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Eifersucht.

Erstes Kapitel.

Der Steiger Ludwig Karst saß an einem warmen Sommerabend in der grünen Laube des wohlgepflegten Gartens, welcher das neue schmucke Häuschen auf zwei Seiten umschloß. Er rauchte vergnügt aus der kurzen Pfeife, hörte den klaren, nie versiegenden Brunnen plätschern und blickte mit Wohlgefallen über die Beete auf die üppige Wiese und das fruchtbare Ackerstück hin. Er war nicht allein. Die schönste Frau der ganzen Gegend saß ihm gegenüber, auf ihrem Schoße einen dicken, eben eingeschlafenen Säugling. Und Feld und Au, Haus und Garten, Brunnen und Laube, Weib und Kind waren sein!

Dazu jung und gesund, von anständiger Herkunft und ehrenhafter Verwandtschaft, beliebt bei Vorgesetzten und Untergebenen – hatte er nicht alle Ursache, sich glücklich zu schätzen?

Er tat es, von einzelnen bösen Stunden abgesehen, auch von Herzen und war seinem Schöpfer dankbar. Er tat es besonders lebhaft wieder in diesem Augenblicke, als er seinen früheren Genossen, Eduard Halbmann, wie so oft stark angetrunken, an der Hecke vorüberwanken sah. Denn so geht es uns schwachen Menschen ja: Wir empfinden das Gute wie das Schlimme erst recht durch den Gegensatz. Eduard war mit ihm in der Volks- und auf der Steigerschule gewesen, hatte als Bub mit ihm gespielt und als junger Bursche mit ihm gearbeitet, auch zusammen gedient hatten sie. Aber allmählich trennten sich ihre Wege. Ludwig blieb fleißig und nüchtern und kam in die Höhe, Eduard ergab sich dem Leichtsinn und es ging abwärts mit ihm. Der eine ward Steiger, der andere blieb Bergmann. Der eine, von Haus aus nicht ganz unbemittelt, brachte es zu einem eigenen Besitztum; der andere ward schließlich abgelegt. Nicht mit Selbstüberhebung, sondern mit Ernst und Wehmut schaute Ludwig dem Unglücklichen nach.

Aber nun wird der kleine Junge wach, und die Eltern dürfen wieder laut sprechen. Der glückliche Vater hält die böse Pfeife weit weg, beugt sich über seinen Sprößling und küßt ihn, dann wendet er sich plötzlich aufwärts und gibt auch der Mutter einen schallenden Kuß.

»Aber, Ludwig!«

»Warum denn nicht? Sieh, Anna, hübsch warst du immer; aber so schön wie gerade jetzt, bist du mir noch nie vorgekommen.«

Sie lächelte.

Zeichnung R. Trache.

»Weißt du auch, wo ich dich zuerst gesehen habe?« fuhr er fort. »Das heißt, gesehen habe ich dich ja hundertmal als Kind, das meine ich nicht. Aber eines Tages, als du schon bei Wolfgangs dientest, du mochtest siebzehn Jahre alt sein; ich kam aus der Grube und du vom Brunnen, im dunklen Kattunkleidchen mit schneeweißer Schürze, den Kopf stolz erhoben, denn du trugst den Eimer darauf, mit geröteten Wangen, und du sahst mich so freundlich mit deinen großen Augen an – weißt du noch?«

»Nein, ich erinnere mich durchaus nicht mehr, der schwarzen Bergleute begegnen einem gar viel.«

»Ich blieb stehen, sah dir nach und bewunderte deine zierliche Kleidung, deine dicken Zöpfe, deinen sichern Gang, und dachte: Das wäre die Rechte! Und als du verschwunden warst, da schwebte dein Bild mir noch immer vor Augen und all die andern Mädchen am Brunnen kamen mir wie schlampige alte Weiber vor.«

»Mache mich nicht eitel,« sagte sie lachend. »Das tat zum großen Teil, wie du selbst schon andeutest, die Sauberkeit und Zierlichkeit der Kleidung. Die selige Frau Wolfgang war eine tüchtige Herrin, sie hielt strenge darauf, daß wir immer rein und ordentlich erschienen. »Eine kluge Greisin soll den Menschen noch gefallen,« sagte sie wohl, »aber wenn wir uns hängen und verkommen lassen, so ist es mit dem bißchen Schönheit bald vorbei.«

»Wie lang bist du eigentlich in dem vornehmen Hause gewesen?«

»Von meinem fünfzehnten bis zum dreiundzwanzigsten Jahre – bis der schwarze Mann mich in sein kleines Häuschen lockte.«

»Bereust du es?« fragte er, und legte seine breite Hand auf die ihrige.

»Nein,« sprach sie herzlich. »Es sieht jetzt leider dort nicht mehr so gut aus. Fräulein Ida dauert mich mit ihrer bösen Stiefmutter.«

»Warum mußte der Alte auch sogleich wieder heiraten?«

»Das kann man ihm am Ende nicht übelnehmen. Wenn er sich im Werk und auf dem Kontor geplagt, über Meister und Arbeiter geärgert hat, so will er wenigstens daheim Ordnung und Erholung finden, Fräulein Ida hätte ihm das freilich auch besorgt, so jung sie noch ist.«

»Aber die Tochter des reichen Hüttenbesitzers wird nicht lange ledig bleiben.«

»Das hat der Vater auch wohl gedacht, und darum verdenke ich ihm nicht, daß er wieder Hochzeit gemacht hat. Aber daß die Stiefmutter das schöne Mädchen nun an ihren Vetter verkuppeln will, an den wüsten alten Menschen, bloß weil er ihr Vetter und im Geschäft tüchtig ist, das ärgert mich. Und Herr Wolfgang ist seiner jungen Frau gegenüber zu schwach.«

»Aber Idchen hat, soweit ich sie kenne, ihren eigenen Kopf. Weißt du, wenn ich dich zuweilen besuchte oder Sonntags zu einem Spaziergang abholte, dann hatten wir vor dem jungen Dämchen fast mehr Respekt, als vor der gestrengen Frau Mama.«

»Ja, an Entschlossenheit und Bestimmtheit fehlt's ihr nicht. Aber auf die Dauer hat ein Mädchen gegen beide Eltern, gegen die ganze Umgebung doch einen schweren Stand.«

»So ist überall etwas. Ich wollte auch, wir hätten unsern alten Direktor noch.«

»Gefällt dir der neue nicht? Es ist doch ein auffallend hübscher Herr.«

»Ei, hast du ihn schon so genau gesehen?«

»Vorigen Sonntag, in der Kirche.«

»Und das nennt ihr Weiber dann Andacht. Nun ja, gegen sein Aeußeres sage ich nichts. Aber er ist genau, sehr genau, und paßt scharf auf den Dienst.«

»Das schadet euch nichts – und du brauchst dich nicht zu scheuen,« setzte sie begütigend hinzu.

»Gott sei Dank, nein! Und ich hoffe auch, der Uebereifer legt sich mit der Zeit. Neue Besen kehren immer besonders gut.«

»Aber wir sitzen hier und schwatzen und vergessen die Zeit. Ich muß hinein und das Essen fertig machen. – Still, Lude! Du kommst so lange in die Wiege!«

»Gib ihn mir!«

Er legte die Pfeife weg und trug auf seinen Armen die dicke Puppe stolz im Garten auf und ab, bis sie wieder einschlief. Eine Viertelstunde später saßen die jungen Eheleute vergnügt beim einfachen, aber wohlschmeckenden Abendessen, am gedeckten Tische, denn anders tat's die vornehme Anna nicht. »Das Tischtuch ist nicht teuer, und waschen kann ich auch,« sagte sie, »es schmeckt so besser als vom bloßen Holz.« Und Stube und Kammer, das ganze Haus stimmte mit diesem kleinen Zuge überein. – Ludwig spottete wohl zuweilen: »Wenn einmal ein halb Dutzend kleiner Trabanten hier herumlaufen, so werden dir die Flausen vergehen – du bist nicht mehr bei Wolfgangs, Prinzessin Anna!« Aber einstweilen saß er doch lieber in seinem schmucken, reinen Zimmer, wo er auch rauchen, auch ein Glas Bier trinken, auch ein Bergmannslied singen durfte, als in der schmierigen, heißen und dunstigen Wirtsstube.

*

Zweites Kapitel.

Am ruhigsten kann eigentlich ein gesunder Bettler schlafen, wofern ihn gerade weder Hunger noch Kälte quält. Ihm verhagelt es weder die Petersilie noch den Weizen. Ihm verbrennt nicht Haus und Scheune, auch wird ihm nichts gestohlen. Der Arbeitsmangel läßt ihn kalt, das Sinken der Staatspapiere rührt ihn nicht. Selbst wenn ein Krieg droht, bleibt der Habenichts beim allgemeinen Schrecken unbewegt.

Mit jedem Besitz dagegen, und sei er noch so klein, ist eine gewisse Furcht und Sorge verbunden, und nicht die geringste seit alten Zeiten mit dem vielerstrebten Besitz einer schönen Frau.

Ludwig hatte seit der Hochzeit auch schon manch schlechten Witz, manch boshafte Bemerkung von seinen Kameraden hören müssen, doch ohne sonderlich darauf zu achten oder gar zornig zu werden. Er lachte dazu im Vollbewußtsein gesicherten Glücks. Denn Anna zeichnete sich nicht nur durch Schönheit, sondern auch durch Klugheit und Sittsamkeit aus und hatte ihm nach dieser Seite hin nie Anlaß zur Klage gegeben. So hörten die Sticheleien aus Mangel an Wirkung allmählich von selber auf, wie es denn gegen Spott überhaupt keine bessere Waffe gibt als Gleichgültigkeit.

Aber der holde Friede der jungen Ehe sollte doch einmal schrecklich gestört werden.

Ein paar Tage nach der im ersten Kapitel erwähnten Unterredung kehrte Ludwig, nichts Böses ahnend, etwas später als gewöhnlich, von der etwa zwanzig Minuten entfernten Grube nach Hause zurück, als ihm in der Mitte des Weges Eduard begegnete.

»Hast du nicht ein paar Nickel für ein Päckchen Tabak?« sagte der verkommene Mensch nach der ersten Begrüßung.

»Für Tabak wohl,« antwortete Ludwig, indem er ihm etwas reichte, »ich fürchte nur, es geht alles für »blauen Zwirn« darauf.«

»Und wenn auch! Was hat unsereiner Besseres? Ohne Schnaps hielte der Henker solch ein Leben aus.«

»Ja, wovon lebst du eigentlich?«

»Ich schlage mich durch, so gut es geht, greife mit an, wo's etwas zu schaffen gibt – 's ist freilich ein saures und unsicheres Stück Brot, du solltest ein gutes Wort beim Herrn Direktor für mich einlegen, dann käme ich wieder an.«

»Lieber Eduard«, (man nennt einen Menschen, dem man nicht helfen kann oder will, immer »lieb!«), »da kennst du den neuen Direktor schlecht! Ich werde mich hüten. Es nutzte nichts.«

»Du hast doch einen Stein bei ihm im Brett.«

»Wieso?«

»Daß ihr schon auf dem Besuchfuß steht.«

»Was soll das heißen?« fragte Ludwig scharf.

»Nun, schnauze mich nicht so an! Was kann ich dafür? Ich suchte dich eben daheim auf, die Haustür stand offen, ich klinke leise die Stubentür auf und will eben eintreten, da springt mir deine Frau entgegen, vertritt mir den Weg, nötigt mich wieder hinaus: Was wollen Sie? Warum klopfen Sie nicht an? (Du weißt, sie hat's immer hoch im Kopf.) Mein Mann ist nicht hier.« Damit stand ich wieder draußen. Sie sah hübsch aus, trotz des Zornes, mit den roten Bäckchen und den großen, grimmigen Augen. Aber so rasch hatte sie mich nicht hinausgeschoben, daß ich nicht gesehen hätte, wer noch bei ihr war.«

Er schwieg und nötigte dadurch Ludwig, zu fragen: »Wer denn?«

»Der neue Direktor. Ein hübscher Kerl! Das muß ihm der Neid lassen.«

»Wie mag der sich in mein Haus verirrt haben?«

»Ja, was kann man sagen?«

»Vielleicht war er auf einem Spaziergang müde geworden, und –«

»Möglich.«

»Oder er hat schon gehört, daß mein Brunnen das beste Wasser weit und breit hat«

»Das wird's sein: Er hat einmal von deinem Brunnen trinken wollen,« nickte Eduard und verhielt sich ganz ernst. »Na, halte die vornehme Bekanntschaft warm, und denke an mich, wenn eine günstige Gelegenheit kommt.«

Eilfertig stapfte Ludwig heim, er hätte den hohen Gast gerne noch vorgefunden. Aber er kam zu spät. Es wunderte ihn, daß ihm Anna nicht gleich das wichtige Ereignis verkündete. Nein, sie sprach kein Sterbenswörtchen davon und schien merkwürdig befangen zu sein. Schweigend deckte sie den Tisch, sprach auch während der Mahlzeit wenig, und gab ihrem Mann im Essen kein gutes Beispiel.

Ludwig war sonst sehr redselig und hatte von Anna mehrmals in Scherz und Ernst hören müssen: »Dir darf man kein Geheimnis anvertrauen – du trägst das Herz auf der Zunge – du schwatzest alles aus!« Aber zuweilen konnte er auch hartnäckig schweigen, vielleicht gerade da, wo's nicht angebracht war. So diesen Abend. Wie leicht war es, zu fragen: War der Direktor hier? Was hat er gewollt? Acht Wörtchen, im Nu gesprochen, hätten vielleicht die bange Spannung gelöst. Aber nein! »Sie soll selbst anfangen – sie kann's nicht vergessen haben – sie erzählt mir ja sonst alles – wenn sie's verschweigt, so steckt mehr dahinter – dummes Zeug! Sie wird's schon sagen, sobald ihr die Stille langweilig wird.« Aber er wartete und wartete vergeblich, Anna begann allerdings endlich zu sprechen, aber durchaus nicht von dem Besuch. Nein, als ob dieser Abend vollständig hätte verdorben werden sollen, hatte sie einen recht unangenehmen Stoff gewählt. Ludwig war in seiner Gutmütigkeit bis zum Betrage von fünfhundert Mark für einen leichtsinnigen Wirt und Krämer Bürge geworden, und nach dessen Geschäft und Aussichten erkundigte sie sich jetzt sehr umständlich; sie nahm dabei von vornherein an, daß es ihm schlecht gehe, und war deshalb weder erstaunt noch betrübt, als sie ihre Meinung bestätigt fand. So ward der Abend für den armen Ludwig in jeder Beziehung unangenehm, doch auch solche Stunden gehen vorüber.

Und in der tauigen Frühe des nächsten Morgens zog wieder der alte Frohmut in seine Seele ein. »Wer weiß, ob Eduard sich nicht versehen, ob er mich nicht belogen hat? Und sollt's je wahr sein – was ist dabei? Brauchte sie mir eine solche Kleinigkeit zu berichten? Ich müßte mich schämen, wenn sie gestern abend in mein Herz hätte sehen können. Um mich zu strafen, frage ich sie erst recht nicht.« Er nahm zärtlich Abschied und wanderte, ein Liedchen pfeifend, vergnügt der Grube zu. Auch die dumme Bürgschaft drückte ihn nicht. Ein junger, gesunder Mensch kann an einem schönen Sommermorgen nun einmal nicht gut traurig sein.

Aber die Eifersucht hat, einmal geboren, ein gar zähes Leben, nährt sich von allem und wächst schnell. Etwa eine Woche später hatte gegen Abend ein warmer Regen die Fluren zu erquicken begonnen, das junge Ehepaar aber aus dem Garten in die Stube getrieben, und da saß nun Ludwig, erst kurz von der Arbeit gekommen, behaglich im Korbsessel, stopfte sich eine Pfeife und hörte wohlgefällig dem strömenden Regen zu. Da fiel sein argloser Blick auf den Kohlenkasten und verfinsterte sich alsbald. Er stand auf, ging hin, und hob zwischen Kasten und Ofen behutsam mit zwei Fingern etwas auf.

»Ein Zigarrenstummel!« rief er.

Wie der Wind war Anna, die mit dem Rücken gegen den Ofen an der Wiege gesessen hatte, aufgesprungen und an seiner Seite.

»Sollte ich so schlecht gekehrt haben? Wahrhaftig! Fort mit dem ekligen Ding!« Damit riß sie ihm das Endchen aus der Hand und schleuderte es durch das eine offene Fenster weit weg.

»Wo mag's herkommen?« fragte Ludwig merkwürdig leise.

»Hast du Verschwender nicht selbst gestern abend zur Abwechslung Zigarren geraucht?«

»Das ist auch wahr,« murmelte er.

Aber überzeugt war er durchaus nicht – weit entfernt! Seine Zigarren waren dünner und heller.

Anna ließ ihm keine Zeit, darüber zu grübeln. Sie sprach mit großer Lebhaftigkeit, erst über den kostbaren Regen, und wie gut alles darauf wachsen werde, dann, als das Wetter nicht mehr herhalten wollte, vom Sohne ihrer alten Base, der aus Amerika geschrieben hatte, – sie schien den Brief fast auswendig zu können. Ludwig hörte ihr geduldig, fast bewundernd, aber mit bitteren Gedanken zu.

»So jung, so schön, so klug, so lieb – und vielleicht – – Aber ich will aufpassen!«

Warum sprach er nicht? Warum fragte er nicht? Weil er leider schon fürchten zu müssen glaubte, keine wahrheitsgetreue Antwort zu erhalten. »Als ich ihr das Stümpfchen wies, das war deutlich genug gefragt,« dachte er. »Sie hatte es eilig, es wegzuschaffen, gab's dann für mein eigenes aus und klagte sich selbst an, sie habe schlecht gefegt, wer's glaubt! Sie will die Wahrheit nicht sagen, das ist klar. Aber ich werde aufpassen.«

Es ist kein vergnügtes Leben, wenn man der nächsten Umgebung nicht recht trauen darf. Trotz aller Selbstbeherrschung Ludwigs, trotz aller Klugheit und Liebenswürdigkeit Annas schlichen ihm die nächsten Tage trübe dahin. Einmal versuchte er von hinten herum auf den Busch zu klopfen, indem er gelegentlich beim Lesen der Zeitung das Gespräch auf die Türken lenkte, die ihre Weiber einsperren, sich keinem fremden Manne unverschleiert zeigen lassen, und doch noch zuweilen in den Fall kommen, eine in einen Sack zu stecken und zu ersäufen.

»Ich bedaure die armen Geschöpfe,« sagte Anna.

»Freilich, es sind eben Sklavinnen. Für deutsche Frauen paßt Freiheit und Vertrauen – das reimt sich sogar!« setzte er lächelnd hinzu.

»Eine Frau, die gehütet werden muß, wäre mir, wenn ich Mann wäre, des Hütens nicht wert. Eine rechte Frau wird überall und allezeit ihr eigener Wächter sein.«

»Magst recht haben, doch Vorsicht schadet nicht. Meidet auch den bösen Schein, heißt es.«

Sie sah ihn einen Augenblick scharf an, als ob sie etwas erwidern wollte. Aber sie unterdrückte es und ging gleich darauf unter irgend einem Vorwande in die Küche. Seufzend blickte er ihr nach.

*

Drittes Kapitel.

Eines Morgens hatte Ludwig auf dem Bureau zu tun, fragte aber vergebens nach dem Herrn Direktor. »Er ist spazieren gegangen, ehe es gar zu schwül wird.«

»Wo hinaus?«

»Wie gewöhnlich, auf Wolkenstein zu.«

Ludwigs Herz zog sich krampfhaft zusammen.

»Um elf, spätestens halb zwölf Uhr ist er jedenfalls zurück,« rief man ihm noch nach. Aber er beschloß, dies nicht abzuwarten, sondern sofort ganz unerwartet heimzukehren. Er meldete sich krank, und man brauchte ihn nur anzusehen, um ihm zu glauben, so sehr griff ihn die Aufregung an. Trotz der Sonnenglut eilte er mit langen Schritten nach Hause zu, doch bog er in ziemlicher Entfernung von seiner Wohnung von der Straße ab und schlug einen Feldweg ein. Er wollte ungesehen die Haustür erreichen, und es gelang ihm.

Sie war nicht verschlossen, aber zugeklinkt, und einen Augenblick stand er verschnaufend still. Da regte sich etwas im Innern, entschlossen riß er die Tür auf, und der Direktor stand vor ihm, von Anna höflich bis zur Tür geleitet. Beide starrten ihn höchst überrascht an. Doch der Direktor faßte sich zuerst.

»Schon zurück, Karst? Ist etwas passiert?«

»Ich habe – ich bin nicht wohl,« preßte Ludwig mühsam heraus.

»Sie sehen allerdings sehr rot im Gesichte aus – Blutandrang nach dem Kopfe – leiden Sie sonst auch daran?«

»Jawohl, zuweilen, das heißt, doch sehr selten – eigentlich nicht –«

»Nun, kein Wunder, bei der Hitze. Machen Sie einstweilen fleißig kalte Umschläge, Sie haben ja vorzügliches Wasser hier. Ich will Ihnen den Doktor herausschicken. Gute Besserung. – Adieu, liebe Frau Karst! Danke nochmals für die köstliche Limonade. Eine wahre Erquickung!«

Damit empfahl er sich. Anna aber hatte schon rasch ein Leintuch in Wasser getaucht und ausgedrückt und trat jetzt mit demselben auf Ludwig zu, der schweigend aus dem Hausflur ins Zimmer getreten war. Aber ehe das Tuch seine Stirn berührte, erfaßte er es mit der Linken und schleuderte es wütend in eine Ecke. »Laß die Possen!« knirschte er; »sage mir lieber, was hat er hier gemacht?«

»Der Herr Direktor?« fragte Anna, allerdings etwas unnötig.

»Jawohl, der Herr Direktor!« schrie Ludwig, »wer sonst?«

»Stell dich doch nicht so an – schrei doch nicht so, ohne jeden Anlaß. Er war müde und durstig, und bat mich um ein Glas Wasser, und ich habe ja noch von dem selbstgemachten Himbeersaft, und auf ein Stückchen Zucker kommt's auch nicht an – es hat ihm wohlgeschmeckt – da steht das Glas noch.«

»Und ein anderes dabei – ihr habt wohl zusammengetrunken?« Paff! Paff! fielen beide, von zwei blitzschnellen Schlägen seines wuchtigen Stockes getroffen, klirrend zu Boden.

»Ludwig!« Mehr sagte sie nicht, aber dies mit seltsamer Betonung, und sah ihn starr an. In der Kammer begann der Kleine zu schreien, von dem Getöse erweckt. Sie wandte sich, um zu ihm zu gehen.

Aber da sprang Ludwig ihr nach, und ergriff ihren Arm, ihn wie einen Schraubstock in seiner kräftigen Rechten pressend. »Nicht entwischen! Erst beichten! Wie lang war er hier? Wie oft war er schon hier? Hat er nur Zuckerwasser getrunken?«

»Au, au!« rief Anna, »laß los! Du tust mir weh – au!«

Etwas beschämt ließ er ihren Arm frei, und im Nu war sie in der Kammer, setzte sich mit dem Rücken gegen die Tür und brach in lautes, bitteres Weinen aus.

Ludwig hörte ihr mit sehr gemischten Gefühlen zu. Was? Anna, die liebe Anna schluchzte vor Schmerz, den er ihr bereitet, er, der sie sonst auf Händen hätte tragen mögen? Er mußte sich besinnen, wie das alles gekommen war. – »Ach Gott, ach Gott!« hörte er sie wimmern, »was soll's werden? Ich bin bang. Wenn der Doktor nur käme! Ach Gott, er blickt so wild, so wild –«

Und wieder schluchzte sie, daß es Steine hätte erbarmen mögen.

»Anna,« rief er und klopfte, »der Doktor braucht nicht zu kommen – mache nur mal auf!«

Sie weinte leiser, regte sich aber nicht. »Mache auf!« schrie er zornig, »oder ich trete die Tür ein!«

Sie erhob sich und öffnete, aber der Anblick, der ihm darauf wurde, schnitt ihm ins Herz. Heftig atmend, wortlos, augenscheinlich in großer Angst, stand sie wie zur Abwehr vor der Wiege und sah ihn mißtrauisch an.

»Habe ich dir wirklich so weh getan?«

Sie nickte, aufs neue schluchzend.

»Hm! Nun höre, essen kann ich doch nicht. Ich gehe aus. Wenn ich wiederkomme, können wir hoffentlich ruhig zusammen reden.«

Anna ließ ihn, ohne ein Wort zu äußern, gehen. Erst als er draußen war, rief sie ihm tonlos nach: »Gehe nicht zu rasch – halte dich im Schatten – es ist furchtbar schwül – oder –«

»Schon recht!« brummte er und schritt von dannen. Nicht ziellos. Sein übervolles Herz hätte sich gern durch Klagen und Fragen Luft gemacht, und da er, besonnen in aller Leidenschaft, niemand weiter unnötig einweihen wollte, so suchte er seinen alten Kameraden Eduard auf. Aber er fand nur die arme Frau mit den drei Kinderchen daheim, denen sie nur einige eben abgekochte Kartoffeln vorsetzen konnte. Ludwig schickte das älteste Mädchen nach etwas Brot und Wurst aus.

Er war müde. Während er, die Rückkehr des Kindes abwartend, still in der Ecke saß und Frau Halbmann reden und jammern ließ, ohne sonderlich darauf zu achten, kam ihm ein seltsamer Gedanke: Wenn Eduard nun gerade heimkehrte? Wenn ihm ein Narr einen Floh ins Ohr gesetzt hätte? Wird er glauben, daß ich rein aus christlicher Liebe mitten am Werktage sein junges Weib besuche, das älteste Kind wegschicke und so lange hier sitze?« Der Trost, der in dieser Betrachtung für ihn selber lag, wirkte so beruhigend, daß er Hunger spürte und eine Schnitte Brot mit Wurst im Kreise der fremden Familie aß. »So kann auch er seine Limonade bei ihr getrunken haben, in allen Ehren!« dachte er. Darauf schlug er sich in den grünen Wald und schlenderte lange darin umher, und der vollendete das Friedenswerk. Kein Staub, keine Glut! Die frischgrünen Blätter, von der Sonne beschienen und leise vom Winde gerührt, hauchen Lebensodem aus; die Vögelein singen und schwirren hin und her; das Bächlein murmelt, das Moos ladet zur Ruhe ein. Sanft gestimmt und voll guter Vorsätze kehrte Ludwig nach Hause zurück.

»Tut's noch weh, Anna?« fragte er herzlich.

»Man sieht die blauen Flecken noch,« antwortete sie leise. »Doch das vergeht von selbst, das ist das wenigste. Aber daß du dich überhaupt an mir vergreifen konntest!«

»Ich war aufgeregt, furchtbar aufgeregt.«

»Und ist es jetzt vorbei? Geht's dir besser?«

»Ganz gut – im Leibe steckte es überhaupt nicht, sondern in der Seele.«

»O Ludwig, und ich habe doch bei Gott nicht das mindeste getan –«

»Glaub's schon. Ich war wie verrückt, das ist alles. Soll mir nicht mehr passieren. Ist es nun wieder gut?«

Sie nahm seine dargereichte Hand an, und beider Augen wurden feucht.

»Wir wollen kein Wort mehr über die dumme Geschichte verlieren,« sagte er nach einer Weile, »versprich mir nur, daß du den Direktor nie mehr über die Schwelle läßt.«

»Das kann ich nicht!« rief sie sehr entschieden.

»Wie? Das kannst du nicht? Wer ist Herr hier im Hause?«

»Du, ohne Zweifel.«

»Nun, und ich wünsche nicht, daß er hierher kommt.«

»Dann sag's ihm selbst.«

»Meinst du, ich hätte nicht den Mut dazu?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht. Was sollte ich ihm sagen, wenn er wieder einmal harmlos in den Garten tritt, sich ein Glas Wasser ausbittet? Ich verginge vor Scham, vertraust du mir denn gar nicht mehr?«

Sie hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt und sah ihm so lange aus nächster Nähe in die Augen, bis er lächeln mußte und sie küßte.

»Hole das Essen!« rief er; »ich habe einen Wolfshunger!«

*

Viertes Kapitel.

Nach einem Gewitter pflegt die Luft eine Zeitlang doppelt lieblich und angenehm zu sein, und so gestaltete sich auch das Leben des jungen Paares nach jenem heftigen Auftritte zunächst recht freundlich. – Anna schien ihrem Manne sein plötzliches Aufbrausen verziehen zu haben; vielleicht sah sie es wirklich als eine Folge der Hitze, als eine Art Krankheitsfall an. Er hütete sich wohl, jemals nur durch ein Wort darauf zurückzukommen, und fand zum Glück auch keinen Anlaß zu neuem Argwohn. Der Herr Direktor war so beschäftigt, daß er am Tage selten Zeit zu einem Spaziergang übrig behielt. Aus den Möbelsendungen, die er empfing, aus den Vorkehrungen, die er in seiner geräumigen Dienstwohnung traf, wollten weitsehende Leute schließen, daß er sich bald zu »verändern«, das heißt auf deutsch, zu verheiraten gedenke, und darüber war Ludwig froh. In seinem Häuschen, ja nur in dessen Umgebung, sah er weder ihn noch eine Spur von ihm mehr, und darüber war er doppelt froh.

Dagegen traf er einmal einen anderen hochwerten Gast daheim: Fräulein Ida Wolfgang, die ihre frühere Dienerin durch einen Besuch beehrt, dem Kleinen hübsche Geschenke mitgebracht und eine Tasse Kaffee nicht verschmäht hatte.

»Das ist ja heute ein Tag der Ueberraschungen,« sagte Ludwig nach seinem sehr höflichen Gruße.

»Hoffentlich angenehmer Ueberraschungen!« rief die junge Dame lächelnd.

»Hier jedenfalls. Und auf der Grube – nun, wir müssen es uns auch natürlich zur Ehre und Freude rechnen. Der Oberberghauptmann und mehrere Räte haben uns ganz unverhofft überfallen und alles eingehend besichtigt.«

»Aha!«

»Jetzt aber sind sie »zum praktischen Teil« übergegangen, wie der alte, freundliche Bergrat es nennt; sie sitzen beim Herrn Direktor um eine Bowle herum.«

»Und das halten alle gewiß für den angenehmsten Teil. Aber meine Zeit ist da. Ich muß heim.«

Ludwig hatte Manieren, dafür hatte die vornehme Anna gesorgt. »Darf ich die Ehre haben, Sie zu begleiten, Fräulein Wolfgang?« fragte er.

»Sehr freundlich, aber es dämmert ja kaum. Freilich, unsere Gegend ist nicht mehr so sicher wie früher.

»Leider nicht. Und da wir etwas einsam hier wohnen, so habe ich schon ernstlich daran gedacht, mir eine Jagdflinte oder einen Revolver anzuschaffen.«

»Machen Sie Ihre junge Frau nicht ängstlich. Ich meine, ein derber Stock und Ihre Fäuste täten's auch.«

Er lachte wohlgefällig. »Unbedingt nötig wär's gerade nicht. Aber wenn das Gesindel nur weiß, daß Feuerwaffen im Hause sind, wenn's zuweilen knallen hört, so nimmt es sich mehr in acht.«

»Es bleibt immerhin ein gefährliches Schreckmittel,« sagte das weise junge Fräulein.

»Nun, da Sie sich schon bereit gemacht haben, so nehme ich Ihre Begleitung an, wenn Anna nicht eifersüchtig wird.«

Sie pflegte sonst nicht so zu scherzen, und Ludwig grübelte unterwegs darüber nach, ob sie von seiner Frau etwas erfahren habe.

Am nächsten Sonntage hatte er in der Stadt zu tun und lud Anna ein, mitzufahren.

Aber sie lehnte es dankend ab, der Kleine mache unterwegs zuviel Last. »Gute Verrichtung und viel Vergnügen!« wünschte sie ihm beim Abschiede. »Wann kommst du zurück?«

»Wohl erst mit dem letzten Zuge.«

Die Bahnfahrt in der Morgenfrische war angenehm, und wenn der Tag später auch schwül wurde, so gab's in der Stadt kühle Schenkstuben mit vortrefflichem Bier genug. Eine Begegnung freilich weckte quälende Gedanken in seiner Seele aus: er stieß unversehens auf den Kaufmann, dem gegenüber er sich für den leichtsinnigen Kameraden verbürgt hatte. Sonst aber wickelten sich seine Geschäfte glatt ab, und in der Freude darüber kaufte er nicht nur für Weib und Kind ein paar kleine Geschenke, sondern auch, seinen Vorsatz ausführend, für sich selbst einen hübschen Revolver mit fünfzig Patronen dazu. Er war kein Trinker und überhaupt kein Freund übermäßiger Ausgaben; da er nichts mehr zu tun hatte, so verzichtete er auf die Abendfreuden der Stadt und fuhr schon mit dem vorletzten Zuge wieder heim.

Auf dem noch ziemlich weiten Wege vom Bahnhofe zu seiner Wohnung begegnete ihm Eduard, wie so oft gegen Abend wieder betrunken. »Sieh da, sieh da!« lallte er, »freut mich, daß ich dich treffe, alter Kerl! Wir haben lange nicht zusammen angestoßen – komm mit!«

»Ich habe genug,« erwiderte Ludwig nicht sehr erfreut und entzog seine Hand dem langen freundschaftlichen Druck. »Ich sollte fast meinen, du auch.«

»Ich bin nicht betrunken! Meinst du, ich wäre betrunken?«

»Desto besser – ich hab's auch noch nicht behauptet. Aber ich geh heim.«

»Tust am Ende wohl daran!« höhnte der verkommene Mensch mit einem tückischen Blick; »er ist eben auch wieder da – Dämmerstündchen, Plauderstündchen, Schäferstündchen, hahaha!«

Damit schwankte er weiter. Ludwig war im Nu heiß und rot geworden, und ärgerte sich darüber. »Soll ich mir von dem Kerl die gute Laune verderben, mein braves Weib verdächtigen lassen? Er lügt, um mich zu reizen.« Aber dann kamen urplötzlich wieder andere Gedanken: »Warum wollte sie durchaus nicht mitfahren? Ich habe ihr so zugeredet, und sie geht sonst so gern einmal zur Stadt. Wenn er wirklich da wäre, es taugte nicht. Jetzt ist wahrhaftig keine Zeit für einen Junggesellen, eine junge einsame Frau zu besuchen. Ich habe ihr so ernstlich untersagt, ihn je wieder über die Schwelle zu lassen. Ha, wenn ich ihn treffe. – – Ruhig Blut, ruhig Blut!« ermahnte er sich dann selbst wieder, »ich will ruhig bleiben, ganz kalt, ganz ruhig und kalt.« –

Aber dabei ging er sehr rasch, und wenn man an einem Sommerabend nach einem solchen Tage und mit solchen Gedanken läuft, so wird man sehr heiß. Das Hemd klebte ihm am Leibe, und dicke Tropfen liefen über seine Stirn; er keuchte. Erst in der Nähe seines Hauses nahm er die leisen, schleichenden Bewegungen einer Katze an.

Behutsam schwang er sich, statt durchs Törchen zur Haustür zu gehen, von der Seite her über den niedrigen Zaun und glitt geräuschlos in den Garten. – Er brauchte nicht weit vorzudringen. Bald sah er, selbst vor Gesträuch verdeckt, genug und übergenug. – Denn die Dämmerung reichte gerade noch hin, im offenen Fenster Anna, und vor demselben den Direktor zu erkennen, beide eifrig miteinander flüsternd. Ludwig horchte gespannt, doch ohne viel zu verstehen, dagegen umklammerte seine bebende Hand krampfhaft den Griff der Mordwaffe. »Sechs Schüsse!« dachte er ingrimmig, »es reicht für uns alle aus!« Ein Kuß, eine Liebkosung, ja nur ein zärtliches Wort, und drei Menschen waren unglücklich.

Jetzt erhob sich Annas Stimme ein wenig. »Ich wag's nicht, ich wag's wirklich nicht!«

Zeichnung R. Trache.

»Schlange!« knirschte Ludwig inwendig. Der Direktor schien sie zu beschwichtigen.

»Wenn er uns jetzt überraschte.«

»Er kommt ja erst um halb elf Uhr. Nur noch einmal, nur noch ein einziges Mal!«

Ludwig hob den Revolver.

»Ach, ich weiß nicht, was ich tun soll! Er ist ein guter Mensch.«

»Wirklich!« knirschte Ludwig für sich.

»Aber schrecklich in seinem Zorn. Und er hat noch immer Argwohn, ich merk's ihm wohl an; oder andere hetzen ihn.«

Die Erwiderung des Direktors konnte er nicht verstehen, da derselbe ihm den Rücken zuwandte. Aber sie mußte überzeugend gewesen sein, denn Anna sagte darauf mit einem Seufzer: »Nun denn, in Gottes Namen! Also am Dienstag.«

»Am Dienstag um vier Uhr!« rief der Direktor erfreut und unwillkürlich etwas lauter. »Er kommt erst um sechs, und bis dahin sind wir lange fertig. Gute Nacht! Gute Nacht!«

Leise schritt er dem Gartentörchen zu und gewann die Straße. Anna sah ihm sinnend nach, seufzte noch einmal schwer und schloß dann das Fenster der dunklen Stube. Einen Augenblick später sah Ludwig sie in die Kammer treten, wo Licht brannte.

»Er kommt erst um sechs, und dann sind wir lange fertig!« wiederholte er ingrimmig. »Nein, er kommt pünktlich um vier! Und dann sei Gott euren armen Seelen gnädig!«

Nachdem er die Waffe wieder eingesteckt hatte, zog er sich geräuschlos auf demselben Wege wieder aus dem Garten zurück. Er mochte seiner Frau noch nicht unter die Augen treten; auch sollte sie meinen, er sei wirklich erst mit dem letzten Zuge heimgekehrt. Ziellos schritt er in die weiche, warme Sommernacht hinaus – er fühlte von ihrem wunderbaren Frieden nichts. Wie betäubt, konnte er sein Elend noch nicht recht fassen. Was? Die Schwüre am Altar, das holde Glück des ersten Jahres, die Pflicht der Gattin, die Ehre der Mutter, der Friede des Hauses – alles vergessen, vernichtet, dahin! Und in allem Zorne, in aller Bitterkeit merkte er doch, daß er die Treulose noch liebhabe, noch sehr liebhabe! »Sie so schön, so fein in ihrem ganzen Wesen, so verwöhnt in dem reichen Hause – und ich ein armer Schlucker, schlecht und recht, weder hübsch noch besonders gescheit und gebildet – jawohl, der schlanke, vornehme schlechte Kerl paßte besser für sie! Hätte ich sie nie gesehen! Jetzt kann ich ohne sie nicht leben – wohl aber sie ohne mich. Ja, so ist's am besten. Ich bin ein guter Mensch, hat sie selber gesagt: sie soll's merken, bis zum Ende – sie soll frei sein – ein alter Soldat, ein Bergmann fürchtet ein bißchen Pulver und Blei nicht –«

Er griff nach der unglückseligen Waffe. Aber Gott, der vorhin seine Hand behütet, daß sie nicht auf die beiden abdrückte, hielt ihn auch jetzt vor dem Verbrechen zurück. »Mein Junge!« stöhnte er, »mein armer Junge!« Und die Vaterliebe besiegte noch einmal den Gattenschmerz.

Er war ruhiger geworden, als er nach langem Irrgang über die Feldwege wieder auf die Straße und zu Häusern kam; müde und durstig war er auch. Die Tür der Schenke stand noch offen, er trat ein.

»Hurra!« brüllte ihm die heisere Stimme Eduards entgegen; »je später die Zeit, je schöner die Leut! Prost, Alter!«

Widerwillig tat Ludwig ihm Bescheid.

»Du triffst es, soeben ist ein frisches Fäßchen angestochen worden, und paß mal auf, was der da uns von dem goldenen Amerika erzählt!«

So aufgefordert, fuhr ein wohlgekleideter, schlau blickender Mann am oberen Ende des Tisches mit Zungengeläufigkeit fort, die glänzenden Verhältnisse und Aussichten jenseits des Ozeans zu schildern, und unterstützte seine Worte durch Zahlen und Bruchstücke aus Zeitungen und Briefen.

Ludwig, froh, daß die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wurde, hörte ihm schweigend und allmählich mit Teilnahme zu. Ja, endlich rückte er neben den Auswanderungs-Agenten hin und richtete leise mehrere Fragen an ihn. Eduard trank und rauchte, und nickte und grinste, und schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: »Nicht wahr, das gefällt dir auch, Alter? Da lebt man wie Gott in Frankreich, und hier wie ein Hund! Ich gehe hinüber, sobald ich das Geld beisammen habe – ich pfeife auf den ganzen Krempel hier! Gehst du mit? Aber freilich, du hast Haus und Hof.«

»Und Stellung und Verdienst,« fiel der alte Wirt ein, Ludwigs Glas schon zum vierten Male füllend. »Vetter Karst wird sich hüten. Sonst – für das Häuschen wüßte ich Rat – einen guten Käufer – und bar Geld.«

Ludwig atmete schwer; die Kehle war ihm wie zugeschnürt; es brannte in seinem Innern. In einem Zuge stürzte er das Glas hinunter, dann erst konnte er wieder sprechen. »Bleiben Sie lange in der Gegend?« fragte er den Agenten.

»Noch ein paar Tage – aber hier ist meine Karte – wenn Sie Näheres wissen wollen –«

»Nicht nötig. Kommen Sie übermorgen einmal zu mir – um sechs Uhr – ich will mir die Sache überlegen.«

»Hurra!« schrie Eduard, »und wenn du gut verkaufst, dann nimmst du mich mit – so viel hast du noch für einen alten Kameraden übrig – ich geb's dir wieder drüben, vom ersten Verdienst.«

»Ist's Ernst?« fragte der Wirt.

»Ich will mir's überlegen,« wiederholte Ludwig nachdrücklich; »aber wenn's Euch Ernst ist, so könnt Ihr ja mitkommen – Dienstag gegen sechs Uhr! Gebt mir noch ein Glas.«

Es war spät, als er heimkam, zum ersten Male seit seiner Hochzeit wirklich betrunken. Anna erschrak, tat aber, als merkte sie nichts. Wortkarg ging er zu Bett.

*

Fünftes Kapitel.

Auch am folgenden Tage sprachen beide Eheleute nur das Notwendigste miteinander. Annas Schweigsamkeit konnte man auf ihren Schmerz, die Ludwigs auf seine Beschämung wegen des Rausches schieben, und so lag weiter nichts Auffallendes darin. Zudem bot der Kleine beiden eine willkommene Ableitung dar: Je behutsamer sie sich auswichen, desto mehr beschäftigten sie sich mit dem unschuldigen Kinde. Als Anna den dicken Jungen abends auf dem Schoß hatte und wusch und frisch anzog, als sie in voller Jugendschöne, von Mutterwürde verklärt, vor Ludwig saß, da schmolz sein Herz und wäre fast übergeströmt. Auch sie sah ihn mehrmals so eigen an, als schwebe ein erlösendes Wort, ein Bekenntnis auf ihren Lippen. Allein sie schwieg, und auch er bezwang sich seufzend. »Morgen wird sich alles entscheiden!« dachte er.

Am Dienstag gegen halb vier Uhr verließ der Direktor die Grube und schlug den Weg nach Wolkenstein ein. Fünf Minuten später bekam Steiger Karst plötzlich Herzbeklemmung, Ohrensausen und Flimmern der Augen, wie er denn in der letzten Zeit schon einmal über heftigen Blutandrang nach dem Kopfe geklagt hatte. Er mußte vor Schicht heimkehren. Es war gut, daß ihn der Knappschaftsarzt auf diesem Heimgange nicht sah; er hätte ihm das Rennen untersagt. Doch sobald Ludwig seiner Wohnung ansichtig ward, mäßigte er von selbst seine Schritte. Diesmal schlug er keinen Nebenweg ein. Er blieb auf der Straße und ging gerade auf die Haustüre zu. Sie war nur angelehnt und ließ ihn, ohne zu knarren, ein. Im Flur machte er schwer atmend Halt. Mit der Linken wischte er den Schweiß von der Stirn; die Rechte tastete in die Tasche und fand, was sie suchte. Er lauschte. Aus der Stube drang das leise Flüstern zweier Stimmen an sein Ohr; verstehen konnte er nichts, die Tür war gut gearbeitet und fest eingeklinkt. Er beugte sich, um durchs Schlüsselloch zu spähen. Aber der Schlüssel steckte von innen darin. Er zitterte vor Aufregung. Wie, wenn er die Tür plötzlich aufrisse und zwischen sie führe, die Waffe in der Hand und sich blutig rächte? Aber die Tür war vielleicht verschlossen, und ehe er sie sprengte – – Nein, er wollte Gewißheit haben, wollte sicher gehen. Leise schlich er hinaus, um vom Garten aus durchs Seitenfenster zu lauern.

Der Laden des der Straßenseite zugewandten Fensters war, wie gewöhnlich in dieser Zeit, der Sonne wegen ganz geschlossen; das fiel ihm weiter nicht auf; aber auch der Laden des Fensters nach dem Garten zu war, zufällig oder absichtlich, halb angelehnt; er mußte, um zu sehen, dicht heran. Vor dem Fenster breitete sich ein halbmondförmiges Beet mit Blumen und Ziersträuchern aus. Schon bückte er sich, um geräuschlos durchzuschlüpfen, da legte sich sanft eine Hand auf seine Schulter. Erschrocken fuhr er auf und wandte sich. Anna stand vor ihm.

»Du hier?« rief er aufs höchste erstaunt.

»Du hier?« gab sie ihm zurück, und sah ihn freundlich, fast schelmisch an.

»Du bist nicht drinnen, nicht in der Stube?«

»Schon seit einer Viertelstunde nicht mehr – ich habe die schönsten Blumen zu einem Strauße gesucht, sieh her! Darfst aber nicht schelten.«

»Wer ist denn drinnen?«

»Pst, nicht so laut! Sollst alles erfahren, komm!«

Wie im Traume folgte er ihr zur Laube. Sie legte den Strauß behutsam auf den Tisch, strich sich die weiße Schürze glatt, und schien Freude an seiner Spannung zu finden. »Wer ist denn im Hause?« fragte er wiederum; »ich habe sie sprechen hören; der Direktor, nicht wahr?«

»Und Fräulein Ida, wenn du's durchaus wissen mußt.«

»Fräulein Ida?« wiederholte er erstaunt und riß die Augen auf. »Welch ein Narr bin ich gewesen! Gott sei Dank, nur ein Narr, Gott sei Dank!«

Und ehe Anna sich's versah, hatte er sie umfaßt, drückte sie fest an sich und küßte sie.

»Ludwig!« rief sie, und entwand sich ihm. Aber sie war auch ernst geworden.

»Die beiden kennen sich schon seit vorigem Winter,« fuhr sie fort. »Er hat sie gesehen, als sie vierzehn Tage bei ihrer Tante in Aachen auf Besuch war. Und daß er gerade hierher versetzt wurde, hat ihn doppelt gefreut. Aber du weißt, was ihre Stiefmutter mit ihr vorhat. Dem Herrn Direktor wurde das Haus verboten, seine Briefe unterschlagen, Fräulein Ida gedrängt, den ihr widerwärtigen Vetter zu nehmen. Von dieser Härte empört, von der Not gedrängt, dachte sie an mich, an unser günstig gelegenes und unverdächtiges Haus. Sie bat mich um Hilfe, um Vermittlung, um strenges Stillschweigen. Konnte ich's ihr abschlagen? Hier haben sich denn beide mehrmals getroffen, oder, wenn das vereitelt wurde, doch Briefe ausgetauscht.«

»O, warum hast du mir das alles nicht längst gesagt?«

»Ich durfte nicht. Fräulein Ida hielt dich für einen vortrefflichen Menschen, meinte aber, du habest das Herz auf der Zunge. Und doch, als du neulich so böse warst, da wollte ich dich einweihen oder mit der ganzen Geschichte nichts mehr zu tun haben, aber beide baten so dringend, nur noch ein-, zweimal, bis zu Fräulein Idas Geburtstag, an dem sie großjährig wird, und der ist heute, und nun weißt du alles!«

»Gott sei gelobt!« murmelte er. »Anna, ich habe viel ausgestanden die letzte Zeit, ich habe dir in Gedanken schwer unrecht getan.« –

Er hielt die Hand hin, die sie hastig ergriff. »Auch ich habe unrecht gehabt,« sprach sie. »Keiner Freundin, keiner Herrin, keinem fremden Menschen zulieb sollen Ehegatten ein Geheimnis voreinander haben. Es war zwar noch etwas dabei, ob's in Erfüllung geht? Aber einerlei: Wir wollen nichts Wichtiges mehr voreinander verheimlichen, und wenn wir tagsüber etwas miteinander gehabt haben, uns spätestens vor Schlafengehen aussprechen.«

»Topp!« rief er. »O Himmel, wie froh und glücklich bin ich!«

Hand in Hand saßen sie noch ein Weilchen da, bis das Fenster aufgestoßen wurde und des Kleinen kräftige Stimme zugleich mit Fräulein Idas Worten zu ihnen drang: »Frau Anna, der Junge ist wach – und hast du denn ganz vergessen, welcher Tag heute ist?«

»Ich komme!« rief Anna, und einen Augenblick darauf traten beide ins Zimmer, wo sie ihrer früheren Herrin den schönen Strauß mit einigen passenden Worten überreichte und dann den Kleinen auf den Arm nahm und beruhigte.

»Sie können doppelt gratulieren, sprach der Direktor, der sehr vergnügt aussah, »Fräulein Wolfgang ist meine Braut!« Erneutes Händeschütteln und Glückwünschen, auch Ludwig blieb nicht zurück. »Und mir auch doppelt,« fuhr der Direktor fort, »ich bin definitiv hier geworden. – Ist's schon sechs Uhr, Herr Karst? Sie sind früh daheim.«

»Es war mir nicht ganz wohl – ich hatte wieder Blutandrang – es geht aber schon besser,« stotterte Ludwig.

»Das kommt in der letzten Zeit zu oft vor,« meinte der Direktor lächelnd. »Aber der Sommer vergeht, und die übermäßige Hitze auch. Und vielleicht kann auch ich noch etwas zu Ihrer Beruhigung beitragen, ein Wölkchen von Ihrem Himmel verscheuchen. Ihre vortreffliche Frau hat mir so große Dienste geleistet, daß ich, was ich in Aussicht gestellt, sehr gern fest und bündig verspreche; ich mache Sie von der dummen Bürgschaft frei, so oder so, und sollte ich selbst sie übernehmen müssen!«

»Das war's!« rief Anna froh erregt; »damit wollte ich dich überraschen!«

»Und es ist Ihnen gelungen,« sagte der Direktor; »steht er nicht da wie eine Bildsäule?«

Mit Mühe fand Ludwig ein paar Worte des Dankes.

»Schon gut, schon gut!« sprach der Direktor. »Heute möchte ich alle Menschen froh machen. Das Wasser Ihres Brünnleins ist köstlich, aber ich tränke doch gern mit einer andern Flüssigkeit ein Lebehoch.«

Da ward Ludwig wieder munter. »Ich habe noch zwei Flaschen von unserer Hochzeit her – sie sollten aufbewahrt werden, bis – doch für diesen Tag sind sie nicht zu schade!«

Er flog schon in den Keller, und bald stießen sie auf das Wohlsein des Brautpaares und auf das der jungen Eheleute an. Da klopfte es, und der Wirt und der Auswanderungs-Agent traten ein. Ludwig war verlegen, faßte sich aber bald; denn die Freude gibt auch dem Geiste Kraft. »Ich habe den Gedanken gehabt,« sagte er nach der ersten Begrüßung, »meinem armen Kameraden Eduard, der hier nicht mehr guttut, nach Amerika hinüber zu verhelfen, wenn's gelingt.«

»Dazu gebe ich auch meinen Beitrag,« sprach der Direktor, »schon um ihn loszuwerden.«

»Ich ebenfalls,« sagte Fräulein Ida; »und wenn er sich wacker hält, schicken wir ihm die Familie nach.«

Der Wirt war ein kluger Mann und hatte Ludwigs Winke verstanden. »Auf ein paar Mark kommt's mir auch nicht an,« meinte er; »ich habe auch schon etwas an ihm verdient.«

Doch der Besuch empfahl sich bald. Das Stübchen, eben noch so voll, umschloß bald nur noch die Hausleute. Doch nein, zugleich einen großen Schatz: innige Liebe, altes Vertrauen und neues Glück.

So können wir von ihnen scheiden mit dem Wunsche: Möge es so bleiben!

Zeichnung R. Trache.


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