Walter Flex
Der Kanzler Klaus von Bismarck
Walter Flex

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VI.

»Ich bin ein Vogel, der mit zerbroch'ner Schwinge
den Verfolger von Nest und Brut verlockt...«

In dem Augenblick, in dem Klaus Bismarck dem stolzen Bau seiner Staatskunst und Lebensmühe den Schlußstein hatte einfügen wollen, waren die unsauberen Grundwasser der Tiefe vorgebrochen und mächtig geworden und hatten das kühne und mächtige Kunstwerk zum Einsturz gebracht. Ein Ehrendom für Ludwigs des Wittelsbachers große Seele hatte es werden sollen, nun waren die Trümmer ein ewiges Schandmal seines Bruders, und Klaus Bismarcks zermalmtes Herz lag unter ihnen begraben. Der Bau, der da im Schutt lag, war sein Leben, jede Quader ein Lebenstag, der Kitt sein Herzblut gewesen. Nun lag er unter toter und verhöhnter Vergangenheit verschüttet.

Klaus Bismarck hatte sich nach dem Treubruch seines Fürsten nach Burgstall in den Kreis der Seinen und in die Einsamkeit der Wälder zurückgezogen. Aber die Grundfesten seines Wesens waren zu tief erschüttert, alle gesunde Kraft Leibes und der Seele bröckelte nach und verfiel. Weder der schweigende Trost der großen Natur noch die Tiefe und Liebe der Menschenherzen konnten ihm helfen. Seine Seele war zu sehr an Weite und Fülle der Betätigung gewöhnt, als daß sie nun in sich selbst eine Trostwelt ewiger Gedanken und Gefühle hätte gründen und in ihr hausen können.

Freilich, am Kaiser lag es nicht, wenn Herr Klaus die unentbehrliche Gewohnheit des Ratens und Tatens aus den Händen warf wie ein zerbrochenes oder entehrtes Schwert. Boten auf Boten vielmehr schickte er nach Burgstall, wie Hans von Calbe vorausgesagt, um den Kanzler der Mark in seinen Dienst zu locken und zu zwingen. Er erkannte, daß ohne diesen Mann, in dem der Glaube und das Vertrauen des tausendfältig notleidenden Volkes und die Furcht seiner Bedrücker verkörpert war, die Mark ihrem Zerfall entgegenging. Ja, er sah und fühlte mehr: Das Volk empfand die Absage des Rolands von Stendal an den neuen Herrn der Mark als ein gültiges Gericht, das abergläubisches Grauen und Mißtrauen weckte und nährte. Klaus Bismarcks verachtungsvolle Tatenlosigkeit war eine schlimmere Bedrohung, als gehässige Vielgeschäftigkeit es gewesen wäre. Darum warb der Kaiser unermüdlich mit Verheißungen und Drohungen. Aber der Roland von Stendal blieb Stein. Er schaute tiefer und empfand kraft inneren und untrüglichen Wissens, daß es für Brandenburg kein Heil und keine Zukunft gab unter den unheiligen und befleckten Händen des Luxemburgers, der nur mit lauernder und gieriger Seele auf Ernten warten, aber nicht mit selbstloser Hingabe verzichten und das Feld der Zukunft bestellen konnte. Immer wilder und zerrissener klang das Sterbelied der Mark, aber Klaus Bismarck wußte, daß kein Arzt dieses Sterben lindern und wenden konnte, solange Herr Karl das Zepter führte. Auch er selbst hätte, selbst wenn er aus Liebe zu dem gequälten Volk Trotz und Leidenschaft seines Herzens vergewaltigt hätte, nur den Glauben des Volkes an sich selbst und an die Treue und Unbestechlichkeit seiner Seele erschüttert. Der steinerne und unwandelbare Richter, den alle kannten, konnte sich nicht mit seiner Vergangenheit in lebendigen und zugleich tödlichen Widerspruch setzen. –

Kein Mittel ließ der Kaiser unversucht, den Starrsinn des Kanzlers zu brechen. Als zum sechsten Male sein Bote mit schnödem Botenlohn zurückkam und ihm das Nein des Unversöhnlichen heimbrachte, beschwor er einen mächtigen Gegner. Es gelang den Ränken seiner Politik, den Bannfluch Roms gegen den hartnäckigen Parteigänger des toten Wittelsbachers, den die Kirche im Leben wie im Tode aus ihrem Schoße ausgestoßen hatte, zu erwirken. Er hoffte darauf, der Bann werde den Trotz des alternden Kanzlers zerbrechen. Aber Klaus Bismarck gönnte dem Kaiser die Freude nicht, die Kirchenglocken der Mark zu Schandglocken dessen zu machen, der sie am zähesten geliebt hatte. Darum hob er noch einmal mit lässiger Hand das goldene Schwert, von dem einst Herr Ludwig vor St. Marien gesungen hatte – und der Bann zerriß.

Als Herr Klaus die Versöhnung mit Rom erkauft hatte, hielt er in Stendal den letzten Kirchgang seines Lebens. Wenn je ein Mann wohlvorbereitet zum Tisch des Herrn geschritten ist, so war er es. Denn die Nacht zuvor verbrachte er in seines Vaters Hause mit seiner Mutter.

Zum siebenten Male hatte der Kaiser Botschaft in Klaus Bismarcks Haus geschickt. Der sie trug und brachte, war Hans von Calbe. Der Kanzler wies ihm das Tor, wie den andern, die vor ihm da waren. Er ließ den Kaiserboten nicht in den Gastfrieden seines Hauses. Aber in der Nacht nach der Unterredung mit Hans von Calbe verließ er selbst schweigend und geheimnisvoll Weib und Kind und kehrte Burgstall den Rücken. In dunkler Nacht verritt er und kehrte beim Morgengrauen in Stendal ein. Dort bereitete er sich im Hause seiner Väter, das so lange herrenlos und unbewohnt gestanden, ein einsames Asyl.

Frau Margarete verstand ihren Sohn. Sie fuhr ihm nach und schien nun wieder in Stendal einsam mit ihm hausen zu wollen, wie einst auf Burgstall. Klaus Bismarck litt schweigend die Nähe der Mutter. Weib und Kind hatte er das Verlassen von Burgstall verboten.

Schon am dritten Tage ihrer Einkehr in Stendal erfuhr Frau Margarete, daß ihre dunklen Ahnungen sie nicht betrogen hatten. Verstört und schaudernd brachte ihr der treue Knecht Hans einen Dolch, den er einem Unbekannten entrissen hatte, der sich, in eine Mönchskutte vermummt, bis vor des Kanzlers Tür geschlichen hatte. Der unheimliche Fremde selbst war entkommen. Frau Margarete empfing still das Zeichen und Pfand eines drohenden Schicksals. Sie gebot dem Knecht Schweigen und dachte, ihr Wissen dem Sohn zu verhehlen und allein mit nie ruhender Wachsamkeit das teure Haupt zu hüten.

Noch hielt sie, in Ahnungen und Gedanken versunken, das Eisen in der leise zitternden Hand, als Klaus Bismarck mit dem Stadtschreiber Beck aus dem Nebenzimmer trat und ihn verabschiedend zur gegenüberliegenden Tür geleitete. Unbemerkt legte sie den Dolch in den Tischschrein und folgte dem Sohn mit den Augen.

Klaus Bismarck wandte sich langsam zum Fenster, schob die Vorhänge zurück und schaute schweigend in den sinkenden Abend hinaus, dessen Schatten und Lichter seine hohe Gestalt umspielten und einen Schein über sein gealtertes Antlitz warfen.

Frau Margarete empfand das Bedürfnis, ihn seinem Hinbrüten zu entreißen. »Was hast du mit dem Beck aufgesetzt?« fragte sie und suchte ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben.

Klaus Bismarck war tief in Gedanken verloren. »Mein Testament,« erwiderte er mechanisch, ohne daß sein Bewußtsein bei der Antwort war. Da sah er, wie die Mutter sich, ihr Zittern zu verbergen, in einen Stuhl niederließ, und mit einem Male hörte er Frage und Antwort, und über sein Herz kam Mitleid und Reue. Er trat zu ihr. »Verzeih mir das,« bat er ihr ab, und seine Stimme war ungewohnt weich, »ich wollte dich nicht erschrecken.«

Frau Margarete bezwang das Grauen, das immer stärker auf sie eindrang. Sie streichelte seine Hand, die auf ihrer Schulter lag. »Klaus, du hast mich nicht erschreckt,« beruhigte sie ihn.

Klaus Bismarck sah in Rührung und Liebe auf seiner Mutter Haupt nieder. Er empfand wieder die Gemeinsamkeit ihrer Seelen, deren eine sich der andern nicht verbergen konnte. »Mutter,« sagte er leise, nur dieses eine Wort, aber es war mehr als Klang und Wort, es war ein starkes und herrliches Lied, eine Predigt von Herz zu Herz und war mehr als das alles. Lange war danach für nichts Lautes Raum, nur das leise und tief aufschwingende Wort kreiste in der Stille wie ein schöner Vogel oder eine sanft schwimmende Wolke.

Nach einer Weile tauchte Klaus Bismarck aus der Weite seiner Seele in die brustengende Not der Wirklichkeit zurück. »Heute ist Herrn Ludwigs Sterbetag,« sagte er düster und gepreßt.

»Ich weiß es, Klaus,« sagte Frau Margarete innig, ohne Haupt oder Hand zu rühren. Sie fühlte, wie in ihrem mütterlichen Herzen sich die Seele ihres Kindes spiegelte, und hielt stille wie eine tiefe und klare Flut, über die kein trübender Schauer läuft, solange sie das teure Bild trägt und hegt.

Herr Klaus preßte ihre Hand fast schmerzhaft. »O Mutter, du hast an ihn gedacht?« sagte er, und aus dem Druck seiner Hand und dem Klang der Worte sprach seine wunde und ungetröstete Seele. Frau Margarete schwieg.

Klaus Bismarck grübelte in die lastende Stille hinein, die sein und ihr Herz umfing. »In diesem Zimmer starb mein Vater,« sagte er dann. Die Worte tropften schwer in die Schatten und das Schweigen des Raumes wie die Zauberformeln eines Totenbeschwörers und rührten einen spukhaften Wirbel toter und unversöhnter Menschen und Dinge auf. Klaus Bismarck sah und hörte, was ihn lautlos umgab. »Weißt du noch, Mutter, daß er mein Unglück voraussagte?« Er reckte sich, und seine Stimme wurde hart und stolz. »Mich reut nichts, was ich tat. Trotzdem.«

Dann ging er ruhelos auf und nieder und blieb wieder stehen. Der unbeugsame Stolz des Einsamen nahm überhand. »Ginge es nach dem Kaiser, ich stürbe im Banne wie mein Vater. Herr Karl soll die Glocken von St. Marien nicht schweigen machen, sie sollen von Herrn Ludwig und mir reden, trotz ihm.

Der Bischof hofft, daß eine fromme Stiftung in meinem Testamente den zerbrochenen Bann lohnt. Da irrt er. Ich habe nichts zu danken. Mein Testament weiß von einer besseren Stiftung. Vor den Mauern der Stadt, in der ich ruhelos war, solange ich denke, soll ein Haus erstehen für Heimatlose, ein Asyl für müde, alte Menschen, wo ein Friede ist, den keiner brechen darf, und Ruhe vor der stoßenden Welt. Niemand soll ihren Frieden stören dürfen oder ihren Trotz. Ich habe keinen Altar für mein Haus gestiftet. Sie sollen darin leben, wie ihnen der letzte Sinn steht. Es soll eine Freistatt sein. Darin soll niemand außer ihnen ein Recht auf Worte haben, kein Priester und auch kein Kaiser.«

Klaus Bismarck hatte in den tiefen und rauhen Kehllauten eines unversöhnlichen Hochmuts gesprochen. Nun brach er ab. Warum quälte er die Mutter mit abgetanen und fremden Dingen? Ihm war, als habe er noch vieles mit ihr zu reden, worauf sie ein Recht hatte, nur sie außer ihm selber. Er ließ sich ihr nahe nieder und begann mit der großen Ruhe derer, die überwunden haben, von den letzten Dingen des Lebens zu reden. »Bald hoffe auch ich auf Frieden,« begann er, »es werden keine Kaiserboten mehr kommen.«

Frau Margarete fühlte, nun kam aus seinen Worten die Bestätigung der Ahnung, die sie ihm nachgetrieben hatte. Sie verschränkte ihre Finger im Schoße und lauschte bangend mit schmerzhaft wacher Seele, gleich bereit zur Abwehr wie zur Duldung.

»Weißt du das so sicher?« fragte sie, und ihre Lippen zitterten doch gegen ihren Willen.

Klaus sah sie lange schweigend an. Dann sprach er mit eherner Ruhe. »Der Kaiser weiß, daß sich eher noch der steinerne Roland vom Markt in Stendal hebt und sein Kanzler wird als ich. Er schickt keinen Boten mehr nach mir. Nur einen letzten, stummen Boten hat er noch für mich. Dem muß ich folgen. Er läßt sich nicht wie die andern fortschicken.«

Es war gesagt, und Grauen und Trost der Zweieinsamkeit von Mutter und Sohn in dem von Mördern umlauerten Hause umfing die beiden Menschen.

Frau Margaretes Herz bäumte sich auf. Zum ersten Male gebrach ihr Kraft und Fassung. »Rede nicht so von deinem Tode, Klaus!« bat sie zitternd und mühsam. »Du sollst nicht, Klaus!« Gegen ihren eigenen Willen sprach sie so. O, sie wußte es, in diesem Raume sprach alles vom Tode. Und wenn er schwiege, so würde das Eisen im Tischschrein leise tönen und reden.

»Ich bin ja lange tot!« brach Klaus gramvoll aus. Klarheit war die letzte Schonung, die er dem mütterlichen Herzen geben konnte, wie sich selber. Sie selbst hatte ihn diese Weisheit gelehrt. »Ich bin nur noch mein eigenes Gespenst auf Erden und bin verdammt, sinnlos und zwecklos umzugehen, bis mich der zweite Tod von dem Fluche erlöst, der mich umhertreibt!«

Frau Margarete trieb die. folternde Angst empor. Sie trat nahe zu ihm. »Klaus,« sagte sie forschend, »weißt du, daß seit gestern kaiserliches Kriegsvolk in Stendal ist?«

In des Kanzlers Gesicht rührte sich nichts. »Ich weiß es,« sagte er herb. »Der Schreiber hat mir's erzählt. Ich bin bereit.«

»Bereit –?« flüsterte Frau Margarete zagend.

Der Sohn nahm sie bei der Hand und nötigte sie sanft in ihren Stuhl. Die stumme Bewegung bat um Ruhe, die allein ihm noch wohltat. »Der Kaiser hat mir sieben Boten in mein Haus nach Burgstall geschickt,« fuhr er düster fort. »Der letzte von ihnen war Hans von Calbe. Der sprach, als ich ihm die Tür wies: »Jetzt werden keine Kaiserboten mehr kommen, die einen Kanzler werben, aber wißt auch, daß Ihr nicht leben dürft, wenn Ihr nicht für den Kaiser lebt.«

»Das hat er dir gesagt –?«

Herrn Klaus' Antlitz verfinsterte sich noch mehr. »O,« sprach er, »er wußte noch mehr zu sagen. Wenn ich eines Tages den Tod, sei es in welcher Gestalt immer, von weitem sähe, so sei es noch Zeit, zum Kaiser zu kommen, sonst käme der Tod zu mir –. Sieh, Mutter, nun ist der Kaiserbote Tod seit gestern in Stendal und grüßt mich von ferne –« Seine Gestalt reckte sich in titanischem Trotze. »Ich gehe nicht zum Kaiser.« Fast unnahbar sprach er das Wort, das sein Todesurteil war.

Eine letzte schmerzgeborene Liebeshoffnung rang sich in Frau Margarete empor. Sie stand auf, trat zu dem Sohne und sah ihm in die Augen. »Klaus, geh nach Burgstall!« sprach sie tief und bittend. »Dort bist du zu Hause und bist sicherer als hier!«

»Sicher, Mutter?« wehrte der Mann müde ab. »Meinst du, der Kaiser muß Burgstall stürmen, um mich zu töten? Nein, Mutter, das tut er nicht. Der Tod hat viele Wege und geht gern den verschwiegensten. Glaube mir, er wird mich finden, und er soll es auch. Mir ist zu Sinn wie dem gehetzten Hirsch, der selber die Hatz endet und sich stumm und trotzig vor die Hunde wirft. Besser im Blut ersticken als im Schweiß!« Er warf sich in einen Stuhl. Nun war es fast dunkel im Zimmer. Frau Margarete rang mit sich selber. Sollte sie den Sohn noch tiefer bestürmen? Doch rechte Liebe ist wie das Schicksal, das kein schwaches Erbarmen kennt. Sie kniete zu ihm. »Denke an dein Weib,« bat sie mahnend, »und an den kleinen Klaus!«

Da brach eine unerträgliche Qual sengend aus den Augen des Mannes. Die Hand der Mutter hatte an die tiefste Wunde getastet. »Ich denke in jeder Stunde an sie, Mutter!« stieß er gequält hervor. »Sie sind ja nur sicher, wo ich nicht bin! Weil ich das weiß, habe ich Burgstall und sie verlassen und warte hier einsam auf meinen Tod. Du weißt nicht, was mir Hans von Calbe sagte. Der Tod ist stumm, sagte er zu mir, er kommt im Wind, in Speise oder Trank, er kommt als Feuer und frißt um sich und tötet, was ihm nahe kommt. – Darum denkt an Weib und Kind.«

Er umfaßte das Haupt der Mutter. »In der Nacht danach hab ich Burgstall verlassen. Verstehst du jetzt, daß ich nicht heimkehren darf?«

Frau Margarete empfand, nun hatte das Schicksal selber gesprochen. Ihrem Herzen blieb nichts zu fragen und zu suchen. Eine große Ruhe kam über sie, alle Pflicht und Bürde des Lebens sank ab von ihr und dem Sohn. Pflicht und Würde der Todesbereitschaft sank auf sie nieder, wie eine letzte Gnade. Qual und Drang der Möglichkeiten versank vor der feierlichen Ruhe der Notwendigkeit. »Nein, Klaus,« sagte sie, »nun sehe ich, du hast recht. Du darfst nicht mehr heimkehren.«

»Mutter,« sagte der Sohn, »Mutter, du verstandest mich immer –«

Wieder schwiegen beide, und nur das tote Eisen in der Lade tönte und klang.

»Mutter,« sagte der Kanzler unvermittelt, »geh du nach Burgstall!«

Frau Margarete bewegte verneinend das Haupt. »Nein, Klaus, mein Platz ist bei meinem Sohn. Bei dem kleinen Klaus ist Frau Ursel, und bei dir bleibe ich. Das ist mein Mutterrecht!«

»Dennoch, Mutter, ich bitte dich: Geh nach Burgstall!« Frau Margarete schüttelte leise das Haupt. Da strich ihr der Sohn über die liebe Hand. »Geh, Mutter,« bat er noch einmal. Und zögernd, als fürchte er, ihr wehe zu tun, setzte er hinzu: »Ich – möchte dir einen rohen Anblick ersparen, Mutter!«

Warm und fest gab Frau Margarete zurück: »Klaus; solange ich lebe, lasse ich keine rohen Hände an dich!«

Der Kanzler lächelte schmerzlich. »Mutter,« gab er aus dem Tiefsten zurück, »der ist mein Freund, der mich erschlägt, habe er zehnmal rohe Hände! Ich bin wie ein Haus, in dem kein Mensch mehr wohnt, und ich verfalle, wenn man mich nicht niederreißt. Wäre ich kein Christ, Mutter –. Nein, fürchte nichts! Gott hat mir das Leben gegeben. Ich will warten, wie er es endet.«

Frau Margarete sah den Sohn seltsam an. Die Gedanken kreisten wie Todesvögel um ihr Haupt. Sie lauschte mit zusammengezogenen Brauen auf das Rauschen ihrer dunklen Schwingen. Ihre Seele rechtete stumm mit Gott. Sie blickte den Sohn lange an. Dann ging sie zum Tisch und holte aus der Lade zwei hohe Kerzen, um sie in einen silbernen Armleuchter zu stecken.

Klaus folgte ihr mit den Blicken. »Was tust du, Mutter?« sagte er müde abwehrend. »Laß uns im Dunklen sitzen!«

Frau Margarete ließ sich nicht stören. Sie entzündete die Kerzen. »Heute ist Herrn Ludwigs Sterbetag, Klaus. Es sind geweihte Kerzen, die ich besorgt habe. Laß uns stille sitzen und warten, bis sie niederbrennen, und an ihn denken.«

»Du denkst an alles, Mutter!« dankte Herr Klaus, und seine düsteren Augen erhellten sich in einer tiefen Rührung. Er schaute in die Kerzen. »Ja, die Flamme ist hell und rein, wie sein Leben war.« Er versank in tiefes Sinnen und horchte auf die Stimmen der Vergangenheit, die dunkel vom Tode raunten.

Aber Frau Margarete entriß den Sohn noch einmal der Schwermut, die ihn tief und tiefer umschattete. »Klaus, laß uns von lieben Dingen plaudern!« bat sie und zwang sich mit der unerschöpflichen Tapferkeit ihrer Seele zu gelassener Ruhe. »Solange wir dürfen, wollen wir von Menschen reden, die uns teuer sind. Schrieb dir Ursel noch nichts?«

Und die Seele des Mannes ging die lichten Wege, auf die ein gütiger Zwang ihn sanft leitete. Er lächelte. »Ach, Mutter, sie schreibt immer dasselbe. Immer schreibt sie von unserem Kinde. Es klingt gut und schön: unser kleiner Klaus ist ein holdes Gotteswunder!«

»Gotteswunder –« sann Frau Margarete, und der tönende Klang ihrer Stimme lockte den Sohn tiefer in die lichten Gefilde freundlicher Gedanken. »Freilich, Klaus, freilich ist er's. Wir müssen wohl glauben.«

»Blüh, kleiner Klaus!« sprach der Kanzler versonnen, und sein Herz schien zu beten. »Holdes, kleines Gotteswunder, tröste mein armes Weib!«

Er versank. Sie störte ihn mit keinem Wort und keinem Blick. Es war heiliges und geweihtes Land, durch das seine Seele schweifte.

Plötzlich strafften sich Leib und Antlitz des Mannes in fernhörender Aufmerksamkeit. »Mutter,« flüsterte er, »hörst du nichts?«

Ein Schauer lief über das Herz der Mutter. »Ich höre nichts –« sagte sie erbebend und angespannt lauschend. »Die Nacht ist totenstill –«

»Wohl, totenstill –« gab Klaus mit einem seltsam heiseren Unterton zurück, ohne sie anzusehen. Sein Antlitz hatte etwas angstvoll Unirdisches und Totes, nur die großen Blauaugen des Mannes lebten ein dunkles und furchtbares Leben. Seine Seele atmete gleichsam durch diese Augen. Sein Haupt und Oberleib war weit vorgebeugt, als ginge er mit Augen und Ohren fernen Dingen und Tönen nach. Er fiel gleichsam weit vor, ohne doch völlig zu fallen, und diese haltlose und doch starr beharrende Haltung hatte etwas Unnatürliches und Krampfhaftes. –

Klaus Bismarcks Geist war aus dem Gefängnis des Leibes ausgebrochen und schweifte hellsichtig und fernhörig durch die tödliche Stille der immer tiefer dunkelnden Nacht. Das Licht der Kerzen lag auf dem maskenhaften Antlitz des Entrückten und spiegelte sich gespenstig in den visionären Augen. »Die Welt schweigt vor dem Tode –« sprach er mit Ruhe und doch mit einem fremden und erregenden Tonfall. »Aber der Tod schweigt nicht, er schreitet hörbar durch die Nacht. – Ich höre ihn! – Schwere Füße kommen näher. Eisenkappen spiegeln sich im Mondlicht – Schwerter klirren verhohlen im Wehrgehenk – das sind sie – die Kaiserboten – Horch! – Ich höre und sehe sie –. Schweren Trittes schreiten sie – stumm. Über den Markt schreiten sie hin – scheu blicken sie auf den Roland und denken an den, den sie morden sollen –. Die Nacken ducken sich – hastiger schreiten sie weiter –. Horch! Jetzt biegen sie in unsere Gasse. Das Pflaster schlittert – die Gasse dröhnt – der Tod geht Runde und gibt die Losung für morgen. Ich weiß genug und will Kirchgang halten. Trotzdem.«

Starr stand Frau Margarete und bändigte alle natürlichen Triebe der Menschenseele durch ungeheure Anspannung des Willens zu steinerner Ruhe. Sie sah, ohne zu erbeben, ein dunkles Erbteil väterlichen Blutes in dem Sohne lebendig werden. Sie sah ihn im Dunkel sehen und in bleierner Stille hören und wußte, was er da sah und hörte, war mehr als Traum und Ahnung, war Wirklichkeit und Schicksal. Sie stand aufrecht am Tisch, ohne Haupt oder Blick zu senken. Lang stand sie so. Und ihr Herz erbebte nicht, als sie nach langer Stille wirklich hörte, was der entrückte Geist ihres Sohnes zuvor spukhaft erlauscht hatte. Tritte erdröhnten. Eisen klirrte verhohlen. Wäre sie zum Fenster getreten, so hätte sie den Mond sich in den Eisenkappen der Kaiserboten spiegeln sehen. Sie rührte keinen Fuß. Sie hatte mit ihres Sohnes Augen gesehen und brauchte keine Bestätigung.

Jetzt hielten die Schritte der Kriegsknechte. Eine Faust rüttelte kurz und drohend am Torgriff. Ein leises Dröhnen ging durch das stille Haus. Mutter und Sohn verstanden die tote Sprache. Geh zum Kaiser, Herr Klaus! sägte das Dröhnen. Der Tod hat dich gegrüßt. Du bist gewarnt. Geh zum Kaiser.

Mutter und Sohn sahen sich stumm an. Ihre Gesichter waren herb, und dieselbe trotzige Falte war dem Antlitz der Frau wie des Mannes vom Mundwinkel her eingegraben. Sie waren sich wundersam ähnlich in der Härte und Größe ihrer Züge. Wir gehen nicht zum Kaiser, stand in den herrischen Gesichtern der beiden Einsamen.

Das Dröhnen verklang. Die Schritte der Kriegsknechte entfernten sich und verloren sich in der Stille. Da neigte sich Herr Klaus tief über die Hand seiner Mutter und küßte sie schweigend. Frau Margarete zog den Sohn empor und barg das todgeweihte Haupt ohne Wort und Träne an ihrer Brust. Herr Klaus litt es ohne Weichheit; er fühlte, sein Haupt lag an dem Quell der Kraft, der ihn durchs Leben geleitet hatte.

Andern Tages hielt Herr Klaus mit seiner Mutter den letzten Kirchgang nach St. Marien.

Er tat es schweigend und stumm. Aber als er hünenhaft trotz seines grauen Hauptes wie ein Totenwächter der Vergangenheit über den alten Markt an seinem steinernen Taufpaten, dem Roland, vorüber die Stufen zum Portal von St. Marien hinaufstieg, da bildete das Volk von Stendal barhäuptig und in schmerzvoller Ehrfurcht seinem Helden eine lebendige Gasse, und die Messe, die er hörte, wurde allem Volk zu einer Totenmesse unvergeßlicher und grausam vernichteter Hoffnung.

Als Klaus von Bismarck die Kirche verließ, drängte sich alt und jung an ihn, als ob ein Heiliger durch ihre Mitte schritte. Männer haschten nach seinen Händen, und Frauen küßten den Saum seines Mantels. Die Mütter erhoben tränenden Auges ihre unmündigen Kinder, als habe der Schein seines Antlitzes eine segnende Kraft für ferne und unbekannte Zukunft.

Schweigend litt Herr Klaus die Liebe der Stadt, die ihn vordem hatte steinigen wollen. Schweigend schritt Frau Margarete an seiner Seite.

Da mit einmal brachen hinter dem steinernen Roland hervor, wo sie auf stummer Lauer gelegen, drei gewappnete Männer. Blitzschnell zuckten drei nackte Schwerter gegen die unbewehrte Brust des Kanzlers. Herr Klaus sah den Tod vor Augen und verhielt trotzig den Schritt, ohne Arm und Hand zu heben. Nur seine blauen Herrenaugen unter den düsteren Brauen waren groß und weit von Verachtung.

Mit einem ruhigen Schritt trat Frau Margarete zwischen den Sohn und seine Mörder. So traf der ausholende Stahl zuerst ihre mütterliche Brust. Ein Werk der Liebe und Treue war das Letzte, was Herr Klaus mit irdischen Sinnen sah. »Mutter!« sagte er wie ein letztes Gebet und fing die tödlich Getroffene in seinen Armen auf. Da fuhr auch ihm der Mordstahl ins Herz, und das heilige Wort auf den Lippen sank er wie vom Blitz getroffen zu Füßen des steinernen Rolands in sich zusammen.


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