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»Geld ist die Losung! Geld ist der Schlüssel zu allen guten Dingen. Reich möchte ich sein!«
So sprach im Verlauf einer längeren Unterredung der junge Bergmann Karl Kolter zu seinem nur wenig älteren Genossen Friedrich Lange, als beide an einem wunderschönen Nachmittag im Mai von der Grube zu ihrem etwa eine halbe Stunde entfernten Wohnorte heimkehrten.
»Reich, reich!« wiederholte er, und man hörte dem sehnsüchtigen Ton an, wie der Wunsch aus der tiefsten Seele kam.
»Du bist vierundzwanzig Jahre alt, ein hübscher Bursche, stark und gesund, in Arbeit und Verdienst, in Achtung und Ehren, – bist du nicht reich?« erwiderte der verständige Friedrich.
»Laß doch die Redensarten, die du in irgend einem deiner geliebten Bücher aufgeschnappt hast!« versetzte Karl ärgerlich. »Das ist ja alles schön und gut, und gewiß besser, als wenn ich alt und krank, schief und lahm, ein Bettler oder im Gefängnis wäre. Aber das ist nicht reich, und mich ärgert's, wenn man die Worte dreht und wendet und reckt und zieht, bis eins glücklich alles bedeuten kann, und schwarz im Handumdrehen zu weiß wird.«
»Mensch, ärgere dich nicht! Was ist denn eigentlich reich?«
»Aergere du mich nicht! Als ob du's nicht selber wüßtest! Reich ist, wer viel Geld und Gut besitzt, wie der Breunung da, im offenen Wagen neben seiner jungen Frau – wie die Füchse ausgreifen! Wie alles glitzert und glänzt! – hui, saust es an uns armen Schluckern vorbei! Wir haben etwas weißen Staub zu unserem schwarzen, und dürfen weiter zu Fuß gehen – zeitlebens, zeitlebens!«
»Wir können allerdings nicht alle Hüttenbesitzer und Millionäre sein.«
»Das weiß ich selbst, und wäre schon mit viel weniger zufrieden. Aber eine schöne runde Summe möchte ich haben, und meine und träume oft, sie müßte so auf einmal kommen. Immer haben mir die Märchen am besten gefallen, wo recht viel Gold und Silber, Diamanten und Perlen drin vorkommen, und freundliche Zwerge, und kühne Bergknappen.«
»Ja, ja, das lese ich auch gern, bin aber zufrieden, wenn ich statt der Karfunkelsteine in unserer Grube nur gute Kohlen finde.«
»Und wenn wir Jungen uns müde gespielt und gelaufen hatten und dort oben in den Ruinen der Burg Windeck uns lagerten und verschnauften, und du erzähltest uns von den alten Zeiten, denn du lasest schon damals gern, von den Rittern und Edeldamen mit goldenen Ketten und Spangen, dann dachte ich oft: Sollten all die Kostbarkeiten verschwunden sein? Vielleicht liegen hier ganz in der Nähe Schätze verborgen, die einen reich machen könnten.«
»Ohne Zweifel deckt die Erde, und nicht einmal gar tief, manches Wertvolle, das schon einmal im Besitz der Menschen war und, etwa in Kriegszeiten, vergraben worden ist. Aber die Erde ist groß, und das Suchen hoffnungslos. Ja, wer eine Wünschelrute hätte, von der wir in den Märchenbüchern lesen!«
»Es wäre doch schön,« murmelte Karl, »wenn man so mit einem Schlage zu Geld käme!«
»Und was tätest du denn?« fragte Friedrich lächelnd.
»O, allerlei, was Gott und guten Menschen gefallen sollte. Ich hälfe z. B. meinem Bruder zu einem eigenen Häuschen, – es ist uns schon längst zu eng in der Mietwohnung, – ich liehe dir Geld, die Kreuzwiese zu kaufen, daß deine Frau eine Kuh statt der Ziege halten könnte –«
»Nun, du verdientest wirklich, reich zu sein! Vergiß den Besten nicht.«
»Unbesorgt! Ich baute vor allem mir selbst ein schmuckes, warmes Nest, und wüßte am Ende auch schon, wen ich heimführte!«
»Lottchen, nicht wahr?«
Karl nickte.
»Das wäre noch lang der dümmste Streich nicht, ein hübsches, liebes, fleißiges Mädchen! Aber das kannst du auch jetzt schon tun.«
Karl schüttelte den Kopf. »Nein! Stände sie allein in der Welt, ohne Anhang, ich wagte es vielleicht, obgleich ich von meinem Bruder, noch mehr von meinem elterlichen Hause her weiß, wie bitter die Armut, die Beschränkung, die Knappheit an allen Ecken und Enden ist. Aber ich kann keine kranke Frau im Hause brauchen, besonders keine kranke Schwiegermutter.«
»Es kommt mir immer vor, als würden drei Arten von Weibern unbarmherzig verleumdet,« sagte der gutherzige Friedrich, »nämlich alte Jungfern, Stief- und Schwiegermütter. Weil einige unbezweifelt bös und bissig sind, sagt man's allen nach. Die alte Wilke ist eine freundliche und kluge Frau, mit der sich schon zusammen hausen ließe.«
»Krank, krank!«
»Auch das ist so schlimm nicht; ihre Gicht läßt ihr oft wochenlang Ruhe. Wirklich, ich gönnte dir Lottchen, und ihr dich. Ihr paßt zueinander, und ich meine, sie hätte dich gern.«
»Meinst du?«
»Sie sitzt so oft am Fenster, oder steht gar im Gärtchen, oder holt eben Wasser, wenn wir vorbeikommen. Mir zuliebe geschieht das nicht, obgleich sie mit meiner Frau gut Freund ist. Nicht als ob's gerade auffällig wäre, dazu ist sie zu klug, zu bescheiden. Aber gesteh's nur, ihr trefft euch gern, so ganz zufällig, natürlich, ihr wechselt gern einen freundlichen Blick.«
»Ich habe sie bis ganz vor kurzem immer noch für ein Kind angesehen.«
»'s ist wahr, für ihre achtzehn Jahre sieht sie noch sehr schlank und mädchenhaft aus.«
»Und – und seitdem,« fuhr Karl stotternd fort, »sehe ich sie fast gar nicht an, spreche wenig mit ihr, so gern ich's möchte. Sie hat bloß ihren guten Namen, das arme Ding, und soll durch mich nicht ins Gerede kommen.«
»Das ist nun wieder sehr schön von dir,« nickte Friedrich, »aber auch sehr hart, nimm's mir nicht übel! Ich hätt's nicht fertig gebracht, meinem Minchen gegenüber.«
Karl schwieg.
»Aber bist du überall so vorsichtig?« fuhr Friedrich fort und sah ihn von der Seite an. »Ich glaube, du streichst um Sonnenwirts stolze Emilie herum.«
»Gegen mich ist sie nicht stolz.«
»Mein lieber Freund, vertu dich nicht. Dem Dicken ist's ganz recht, daß du sein Bier trinkst, aber das Mädel gibt er dir nie.«
»Habe ihn auch noch nicht darum angesprochen. Das hat überhaupt noch Zeit mit dem Heiraten, eben weil ich ein armer Schlucker bin. Durch mich soll kein Mädchen und mit der Zeit vielleicht ein halb Dutzend Kinder arm und unglücklich werden. Aber wenn man bedenkt, daß zum glücklichen Ehestand mehr gehört, als vier Arme und Beine, dann wird man von denen, die nicht ganz so übel dran sind, hart gescholten.«
»Nimm mir das Wörtlein doch nicht krumm, lieber Freund! Ich gebe dir ja gerne zu, das Heiraten ist eine sehr wichtige Sache und erfordert reifliche Ueberlegung. Ich lobe dich ja! Geld schadet nicht, bewahre! Doch bleibt's dabei: Nicht der Brautschatz, sondern die Braut selbst ist der rechte Schatz!«
»Es bleibt dabei: Reich möchte ich sein, dann könnte man tun, was man wollte.«
Sie waren inzwischen, nach Bergmannsart ausschreitend, in der Nähe des Städtchens an den Fluß des Hügels gelangt, der auf seinem Gipfel die efeuumrankten Trümmer der Burg Windeck trug. Ein unternehmender Mann hatte hier neuerdings eine Gartenwirtschaft angelegt, auf Besuch der Einheimischen an schönen Sommertagen und auf gelegentlichen Zuspruch Fremder rechnend. »Sieh, sieh! Lindner macht Ernst,« rief Karl. »Der Saal ist fertig, und seit heute morgen eine Menge Tische und Bänke im Freien aufgeschlagen. Sollen wir uns ein Glas Bier kaufen?«
Es war, zu ihrer Ehre sei's gesagt, nicht ihre Gewohnheit, auf dem Wege zu und von der Grube einzukehren, aber tat's nun der warme Tag oder das viele Sprechen, oder der Wunsch, die neuen Anlagen, die Vorbereitungen für Pfingstmontag in der Nähe zu sehen – genug, auch Friedrich ließ sich gern verführen, und bald saßen sie unter dem Kastanienbaume auf rauher Bank am ungehobelten Tisch. Rings blühte und grünte es, die Käfer summten, die Blätter rauschten leise, und langsam segelten weißgoldige Wölkchen am blauen Abendhimmel hin. –
»Au!« rief plötzlich Karl und führte die Hand zum Munde. Bei einer raschen Bewegung war ihm von dem als Bank dienenden Brett unter den Nagel des Zeigefingers ein Splitter gedrungen, den er jetzt ärgerlich wieder herausriß.
Aber der Schmerz dauerte fort, auch nachdem er die Hände gewaschen, den Finger genau besehen und gedrückt, und dem ebenso ratlosen Freunde hingehalten hatte. Sie starrten nun beide mit der Ueberzeugung auf die kleine Wunde hin, keine besonderen Wundärzte zu sein. »Wenn's noch so arg weh tut, so steckt auch noch was drin!« sprach Friedrich so klug wie ein Doktor.
»Dann schaff's mir heraus! Nimm's Messer oder eine Nadel – wär's an der Linken, so täte ich's selbst – das wird bös, wenn's drin bleibt, so greife doch an!«
Aber Friedrich hatte wenig Lust und Vertrauen, mit seinen plumpen Fingern zu operieren. »Soll ich's einmal versuchen?« fragte plötzlich eine feine Stimme.
Karl fuhr zusammen und beide blickten erstaunt auf. Lottchen, herausgekommen, um fertige Näharbeit abzuliefern, stand vor ihnen. Wie schön sie aussah in dem schlichten, aber sauberen Kleidchen, die Wangen von der Bewegung gerötet, mit den dunklen Augen und den prächtigen braunen Zöpfen! »Wenn du so gut sein willst,« sagte Karl.
Sie setzte den Korb auf den Tisch, nahm eine Nadel und faßte seine Hand. Die Berührung ihrer zarten Finger durchzuckte ihn seltsam.
»Nun nimm dich zusammen und schrei nicht, wenn ich dir ein bißchen weh tun muß,« sagte sie lächelnd.
»Nur drauf los! Ich bin nicht bange,« antwortete er.
Sie beugte sich über seine Hand, untersuchte schonend die Wunde, strich sanft mit der Nadel über eine Seite, brachte den Rest des Splitters in die Nähe der Oeffnung und entfernte ihn dann rasch und geschickt. »So! Jetzt noch verbinden, daß kein Staub hineindringt,« sagte sie befriedigt, und fügte zum Worte die Tat. Er hätte gern noch länger stillgehalten; es war so angenehm, aus nächster Nähe auf das schöne Mädchen niederzusehen.
»Schon fertig? Na, schönsten Dank! Und nun trinkst du ein Gläschen Bier mit uns.«
»O, das wäre viel zu viel!« lachte sie. »Ich habe noch zu tun.«
»Willst du dann meinem Glas die Ehre antun? Es ist noch fast voll.«
»Warum nicht?« erwiderte sie und nickte, denn sie sah, daß eine Weigerung ihn kränken würde. Kaum hatte sie das Glas niedergesetzt, so ergriff er es und tat einen tiefen Zug an derselben Stelle, die ihre Lippen berührt hatten.
»Gehen wir zusammen heim?«
»Ich habe noch bei Frau Lindner zu tun, das dauert euch zu lange. Guten Abend! Einen Gruß an Minchen!«
Sie nahm ihren Korb und schritt über den kurzen Rasen dem Hause zu, schlank und anmutig, »hätte ich Geld!« murmelte Karl, ihr nachblickend, »hätte ich nur ein paar hundert Mark!« Dann bezahlten sie und gingen heim. –
*
Lottchens Vater war Zimmergeselle gewesen und viel zu früh für die arme Familie durch einen Sturz verunglückt. Da hatte sich denn, nach dem ersten wilden Schmerz, die Witwe zusammengenommen und rechtschaffen geplagt, im Tagelohn genäht und gearbeitet, gewaschen und gegraben, kein Wetter und keine Mühe gescheut, um sich und ihre vier Kinder mit Ehren durchzubringen. Drei derselben starben, ehe sie ihr ihre Treue tätlich vergelten konnten. So blieb ihr in ihren alten Tagen, da das Gliederreißen sie oft sehr quälte, nur ein schönes, etwas schmächtiges Kind.
Aber wenn Lottchen zart war, so war sie deshalb nicht verzärtelt. Sie hatte die Klugheit und das fröhliche Vertrauen, die Festigkeit und Tatkraft ihrer Mutter geerbt, und entwickelte sich körperlich auch immer mehr, wie jene abnahm und schwächer wurde. So war es ihr denn keine Last, sondern eine Lust, der alten Frau nach Kräften zu vergelten, was dieselbe an ihr und ihren Geschwistern getan hatte. Lottchen verstand sich vortrefflich auf alle seine Handarbeit; sie schrak aber auch vor größeren Anstrengungen nicht zurück. Wo sie mit Anstand etwas erwerben konnte, da war sie bei der Hand. Wenn der Zustand der Mutter es erlaubte, so ging das tapfere Mädchen tage-, ja wochenlang zur Aushilfe in fremde Häuser, war besonders als furchtlose und sorgsame Krankenpflegerin berühmt, eilte bei Ausgängen flink wie ein Reh, um einen Augenblick zu gewinnen und einmal daheim anzurufen, und brachte, da sie für ihre Kleidung sehr wenig gebrauchte, fast den ganzen Verdienst freudestrahlend der Mutter. So lebten sie, sehr einfach, sehr bescheiden, aber glücklich durch Liebe und Zufriedenheit.
Sie wohnten in einem der letzten Häuser des Ortes, wo sie um billige Miete eine genügende Wohnung hatten. Und wie sauber war die Stube, wie wohlgepflegt der kleine Garten, selbst einige Blumen fehlten nicht. Wenn die Mutter leidend in dem großen Lehnstuhl saß, den der gute Pfarrer ihr geliehen, d. h. eigentlich auf Lebenszeit geschenkt hatte – im Bett zu bleiben, wehrte sie sich, solang es anging – dann erheiterte Lottchen, fleißig nähend, sie durch frohes Geplauder, durch ein inniges Lied, einem munteren Vögelchen vergleichbar, dessen Anblick und Stimme uns alsbald Sommerpracht und Sonnenschein vor die Seele zaubert. Die ersten Veilchen und Maiglöckchen sammelte sie der Kranken zu einem duftigen Strauß. Und was ihr junges Herz jeweilig quälte, was ihr durch Roheit und Härte einzelner Arbeitgeber, durch Gleichgültigkeit und Uebermut näherer Bekannter widerfuhr, das drängte sie entschlossen so viel wie möglich zurück, um nur der Mutter keinen trüben Augenblick zu machen. Lottchen war dem Ansehen nach lange Kind geblieben, in geistiger Beziehung aber, wie's durch Not und Schmerz zu geschehen pflegt, früh gereift. Es konnte nicht fehlen, daß der Unterschied ihrer Lage von der mancher Freundin ihr bald deutlich ward. Andere hatten einen Vater, der für sie sorgte, starke Brüder, die sich ihrer annahmen, eine gewisse Freiheit an jedem Tage und besonders Sonn- und Feiertags. Sie stand mit der Mutter einsam im Leben, war ans Haus gebunden oder zur eifrigen Ausnutzung jeder dort entbehrlichen Stunde genötigt. Ihre beste Freundin, Minchen, war seit einigen Jahren verheiratet und durch die eigene Familie in Anspruch genommen. Der große und starke Karl hatte sich früher immer freundlich gegen »das kleine Lottchen« erzeigt und ihr gleichsam einen Bruder ersetzt, von dem Augenblicke an, da er sie in ihrem ersten Schuljahre gegen Schneeballen wilder Buben geschützt hatte.
In der letzten Zeit schien er verändert, tat fremd und befangen. Vor andern Burschen, die allmählich entdeckten, daß aus dem kleinen Lottchen ein hübsches Mädchen geworden war, schrak sie zurück; ihr war eben nicht jeder recht. Und so fühlte sie gerade in den fröhlichsten Jahren zuweilen betrübt ihre Einsamkeit.
Pfingsten war gekommen, nach einem leichten Gewitter strahlend und schön. Am Montag nachmittag zog eine große Menge vergnügt zur Gartenwirtschaft hinaus. Frau Wilke, wieder leidend, hatte den Gottesdienst nicht besuchen können, dafür aber jetzt ein Buch aufgeschlagen. Lottchen saß strickend am Fenster und lugte verstohlen auf die Landstraße hinaus. Da gingen sie, die Glücklichen, mit Vater, Mutter und Geschwistern, am Arm ihrer Männer oder Verlobten, lachend, plaudernd, schäkernd, voll Lebens- und Tanzlust. Da kommt der dicke Sonnenwirt; er liefert das Bier und muß sich auch einmal zeigen; ihm zur Seite geht, prächtig geschmückt mit Hut und Sonnenschirmchen, die stattliche Emilie. Da schreiten Friedrich und Minchen, sie nicken ihr von weitem zu, ja, sie stehen einen Augenblick wie überlegend still, dann gehen sie vorüber. Und jetzt – sie duckt sich rasch hinter das schneeweiße Gardinchen – jetzt stürmt Karl heran, rasch, als ob er jemand einholen wollte, er wirft einen Blick nach ihrem Fenster, aber er kann sie nicht sehen, und nun ist auch er vorbei. Lottchen stand auf und ging vom Fenster weg. Es zuckte noch wehmütig um ihre Lippen, wie die Mutter, vom Buche aufblickend, bemerkte. Sie nahm die Brille ab, legte sie als Lesezeichen in das Buch und sprach herzlich: »Du gingest wohl auch gern, gelt, armes Kind?« »Und ließe dich allein?« versetzte Lottchen schon wieder lächelnd. –
»Warum nicht? Ich gönnte es dir von Herzen. Du kommst nie zum Tanz.« »O, ich kann noch viel tanzen, ehe ich vor Alter steif werde!« »Und sollst es hoffentlich auch. Ich lebe nicht ewig, ich liege dir nicht immer zur Last.« »Nun rede doch nicht so, liebe Mutter. Willst du mich böse machen? Was hätte ich, wenn du nicht mehr da wärst?« Lottchen sprach heftig, die Tränen waren ihr nahe. »Auch ich bliebe gerne noch lange, lange bei dir,« sagte die Mutter begütigend, »wenn nur –« – »Nun, was, wenn?« »Ein Mädchen wie du findet leicht sein gutes Auskommen und einen braven Mann, aber mit einem solchen Anhängsel –« »Unser Auskommen haben wir auch, Gott sei Dank! Und das soll mir genügen. Auf jeden Fall, wenn mich niemand will mit dir, so ist's auch gut. Wir trennen uns nie, nie!«
Sie neigte sich zärtlich über die Mutter und küßte sie. Aber schnell fuhr sie wieder auf, denn die Tür ging auf und herein traten Friedrich und Minchen und hinter ihnen noch jemand.
»Wie geht's, Frau Wilke?« fragte Friedrich mit seiner freundlichen Stimme. »Darf Lottchen ein bißchen mit zur Burg Windeck hinaus?«
»Ja, mache dich schnell fertig!« drängte Minchen. »Das Konzert hat schon angefangen, und später wird getanzt.«
»Und hier steht einer, der das kaum erwarten kann,« fuhr Friedrich, auf Karl deutend, fort. Daß sie gehofft hatten, Karl werde aus eigenem Antrieb Lottchen abholen, daß er statt dessen Emilie und ihren gewichtigen Vater zutraulich begrüßt hatte, von dem dicken Brauer aber durch gemessene Kälte in seine Schranken zurückgewiesen worden war, daß Minchen darauf an Lottchen erinnert hatte, das erzählte der gute Friedrich nicht. Man braucht ja nicht alles zu sagen, und besonders nicht alle Schwächen seiner Freunde aufzudecken.
Zu Emilie zog Karl hauptsächlich nur das Geld ihres Vaters hin, zu Lottchen ein anderes und besseres Gefühl, dem zu widerstreben ihm schwer fiel. Er sah sich schweigsam in dem schmucken Zimmer um und verglich es mit der Unordnung bei seinem Bruder, er sah wohlgefällig, wie Lottchen erst der Mutter den Kaffee zurechtstellte und nicht zu lange zu bleiben versprach, wie sie dann, im Nu zum Ausgehen fertig, sich mit unverhohlener Freude der kleinen Gesellschaft anschloß, und immer mächtiger drängte sich ihm die Ueberzeugung auf, daß ein solches Mädchen, ohne Mitgift und trotz der kränklichen Mutter, manchem reichen vorzuziehen sei.
Lottchen war über die Einladung doppelt glücklich, weil dieselbe unerwartet und gerade nach einem wehmütigen Augenblick gekommen war. Rüstig schritt sie an Karls Seite neben dem jungen Ehepaar her und plauderte vergnügt. Bald war das Ziel erreicht und mit einiger Mühe ein Plätzchen gefunden, wo man zusammen sitzen und bei Milchkaffee und Kuchen den Klängen der Musik lauschen konnte. Wie wohl tat dem fleißigen Mädchen diese seltene Ausspannung und noch mehr die alte Herzlichkeit Karls, der allmählich seine volle Unbefangenheit wieder gewonnen hatte! Wie schön saß sich da an dem warmen Maitage, im Schatten der grünen Bäume, unter frohen und doch durchaus anständigen Leuten! Und das Schönste sollte ja noch kommen, der Ball!
Ernste Leute, meist in reiferen Jahren, sind gegen alles und jedes Tanzen und haben Gründe dafür. Aber solange die Welt steht, wird sich's in jungen Beinen regen, nach dem Takte zu springen, wenn die Geigen einen Schottischen oder Walzer aufspielen, und zum Glück kann's ja auch in allen Ehren geschehen.
Man zog in den Saal. Karl und Lottchen waren eins der schönsten Paare. Sie hatte natürlich nie regelrecht tanzen gelernt, allein bei den Mädchen steckt diese Kunst im Blute, auch bei anstelligen Burschen. Und wie unermüdlich drehen sich die Frischen und Gesunden, ja selbst die Zärtlichen und Schwachen auf und nieder! Wenn sie den Raum, den sie tanzend durchfliegen, auf einer Wanderung zu Fuß zurücklegen sollten, so würde man wohl jammern und klagen über die Länge des Weges. Im Saale ist das auch ein anderes Ding. Auch Lottchen zierte und verstellte sich nicht, sondern genoß das seltene Vergnügen voll und ganz. Sie überschlug nur wenig Tänze, und jedes Wort, jeder Blick zeigte, wie froh und glücklich sie war.
War auch Karl froh? Jawohl, aus voller Seele, obgleich er einmal von Emilie einen Korb bekam. Waren Friedrich und Minchen vergnügt? Jawohl, und doppelt in dem stillen Bewußtsein, daß sie eigentlich dem armen Mädchen diese Freude verschafft hatten.
Aber bei alledem vergaß Lottchen ihrer Mutter nicht und wollte schon um sieben Uhr entschlüpfen.
»Warum denn? Es ist noch gar so früh!« sagte Karl, »noch ein Stündchen, – nur ein halbes – ein Viertelstündchen! Du siehst, ich lasse mit mir handeln.«
Lächelnd willigte sie in den letzten Vorschlag ein, und als sie nach Verlauf der Frist unerbittlich blieb, sagte er: »Dann begleite ich dich – aber laß uns über die Ruine gehen, es ist kein Umweg.«
Der Weg hinauf war holprig und steil, um so schöner war's droben in dem mit zartem Gras überwachsenen Burghof, am Fuße des runden Turmes. Rechts sah man auf die Gartenwirtschaft hinab, von wo die Musik leise gedämpft heraufdrang, und auf das grüne Wiesental und die belaubten Wälder, die sich bis zur Grube hinstreckten, links auf das stille Städtlein, das schon zum Teil im Schatten lag, während die Trümmer hier oben noch vom letzten Scheine der Abendsonne umflossen wurden. Unwillkürlich unterbrachen sie ihren Weg und ihr Geplauder und standen ein Weilchen aufatmend und schweigend still. »Aber nun muß ich wirklich fort!« rief Lottchen dann; »es war schön, hab besten Dank!« »Hast du wirklich Freude gehabt?« fragte er, ihre Hand ergreifend. »Warum können wir nicht öfter zusammen sein? – Warum nicht immer?« Das Wort war heraus, ehe er selbst sich's versah, und als sie erglühend zu Boden blickte, fuhr er lebhaft fort: »Sag ja, Lottchen, und ich will schaffen und sparen, daß es nicht zu lang mehr dauern soll. Sage ja! Oder bin ich dir nur auf dem Tanzboden gut genug?« Ein rascher Blick aus ihren dunklen Augen war die Antwort, aber sie schlug sie alsbald wieder nieder und flüsterte: »Du meinst es gut und treu, lieber Karl, du bist immer freundlich gegen mich gewesen, von der Schule an, aber – ich bin ein armes Mädchen –« »Und ich so reich!« jubelte er, sie feurig an sich ziehend. In diesem Augenblick lag alles Gold der Erde tief unter ihm. »Und – und –« stotterte sie, sich ihm zu entwinden suchend, »ich verlasse meine Mutter nicht.« »Ist das alles?« fragte er herzlich. »Das sollst du auch nicht, Schätzchen. Sie wird auch meine Mutter sein. Komm', wir wollen uns sogleich ihren Segen holen!«
Wenn es nur halbwegs gelungen ist, dem geneigten Leser, soviel mit wenig Strichen möglich, ein richtiges Bild von Lottchen zu geben, so wird er schon jetzt die Ueberschrift treffend finden.
*
Von Stund an begann für die beiden eine glückliche Zeit. Hatte Lottchen schon früher flink und munter gearbeitet, so schien ihr jetzt alles doppelt gut von der Hand zu gehen; sie hätte fast allzeit singen und jubeln mögen. Und auch Karl fühlte sich so froh und gehoben, daß er mit Arbeit und Lohn, mit seiner Armut und Stellung, mit Gott und aller Welt zufrieden war, und sogar die Launen seiner Schwägerin geduldig ertrug. »Es dauert nimmer lang!« tröstete er sich. Wenigstens zweimal täglich wechselte er mit seinem Schätzchen im Vorbeigehen einige freundliche Blicke und Worte, und an den prächtigen Sommerabenden und Sonntags konnten sie auch länger beisammen sein. Doch wozu weiter von der Seligkeit der ersten Liebe reden? Wer sie erfahren hat, dem sagt die eigene Erinnerung genug; und wer nie so glücklich gewesen ist, dem helfen die schönsten Worte nicht.
Frau Wilke hatte gern ihre Zustimmung zur Verlobung gegeben und freute sich innig über der lieben Tochter Glück. Freilich sah sie mit der Erfahrung und dem Mißtrauen des Alters die Zukunft nicht ganz in ebenso rosigem Lichte an, wie die jungen Leute. Aber sie verschwieg klug und schonend ihre Sorgen und Bedenken, die nichts bessern konnten. Karl war ein nüchterner, fleißiger, ordentlicher Bursch, das ließ sich nicht leugnen. Und zudem zeigte er sich immer freundlich und aufmerksam gegen die alte Frau.
Etwas ungeduldig war er dann und wann. Er wollte nicht leichtsinnig mit leeren Händen die Pflichten eines Hausvaters auf sich nehmen, und die Vervollständigung der nötigen Mittel dauerte ihm lange. Ein paar Taler hatte er aus dem Nachlasse seines verstorbenen Vaters her, ein paar andere schon dazu erspart, aber das Sümmchen genügte noch nicht. Lottchen suchte lächelnd jedes Wölkchen seines Unmutes zu zerstreuen. »Der Frühling ist die schönste Zeit des Jahres,« sagte sie, »und der Brautstand die schönste Zeit des Lebens. Sollten wir klagen, daß sie etwa lange dauern kann? Im Gegenteil. Wir sind noch jung. Wir haben keine Eile.«
Doch Karl ward, wenn er ihre gute Absicht auch anerkannte, hierdurch durchaus nicht vollkommen überzeugt. Er suchte zu sparen und zu erwerben, soviel nur möglich war. –
»Du läßt dich gar nicht mehr blicken,« sagte Lindner eines Tages zu ihm, als er an der Sonnenwirtschaft vorüberkam. »Muß mein Geld zusammenhalten,« erwiderte Karl. »Nun, dann will ich mal dir was zu verdienen geben,« sprach der Wirt. »Der Weg zur Burg hinauf gefällt mir schon lange nicht, besonders der Fremden wegen. Hast du nach der Schicht Lust, ihn etwas auszubessern?«
Mit Freuden griff Karl zu. Jeder Schweißtropfen, den er bei der Arbeit vergoß, brachte ihn ja seinem Ziele näher.
Da es sich nur um einen Fußsteig handelte, so war er, jede freie Stunde benutzend, bald bis zu den Trümmern gelangt. Und dort förderte ihn eines Abends ein glücklicher Sprung weiter, als in seinem bisherigen gewöhnlichen Leben tausend Schritte.
Es war an der Binnenseite der südöstlichen Mauer, im früheren Gärtchen der Burg, daß seine Hacke, die er hier im weichen Erdreich doppelt kräftig geschwungen hatte, unerwartet auf Widerstand stieß. Verwundert räumte er die Rasenschollen weg und entdeckte bald eine mäßig große, schön behauene Steinplatte. Sein Blut geriet mehr und mehr in Wallung. Er versuchte sie zu heben; es gelang. Und in der Höhlung stand ein seltsam geformtes Steinkrüglein mit rundem Bauch und weitem Halse, durch einen silbernen Klappdeckel geschlossen. Er hob es auf mit zitternder Hand – wie schwer! Er schlug den Deckel zurück, er sah und griff hinein – bis an den Rand mit dünnen alten Goldmünzen gefüllt!
Karl mußte sich niedersetzen, – er bebte vor Aufregung. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, und sein Herz klopfte fühlbar. So waren die Träume seiner Jugend, die kühnsten Wünsche seines begehrlichen Sinnes in glänzende Erfüllung gegangen! Die alten Trümmer hatten einen wirklichen Schatz geborgen, und er ihn gefunden, er war mit einem Schlage ein reicher Mann! Gold! Gold! Da dicht vor ihm, wer weiß wieviel? Doch schon kam die Furcht mit dem Besitz. Aengstlich sah er sich um, ob ihn niemand belauscht. Nein, keine Menschenseele war nahe, ruhig lag, von der Glut der neigenden Sonne übergossen, Hügel und Tal. Da sprang er auf, zog hastig den Kittel wieder an, unter dem er das Krüglein verbarg, und eilte in geradester Richtung bergab dem Orte zu.
Lottchen saß fleißig an der Nähmaschine, und ihre Mutter, die das Stricken nicht mehr vertragen konnte, am Spinnrad, als er keuchend in die Stube stürzte, den Krug auf den Tisch umstülpte und, nach Worten ringend, atemlos rief: »Da! Oben gefunden – an der Burgmauer – lauter Gold!«
Lottchen sprang auf und hob ein paar wegrollende Münzen vom Boden, und nun ging das Erstaunen und Betrachten und Verwundern los: »Nein, wie viele! So dünn und so groß! Auch ein paar Ringe – und dies Kreuzchen – das sind gewiß Edelsteine! Du Glückskind! Wo war's? Wie kam's? Erzähle einmal!«
Er saß schweigend da und wühlte in seinem Schatz, und ließ gedankenvoll die Münzen durch seine schwielige Hand gleiten. Lottchen sah ihn befremdet an – ihre Freude war schon merklich gedämpft.
Klebt am Golde, bei allem Segen, den es in guten Händen zu stiften vermag, auch ein Fluch, dem sich auch der ehrliche Besitzer nur in besonders günstigen Fällen entziehen kann?
Frau Wilke freute sich harmlos des ungewohnten Anblicks, bewunderte das Gepräge, den Glanz, die Kleinodien, und wünschte dem wortkargen Finder herzlich Glück. – »Nicht, als ob du's behalten dürftest,« setzte sie besonnen hinzu. »Ich kenne das Gesetz nicht genau. Du mußt alles dem Herrn Bürgermeister bringen, der weiß, was Recht ist. Aber du bekommst jedenfalls einen schönen Teil davon, und nun könnt ihr gleich voran machen. Wer hätte das gedacht?«
Karl zuckte zusammen, aber er war verständig und ehrlich. »Ihr habt recht,« sagte er. »Nur wird der Herr nicht mehr auf dem Amte sein.«
»In einer so seltenen Sache nimmt er dir's nicht übel, wenn du ihn in seiner Wohnung aufsuchst. Geh nur gleich! Ich wenigstens möchte so viel fremdes Geld und Gut nicht eine Nacht in meinem Zimmer haben.«
»Ihr habt wieder recht!« sprach Karl, der daheim kaum einen verschließbaren Kasten hatte, und das alte große Haus ward von verschiedenen Familien bewohnt. Er raffte die Münzen und Kostbarkeiten wieder zusammen und entfernte sich mit kurzem Gruß.
Der Bürgermeister war erstaunt und erfreut und wünschte dem ehrlichen Finder aufrichtig Glück. »So ist's recht,« sprach er, »gleich offen vor die rechte Schmiede gegangen. Es soll dein Schaden nicht sein. Hättest du alles behalten, und wäre die Unterschlagung wirklich verborgen geblieben: ein Hehler hätte dir höchstens ungefähr den Goldwert gegeben, ja, dich dabei noch gehörig übers Ohr gehauen – was wolltest du machen? Du mußtest stillschweigen. Und die schönen seltenen Stücke wären rasch eingeschmolzen worden. Der Vorstand des Museums in der Hauptstadt versteht sich darauf; er wird sie abschätzen, und so kommst du auch äußerlich nicht zu kurz. Ehrlichkeit ist immer die beste Klugheit.« Er nahm ein genaues Verzeichnis der Sachen auf und versprach Karls Vorteil höheren Orts nach Kräften wahrzunehmen.
Das alte Geschlecht derer von Windeck war nämlich ausgestorben, und die Ruine Staatseigentum.
Karl ging, mehr betäubt als bewußt, nach Hause und wusch und kleidete sich um.
Seinen Bruder traf er nicht an, da derselbe Nachtschicht hatte. Auch ihn litt es nicht lange im dumpfen Zimmer.
Aber kaum war er wieder auf die Straße getreten, da eilten Nachbarn und Freunde auf ihn zu und bestürmten ihn mit Fragen. Denn mit Blitzesschnelle hatte sich die aufregende Kunde in der kleinen Stadt verbreitet. Nachdem er schon dreimal die einfache Geschichte erzählt hatte und immer trockener im Halse geworden war, dachte er, heute dürfe er sich etwas Besonderes leisten, und wandte seine Schritte zur »Sonne« hin.
Und wie ward er empfangen! Der dicke Wirt sprang ihm leichtfüßig entgegen, sobald er seiner ansichtig wurde, und führte ihn ins Herrenstübchen, wo er nochmals Bericht erstatten mußte und von allen Seiten Lob und Glückwünsche empfing. Inzwischen hatte sich auch die große Stube mit einer ungewöhnlichen Menge gefüllt, und wirr scholl Wahres und Uebertriebenes durcheinander. »Eine Urne mit zwei Henkeln, voll Perlen und Diamanten! Ein Steinsarg voll gemünzten Goldes! – Nein, es sind auch Schmucksachen dabei, der Schreiber hat's mir gesagt, ein großes Kreuz, der Papst selber hat kein schöneres. – Die Steine daran sind Millionen wert!« – »Sprecht keinen Unsinn!« rief der Bürgermeister, welcher soeben eingetreten war. »Ein Krüglein ist es, so hoch – aber für den da wird doch genug abfallen.« Karl trat nämlich soeben wieder in die große Stube, wo's ihm behaglicher war. Er blieb der Held des Abends. Doch folgte er, als Friedrich zum Aufbruch mahnte.
»Nun hast du ja, was dein Herz begehrt, lieber Alter,« sagte der Freund, als sie durch die Sommernacht heimschritten.
»Wer weiß, wie viel, oder wie wenig sie mir geben? Warum darf man nicht alles behalten?«
»Nun, nun, sei nicht so unersättlich! Zur Hochzeit reicht's jedenfalls hin.«
Karl schwieg.
Am nächsten Tage eilte er, kaum von der Grube heimgekehrt, wieder zur Burg. Während der Nacht war an mehreren Stellen des alten Gärtleins eifrig gewühlt und gegraben worden. Aerger und Furcht ergriff ihn; sollte das Beste noch zurück gewesen und jetzt anderen in die Hände gefallen sein? Statt die Arbeit zu vollenden, ging er stöbernd hin und her, untersuchte die Löcher, klopfte hier und dort, ob es vielleicht hohl klänge, hackte und schaufelte auch eine Weile lang aufgeregt, natürlich, ohne etwas zu finden. Da wurde er von einer kräftigen Stimme gegrüßt: Der Sonnenwirt mit Emilie und seinem Schwiegersohne aus der Großstadt, der einmal wieder in Geschäften durch das Oertchen kam, wollten auch die merkwürdige Stelle einmal ansehen.
Karl zeigte und erklärte, und wurde darauf zu einem Glase Wein bei Lindner eingeladen. Emilie fragte neckisch, ob er denn gar kein Kettchen oder Ringlein zur Erinnerung aufgehoben habe. Und auch ihr Schwager, Kaufmann Wagmeyer, der bei früheren Besuchen den armen Bergmann nicht mit dem Rücken angesehen hatte, legte große Teilnahme an den Tag.
An dem Abend mußte Lottchen lange auf Karl warten, und als er endlich kam, war er zerstreut und wortkarg. So zeigte er sich überhaupt in den nächsten Wochen, und launisch und reizbar dazu. »Du mußt Geduld mit ihm haben,« tröstete Frau Wilke ihre Tochter; »es gibt sich wieder, sobald einmal die Sache entschieden und er im Besitz seines Geldes ist.« Lottchen widersprach nicht, stimmte aber auch dieser Hoffnung nicht zu.
Fast um dieselbe Zeit sprach Friedrich zu Karl: »Ich beneide dich eigentlich nicht, lieber Freund. Dein Geld macht dich nicht froh.« »Hätte ich's erst! Dann sollst du einmal sehen!« »Na, wir wollen's abwarten.«
*
»Sechstausend Mark! Und daran ist auch mein Bericht schuld!« sprach der Bürgermeister wohlgefällig zu dem jungen Bergmann, der, plötzlich aufs Amt gerufen, mit klopfendem Herzen vor ihm stand. Endlich war die Entscheidung gekommen.
Karls Hand zitterte, als er die Quittung unterschrieb und die Kassenscheine einstrich. »Was willst du nun machen mit dem vielen Gelde?«
»Ich weiß noch nicht recht – vielleicht ein Geschäftchen – oder eine Wirtschaft –«
»Laß dir die dummen Gedanken vergehen! Eine Konzession gebe ich dir nicht, auch keinem andern sobald – es sind der verwünschten Schnapskneipen schon mehr als genug da. Und von einem Geschäft verstehst du nichts. Schaffe dir Haus und Hof an – von Weib und Kind brauche ich nicht zu reden, das kommt von selbst – bleibe in deinem Stande und ernähre dich redlich.«
Karl murmelte etwas von »nichts übereilen«.
»Gewiß nicht!« knurrte der reizbare Herr ärgerlich. »Aber wohin derweil mit dem Geld? Unsere Sparkasse nimmt nicht so viel von einem einzelnen. An deiner Stelle würde ich einmal mit Herrn Breunung sprechen.«
Karl dankte für guten Rat und alles, und war froh, sich entfernen zu dürfen, vielleicht, daß er daheim zum vollen Genuß und Gefühl seines Glückes kam – bisher gelang ihm dies noch durchaus nicht. Sechstausend Mark! Gewiß viel Geld, jawohl! Er wußte nicht, ob er so viel oder gar mehr je erwartet hatte; aber zwanzig-, dreißigtausend ist doch etwas anderes – da kann man sich regen rechts und links, ungescheut – braucht nicht jeden Pfennig vor dem Ausgeben dreimal in der Tasche herumzudrehen – und doch wiederum: auch sechstausend bare Mark sind im kleinen Bürgerstande viel, sehr viel!
Auf dem Heimwege sah er Friedrich, der Straße den Rücken zukehrend, in seinem Garten beschäftigt und wollte ihm eben zurufen. Aber Friedrich richtete sich auf, ging an die Hecke heran, welche seine Stücke von der Kreuzwiese trennte, und knüpfte mit dem Eigentümer derselben ein Gespräch an. Karl schritt, von beiden unbemerkt, vorbei.
Zu Hause mußte er nun freilich sofort berichten, und nach seinem Gefühl verwunderte sich sein Bruder viel zu sehr über die Größe der Summe. Die Schwägerin bestand gar darauf, die kostbaren Scheinchen einmal gründlich zu besehen, und konnte sich kaum wieder von ihnen trennen. »Die Kinder hätten neue Kleidchen sehr nötig, und es wäre gerade Gelegenheit, in Leinwand einen überaus guten Kauf zu tun – der Händler sei noch in der Stadt – halb geschenkt, das feinste Gewebe – auch Hemdenstoff, unverwüstlich – wenn man nur hundert Mark hätte, dann könnte man noch dazu den Schuster bezahlen, der schon lange wartete usw.« Es war zu deutlich, und gerade deshalb verstand Karl es nicht. Er ging alsbald wieder, um sein Kapital irgendwo in Sicherheit zu bringen.
So kam er an diesem Tage nicht mehr zu Lottchen, und sie mußte die wichtige Neuigkeit durch Fremde erfahren, was ihr wehe tat. Auch als er am nächsten Morgen bei ihr anrief, war er nicht besonders vergnügt. »Du kannst dir nicht denken, wie man von allen Seiten auf mich lospickt,« klagte er. »Wenn ich dumm genug wäre, ich hätte bald keinen roten Heller mehr. Am schlimmsten ist meine Schwägerin. Aber ich laß mir nichts abtrotzen, noch abschmeicheln; wenn ich etwas tun will, so geschieht's freiwillig. Ich lasse mir auch nicht länger schiefe Gesichter ziehen. Ich suche mir ein anderes Quartier. Am besten wohl in der Sonne.«
»Das täte ich nicht!« rief sie lebhaft.
»Was? Bist eifersüchtig? Meinst, weil ich jetzt Geld habe –«
Aber vor dem ernsten Blick der dunklen Augen schlug er die seinen beschämt nieder. Und herzlicher fuhr er fort: »Sieh, du, die's am ersten dürfte, du tust den Mund nicht auf. Was willst du haben? Ein Tüchlein, ein neues Kleid, ein Kettchen?«
»Nichts!« antwortete sie; »ich habe wirklich nichts nötig, und Ueberflüssiges begehre ich nicht, verplempere das schöne Geld nicht.«
»Ja, wenn's nur zur Hauptsache reicht. Ich sinne und sinne, und rechne und überlege. Aber nun muß ich fort. Auf Wiedersehen!«
Nachdenklich blickte sie ihm nach, wie er eilig durch den Morgennebel der Grube zuschritt.
Einige Tage später sagte Friedrich, als er mit seinem Freunde auf dem Heimwege war: »Ich habe mit meinem Nachbar gesprochen. Ich könnte die Kreuzwiese jetzt haben.«
»So?«
»Ziemlich billig. Und er läßt einen Teil des Kaufpreises darauf stehen.«
»Schön, schön!«
»Ein bißchen habe ich erspart. Es handelt sich noch um etwa dreihundert Mark, die müßte mir jemand leihen.«
»Ei, wende dich doch an die Sparkasse!«
»Das ist auch wahr,« sprach Friedrich langsam. Er hatte etwas anderes erwartet. »Willst du Bürge für mich werden?« fragte er jetzt gerade heraus.
»Nimm's mir nicht übel, lieber Freund, das tue ich nie mehr, seitdem ich einmal hereingefallen bin mit dreißig sauerverdienten Mark. Bei dir wäre das freilich nicht zu besorgen, aber ich hab's mir nun einmal zum Grundsatz gemacht. Uebrigens, du hast ja ein bißchen Eigentum, ich glaube kaum, daß man noch einen Bürgen verlangt.«
»Möglich.«
»Sieh,« fuhr Karl lebhaft fort, »ich selbst würde dir das Geld herzlich gern geben, keinem lieber als dir, wäre ich erst mit mir im reinen. Und dann, mein Bruder. Die Familie geht doch vor.«
»Gewiß,« antwortete Friedrich, und es zuckte wehmütig um seine Mundwinkel. Karl lenkte das Gespräch jetzt auf andere Dinge, aber es kam nicht recht in Fluß.
Bald darauf hatte sein Bruder eine ernste Unterredung mit ihm. Ein Häuschen, mit Unterstützung gebaut und nur an Bergleute verkäuflich, war gerade preiswürdig zu haben. Karl hörte die Auseinandersetzung geduldig an, fand dann aber allerlei auszusetzen. Das Haus war abgelegen – jedenfalls feucht – nicht gut im Stand gehalten – das Stückchen Land dabei reiner Kies. »Weißt du was?« sagte er schließlich. »Baue lieber selbst! Bewirb dich um eine Prämie aus der Knappschaftskasse, die kann dir nicht entgehen, und baue selbst!«
»Das dauert im besten Falle bis übers Jahr.«
»Nun, wir haben uns so lange beholfen.«
»Und dann fehlen mir noch immer ein paar hundert Mark. Willst du sie mir geben? d. h. natürlich, leihen um mäßigen Zins?«
»Wenn's mir möglich ist – ich bin selbst noch nicht klar – wir wollen sehen –«
Aber nun brach die Schwägerin, die bisher sich mit Mühe zum Schweigen bequemt hatte, erbittert los, heftig, unverständig, heulend:
»Wozu hat man denn einen steinreichen Bruder? – Nicht das geringste Geschenk bei dem ungeheuren Glücksfall! Nicht einmal den armen Kindern, deren Hand so leicht gefüllt ist! Jahrelang habe ich ihm aufgewartet, gewaschen, geflickt, gestrickt, gebügelt – es ist eine Schande –«
»Etwa umsonst?« rief Karl zornig, während ihr Mann ihr Einhalt zu tun suchte. »Aber wir sind bald miteinander fertig – auch die letzte Rechnung ist leicht gemacht. Ich zieh aus.«
Er packte sofort und ging, sich eine andere Wohnung zu suchen. »Wie siehst du aus?« rief ihm Friedrich zu, wie so oft in seinen Freistunden im Garten beschäftigt. Karl trat zu ihm und machte seinem Herzen Luft. »Da sinnt und überlegt man,« schloß er, »etwas Gescheites anzufangen, das bißchen Geld zu vermehren, zu verdoppeln und dann etwas Rechtes für sich und die Seinen zu tun das ist der Dank! Ich gehe in die »Sonne«!«
Friedrich schüttelte den Kopf, aber die alte Freundschaft siegte. »Ich mische mich nicht in Familienzwist,« sagte er, »du magst recht haben, auszuziehen. Aber gehe nicht ins Wirtshaus. Es taugt nicht. Strebe auch nicht ins Ungemessene. Die da reich werden wollen, fallen in Versuchung und Stricke. Weißt du was! Komme zu uns! Ich kann dir zwar nur ein Dachkämmerchen anbieten, und nach dem Bett müssen wir uns erst umsehen, dafür soll's auch nicht viel kosten. Und du sorge, daß es nicht lange damit dauert. Kaufe dich an, oder baue, mache bald Hochzeit, und bleibe ein fröhlicher Bergmann!«
Das kam von Herzen und ging zu Herzen. Karl hatte das Gefühl, als ob er die letzten Wochen ein rechter Esel gewesen sei, als ob jetzt plötzlich eine Binde von seinen Augen fiele. Er sah sich mit Lottchen glücklich im eigenen Hausstande, versöhnt mit Freund und Bruder, ihr Helfer und Wohltäter – zu dem reichte sein Geld vollkommen aus. Aber in diesem Augenblicke rief eine Stimme von der Straße: »Gratuliere, Herr Kolter! Mein Schwiegerpapa hat mir alles erzählt. Kommen Sie nachher ein wenig in die ›Sonne‹! Hätte etwas mit Ihnen zu besprechen.«
Es war Herr Wagmeyer, der in seinem Einspänner die Gegend wieder einmal unsicher machte.
»Du siehst, ich muß hin,« sagte Karl, und nahm nach herzlichem Dank für das freundliche Anerbieten bald Abschied.
Der Sonnenwirt war bereit, ihm um mäßigen Preis Kost und Wohnung zu geben. Bald erschien auch Herr Wagmeyer. »Wo haben Sie Ihr Geld denn einstweilen untergebracht?« fragte er im Verlauf des Gesprächs.
»Herr Breunung war so freundlich, es zu nehmen.«
»Und was zahlt er Ihnen an Zinsen?«
»Vier Prozent.«
»Sehr großmütig! Freilich, es ist bei ihm reine Gefälligkeit. Zum Glück mache ich etwas mehr mit meinem Geld – oft zehnmal so viel.«
Karl horchte auf. Das wäre das Rechte. Wer das auch verstände.
»Sie wollen nicht Bergmann bleiben?« fuhr Herr Wagmeyer fort. »Mein Schwiegervater hat's mir gesagt, kann's begreifen. Vielleicht hätte ich etwas für Sie. Ich habe von einem bösen Schuldner den Steinbruch hier vor dem Ort übernehmen müssen, der, ordentlich betrieben, sich rentieren muß, mir aber etwas abgelegen ist. Wollen Sie ihn haben? Ueber den Preis werden wir schon einig.«
Und zungenfertig entwickelte er das Nähere. Es klang verlockend, und doch trug Karl Bedenken, all sein Geld hineinzustecken. Wagmeyer erklärte sich auch zum gemeinsamen Betrieb bereit. Das war schon sicherer. »Nun, überlegen Sie sich die Sache,« schloß der Kaufmann, »ich weiß einen Unternehmer, der den Bruch gern pachtete, dachte aber, ich könnte Ihnen einen Gefallen tun.«
Karl stand auf, zog den Sonnenwirt in eine stille Ecke und fragte ihn um Rat. Aber der dicke Weise sprach sich nicht bestimmt aus. »Gerade weil's mein Tochtermann ist, sage ich weder ja noch nein. Da mußt du selbst zusehen.«
»Am liebsten wäre mir eine Art Probezeit,« sprach Karl. »Wenn er mich einstweilen als Aufseher anstellen und mir zu etwas höheren Zinsen verhelfen wollte, dann könnte man nach einem Jahre weiter sehen.«
»Du bist ein Sicherheits-Kommissarius!«
»Ich wag's ihm auch nicht vorzuschlagen. Sprechen Sie einmal mit ihm.«
»Nun, dir zuliebe,« sprach der Sonnenwirt gnädig. »Wagmeyer, komme einmal eben her!« Und er trug ihm Karls Wunsch vor, zunächst Aufseher zu werden.
»Wenn ich auch anfangs wenig verdiene,« setzte Karl hinzu; »vielleicht können Sie derweil mein Geld in Ihrem Geschäfte gebrauchen und mir etwas höher verzinsen.«
Wagmeyer zuckte die Achseln, ließ sich aber schließlich erbitten. So legte Karl sich sehr befriedigt zur ersten Nachtruhe im neuen Quartier nieder.
*
Ein voller Monat war vergangen, weder für Karl noch für die ihm Nächststehenden auf die angenehmste Weise. Sein Weg führte ihn jetzt nicht mehr täglich an Lottchens Wohnung vorüber, seine Besuche wurden seltener, sein Wesen mürrisch und reizbar, von Hochzeit sprach er nie, wohl aber mit fieberhafter Gier von Geld, von Erwerben, von größeren Mitteln. Sie mußte fast argwöhnen, das Verhältnis sei ihm leid geworden, und Stolz und Liebe kämpften in ihrem jungen Herzen, ob sie ihm sein Wort zurückgeben sollte. Die ruhige Mutter hielt sie davon ab: »Er ist krank,« sagte sie; »gönne ihm Zeit, zu genesen.« Lottchen ließ sich gern solchen Trost einreden, denn sie liebte Karl von Herzen. Aber ganz ihre Bekümmernis zu verbergen gelang ihr nicht. Und da er auch stumme Vorwürfe nicht liebte, so blieb er allmählich ganz weg.
Friedrich tat für Lottchen, was er für sich selbst nicht fertig gebracht hatte: Er redete dem verwandelten Freunde einmal scharf ins Gewissen und erinnerte ihn an frühere Gelöbnisse. Aber da kam er schön an! Er mußte so heftige und bittere Worte hören, daß er sich verletzt zurückzog und fürs erste jeden Verkehr abbrach.
Mit seinem Bruder war Karl zerfallen. Sie suchten sich zu meiden, und wenn sie zufällig einander begegneten, so sah jeder einen andern Weg.
Dagegen war er in der »Sonne« wohlangesehen, bei Wirt und Gästen, ohne des recht froh werden zu können. Daß Emilie sich sehr artig und freundlich zeigte, vermehrte sogar seine Unruhe und Unzufriedenheit.
Aber der Bann, der auf dem unseligen Schatzfinder ruhte, sollte bald gebrochen werden, freilich auf rauhe Art.
Wenn er sich auch seinen wahren Freund entfremdet hatte, der sogenannten guten Freunde besaß er noch mehrere. Und einer derselben, ein Bummler, der immer alle Neuigkeiten zuerst wußte, machte sich eines Tags die Freude, ihn trotz des weiten Wegs im Steinbruche aufzusuchen. »Weißt du's schon?« keuchte er, ein Zeitungsblatt schwingend. »Wagmeyer ist kaputt – seit drei Tagen fort mit der Kasse – hat Weib und Kinder sitzen lassen – wahrscheinlich nach Amerika!«
Karl staunte die Nachricht an, ohne lesen zu können, es ward ihm dunkel vor den Augen, er mußte sich setzen. Dann sprang er plötzlich auf und stürzte wie ein Rasender dem Städtchen zu, zur »Sonne« hin.
»Ist's wahr?« schrie er den Wirt an, der, die Brille auf der Nase und einen Brief in der Hand, am Schreibtische saß und erschrocken auffuhr. »Ist Euer Tochtermann verschwunden?«
»Leider ja! Schrei nicht so!«
»Und mein Geld?«
Der Wirt zuckte die Achseln.
»Und da sollte ich nicht schreien? Aber ich laß mich nicht so betrügen – ich halte mich an Euch –«
»Steh zu deinen Worten, Bursche! Was habe ich damit zu schaffen? Habe ich dir etwa dazu geraten? Hast du's ihm nicht aufgedrungen?«
»Aber Ihr wußtet, wie er stand! Ihr hättet mich warnen müssen! Ich halte mich an Euch!« Im halben Wahnsinn faßte er den Dicken und schüttelte ihn, als ob er die blanken Goldstücke aus ihm herausschütteln könnte.
»Zur Hilfe!« schrie der Sonnenwirt, und als die beiden Brauburschen herbeieilten und Karl losließ, fuhr er ihn an: »Aus dem Hause, Lump! Keine Nacht bleibst du mehr unter meinem Dache! Was steht ihr noch und gafft? Soll er mich vollends totmachen? Schmeißt ihn heraus!«
Karl fühlte sich von vier kräftigen Armen ergriffen, wütend zerrte er und trat um sich, aber das verstanden die beiden schlecht; im nächsten Augenblicke lag er barhaupt, mit zerrissenem Rock und blutend auf der Straße.
Zwar erhob er sich gleich wieder, und der Fall hatte ihm keinen besonderen Schaden getan. Aber was nun? Wohin? Die Aufregung war zu furchtbar.
Es sauste ihm in den Ohren, es flimmerte ihm vor den Augen, er taumelte und wäre hingefallen, hätte ihn nicht ein Mann aus der herbeiströmenden Menge noch rechtzeitig in seinen Armen aufgefangen. Eine wohltätige Ohnmacht entrückte den Aermsten für eine Zeitlang dem Bewußtsein seines Elends.
Als er wieder völlig zu sich kam, fand er sich in einem niedrigen Dachstübchen im Bette. Der treue Friedrich saß neben ihm und sagte: »Ruhig, lieber Freund! Mußt wenig denken und gar nicht sprechen, um so eher wird's wieder gut.«
Zunächst ward's freilich schlimmer. Ein heftiges Fieber ergriff den Bedauernswerten, und lange wechselten wilde Phantasien mit Zuständen der tiefsten Erschöpfung ab. Aber er ward vortrefflich gepflegt, und endlich siegte die Jugendkraft.
Mit der Krankheit schien auch der böse Geist von ihm gewichen zu sein. Der erste fieberfreie Tag war köstlich. Karl freute sich des bloßen Daseins, wie er so still und schmerzlos im reinen Bette lag. Die jüngste Vergangenheit kam ihm wie ein wüster Traum vor, der ihn bald um Bruder und Freund, um Liebe und Ehre gebracht hätte. Aber jetzt war er aufgewacht und tat im stillen das ernste Gelübde: Es soll anders werden, ich will solcher Treue nicht unwürdig sein!
Er sprach noch nicht darüber, dazu schämte er sich zu sehr, und nicht Worte, sondern Handlungen sollten seine Reue bezeugen. Er wagte auch nicht, sich nach Lottchen zu erkundigen, und daß man ungefragt ihm nichts von ihr erzählte, schien ihm bedenklich. Die Befürchtung, ihre Achtung und Liebe verloren zu haben, trieb ihm das Blut ins Gesicht, während er mit merkwürdiger Gelassenheit an den Verlust seines Geldes, ja an den Streit mit dem Sonnenwirt denken konnte. »Wäre ich erst wieder auf den Beinen!« dachte er. »Ich verkaufe meine Seelenruhe nie wieder um schnöden Mammon. Mich hat der Reichtum nicht glücklich, sondern hart, lieblos und elend gemacht. Gott sei Dank, ich bin geheilt, und es ist noch nicht zu spät zur Besserung.«
Mit der zurückkehrenden Gesundheit stellte sich eine gewaltige Eßlust ein, und da freute und wunderte er sich über die ausgezeichnete Verpflegung: Kräftige Suppen, Hühnerfleisch, Wein. »Du übertreibst es!« sagte er, als Friedrich ihm wieder einmal eine solche Mahlzeit gebracht hatte und vergnügt zusah, wie es ihm schmeckte.
»Laß dir deshalb keine grauen Haare wachsen; ich komme billig dazu. Ich brauche es bloß aus Herrn Breunungs Küche abzuholen.«
»Was?« rief Karl überrascht. »Er ist freigebig, aber mir gegenüber – ich meine, – er grollt mir wegen meines Austritts, wegen der Zurückziehung des Geldes – verdient habe ich's wahrlich nicht um ihn, daß er so gütig ist.«
»Mußt wohl einen guten Fürsprecher bei ihm haben.«
»Den Obersteiger?«
»Möglich,« nickte Friedrich lächelnd.
An einem der letzten Oktobertage durfte Karl zum ersten Male wieder ausgehen, und lenkte zunächst seine Schritte zu Lottchens Wohnung hin. Er ging noch langsam und ward deshalb bald von einem rüstigeren Wanderer eingeholt, der ihm, sobald er sich umwandte, um zu sehen, wer komme, mit freundlicher Stimme zurief: »Grüß Gott, Karl. Geht's bald wieder? Warte, ich gebe dir den Arm.«
Gerührt drückte Karl dem versöhnten Bruder die Hand.
Frau Wilke saß am Spinnrade, ziemlich wohl und munter, und ruhig und freundlich wie immer. Kein Wort des Vorwurfs kam über ihre Lippen, ja sie wußte ihm sogar jede peinliche Erklärung zu ersparen. »Sie behandeln mich alle, wie ein rohes Ei,« dachte er dankbar. Aber Lottchen fand er nicht daheim.
»Hat Minchen dir's nicht erzählt?« fragte Frau Wilke verwundert. »Sie ist schon in der vierten Woche bei Breunungs; beide Kinder und die Mutter selbst haben die Diphtheritis gehabt.«
Karl machte große Augen, ihm ging ein Licht auf. Voll Freude, Dankbarkeit und Hoffnung schlug er den Weg zu der prächtigen Wohnung des ebenso gütigen, als reichen Herrn ein. Er wollte ihm danken, um Arbeit bitten, und Lottchen sehen.
Herr Breunung ließ ihn kaum zu Worte kommen; »Gern geschehen für den Verlobten des wackeren Mädchens, die mir Frau und Kinder mit solch aufopfernder Treue gepflegt, man kann sagen, vom Tode errettet hat. Gut, daß Sie wieder genesen sind, auch vom Geldfieber. Sie können anfahren, sobald der Knappschaftsarzt es zugibt; wir betrachten Sie für die Zwischenzeit als beurlaubt. Und sobald Sie heiraten, habe ich auch eine Wohnung für Sie. – Da geht Lottchen in den Garten, um ein paar Trauben zu schneiden.«
Karl verstand den Wink und eilte ihr nach, so rasch er vermochte. Erst fern vom Hause, in der äußersten Ecke, holte er sie ein. Sie stand, ihm den Rücken zuwendend, am Spalier, und hatte offenbar keine Ahnung von seiner Nähe, sondern hielt ihn für einen Gärtnerburschen. »Liebes Lottchen,« begann er zaghaft; da fuhr sie zusammen, ließ Körbchen und Messer fallen, und lag, ehe er um Verzeihung bitten konnte, weinend an seiner Brust. – – –
Mitten im Winter war die Hochzeit, auf der sogar Karls Schwägerin nicht fehlen durfte und der gute Friedrich recht ausgelassen war. Ernster zeigte sich bei aller Freundlichkeit der junge Ehemann. »Ich muß mein Glück erst verdienen,« sagte er.
Und das versuchte er fortan redlich, als Gatte und Sohn, als Bruder und Freund, durch Fleiß und Treue, durch Frohsinn, Liebe und Freundlichkeit. Auch äußerlich konnte er etwas gutmachen. Durch Herrn Breunungs Bemühung waren aus dem Bankrotte Wagmeyers doch noch etwa zwölfhundert Mark für Karl gerettet worden, und bald darauf begann sein Bruder zu bauen und kaufte Friedrich endlich die Kreuzwiese.