selber gleich, unsere wankende Lebensbahn begleiteten: eine Uhr, ein Möbelstück, einen Brunnen im Park, einen Weg vor der Stadt; sie sind sich treu geblieben, wenn wir uns tausendfach änderten. Sie werden uns gleichsam ein Unterpfand dafür, daß doch irgend ein Beharrendes in unserem Leben ist, einmalig für jeden, und unentrinnbar vorgezeichnet im großen wie im kleinen.
Unentrinnbar! Wir können nichts ändern an dem, was war. Wir können nicht alle Möglichkeiten unserer nachdenkenden Wünsche versuchen, nicht alle Wege ausschreiten, die verlockten. Wie in den zufälligen Lebensraum sind wir auch in eine Lebensbahn gestellt, die nicht anders wird, wenn wir gleich ungezählte andere Bahnen übersehen und vergleichen können. Der Mensch hat das irreale Gedankengefüge nur zur Selbstpeinigung erfunden.
Sagt mir auch nicht die großen Worte von Vergessen und Verzeihen! Es gibt nur ein Überwinden und Einsehen, und das ist schon übergenug für eines Menschen Herz. Da helfen die Jahre. Wir erkennen, daß vieles, was wir erhofften, sich gegenseitig ausschlösse; es sind in dem Nichterfüllten freilich auch immer einige unserer heftigsten Wünsche dabei gewesen. Ein unerfüllter Traum macht uns hundert erfüllte wertlos. So sind wir, so werden wir darunter leiden, und wenn wir es noch so klar erkennen.
Ich denke an den Altar, den ich mir schon in frühester Jugend erbaute und dessen Heiligtum ein Idol der Reinheit des Körpers und der Seele war. Je öfter die wirre Jugend und das brutale Leben mich an diesem Idol zu sündigen zwangen, um so strahlender und begehrenswerter baute ich es wieder auf, stellte es immer weiter aus dem Ich heraus und vereinigte alle Sehnsucht und alle Anbetung zuletzt in einem Traum von der Reinheit des Weibes, der irdischen Madonna, die in Liebe und Hingabe meine Seele zu höchstem Schwunge zu erlösen kommen müßte. Diese Liebe zu der Unbekannten begleitete viele Jahre meines Lebens, riß mich aus manchem Irrweg, verdüsterte freilich auch so manche Tollheit unbändiger Jugend, die harmlos ist, solange sie gedankenlos bleibt. Diese Liebe zu der Unbekannten verklärte die Gedankenwege inniger Schwärmereien, trieb aber auch die Selbstanklagen für diese und jene wüste Stunde bis zur rasenden Selbstzerstörung. Und wie sinnlos lockend, wie gegenteilig einem Idol wie diesem war doch der entfesselte Lebensrhythmus der Nachkriegsjahre für uns Junge, die aus dem Felde heim kamen!
Diese ungenannte Liebe war hochmütig und kannte in ihrem Stolz keine Grenzen. Oder war sie ein Schutzdamm, der erst brechen sollte, als das Schicksal mir sein unerbittliches Entweder-Oder entgegenstellte, mir das Luftgebilde eines Menschenwahnes vor der hinreißenden Macht des Tatsächlichen im Leben in flatternde Fetzen zerriß? Vorher jedenfalls meinte ich weiß Gott wie groß zu sein, daß mein Stolz und mein Idol über eine frühe Liebe siegte. Ich kannte ja Magda noch nicht.
Sie hieß Ella und war ein liebes, blondes Mädchen, verwöhnt und aufgeklärt. Ich bin mit ihr in den Bergen gewandert, in allen Richtungen von unserer Heimatstadt weg. Heute ist es mir merkwürdig, daß ich sie doch nie auf ›meinen‹ Gipfel führte. Hatte ich es mir bewußt aufgespart oder ging unbewußt etwas mit, das mich heimlich abhielt, wie ein verhaltenes Lachen Pans, das mich mit Spott und Verachtung just dort oben überschütten könnte: ›Das, meinst du, sei deine große Liebe, die nicht den Stolz überwindet?‹ Später, mit Magda, meiner nachmaligen Frau, bin ich ganz zuerst hinaufgestiegen zu diesem Kreuz, zu diesem Fernesehen …
Ich liebte Ella, weil sie voll weicher Bewegung war und erfüllt von einer eingehaltenen Scheu, die ich mir nicht zu erklären wußte.
Es war ein seliges Hinschreiten durch einen lichten Winter, seliger in der Berührung und in kindlichem Kosen als in ernster, innerer Gestaltung und im Denken an die Zukunft. Und doch schien mir das Wörtchen ›ewig‹, das verliebten Menschen so leicht von Sinnen geht, auch in meiner Liebe selbstverständlich. Mein junges Sein drängte nach letzter körperlicher Erfüllung; meine Schüchternheit und wohl auch die traditionelle Scheu schreckte aber vor jedem Gedanken zurück, ein intimes Freundschaftsverhältnis zu suchen, obwohl gerade jene Jahre in übertriebener Auflockerung des Althergebrachten solche Verhältnisse der Jugend lockend und wünschenswert hinstellten. Oder war es das oberflächliche, lebemännische Getue, das damals als Lebensform in Buch und Ton sich mit häßlichen Synkopen die Welt eroberte, dem ich meine Hingabe und Liebe nicht vergleichen mochte? Ich dachte nur daran, in einer feierlichen Stunde die letzte Frage auszusprechen, deren freudigen Entscheid ich ja längst sicher war. Wagte ich auch noch kaum, mir die spätere innigste Erfüllung und den bleibenden Lebensgang vorzustellen, so war mir zunächst schon die neue Veränderung, das Heraustreten aus der Heimlichkeit, der öffentliche Besitz einer so schönen und reinen Braut ein unsagbar lieber, aufregender Wunschtraum.
Die feierliche Stunde kam früher, als ich es erhofft hatte. Sie hätte nie sein sollen! Es mochte sein, daß das aufgeweckte Weib in Ella ein ungestümeres Drängen fühlte als ich, oder daß ihre Gedankenkreise um Welten von den meinen getrennt waren. Wir saßen an einem goldklaren Winterfrühlingstage vor einer jener braunen Heuhütten, deren altes Holz die Schneesonne so köstlich aufzusaugen und zurückzustrahlen weiß. Es war Mittag, die Luft zitterte über dem Schnee, kleine Firnkügelchen schmolzen sich zitternd in ihre eigene Unterlage, vom Dach der Hütte tropfte klingend der Tauschnee in den aperen Rasenstreifen längs der Hüttenwand. Eng und enger schmiegte Ella sich an mich, meine Liebkosung fordernd, und mehr, als meine Scheu zu tun wagte. Aber auch mein Blut wallte, und ich wußte ihm keinen Damm entgegenzustellen, als daß ich langsam und leise von meinen Hoffnungen und Wünschen sprach; in vielleicht gesuchten Worten erzählte ich ihr von meinem Idol der Reinheit, von meiner Seligkeit, in ihr, meinem lieben Mädchen, die herrlichste Verkörperung gefunden zu haben, von unserer lichten Liebe und noch lichteren Zukunft. Ich glaube, ich habe läppisch auch von meinem Einkommen gesprochen, und von meiner Mutter, und zuletzt davon, wie ich es machen müsse, um sie als meine Braut und baldige Frau von ihren Eltern zu erbitten.
Ich merkte es kaum, wie sie stiller, regungslos geworden war, zurückgekrochen in sich selbst. Sie hatte ihre Hände aus meinen gelöst, hielt sie vor sich verschränkt, fester und fester, und senkte ihren Goldkopf immer tiefer darauf herab. Als ich endlich schwieg und ihre Hände ertasten wollte, wehrte sie es mit jäher Bewegung. Dann sah sie mich voll an, mit Augen, so mütterlich und fraulich, daß mir recht kindisch ums Herz wurde und ich sie dennoch liebte wie nie zuvor.
Dann sagte sie leise, mehr vor sich hin als zu mir gesprochen: »Weißt du, Fred, ich bin kein unberührtes Mädchen mehr!«
Wäre der blaue Himmel, der ewige, krachend über uns niedergebrochen, wäre aus ebenem Almboden eine brüllende Lawine über uns hingerast, hätte die Sonne selbst, die Mutter, ein Riß entzwei zu rauchendem Verlöschen gebracht, ich hätte nicht erschrockener, entsetzter, fassungsloser sein können als durch diese Worte. Ella mußte eine furchtbare Veränderung in meinem Antlitz wahrgenommen haben, denn plötzlich löste sich ihre Zunge, überstürzend, überquellend kamen Worte und Erzählungen, die ich doch nur halb verstand und kaum begriff. Verführung – Betörung – Leichtnehmen des Lebens und der Jugend – ein eleganter, mit allem Schliff erfahrener Kavalier – rauschender Wahn der Geldprotzen des Nachkrieges – Lebensdurst – Sinnlichkeit – ich reimte nur ungefähr einige Begriffe zusammen, ohne anderes zu fühlen als das Niederbrechen eines Luftgebäudes in mir selber.
Wie hat das Leben mich inzwischen gelehrt, solche Dinge zu tragen! Damals aber war ich maßlos in meinem Schmerz. Ich hatte hart und zitternd ihren Arm umklammert und schrie sie an, daß nur Gewalt sie habe vernichten können, daß unmöglich, unmöglich auch nur ein Funke freien Willens mitgespielt habe, daß sie mir sofort Name und Wohnort des Verbrechers sagen müsse. Denn noch liebte ich sie in diesem Augenblick. Ich glaubte, ein Rächer sein zu müssen dort, wo nicht zu richten war und ich kein Recht hatte, mich anzumaßen. Ich hörte aber noch Worte von modernem Leben, von Unabänderlichkeit und dem einzigen Sinn der Gegenwart. Ich hörte Worte von Erfahrung, von wahrer Liebe, die aus Leid erst zu reifen kam, und hörte meinen Namen.
Damals glaubte ich, über mich selber hinaus zu wachsen zu einer edlen, männlichen Größe. Es war, als legten sich eiserne Klammern um mein Herz. Ich sah die Berge schimmern, just über das Tal weg den Gipfel meines Berges in blausonniger Einsamkeit. Ich sah – und das ist wohl aller Handlung letzte seelische Erklärung – ich sah mich selber einsam und finster durch ein Leben schreiten, zehrend und doch erstarkt am ewigen Leid verlorener Liebe, zu schaffender Höhe emporgetragen.
»Ella,« sagte ich, »so muß zwischen uns alles zu Ende sein.«
Ich sagte es langsam und traurig. Ich meinte, es gäbe kein Glück, das irgend ein bewußtes Ende vor sich steht, ehvor es schal und verbraucht wird. Hatte sie so etwas von mir wollen? Weib und Mutter, Erfüllung dieser phantastischen Liebe zu meinem lebensfremden Idol, das konnte sie ja nimmer sein.
Wie seltsam verschlungen und ausgleichend sind doch die Pfade des Lebens. Es war die überwältigende, über Tod und Schmach ewige Liebe nicht, die mir mein Tun vorschrieb. Ich meinte, als Mann in des Schicksals Zügel zu greifen, und war doch nur ein blind Geführter wie wir alle. Ein Jahr später hat Ella einen reifen Mann geheiratet, der ihr Luxus und ein großes Haus bieten konnte, das Leben, danach ihr Wesen immer drängte. Und ich? Ein Jahr später auch ist es gewesen, daß mein Weg sich mit dem Magdas kreuzte, dieser verschlungene, irrende, merkwürdige Weg eines kleinen Alltagsschicksals. Doch ich will nicht vorgreifen.
Ella stand an die braunen Latten der Hütte gelehnt und weinte. Ich trat zu ihr und strich ihr über die üppigen Haare, immer und immer wieder, vom Nacken her vorwärts, wie sie es liebte. Endlich schnallten wir wortlos unsere Skier unter und fuhren langsam zu Tal. Mir war die Sonnenwelt trübe und grau, ich sah mich selber für alle Jahre der Zukunft allein und düster über solche weite, weiße Flächen trügerischen Goldes wandern.
Noch bevor wir die Stadt erreichten, trennten wir uns.
»Fred, du sagst es niemand?« fragte sie mit gedeckter Stimme. Ich konnte nicht anders, ich riß sie an mich und küßte sie, wild, begehrend, ungestüm. Dann stand ich steif und abgewandt und sagte: »Es ist Zeit!«
Müde, mit stark wiegenden Hüften, ging sie die Straße zur Stadt entlang. Ich rührte mich nicht. Plötzlich blieb sie stehen, drehte sich jäh um und breitete die Arme. »Fred! Fred!« rief sie, laut flehend. Ich stand wie aus Stein. Da ging sie rasch davon in die Dämmerung hinein, den Lichtern der Stadt entgegen. ›Du bist ein Narr!‹ wollte irgend eine Stimme in meinem Innern sagen.
Ich sah den Altar meines Herzens in flammendem Rot erglühen. Meine irdische Madonna, ein traumhaftes Weibwesen von sinnbetörender Reinheit, stand als Göttin darauf. Ich glaubte, nur ihr zu dienen und heute ihr geopfert zu haben. Es ward mir kaum bewußt, daß die Göttin Ellas Goldhaar und Ellas verlangende Augen hatte.
Die Zeit hat diese Züge rascher verwischt, als die Erde eine halbe Bahn um die Sonne eilt. Als ich nach Monaten mein Leid zu meinem Gipfel tragen wollte, erkannte ich, daß es nur in meinen Gedanken und Grübeleien, nicht aber in meiner Seele, sein Schattendasein hatte. Die Züge der reinen Marmorgöttin waren wesenlos, blutlos und leer …
Es wird zu Zeiten wohl kein Mensch von jener Gemütsverfassung verschont bleiben, die bereit ist, alles Schwere und Tiefe des kurzen Daseins als Unfug anzusehen, Skrupel als lästig und altmodisch über Bord wirft und das oberflächliche, leichte Leben in den Tag und in die Nacht hinein als einzig vernünftige und bequeme Lebensauffassung nimmt. Magazine, Kinos, illustrierte Blätter, Barkultur, Schlagerlieder und Schlagerbücher nützten die Neigung zu solch billiger Weltanschauung gehörig aus und fuhren nicht schlecht dabei. Die ackerfernen Großstädte sind der Brutboden dieser lockeren, lockenden Rhythmen, dahinter weniger ein ›Zeitgeist‹ oder wahre Menschennatur, als vielmehr ein ganz gerissener und gewissenloser Geschäftsgeist als Drahtzieher steht. Mit einem Pfiff durch die Zähne gehen die geschleckten Helden solcher Scheinwelt über Menschenschicksale hinweg, um sich im gleichen Atem für ein Modeproblem bis zur Leidenschaftlichkeit zu interessieren. Nicht ganz verloren, wer aus diesem verlogenen Gehaben wenigstens noch als guter Spießbürger in die harte Welt des Daseinskampfes zurückfindet.
In solchen Strudel trieb auch ich haltlos und sorglos hinein, als mich mein Beruf für wenige Monate in die Großstadt brachte. Das ›Ich‹ opferte dem goldenen Kalb und erfüllte so den ganzen Kreis dieser merkwürdigen Philosophie, die sich gleich geistlos im Vorstadtbeisel wie in der Luxusbar nachäffte, im großen wie im kleinen.
An einem Sommerabend, hinschlendernd über die Ringstraße, begegnete ich zufällig Magda. Ich kannte sie flüchtig. Sie war Stenotypistin in einem Geschäft, wo ich öfters zu tun hatte und dort, wartend im Vorraum zum Kontor des Allgewaltigen, mit ihr, der Sekretärin, zwei- oder dreimal recht lebe- und weltmännisch zu plaudern gekommen war. Natürlich sprach ich sie an, sie hatte eben auch nichts weiter vor, und wir landeten bald zu gemeinsamem Abendessen unter den Bäumen und Bogenlampen des Stadtparkrestaurants.
So verwirrt sind die Gedankengänge unserer Generation, halb im Alten fußend, halb ein Neues sich unverstanden sich aneignend: Hätte ich eine Schwester gehabt, ich hätte auch damals trotz mir selbst zugestandener Dandyrolle nie zugegeben, daß sie mit einem ›ansprechenden Herrn‹ so mir nichts dir nichts zum Nachtmahl gehe. Bei diesem Mädchen war es mir dagegen erwünscht und selbstverständlich, daß sie frei und modern den Augenblick erfasse und ich rechtfertigte es sogar, daß sie dazu – wie einzusehen – ihre einfachen, altmodischen Eltern belog.
Eine gute Kapelle spielte Walzer und Marschtänze; ein guter Wein glutete in geschliffenen Gläsern; elegante Menschen saßen rings an den Tischen. Ich hatte bis dahin nie eine ›Freundin‹ gehabt; lockte hier ein solches Abenteuer? Diese vibrierende Erwartung gab der Unterhaltung Brillanz und Leichtigkeit, und als ich Magda so gegen zehn Uhr im Autotaxi in die Vorstadt brachte, wo sie wohnte, hatten wir gerne ein baldiges Wiedersehen vereinbart.
Ich dachte mir übrigens gar nichts in die nahe Zukunft, weder so hin noch so hin. Ich ließ es treiben, Gott sei's gedankt, Gott sei's geklagt! Alles Glück eines langen, ernsten Manneslebens, alles Leid einer unsagbar einsamen Seelennot, ist aus jenem Zufall erflossen. Zufälle sind es, die unser Leben in bestimmte Bahnen werfen und alles Planen einer ruhigen Vorbedacht auf die Zukunft im Augenblick zunichte machen, lange, bevor wir es uns eingestanden haben.
Ich dachte, wie gesagt, an nichts. Ich ging nach Hause, freundlich den freundlichen Abend in meiner Stimmung mitschwingen lassend, die ich mit ausgesuchten billigen Schlagermelodien passend untermalte.
Wir trafen uns wieder, wir trafen uns häufiger, täglich. Ich zimmerte um sie und mich ein Gebäude lockerer, heiterer Lebensauffassung, mit dem einzigen Endzweck, der unser beider Wünschen und Drängen entgegenkam. Es ging seinen absehbaren logischen Gang. Unser Sprechen und Denken war gegeneinander aufgeschlossen wie der reife Sommer. Ich dichtete einen starken, frohen Gegenwartsglauben um sie. Als sie sich mir schenkte, war ich herzlich verliebt in sie.
Hier muß es gesagt sein: In jener Nacht zitterte ich erstmals in dem ungeheuren Erlebnis einer Liebe und ihrer vollen Hingabe. In Magda aber, der ein Liebeserlebnis schon die erste Enttäuschung gebracht hatte, drängte das schon erweckte Weib zur raschen Erfüllung. Ich wußte das und nahm es hin, fraglos und selbstverständlich, nur bedacht, unseren schönen Sommerliebestraum bis zur Neige zu kosten. An ein Ende, ich schwöre es, dachte ich nicht mit Ja und nicht mit Nein. Ich war selig und gehoben, und wie mit einem Schlage aus dem lässig-oberflächlichen Rhythmus der Jazzbands in den niedlichen, reineren des Wienerliedes hinübergeglitten. Und Magda war liebenswert, ein Kind im Herzen und ein Weib im Sinn. Ich habe, und in besten Gesellschaftskreisen, Mädchen kennengelernt, denen man freilich nichts nachsagen konnte, die aber, immer diesseits der letzten Schranke, schamloser waren als ein Reitschulkorporal. Magda, über die jene öffentlich wohl die Pudernäschen hätten rümpfen dürfen, war immer nur Gegenwart, immer ein ganzer Mensch und selbstloser Freund. Was mich in einen heftigen Zwiespalt brachte, war dies, daß sie ihren Eltern allerlei vormachen mußte, um die Stunden für mich zu gewinnen. Doch Wünsche übertönen alle Zweifel. Diese Kette einer dauernden Lüge entsprang so folgerichtig aus jenem ersten, mir fremden Ereignis, das ihre Sünde, nicht aber ihre Schuld war. Der Chef ihrer ersten Anstellung, eine jene Schiebertypen des Nachkriegs, hatte die eben erst in Leben und Beruf tretende Stenotypistin zu verwirren und auszunützen verstanden mit dem ach so alltäglichen Ende. Dem zweiten Abenteuer stellten sich dann wohl weniger Hemmungen entgegen, und wäre ich nicht gekommen, hätte ein anderer, dem einmal geöffneten Naturdrange bald gerechtfertigt, ihre Neigung gewonnen – entsetzlich auszudenken, daß auch dieser (oder ich selbst) sie wieder fortgeworfen und das im Grunde so reine, mütterliche Wesen für immer aus der Bahn geworfen hätte.
Solange der Sommer hinging, lächelnd und von Sonne überflutet, merkten wir es kaum, wie unentbehrlich nahe wir uns gekommen waren. Die Heimlichkeit und Überfülle unserer Liebe, das zartfühlende Streben, sie weit über die so leichthin propagierten ›Verhältnisse‹ der Großstadtumwelt zu heben, ein innerlicher gegenseitiger Halt am Gutsein ließen uns Stadt und Wald und Leben in aller Lichtfülle der Jugend erstrahlen. Einmal war es uns vergönnt, auf drei Tage wegzufahren, drei lange, herrliche Tage ganz uns selbst zu gehören. Ich führte Magda in einen lieben Ort nahe meiner Heimatstadt. Ein Gasthof mit buntem Zierrat um die Fenster, mit schwerer, ernster Bauerngaststube, mit einer Laube im kleinen, steilwegigen Garten, von der aus der Blick voll und unwiderstehlich von der Pyramide ›meines‹ Berges gefangengenommen wurde.
Gleich am zweiten Tage standen wir oben auf meinem Gipfel. Ich zeigte ihr stolz und eigenwillig die Berge und das Land ringsum, als wäre ich Herr und König darüber; ich zeigte ihr meinen Lieblingsweg herauf, den zackigen Nordgrat mit dem klobigen Teufelsturm; ich zeigte ihr die steile Flucht der Nordwand, durch die ich ein einziges Mal den gefährlichen Stieg gewagt hatte, vermessen spielend mit meinem Leben. Magda beugte sich schaudernd vor und ergriff meine Hand.
»Ja,« lachte ich, »damals gehörte mein Leben nur mir allein. Heut' ist es anders!«
»Heute, freilich heute!« sagte sie und schloß für eine Sekunde wie in einem Schmerz die Augen. Dann lachte sie gleich wieder hellauf ihr frohes, glückliches und glückbringendes Lachen, faßte nochmals meine Hand und drückte sie rasch und heftig, ganz fest wie ein Mann.
»Heute und immer, Magda!« Ich sah ihr bei diesem Worte nah in die Augen. Es war mein Schwur. Auf diesem Gipfel kann man nicht lügen. Und ich habe nicht einen einzigen Tag sie weniger geliebt wie damals. Das Leid, das den Weg dieser Liebe wie ein Schatten begleitete, hatte seine Ursache weit draußen in einer häßlichen, lauten Welt, und seinen Stachel zutiefst in meinem Innersten.
Der Tag war nicht so klar, um hunderte Berge bis in letzte Einzelheiten zu erkennen, doch klar genug, um die Bergketten unendlich weit in violetten Umrissen, immer zarter und blasser werdend, an einen überirdischen Horizont zu tragen. Dort zerfloß die Welt im feingetönten Himmel, der sich, dunkler werdend, dann wieder als ungeheure blaue Glocke zu uns zurück wölbte.
Drüben an der anderen Talseite sah ich die braunen Hütten der Alm liegen. Ich dachte an Ella, und wollte das Jungenliebesstück frei und verklärend Magda erzählen. Bald aber ging es nicht so freimütig vom Munde. Ich mußte ausholen und erklären. Ich verbiß mich immer mehr in das Geschehen des letzten Tages und in die Darstellung der psychologischen Hintergründe. Ich deckte ein Letztes auf aus mir selber und erkannte doch zugleich, wie schwerfällig und holprig sich die Worte dazu fügten.
Plötzlich schlug Magda die Hände vors Gesicht und weinte. Sie weinte so heftig, so zuckend, so fassungslos, wie es bei frohheiteren Naturen möglich ist, wenn ein Schmerz mit einem Male ganz bewußt wird. Es war ein Weinen von Verzweiflung und Reue und ein Flehen um Verzeihung. Sie umkrampfte meine Hände, drückte ihre Stirne darauf, ihre Augen.
»Mein Gott –« stammelte sie verworren und undeutlich, »mein Gott, daß es gewesen ist, daß ich nicht dir, Fred, dir allein alles sein und schenken durfte von Anfang an – dir, Fred, dir – o mein Gott, was ist schon Liebe gegen unsere Liebe … « Und sie drängte ihr Herz an meines, so angsterfüllt, so ewig, daß mir in blitzartiger Vision die Unendlichkeit und Erfüllung ihrer Liebe, dieser Liebe, vollkommen ins Bewußtsein trat.
Nun auch, plötzlich, verstand ich ihren Schmerz. Es gelang mir kümmerlich, vor ihr und vor mir selber die so verschiedenen Folgen ähnlicher Voraussetzungen heranzuphilosophieren. Doch es dauerte lange, bis sie sich beruhigte; dann aber war es auch so gut wie vollkommen abgetan. Ihr Beweis und ihre Einsicht war unerschütterlich: sie liebte mich einmalig und ewig; sie erkannte, klarer, gedankenloser als mein Grübelsinn, daß auch ich ihr ganz und ewig gehöre. Es war also nur eine Willenssache, ob man sich aus der Vergangenheit Gespenster hervorzauberte oder ruhen ließ, was nicht zu ändern war.
Ein heiterer Nachmittagsschein lag auf den Bergen. Er spiegelte sich auf Magdas Stirne und in ihren Augen. Die Gegenwart war so schön und die Zukunft so eindeutig. Der Inn glitzerte und spiegelte in der schrägen Sonne, vor uns zu Füßen lag die Stadt mit ihren tausenden Schicksalen jedes Augenblicks, hinter uns türmten sich die Riesen der Stubaier und leuchteten ihre herrlichen Eisströme. Bergdohlen flatterten um den steilen Felsbau unseres Sitzes.
Als wir uns endlich erhoben, blickte Magda noch einmal den jähen Fall der Nordwand hinab.
»Furchtbar,« meinte sie, »wenn ich ein Kind hätte und müßte es bangend von solchen Wegen zurückerwarten … «
O Urgrund aller Mütterlichkeit! Aus diesen Worten strahlte mir die Unveränderlichkeit der Weltordnung seltsam schön entgegen. Die kleinen Extreme der Menschenzeiten, von kasteiender Mystik bis zum rekordwütigen Sport, zerflossen davor in Nichts. Vor mir stand sie, Magdalena, das Weib.
Von dieser Stunde an, von diesem Gipfel weg zerflatterten mir die sorglosen Lenzliederrhythmen der letzten Wochen. Melodien eines aufgeschlossenen Herzens, einer bewegten Unmittelbarkeit durchströmten mein Innerstes. Sie klangen wie die leidenschaftlichen Impromptus Schuberts und leiteten immer wieder hinüber in die Glut der Ergebung seiner h-moll-Symphonie, die nie vollendet wurde, deren Ausklang unhörbar blieb wie die Frage auf den Lippen eines Sterbenden.
Im Herbste noch mußte und wollte ich die Großstadt verlassen und in meine Heimatstadt zurückkehren. Der Abschied von Magda war herzlich, sicher und unbefangen.
Die gewohnte Umgebung, der frühere Kreis nahm mich auf, das schwingende Erlebnis der Fremde war zu Ende. In demselben Maße, in dem Trennung und Entfernung meine Liebe vertiefte, blieben meine Gedanken immer enger und ausschließlicher um sie. Der Gegenwart entrückt, die nur ein grauer Alltag war, von der lichten Vergangenheit dieses Sommers zehrend, wandten sie sich rückwärts und immer nur rückwärts. Und sie blieben bei diesem Sommer, bei dem Beginn unserer Liebe nicht stehen. Sie fraßen sich weiter, Schritt um Schritt, sie wagten sich in gefährlichste Zusammenhänge und Vorstellungen, die um so heftiger und quälender wurden, je reiner und höher ich Magda als Anfang und Ende meines Lebens und meiner Liebe emporheben mochte.
Ich grübelte es mir zusammen, daß ich das große Mysterium meines Herzensheiligtums, daß ich das Idol der erlösenden Reinheit verraten habe. Daß es Magda sei, um deretwillen ich dies mit jubelndem Schmerz zu tragen hätte. In solcher Gedankenfolge aber züngelte jäh und hemmungslos ein Haß, ein furchtbarer, lebenzerstörender Haß empor: Gegen den, der das größte, das einzigmalige Wahrwerden meines Seelentraumes befleckt hatte, daß nun nie und nie mehr das liebste Wesen auch die Göttin meines Altares sein konnte.
In fiebernder Nacht hatte mich das Gräßliche überfallen: das Leid um sie, die Schuld um sie, meine unendliche Liebe, die ein Leben lang darüber schweigen muß, daß dieser bittere Haß nie würde erlöschen können. Mein Weib, Mutter meiner Kinder, hat das unendlichste Opfer ihrer Unschuld einem anderen gebracht! Wer nachkommt, ist Zufall. Es gibt nie einen Beweis, ob jene erste entfachte Liebe, die zu solchem verbotenen Opfer bereit war, nicht größer war als das Resignieren und die Treue zum Zweiten. Zum Zweiten? Auch das ein Zufall, daß wir uns mehr wurden als Spieler und Tändler wechselnder Liebeserlebnisse. Die ungeheuerliche Seelenwende vom Mädchen zum Weibe gehörte immer nur dem andern. So weitgehend, so quälend mir auch alle Vorstellungen unablässig nachgingen, die im Verfolg dieser Gedanken zu den abwegigsten Schlüssen führten, es wäre mir aus meiner Liebe vielleicht doch ein tröstender Ausweg offen geblieben. Daß aber jener andere ein zynischer, kaltrechnender Schuft gewesen war, daß er lebte, daß es ihn gab, der lächeln, arbeiten, sprechen und lieben konnte, irgendwo, ihn, der meine Magda in Armen gehalten, ihren Mund geküßt, daß sie, mit der ich die Bürde und Last des Lebens um des Lohnes der Liebe willen zu tragen gewillt war, Spielzeug eines Elenden gewesen, der alle drängende Unschuld, allen Liebesfrühling, alle die zartesten Schätze der späten Erinnerung achtlos vorweggenommen und sie unserem Leben für immer zerstört hat – dieses Leid blieb von damals an als zehrende, heimlich lodernde Glut in mir, unvergessen und unerlösbar, unverziehen und furchtbar.
›Mach' dich frei!‹ rief es in mir; verlorene Liebe wird, wie alles Leid, von der Zeit überwunden. Was so sprach, wußte nichts von der Unendlichkeit einer einzigen lebenfüllenden Liebe. Ein Ende zu machen und den augenblicklichen Schmerz gegen den immerwährenden Haß hinzunehmen, ich hätte es nimmer zu Wege gebracht. Es war ja Magda, um die es ging. Auch stand Magda in ihrer Gegenwärtigkeit weit außerhalb meiner Grübeleien, ich fühlte es, wenn wir beisammen waren, und wie nur die Einsamkeit meine unsäglichen Bitternisse schürte. Tod und Enttäuschung, betrogene Hoffnungen und Verrat, keine Kränkung im Leben ist größer, unüberwindbarere Seelenqual als der Gedanke, sein Liebstes geschändet zu wissen.
Ich habe diese Zeit unsäglich gelitten. Und immer neu durch viele lange Jahre. Wohl dem, der dies gestehen kann. Ausgehöhlt bis in die letzte Faser vom Haß und von der Leidenschaft lebte ich aber jene ersten Tage meiner Erkenntnis am schauerlichsten dahin.
Mein verstörter Zustand und Zusammenbruch mußte wohl auch in meinen Briefen sich allmählich zur äußersten Krise gesteigert haben. Ich bekam eines Tages ein Telegramm, in dem Magda ihre Ankunft meldete.
Wie so oft später, hat unmittelbare tätige Gegenwart alle Schatten und Gedanken wie weichende Nebel zu verscheuchen vermocht. Eine Stunde schon vor Ankunft des Zuges eilte ich am Bahnsteig hin und her, nur Magda und ihr Kommen als helles Glück im Herzen tragend. Im sinkenden Abend, als eben mein Gipfel rotglühend ausleuchtete, fuhr der Fernzug stampfend an den Bahnsteig heran.
»Da bin ich!« rief Magda frisch und froh, und sah mir doch besorgt in die Augen. Ich schulterte ihren Koffer und drängelte uns ins Freie. Meine kleine Wohnung lag vor der Stadt am Berg-Isel-Weg; Magda konnte ich da leicht unterbringen.
»Ist's hier aber schön!« rief sie ein um das andere Mal aus, als wir den schmalen Fußpfad aufwärts stiegen und die Lichter der Stadt sich immer weiter unter uns hinbreiteten. Grau und drohend stand die Nordkette dahinter auf. Mir aber lag diese Gegenwart nicht im Sinne.
»Wie lange kannst du bleiben, Magda?«
»Ich gehe nicht wieder fort von dir, Fred.«
Ich verstand nicht recht. Ich fragte noch einmal.
»Ja, Fred, ich bleibe hier. Ich habe meinen Eltern gesagt, ich müsse zu dir. Es gab ja gar nichts anderes. Ich habe mehr aus deinen Briefen gelesen als du schriebst.«
So wie sie dies sagte, schlicht und groß, mit der Selbstverständlichkeit eines Ereignisses, an dem nichts zu grübeln und zu deuten ist, stand sie auf einem Altar der Wirklichkeit, höher, leuchtender, als mein phantastisches Idol ihn je zu schaffen vermochte. Welchen Einsatz, welches Opfer, welchen Kampf ihr dieser Entschluß gekostet haben mochte, hat sie nie auch nur mit einer Geste erwähnt.
Ich habe den Koffer mitten am Wege hingestellt; ich habe einen Stein gepackt und ihn irgendwohin in die Tiefe geschleudert, ich erwischte einen dicken Ast und brach ihn knarrend in Stücke. Dann faßte ich Magda um die Mitte und preßte sie an mich, fest und hemmungslos, und mein heller Juchschrei zerschnitt den frostigen Abend.
Wenige Tage später, in dem kleinen Bergkirchlein der höchsten Pfarrgemeinde Tirols, wurde mir Magda für immer angetraut. Zeugen waren eine alte, liebe Bauersfrau und ihr einbeiniger Großknecht, der einst im Kriege mein bester Zugsführer gewesen war. Das Datum jenes Tages, der ja kein Tag der Hochzeit war, habe ich aus meinem Erinnern für immer ausgelöscht.
Ein Winter war vergangen, ein Sommer und wieder ein Winter. Der Erdruch des Frühlings dampfte aus den Wäldern, mit blanken, schillernden Harschflächen strahlten die Höhen der weißen Berge im Gegenlicht. Die aperen Almwiesen waren noch naß und gelb und doch aufgebrochen dem neuen Wachsen und Werden. Lange Schneestreifen oder morsche Schneeflecken mit großen, kreisrunden Löchern widerstanden da und dort noch der Wärme. Es blühten die Schusternagelen und Petergstamm, Krokus und die zarten Glöckchen der Soldanellen.
Ich stieg den leichten Sommerpfad zu meinem Gipfel hinan. Es war eine neue Liebe, die ich da hinauftragen mußte, so fremd und vertraut und neu und unbeholfen. Magda war am Tage zuvor mit einem verhuzzelten, rotfleckigen Wesen niedergekommen, das alle Beteiligten als einen kräftigen, gefunden, niedlichen und ungemein schönen Buben bezeichnet hatten.
Ich wagte vor den anderen weder dieses Wunderwesen anzurühren, noch irgend eine Bewegung meines Inneren zu zeigen. So wurde ich denn mit der Bemerkung, daß Väter für Säuglinge nie ein Interesse hätten, wieder zur Türe hinausgeschoben. Magda hätte mich wohl gerne alleine gehabt; aber das ging nicht an, und so packte ich meinen Rucksack und verdrückte mich still.
Das Wunder begleitete mich den ganzen Tag. Ich hörte es in dem Tosen des Bergbaches, ich lauschte ihm in dem summenden Rauschen der Fichtenwälder, ich sah es in der goldenen Blattfülle der Weiden und in dem neuen, samtenen Grün der Talwiesen. Die Luft war dunkelblau und klar, grellweiß der Schnee der Kämme und goldengrün der Wald. In den Vorwerken der letzten Bauernhöfe gackerten Hühner aufgeregt hin und her, Hunde bellten um nichts in die Gegend und Kinder wälzten sich johlend am schrägen Holzapfelhang hinter der Keusche. Über dem Walde im Krummholz tropfte und klingelte das Schmelzwasser zu Boden, schwarz stachen die nassen Felsen aus dem Schnee, glitschig und braun blieb der Firn unter meinen Tritten. Es war Pfingsten im Tale und Pfingsten auf den Bergen. Wäre Sankt Peter selbeigen mit flammender Leuchte über der Stirne vor mich getreten und hätte mir die Hand gedrückt zu solchem großen Tage, ich hätte es kaum noch wundersamer hingenommen als alle die herrliche Lenzesfülle ringsum.
Auf meinem Gipfel droben saß ich und lauschte. Es war ein Brausen um mich her, das war aber nur das Brausen meines Blutes in mir selber. Ich lauschte meiner Liebe. Es war ein Lied in mir, volltönig und pastoral wie die Welt der Berge. Ich konnte es mir freilich nicht verhehlen: es war ein leiser Mißklang in den Harmonien dieses Liedes, der Mißklang, den ich all die Zeit tiefst verschlossen in meinem Herzen trug. Im Alltag ist die Seele so oft ohne Schwung und Überschwang; dann schien alles eben und ohne Aufregung nur den Bedürfnissen des Tages zu gehören. War aber das Herz aufgetan oder irgend ein Fest der Seele, dann mußte auch diese Trübnis und der Haß immer neu zu Tage liegen. Das Leben ist nur wertvoll in den Zeiten schöpferischer Aufgeschlossenheit; wie ich diese ersehnte, mußte ich sie zugleich fürchten um des Aufbrechens jenes verborgenen Kummers willen.
Ich saß auf aperer Felsbank unter dem Gipfelzeichen und starrte hinaus in die Bläue. Wie die Zeit doch hingeht! Nun war ich also nicht mehr allein und nicht mehr dem eigenen Sein verantwortlich: Ein hilfloses Geschöpf schrieb mir ein ehernes Gesetz vor Augen: deine Sorge, deine Arbeit, deine Liebe gehören mir!
Als ich spät abends ins Zimmer meiner Frau schlich, schliefen sie beide. Ein glückseliges Lächeln verklärte Magdas Züge. Ja, sie war nur Gegenwart und positives Leben! Alles Grübeln und Sichquälen ist ein phantastischer Unfug intellektueller Naturen. Oder mußte ich die Schulderinnerung für uns beide tragen, damit sie mir froh und sonnig bliebe?
Magda erwachte einen Augenblick lang und sah mich an. Ihre Augen wurden dunkel und tief wie aufbrechende Bauernerde. Halb im Traume streckte sie den Arm aus nach dem Korbe, der neben ihrem Bette stand. Erst als die Hand ihn gefunden, schloß sie die Augen wieder. Ich wußte, daß ihr Sein und Denken nur dem Kinde gehörte und der Zukunft.
So wollte ich doppelt die Last und Lüge der Vergangenheit alleine tragen. Unser Kind wird seine Eltern rein und herrlich vor Augen haben!
Walter, der Bub, wuchs heran, sorglos und behütet inmitten einer Zeit, die die Welt an den Abgrund und die Seelen der arbeitenden mittellosen Volksschichten zum Zerbrechen brachte.
Gepeinigt von Zukunftsängsten um Brot und Existenz, dumpf und müde kam ich allabendlich den weiten Bergweg von der Stadt zu unserem Heim herauf. Wie die Straßen unter mir versanken und die Berge stiegen, fiel auch alle Hast und Wirrnis des Tages von mir. Im Flur lief mir Walter mit kleinen Torkelschritten entgegen; wenn er lachte, wurde die Welt sonnig, wenn er mich zauste, war alles Grübeln zerflossen, wenn er plauderte und mir mit unsagbarem Ernst seine Spielsachen zutrug, gab es auf der Welt nichts als diese Stunde.
Alle Erfolge des Leben, alles Geld, alle Macht sind nichts gegen Glück und Sorge um ein eigenes Kind. Seit Walter bei uns war, hatte ich erst die Augen offen, um das Leben zu sehen, die Ohren hellhörig, um die Triebkräfte der Menschheitsfluten zu verstehen. Wie klein und kümmerlich war dagegen alles Getue um neue Formen der Freiheit und der Moral, die Betriebsamkeit um die Sensationen des Tages mit ihrem Goldgeklingel und Jazzbandwahn. Laßt um Luxus und Gold die Großen sich zerfleischen und die Gemeinheiten aller Laster taumeln, solange Kinder weinen und darben und die Welt nicht zur Besinnung kommt um ihretwillen, sind alle Gesetze und Ordnungen elende Stümperei gewesen.
Damals sind wir, neben aller Not und Mühe einer schweren Zeit, in unserem kleinen Heim wie auf einem Eiland des Friedens gewesen. Mit der Vorgartentüre schloß ich abends die Welt und ihren Lärm aus, ließ ich frühmorgens die Umfriedung einer eingesponnenen Selbstgenügsamkeit hinter mir. Immerwährend standen die strahlenden Kinderaugen vor mir, gläubig und hell, hörte ich das Lachen, das zu hüten und zu bewahren mich manchen Kummer und allen Mißmut des Berufstages verschweigen hieß. Nicht ich brachte abends das Bewegte von draußen in unsere Abgeschlossenheit, sondern nahm umgekehrt die Kraft dieser Ruhe und Dreisamkeit als Halt und Trost, oft als einzigen und letzten Ansporn in die Fron der Brotarbeit mit.
Zwei Lebensräume standen nebeneinander. In dem einen sah ich Walter größer werden, seine ersten Gehversuche mit aufgerissenen Augen und rudernden Ärmchen, verstand das Plappern und Plaudern, das immer wichtiger werdende Phantasiereich der Spiele, das unmerkliche Hineinwachsen in Neues, Überraschendes, ein Größerwerden, im vorhinein kaum erwünscht und doch stets bedacht und beredet, im Augenblick selbstverständlich und just am liebenswertesten. Der andere Lebensraum war Beruf und Sorge, Arbeit und auch Not. Es war die Zeit, in der kein Gedanke mehr daran war, Erwerb und Vorwärtskommen irgend seinen Wünschen und seinen Fähigkeiten nach zu formen, in der Zwang und Bedrückung alle Schichten der Kopf- und Handarbeiter belasteten und zermürbten, in der das Gespenst der Arbeitslosigkeit, eines hoffnungslosen Herausgeworfenseins aus jeder Bahn drohend und unerbittlich über jedem stand. Der Gegensatz war tief und furchtbar; ich erleichterte ihn auch nicht durch ein Aussprechen oder Mitsorgen daheim, ich hielt alle Sorgengedanken streng ferne und sah doch bangend die wirklichen, unabänderlichen sich türmen, jeden Augenblick bereit, auf uns herabzustürzen und auch uns zu vernichten.
Es war überhaupt so, daß ich Kind-Gegenwart und Kind-Zukunft viele Stunden lang mit Magda bereden und beraten konnte, nur immer ängstlich bemüht, mein Innerstes in seiner letzten Sorge um Brot und Not, in seinem letzten Wahn um die Schatten der Vergangenheit nicht bloß zu legen. Damit glaubte ich Magdas frohe Gegenwärtigkeit am ungetrübtesten zu erhalten, indem ich alle Zeit und Beziehung vor unserem Zweisein, auch in harmlosesten Erinnerungen, totschwieg. Desto grausamer freilich verfolgten sie mich selber.
Es gab Zeiten seelischer Bedrücktheit, in denen jede Kleinigkeit meinen Haß zu schüren, meine Anklage neu aufleben lassen konnte. Ich hörte Lieder und erschrak, ob nicht eines darunter wäre, das Magda jene frühere Zeit in die Seele riefe; wir lasen ein Buch, in dem die zarten Blüten bräutlicher Liebe vorgetragen wurden, und mit hastigem Vorwand legte ich es aus den Händen; Magda plauderte von Schule oder einstigen Bekannten und ich zitterte, daß diese Gedanken sie zu einer Zeit führen könnten, die ihr glücklich erschienen war und doch nicht mir gehörte. Ich war ratlos, wenn ich dachte, wie wir unserem Kind harmlos und frei den Weg zu starker Beherrschung weisen wollten. So wurde ich schweigsam und einsam, und konnte mich nicht entlasten. Ich liebte Magda wie je zuvor.
Oft in Stunden des Alleinseins wuchs mein Grübeln zu zerstörender Macht. Ich zweifelte an Magdas Verstehen, daß sie so gar nicht die Wüste meines Innern erkennen sollte, und tat doch alles, mich zu verbergen oder meine Laune auf Ursachen des Alltages zu schieben. Ich hatte Angst vor kommenden Ereignissen, die meinen Zustand mit einem hemmungslosen Wort verraten und Magdas Achtung und Liebe vernichten könnten; mir graute vor kommenden Jahren, daß wir, der Gegenwart gewöhnt, vergebens ein gemeinsames Erinnern an reines Jugendglück und erste unschuldige Liebe suchen würden. So wuchs und wuchs eine Bitterkeit in mir, genährt von meinem Schweigen; vor Magda aufgeschlossen, wären wohl viele meiner Bedrängnisse und Gedanken im Licht der Wirklichkeit zu Schatten und Schemen geworden, zerstiebend wie flüchtiger Feldrauch im Föhn. Die Lebensnot von draußen her unterstützte indes meine Scheu, gegen den harmonischen Zusammenklang innerhalb des letzten Refugiums ein Experiment zu wagen. Es war ein Trugschluß.
Dazwischen gingen die Jahre einer frohen, wahrhaft ungetrübten Kindheit, und die Jahre aufreibender Geld- und Arbeitssorgen der Eltern hin. Ein einziges Mal rührte das Kind unbewußt an meinem Schmerze. Walter mochte schon an die zwölf Jahre sein. Er hatte eben ein Buch gelesen, darin von einer reinen Treue, von einer prächtigen, frohe Elternpaare und Freunde vereinigenden Hochzeit die Rede war, und von verklärten Tugenden des Weiblichen und Männlichen. Ich meine, es war aus dem Schatz der deutschen Sagen.
»Mutti,« fragte Walter mit leuchtenden Augen, »wie ist das schöne Fest denn bei euch gewesen?«
»Damals war Nachkriegszeit, Kind,« erwiderte Magda ernst und gelassen, »und es war da alles anders als in deinem Buch.«
Dann sah sie zu mir herüber, blitzschnell; kannte sie vielleicht doch mehr von meinen Gedanken als ich ahnte? Sie lächelte aber im selben Augenblick und fragte nach einer alltäglichen Sache. Mir standen die zukünftigen Fragen und Neugierden meines lieben Kindes bangend vor Augen. Es erschütterte und betrübte mich zugleich. Wieder glühte der Haß empor, unversöhnlich.
Es mag Naturen geben, ungrüblerische und positive, moderne meinetwegen, die mein Tun und Denken ganz unverständlich finden werden. Ich sage dagegen, daß wir Menschen uns im Allerletzten gar nicht gleichen und einem jeden seine seelische und Nervenpotenz sein Schicksal vorauszeichnet. Lernen wir nur tausend solcher Wege in ihren geheimen Verästelungen kennen, damit wir in jedem Menschen einen Träger seiner Bürde, Bewahrer seines Leides und seiner Seelennot achten und lieben lernen! Wir sehen wohl harte Linien in den Antlitzen anderer, aber wir wollen es nicht für wahr haben, daß anderen ein ähnlich schweres Teil zugemessen sei als uns. Wie sagte ich doch am Anfang dieser Blätter? Es gibt kein Vergessen und Verzeihen, wohl aber ein Einsehen und Sich-Bescheiden. Möge allen die Zeit gegeben sein, so weit zu kommen!
Am Abende desselben Tages, an dem Walter seine unschuldige Frage getan, war ich Magda doppelt zugetan, als müsse ich ihr ein Unrecht vergelten. Es hatten aber eben wieder bessere Jahre begonnen und unsere drückendsten Sorgen waren vorbei. Da ergriff Magda die Gelegenheit und bat, wir sollten doch alle endlich einmal nach Wien fahren, die Großeltern zu besuchen. Ich hatte es alle die Jahre her peinlichst abgelehnt, nach Wien zu gehen; mir graute vor der Großstadt und ihren Beziehungen zu Magdas blühendster, zertretener Jugendzeit. Oft und oft waren Großeltern und Geschwister bei uns zu Gaste; es war leicht, jede Gegeneinladung mit dem Hinweis abzutun, daß es doch gleich teuer aber unendliche Male schöner sei, von Wien nach Innsbruck zu kommen als von den Bergen weg in die schmutzige, verarmende Riesenstadt.
Ich wollte aber Magda ein Liebes tun und gab ihrem, ich weiß es, jahrelang gehegten Wunsche endlich nach.
»Zu den Großeltern fahren wir, Magda, verstehst du, zu den Großeltern von Walter!«
»Herrlich, ja, nach Wien!« jubelte sie.
»Nein, zu den Großeltern«, erwiderte ich eigensinnig und sophistisch. Magda sah mich eine Weile an, dann stieg eine leichte Röte des Unmutes in ihre Schläfen. Ich sagte noch einmal:
»Es gibt kein anderes Wien als die Großeltern. Ich wollte, sie wären in Graz oder Salzburg.«
Und es brach wieder einmal mein Haß durch, daß meine Hände nervös zitterten. Magda war erst erstaunt, dann kam es wie Betrübnis in ihre Augen. Sie nahm so herzlich meine Hände und sah mich an:
»Sind denn dreizehn, vierzehn Jahre umsonst gelebt, Fred? Was du nur denken magst! Für mich ist das alles längst wie nie gewesen. Ich bin in dir und in Walter; daß du es nicht zu erfühlen vermagst!« –
Ich ging noch am folgenden Tage auf meinen Berg. Wie frei atmete ich wieder nach der bittersten Notzeit, die eben zu Ende gegangen, nach zwei furchtbaren Jahren der Arbeitslosigkeit, undenkbar zu schildern in ihrer Stumpfheit der schleichenden Stunden! Nun waren die Nerven wieder erlöst und beschwingt im ersten Strahl neuer Hoffnungen. Ich stieg zu meinem Gipfel, mit der ehrlichen Absicht, alle Schlacken abzutun und zu vergessen, was mich die Jahre her so quälend verfolgt hatte. Es schien mir leicht in der Offenheit dieses Tages und in der Zuversicht auf die neuen, aufbauenden Kräfte. Ich war ja dem Leben so dankbar!
Walter war erstmals mit mir. Ich hielt ihn bei der Hand, solange wir droben rasteten, und zeigte ihm die Berge, das weite Land, die Stadt unten und alle Schönheit der Heimat. Mein und Magdas Kind! Ja, hier war seine Heimat, in diesen Weiten und Bergen, und in unserer unendlichen Liebe.
Im Abstiege hatten wir ein freundliches Erlebnis. Auf einer Waldblöße im obersten Waldgürtel steht, unmittelbar am Rande des schützenden Dunkels, das Marienbründl, eine gefaßte Quelle mit einer uralten, geschnitzten Madonna darüber. Ich war schon ungezählte Male daran vorbeigegangen. Heute aber war Tag und Stunde zufällig so, daß zwischen den Stämmen des Waldes ein einziges starkes körperliches Strahlenbündel der tiefstehenden Sonne hindurchbrach und die Madonnenfigur mit einem farbensprühenden, ganz unwirklich hellen Schein umfloß.
»Dort! Sieh! Maria!« rief Walter in andächtiger Jungenfreude. Wir standen eine Weile ergriffen vor dem zauberhaften Bild, bis der schattende Wald die Leuchterscheinung rasch und übergangslos verschwinden machte.
Walters Phantasie beschäftigte sich aber noch lange Zeit mit der lieblichen Erscheinung. Er fragte so klug und interessiert, daß ich ihm die tiefe Sehnsuchtsbedeutung der Muttergottes im Vorstellungskreise der nordischen Menschheit recht eindringlich zu erklären versuchte.
»… so ist im abendländischen Christentum in Maria die Vergöttlichung der Reinheit und Mütterlichkeit, aus dem tiefsten sittlichen Bewußtsein unserer Rasse heraus, seit Jahrhunderten lebendig geblieben –« schloß ich unser Gespräch. Ich sah Walters Augen glänzen und es war mir warm und glücklich ums Herz.
»So etwas können die Stadtkinder, die in Wien und Berlin und Paris, nie, nie sehen, Mutti!« erzählte er es abends mit glühender Hingabe. Und Magda nahm seinen Kopf zwischen ihre weichen Hände und küßte seine Stirne.
Seelische Katastrophen dürften wohl viel stärker von physischen Vorbedingungen abhängig sein, als wir es gemeinhin glauben wollen. Die dumpfen Jahre der Arbeitslosigkeit und Sorgen werden mein Inneres wohl so sehr zerrüttet haben, daß nach der ersten gehobenen Freude, endlich wieder eine sichere Existenz zu haben, die nachhaltigere seelische Reaktion eintreten mußte.
Vom ersten Tage an, den wir in Wien zubrachten, wollte mich eine trostlose Unruhe nicht verlassen. Wann Magda ausging, begleitete ich sie zu jedem Schritte, ging mit allerlei Redeaufwand Umwege dort, wo ich irgendwelchen Anstoß zur Erinnerung vermutete, quälte mich selbst und wurde keines Augenblicks der Gegenwart froh. Indem ich sie vor peinlichen Zufällen bewahren zu können meinte, trieb ich mich selbst in die Sackgasse solcher Einbildungen hinein.
Es war mehr als Nervosität; es war ein Zusammenbruch, ausgelöst durch eine fixe Idee; ein Zusammenbruch, wie er Ungezählte in den vergangenen Notjahren zur Strecke brachte. Nur so kann ich mir die Wirrnisse der folgenden Tage erklären. Sie sind rasch erzählt.
Einmal, als wir mit Walter die Währingerstraße entlang gingen, trafen wir einen einstigen Bürokollegen Magdas. Es wurde gegrüßt, es wurden belanglose Worte getauscht, eine heiter-oberflächliche Zwiesprache ohne Verfänglichkeit, halb aus Vergangenheit, halb aus Gegenwart gemischt. Walter, der große Bub, war natürlich mit ein Gegenstand der Unterhaltung, die übrigens nur wenige Minuten dauerte.
»Na also,« sagte der Herr beim Verabschieden, »da sind Sie ja bestens zurechtgekommen, gnädige Frau!«
Es hat eine Höflichkeit sein sollen, eine wohlgemeinte Phrase. Mir war es ein Schlag ins Gesicht. Ich meinte ein schmunzelndes Echo aus diesen Worten zu hören, etwa: ›Na also, da haben Sie sich doch getröstet um Ihren Direktor!‹ Da stand ein Mann, da stand die Möglichkeit lebendig vor mir, daß um Magda geredet werden konnte, daß unerforschliche Hintergedanken um sie, um mich, um Walter kreisten; was konnte der Mann morgen vor lächelnden Bekannten erzählen, wie drang mein Leben, mein ganzes schweres Aufbauen als spießerige Farce vielleicht zu den Ohren jenes Verführers, auch ihm mit einem ›Na also!‹ das Gewissen entlastend? Was dachte, was fühlte, was erinnerte Magda, was mußte sie fühlen?
So stürmten in schlafloser Nacht die Gedanken wirr und ausschweifend auf mich heran. Hilflos lag ich, die heißen Augen auf die nachtstraßenhelle Decke des luftlosen Stadtzimmers geheftet. Trambahnen klingelten, Autos hupten, schwere Lastfuhrwerke rasselten die ganze lange Nacht, dieselbe Nacht, in der andere Menschen Sterne sehen oder denen wahrhafte Ruhe aus Berg und Wald ihren Schlaf umspült. Hier schwelte das Gift der Großstadt und zehrte und fraß auch an meinem Herzen.
Frühmorgens stand ich leise auf und schlich mich fort. Ich wußte es selbst nicht wohin. Auf der Straße erst war mir kurz bewußt, daß ich vom Vorzimmer einen schweren Eichenstock mitgenommen hatte. Dann trieb und jagte es mich stundenlang durch die Straßen, dahin, dorthin, bis ich mit grimmiger Genugtuung erkannte, daß es mich enger und enger im Kreise unaufhaltsam in die ruhige Straße des vierten Bezirkes zog, in der jener Direktor wohnte.
Und plötzlich, wie im schweren Rausch oft blitzartige nüchterne Bilder kommen, ward ich mir meiner inne, vor seiner Haustüre stehend. Ich war zuvor nie dagewesen. Und doch, nach vierzehn Jahren, sah ich mit gräßlicher Deutlichkeit ein Mädchen durch dieses Tor schlüpfen, viele Tage, ein Mädchen, das ihre Eltern um diese Stunden belog, das in raffiniert gezüchteter Girlstimmung hier modern und aufgeklärt zu ›leben‹ meinte, das da lächelnd, ohne jede Gewissensfrage, hinaufging, und abgegriffen, nur aus fleischlicher, billiger, ja hygienischer Lust und Berechnung im Wahn einer Liebe gehalten, ohne Arg und Scham wieder heimging zu biederen, braven Eltern, die – ja, die die Großeltern meines, ihres Kindes waren! Magda, Magda – o daß ich damals nicht in maßlosem Schmerz das häßliche Wort auf dich in die Zähne verbissen hätte! Arme Mütter!
Hier aber lebte der, der heute, morgen ihr begegnen konnte, mit zynischer Höflichkeit den Hut lüftend gegen den braven bürgerlichen Ehemann, den kleinen Angestellten, der sich mit den Resten bescheiden durfte, wie es ja immer das erfreuliche, gewissenberuhigende Ende dieser niedlichen Liaisons sein sollte … und Walter könnte er sehen, Walter … nein, Schuft, wenn auch Menschen deines Schlages tausende Mütter zum Weinen bringen und Reinheit gierig vernichten, wenn …
Da stand ich oben an der breiten, eleganten Eingangstüre. Meine Linke preßte sich an mein Herz, das so rasend hämmerte, meine Rechte wog zitternd den schweren eichenen Stock. Hier lebte er – durfte er denn leben, einer, der Magda heute noch in Gedanken besitzen und meinem Walter im Zufall des Lebens das Bild der Eltern, der Mutter in den Kot zerren konnte? War ich nicht Rächer der vielen, vielen, deren Unglück kein Gesetz sühnen wollte?
Oh, grauenvoll, wenn ich an die blinde Entrücktheit, an den abgründigen Haß denke, der in jenen Sekunden mich durchtobte. Wozu war ich entschlossen, getrieben? Welche Wahnsinnstat eines Schlafwandlers hätte unser aller Leben vernichtet?
Ich läutete an, mit eisig ruhiger Hand – niemand öffnete. Ich hörte noch die schrille Glocke durch den einsamen Stiegenflur hallen.
Dann schlug ich ohnmächtig auf die Fliesen hin.
Ich hatte keinerlei Papiere bei mir. Ich erwachte wenige Stunden später auf der Unfallstation der Rettungsgesellschaft. Ich mußte verstört und elend ausgesehen haben. Ein Arzt in weißem Kittel sah mir teilnahmsvoll ins Gesicht.
Ich weiß nicht, was ich stammelte. Dank und flüchtige Erklärung eines plötzlichen Unwohlseins. Ja, ich sei fremd in Wien. So und so, dort und dort. Ja, ich könne die Gebühren selbst bezahlen, auf der Stelle. Dank nochmals! Ich habe einen Besuch machen wollen. Nein, es brauche niemand verständigt werden. Ich fühle mich wieder ganz wohl, gewiß!
Nach einer weiteren Stunde entließ mich der freundliche Arzt. Er hatte noch ein Taxi besorgen lassen.
Ich nannte irgend ein Kaffeehaus in der Nähe des Westbahnhofes.
Hier saß ich brütend, hoffnungslos, geschlagen. Ich wußte klar nur eines: ich durfte Magda und Walter nie mehr vor Augen treten, ich, der Mörder in Gedanken, nur durch Zufall von der hundertmal im Wollen und Träumen verübten Tat bewahrt.
Ich durfte Magda und Walter nie mehr sehen. Das war meine Sühne.
Ich schrieb Magda einen klaren, schonungslosen Brief; ich ordnete sogar die materielle Seite eindeutig und bestimmt. Ich verschwieg nichts. Ich setzte auch keinen Termin, keine Hoffnung in die Zukunft. Ich stellte es ihr frei, in Wien zu bleiben oder die Wohnung in Innsbruck zu nehmen. Ich würde letzteren Falles mich nach Graz versetzen lasten können.
Schon am Nachmittag saß ich im D-Zug und fuhr aus Wien, von Magda, von Walter fort.
Eine vielleicht unbewußte heimliche Vorstellung, Magda würde sofort mir nacheilen, erfüllte sich nicht. So selbstverständlich sie dereinst gekommen war, über tausend Hindernisse, um mir zu helfen, so schlicht und groß war nun auch der Sinn der wenigen Worte, die sie mir schrieb: daß es denn so besser wäre, wie sie mich kenne. Sie bleibe mit Walter in Wien. Sie würde mich unverzüglich verständigen, wenn je mit Walter etwas wäre.
Ich war allein. Oh, schwere Schuld und schwereres Ertragen! Wer unter euch ist ohne Sünde? Magdalena –!
Fünf Jahre meiner trotzigen Selbstsühne waren vergangen. Von Eltern und Geschwistern waren anfänglich Briefe gekommen, erstaunte, beschwörende, zuletzt erbitterte. Sie waren, wie ich erkannte, alle ohne Wissen und Willen Magdas geschrieben; auch hatte, wie ich entnahm, Magda keinerlei Erklärung unserer sonderbaren Veränderung gegeben; es kam mir eher so vor, als würde sie mit möglichster Schonung für mich irgendwelche rein äußere Ursachen hingestellt haben. Von Magda selbst erfuhr ich so gut wie nichts; nur einmal in jedem Jahre, vor Weihnachten, schrieb sie einen langen Bericht, der ausschließlich von Walter handelte und streng tatsächlich die Entwicklung des Jungen erzählte. Aus diesen Briefen erfuhr ich, daß Walter ein frischer, sportlicher Jungmanne wurde, der insbesondere in seiner Leidenschaft für die Berge und den Skilauf kaum eine Grenze finde.
Mir war bitter und schwer ums Herz, sooft dieser Weihnachtsbrief kam. Wer ich machte mich hart gegen mich selber und trug mit verbissenem Willen die Schuld meiner Gedankensünden und ihres grausigen Endes. Jeder Näherungsversuch hätte ja auch mit einer beiderseitigen Demütigung enden müssen, und dazu waren wir wohl beide zu stolz. Es ist müßig, in einer gehobenen Stunde zu versprechen, was der Alltag nicht halten kann; zu versprechen, irgend etwas zu vergessen oder für immer aus seinen Gedanken zu bannen; kommt es dann ungerufen doch immer neu emporgestiegen, so fühlt man gleichermaßen Schuld dem Versprechen gegenüber, wie Anklage gegen das eigene Unvermögen. Es war schon besser, sich der starren Macht innerer Entschlüsse zu beugen, war ihr Gesetz auch schwer und ihr Sühnespruch ohne Gnade.
Auf meinen Gipfel bin ich in jenen Jahren nur selten gestiegen. Sein Zauber schien gebrochen; ich sah wohl die Schönheit seines Rundblickes, aber ich fühlte nicht das Brausen und Rauschen der Stille, das aus dem eigenen Blute kommt. Die Melodien meiner Seele hatten keinen Rhythmus mehr, es waren leere, zufällige Klänge.
Da kam, im fünften Jahre unserer Trennung, nach langem Winter jene Folge klarer, sommerlicher Maitage, die so jäh und überraschend in einen furchtbaren Föhnsturm abbrachen.
Es war am Nachmittag des elften Mai, als plötzlich über den Brenner, aus dem Stubai, vom Oberinntal herab schwere Wolkenbänke hinter den Kämmen emportürmten und fast gleichzeitig auch die ersten Sturmfetzen über die Stadt hinfegten. Kaum zwei Stunden später waren die Berge verschwunden; Regenböen prasselten durch die Straßen, Ziegel flogen, Fenster und Aushängeschilder schlug es herum. Triefend naß, nur mühsam gegen den Sturm gebückt vorwärtseilend, kam ich nach Hause.
Die ganze Nacht über tobte der Sturm über die Berge, über die Stadt hin. Eine Nacht, die einem ein Gebet für alle die Menschen auf die Lippen zwang, die ungeschützt und unentrinnbar in den Bergen solchem Wettersturze anheimgefallen sein mochten. Mehrmals in der Nacht hörte ich die unheimlich schauerlichen Töne der Alarmsirene über der Stadt heulen, anschwellend und verhallend, wie der Sturm sie in die Nacht trug. Es war unheimlich.
Erst der Morgen brachte ein leichtes Abflauen. Grau stand die Welt, der Sturm war stetig geworden, der Regen gleichmäßig.
Vor acht Uhr, als ich eben aus dem Hause gehen wollte, trat mir der Postbote mit einem Telegramm entgegen.
Ich riß es auf. Aus Salzburg! Von Magda!
›Walter von beabsichtigtem Nordwanddurchstieg nicht zurück. Rettung sofort einleiten. Magda.‹
Nur einige Herzschläge lang währte die Betäubung, als wollte es mich zu Boden schlagen; dann, wie es einen Blinden überwältigen mag, gräßlich und großartig zugleich, der urplötzlich wieder sehend wird, so überfiel mich ein Rausch des Handelns und der Tat.
Eine Stunde später schon rückte eine alpine Rettungskolonne gegen die Nordwand meines Berges an. Ich begleitete sie bis in das Kar, nur mit Mühe und Grobheiten von dem besonnenen Führer der Mannschaft vom Einstieg zurückgehalten.
Da saß ich wartend, lauschend, wartend … Da saß ich im Regen, im Sturm, im öden, bleiernen Grau der tiefen Wolken. Es war klar und festlich in mir. Ich wußte, daß Walter lebte; er mußte leben! Er war gewiß vom Unwetter überrascht, er konnte sich verstiegen haben oder biwakierte in der Route selbst, erschöpft, verletzt vielleicht – aber er mußte leben! Für ihn, für ihn hatte sich das Gebet dieser Nacht auf meine Lippen gezwungen, ohne daß ich es ahnte …
Es wurde Mittag, es wurde Nachmittag. Nichts zu hören als der Sturm und das Brausen des Regens.
Erst als sie zwei, drei Seillängen über dem Einstieg waren, konnte ich durch das Tosen die Stimmen und das Geklirr der absteigenden Netter vernehmen. Langsam und bedächtig seilten sie den sorgsam vergurteten Körper ab.
Walter war völlig erschöpft und von einem Steinschlag am Knöchel verletzt. Er hätte sich, auch bei besserndem Wetter, allein kaum aus der Wand zu retten vermocht. Er war indes voll bei Bewußtsein, ich hörte, wie er einem der Bergsteiger einige Worte zurief.
Sie legten ihn auf die Grasnarbe unter der Einstiegsrinne, um die Tragbahre zusammenzustellen. Da trat ich zu ihm.
Walter sah mir voll, fassungslos in die Augen. Dann umspielte ein so liebes, jungenhaftes Lächeln feinen Mund, als verkläre eine weite, himmlische Musik die letzte Stunde eines Märtyrers. Noch ehe ich ihm über die Stirne streichen konnte, fiel er in Ohnmacht.
Ich blieb mit Walter über Nacht auf der Hütte, die jenseits des Kares auf waldigem Riegel steht. Die Leute der Rettungsmannschaft zogen noch spät abends zu Tal.
Die Nacht über bewachte ich den erquickenden, den erstarkenden Schlaf des Kindes, des jungen Mannes – meines Sohnes! So lange er schlief, hielt ich behutsam seine Hand. Ich schlummerte wohl auch seicht und ruhelos, an den Bettrand hingelehnt.
Es war noch grauverhangener Morgen, als ich draußen die Stimme des einen Führers wieder erkannte. Er klopfte leise an unsere Türe, öffnete sie sachte und steckte den stoppligen Schädel herein.
»Da sind sie!« sagte er und gab die Türe wieder frei.
Magda stand auf der Schwelle.
Da Walter noch schlief, mußte ich einen Schrei des Erstaunens, der Erlösung, der hemmungslosen Freude unterdrücken. Ich trat zu ihr, faßte ihre Hände, führte sie zu Walter heran. So standen wir vor unserem großen Kinde, wortlos, selbstverständlich, ohne Erklärung.
Als Walter erwachte, hob er sich sofort jäh empor:
»Ach, Vater, Mutti, grüß Gott! Der Wettersturz war schuld! Ohne den wäre ich leicht durchgekommen! Und ohne den verflixten Steinschlag am Knöchel!«
Und wir lachten alle drei.
Gleich darauf, als fiele es ihm nun doch ein, lispelte er: »Endlich, Mutti! Du hast es mir so lang, so lang immer versprochen, zu Vater zu fahren … «
Seit dem Maiensturmtag, an dem sich das Letzterzählte zutrug, ist ein halbes Jahr vergangen.
Das erste Blatt habe ich auf meinem Gipfel geschrieben, das letzte schreibe ich daheim. Es ist spät in der Nacht. Magda schläft schon und Walter auch.
Walter wird nie aus fremdem Munde erfahren, was ihm den Glauben an seine Eltern trüben könnte. Er wird dereinst diese Blätter lesen, an dem Tage, an dem er selber als Mann in ein hartes oder glückliches, in ein ungewisses Leben hineinschreitet. Er wird einsehen und verstehen. Doch bis dahin sind noch manche Jahre.
Morgen mit dem Frühesten steige ich auf meinen Gipfel. Ich weiß, daß seine Macht wieder lebendiger ist und der Akkord seiner Stille brausender und rauschender als je. Ich höre den Rhythmus schwingen und schallen, der über die Berge der Heimat hingeht; es ist wie eine der weltentiefen Sonaten Beethovens …