Walter Flex
Der Kanzler Klaus von Bismarck
Walter Flex

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Walter Flex

Der Kanzler Klaus von Bismarck

Erzählung


Meiner Mutter zu eigen

Sieh, liebstes Kind, ein Weib spart gern einmal an einem Pelz, an einem Schmuck und legt das abgesparte Sümmlein still beiseit. So häuft sie einen kleinen Reichtum an von ungenoss'nen Freuden. Dieser Schatz ist ganz ihr eigen. Und dann kommt ein Tag, an dem sie andern Freude schenken kann aus dem verhohl'nen Hort, den keiner kennt. So legt ein kluges Weib auch Kraft zurück: Ein Leid, das er nicht teilen will – laß ihn, leg Kraft zurück! Ein Streit, den er allein bestehen will – laß ihn, leg Kraft zurück! Ein Glückt das er allein durchkostet – laß ihn, leg Kraft zurück! Leg so viel Kraft zurück, wie er an Leid und Lust und Streit verschwendet! Ein rechter Mann gibt aus, was Herz und Hirn an Kräften haben. Alles gibt er aus. Wir speichern stille auf, wenn er vergeudet, und einmal kommt dann unsre Stunde, Kind, wo wir mit vollen Händen vor ihm stehen, der sich an Herz und Kraft und Leidenschaft arm glaubt, und ihm wie Märchenschätze schenken, was wir an guter, stiller Kraft erspart.


I.

»O meine Mark! Vom zähneknisternden Haß aller gegen alle bist du kläglich zerfleischt!«

Das Sterbelied der Mark klang und klang... Seit dem rätselhaften Tode des großen Waldemars lag das Land vor den Hunden. Der landfremde Fürst aus Wittelsbachschem Blute, der das verwaiste Erbe der einheimischen Markgrafen aufgenommen hatte, war seinem verwilderten Volke lebenslang fremd geblieben. Im Sterben ließ er dem Bruder einen im tiefsten zerrütteten Staat und leere Kassen. Der neue Herr, Ludwig von Wittelsbach, kam ins Land, aber niemand horchte in Haß oder Hoffnung auf seine Schritte.

Die Pest fraß am Marke Brandenburgs. Hütten und Höfe verödeten. Geißelbruderschaften zogen, irre Lieder auf schäumenden Lippen, blutige Peitschen in Händen, durchs Land und trugen ihren gespenstischen Wahnsinn von Stadt zu Stadt. Das verzweifelte Volk, über dem der Todesvogel seine Kreise zog, raunte von vergifteten Brunnen und suchte in blindem, zähem Haß nach Schuldigen. Judenbrände flammten qualmend auf und warfen flackernde Schatten in die verödeten Gassen. Aber kein Gott sah gnädig auf die blutigen Opfer, die Haß und Verzweiflung ihm darbrachten.

In Haß und Hader war ein Kampf aller gegen alle entbrannt. In dem armen Lande, dem der Herr fehlte, waren die kleinen Herren mächtig geworden und rauften um die Fetzen des Fürstenmantels. Die schloßgesessenen Herren machten als Strauchritter die Straße unsicher und führten auf ihren Burgen von Raubbeute und erpreßtem Geld ein Schmarotzerleben. Kein Kaiser wehrte ihnen. Der Luxemburger Karl wartete, lauernd auf die Todesstunde der Markgrafenherrschaft, in der er als Erbe aufzutreten gedachte. Die Städte griffen zur Selbsthilfe, und die Zunftwehren lagen in zähem Haß um die festen Burgen. Aber innerer Hader machte auch die Städte hilflos und untüchtig. Eifersüchtig hüteten die alten Patriziergeschlechter, die ihre Abkunft von königlichem Schwertadel herleiteten, die ererbten Herrenrechte und wehrten den aufstrebenden Handwerkern Anteil an Rat und Gericht. Die Zünfte schlossen ihre Jungmannschaft zu streitbaren Fußwehren zusammen und zwangen in blutigem Aufruhr die Geschlechter nieder, deren Häupter unter Beil und Mordspieß fielen. Eine Stadt nach der andern sah den Fall der verhaßten Gildejunker, nur in Stendal, der altmärkischen Hauptstadt, wahrten die Geschlechter noch in zähem Trotze die alten Rechte und ließen sich keinen Deut abmarkten. Aber auch hier mehrten sich die Sturmzeichen, zumal der Klerus, statt auf Versöhnung zu dringen, in Beichtstuhl und Schule den aufflackernden Hader schürte, um die selbstherrliche Macht der Geschlechter zu brechen und unter Zucht und Willen der Kirche zu bringen.

Der Führer des bedrohten Stadtadels war Rule von Bismarck, ein reckenhafter Greis von unbeugsamer Willensstärke. Ihn erfüllte ganz das trotzige Bewußtsein, Hüter der stärksten und einzigen Macht in dem verlorenen Lande zu sein. In den Truhen der Geschlechter, die durch Jahrhunderte Handel und Wandel beherrscht hatten, lag das Gold wie ein Kronschatz, der sie zu Herren machte. Diesen Königshort bewachte er als Aldermann der Gilde und Ratsherr von Stendal.

Er nahm jeden Kampf auf, der ihm aufgezwungen wurde, und wich keines Haares Breite von dem Platz, auf den ihn Geburt und Kraft gestellt hatte. Rücksichtslos ging er zum Angriff vor, wo er geheime Feindschaft witterte. Nun stand er an der Schwelle des Todes und stemmte sich mit letzter Kraft gegen den Ansturm der neuen Zeit. Aber noch einmal riß er die Geschlechter in einen Kampf, in dem sie verbluten oder siegen mußten.

Seit Menschengedenken lag das Lehramt in den Händen der Kirche. Jetzt aber, als der Klerus in stillem Neid gegen die Allmacht der Geschlechter daranging, sich in den Schulen gefügige Geister zu erziehen, ersah der Greis die entscheidende Stunde und riß die blühende Jugend aus den Händen der Geistlichkeit. Er gründete eine weltliche Schule und erbaute sie, allem Haß und Drohen trotzend, wie ein Bollwerk freien Herrentums auf Stendals altem Markte vor der Stirnseite von St. Marien und unter den Augen des steinernen Rolands, der nun mit seinem erhobenen Richtschwert zwischen Kirche und Schule stand.

Rule von Bismarck wußte wohl, daß er Rom zum Kampf gestellt hatte. Aber unbewegt sah er, wie Stein auf Stein sich zu dem neuen Bau fügte. In ihm lebte wohl die eiserne Frömmigkeit, aber auch das tatentrotzige Machtbewußtsein der alten Sachsenkönige fort, die einst seine Ahnen als Schwerthüter deutscher Art in das eroberte Wendenland gesetzt, hatten. Um ihn scharten sich alsbald wie immer die Giso von Schadewachten, Godin von Sluden, Gottschalk von Jerichow, Berndt von Röxe, Konrad von Hidde und wie sie heißen mochten. Zu einer Mauer gefügt, stand die adlige Gilde und wartete des Sturms.

Und er blieb nicht aus. Der Bannstrahl fuhr von Rom her über die unbotmäßigen Häupter der Geschlechter. In St. Marien, der Ratskirche, sollten die Lichter vor dem Martinsaltar der Gilde gelöscht werden und von allen Kanzeln die Namen der Gebannten gelesen werden, die die Kirche als unrein ausstieß.

Das Gerücht ging seit Tagen durch Stendal. Aber noch verharrten die Geschlechter in abwartendem Zweifel. Zu oft in dieser Zeit verhaltenen Kampfes hatte der Pöbel von der ersehnten Kampfansage gegen die Geschlechter geraunt, aber stets waren die Drohungen nur die Vorboten neuer Verhandlungen gewesen.

Der Tag des heiligen Martin war gekommen, ein Festtag der Gilde, die den frommen Ritter als Schutzpatron verehrte. Graue Novembernebel hingen über den Türmen und Giebeln von Stendal. Der Platz vor St. Marien wurde von den feinnässenden Schauern der Morgenkühle durchfröstelt.

Trotz der unfreundlichen Witterung strömte hier schon lange vor Beginn der Frühmesse eine Menge Volks zusammen, kleine Leute zumeist, Handwerker in Buntleinenkitteln und Frauen in hochgeschlagenen Beiderwandröcken. Die Männer und Frauen standen in getrennten Gruppen beieinander, die einen tuschelnd und schwatzend, die andern in schweigender Erwartung gaffend und horchend. Flachshaarige, barfüßige Kinder liefen in aufgeregter Beweglichkeit umher und lockten sich mit halblautem Zuruf gaßauf und gaßab. Ab und zu klang ein keifendes Zurechtweisen, ein höhnisches Auflachen oder ein alarmierender Zuruf.

Etwas Außergewöhnliches war im Werke. Aber nicht fröhliche Neugier lag auf den hartkantigen und mageren Gesichtern, das Lachen der Frauen klang gereizt und tückisch, und um Augen und Mundwinkel der Männer lag ein lauernder und abwartender Hohn. Das Hin und Her mehrte sich von Minute zu Minute und schwoll zu fieberhafter Erregung, als ein halbwüchsiger Bursche, die Gasse heraufjagend, ein paar Namen in die schwatzende Menge schrie.

»Der Schadewachten!« rief er, »der Gottschalk Jerichow und der Sluden!«

Ein Murren hob an und schwoll zu lauten Verwünschungen. Es waren verhaßte und gefürchtete Namen, die da aufklangen.

Aber dann wurde es still. In scheinbar lässigem Gleichmut schritten drei reichgekleidete Herren über den Platz.

Der greise Giso von Schadewachten und der graue Godin von Sluden trugen reiche Pelze, der junge Jerichow ein Festkleid aus rotem, verbrämtem Tuch, das seinen schlanken Wuchs zu fürstlichem Anstand hob.

Die drei ließen die Augen ruhig und kalt über die Menge gehen, aus der ihnen hundertäugiger Haß und Hohn entgegenglitzerte. Jerichows Lippen waren zu verächtlichem Trotz geschürzt, die beiden Alten trugen in ihren unbewegten Mienen nichts als hochmütige und ruhige Unnahbarkeit.

Auf dem Platz war es ganz still geworden, während die Gildeherrn durch die Menge hindurch und die Stufen zum Kirchenportal emporschritten. Es war, als duckte sich das stillgewordene Volk, aber dieses Ducken war feindselig und tückisch und konnte jeden Augenblick zu wölfischem Ansprung werden. Es lag keine knechtische Unterwürfigkeit auf den gebeugten Nacken.

»Der Bismarck,« schrie es über den Platz. Der Name klang wie ein Kampfruf.

Eine Bewegung kam in die Menge, und alles drängte nach dem Rufer zusammen. Aber alsbald ging eine sichtbare Enttäuschung über die hartkantigen Gesichter. Die Reckengestalt des alten Rule Bismarck fehlte unter denen, die da kamen.

Der schwarzbärtige Konrad von Hidde schritt finster und prächtig an der Seite seines Töchterleins Ursula durch die Gaffer. Wie eine schützende Leibwache schlossen sich dicht an die beiden der stiernackige und untersetzte Berndt von Röxe und Rules Sohn Klaus von Bismarck.

Die schlanke Lieblichkeit des Mädchens wurde festlich gehoben durch das moosgrüne Tuchkleid, das ihre Gestalt unter dem goldbraunen Überhang umschmiegte. Auf ihrem feinen Gesichtchen lag eine leichte Blässe, aber auch sie trug das Haupt erhoben, und das dunkle Blond ihres Haars schimmerte wie ein Krönlein. Als sie den menschenerfüllten Platz vor sich sah, ging ihr Blick mit einer scheuen, kaum merklichen Frage nach dem jungen Klaus von Bismarck hinüber, der ihr zur Seite schritt. Er fing ihren Blick mit seinen großen blauen Augen auf, und in ihnen lag das geruhige Lächeln selbstsicherer Überlegenheit. Eine linde Fröhlichkeit wallte in ihr auf, und sie dankte ihm kaum merklich mit einem Lächeln. Das Herz wurde ihr leicht neben seiner behütenden Kraft.

Er geleitete sie die Kirchentreppe hinauf, und während jetzt aus der Volksmenge Hohn und Erbitterung in Wellen zu dem Häuflein der Geschlechter emporschlug, stand er mit halber Schulterwendung gegen den Pöbel lächelnd vor ihr und schien wie ein Pfeiler den brandenden und spritzenden Haß von ihr abzuhalten.

Klaus von Bismarck bot in seiner straffen Jugendfülle ein schönes Bild gesammelter Kraft und abwartender Streitfröhlichkeit. Aufregender als laute Schmähung wirkte auf die erbitterte Menge die Anmut seines lässigen Hochmuts. Der Adel seiner herrischen Erscheinung strahlte nicht von der reichbestickten und verbrämten dunkelblauen Gewandung aus, sondern sprach aus den kühnen und großen Linien des bartlosen Jünglingsgesichts, aus dem Umriß des langgewölbten Schädels unter der aschblonden Lockenfülle, aus der schlanken Anmut des freien Halses und aus dem königlichen Wuchs der Glieder, in deren unausgeglichener Herbheit die spätreifende Kraft des Niedersachsen gebunden lag. Er hielt die lose zur Faust geballte Rechte mit dem Daumen in den Gürtel des Wehrgehenks eingehakt, und die fast zu große Männerhand barg sichtbar eine bärenhafte Stärke.

Seine Aufmerksamkeit schien ganz der leise geführten Unterhaltung der älteren Gildebrüder zugewandt und war doch unmerklich zwischen ihnen und der Beobachtung der auf geregten Menge geteilt.

Die meisten der adligen Herren konnten ein verdrießliches Unbehagen nicht ganz verbergen. Sie waren bislang nur zu sehr gewohnt gewesen, in allem der wegweisenden Führung Rule Bismarcks zu vertrauen. In der Nacht war der Alte von jähen Herzbeschwerden in die Kissen geworfen worden, und schon machte sich das Fehlen seiner Persönlichkeit bemerkbar. Ein Teil der Gildeherrn hatte es vorgezogen, einen öffentlichen Kirchgang, der leicht an verschlossenem Portal endigen konnte, zu vermeiden, andere wieder trieb der Herrentrotz, sich mit eigenen Augen Sicherheit über Trug oder Wahrheit der umlaufenden Gerüchte zu holen. Nun standen sie zum ersten Male in einer Schicksalsstunde der Geschlechter als ein Häuflein vor dem empörten Pöbel, statt durch Vollzahl und Einigkeit ihre Entschlossenheit zu bekunden oder durch gänzliches Fernbleiben den Zusammenstoß bis zu einer günstigeren Stunde hinauszuschieben.

Besorgt neigte sich der greise Schadewachten dem jungen Klaus zu und raunte: »Wie steht's mit dem Vater?«

Klaus Bismarck entging es nicht, daß die Frage von den zunächststehenden Handwerkern aufgefangen wurde, und las von den vorgestreckten Gesichtern die Neugier ab. Er warf den Kopf noch hochmütiger auf und antwortete lauter als nötig: »Besser, Freund, besser! Er fühlt sein Blut in neuer Kampflust genesen, seit er das Laufen und Schwatzen in den Gassen hört!«

Einen Augenblick wurde es still, dann antwortete der kecken Rede ein vielhundertstimmiges Summen, das schwellend wuchs und in laute Verwünschungen ausbrach. Geballte Fäuste erhoben sich, und ein Menschenknäuel, in dessen Mitte Klaus Bismarck die sehnige Gestalt des jungen Schmiedemeisters Stotfalke bemerkte, drängte sich drohend durch die Menge nach der Kirchentreppe.

Aber ehe der Handwerksmeister noch den Mund öffnen konnte, rief mitten aus dem Volke ein Bismarckscher Knecht, für den es kein Durchkommen mehr gab, den Namen des Herrn Konrad von Hidde.

Noch einmal wurde es still, und der Knecht könnte sich mit lauter Stimme über die vielen neugierig gereckten Köpfe hinweg seines Auftrags entledigen: »Herr Rule Bismarck will mit Herrn Hidde reden!«

Der Gildeherr wandte sich unverzüglich zum Gehen, um dem Ruf des Kranken zu folgen. Als aber sein Auge die Gestalt seines Töchterchens streifte, blieb er unwillkürlich unschlüssig stehen. Sollte er sich mit ihr in das Gedränge wagen? Sollte er sie in der Hut der Freunde zurücklassen?

Es entging seinem klugen Auge nicht, daß sich Ursels und Klaus' Blicke in einem frohherzigernsten Einverständnis getroffen hatten, als der Knecht seine Botschaft ausrichtete. Beide glaubten zu wissen, was die Väter miteinander zu bereden hätten. So reichte Konrad Hidde dem jungen Bismarck nur wortlos die Hand und empfand den Gegendruck wie ein Gelöbnis. Er wußte sein Kind in Sicherheit und schritt erhobenen Hauptes durch die auseinanderweichende Menge.

Noch war die Gasse hinter ihm nicht wieder zusammengeflossen, als eine schrille Knabenstimme schrie: »Sie kommen! Sie kommen!«

Die Wirkung der Ankündigung war eine ungeheure. Lautlos fast, in atemengender Erregung schob sich das Volk nach dem Rufer hin zusammen. Da jagte auch Hardekop, der hagere, rothaarige Gerber, die Kirchgasse herauf, und schrie atemlos das Neueste aus: »Sie sind im Stift! Sie kommen in Prozession! Sie lassen Kerzen zünden! Sie –«

Eine Frauenstimme überschrie den Erregten: »Die Glocken! Die Glocken!«

Und wahrhaftig, jetzt mischten die Glocken der ganzen Stadt ihre ehernen Stimmen in den Streit der Menschen. Es war kein Zweifel mehr, daß die Geistlichkeit im Begriff stand, einen entscheidenden Schritt zu tun.

Als die Glocken laut wurden, hallte denn auch ein wilder Freudenschrei aus der Menge. Endlich war der ersehnte Tag der Abrechnung da!

Auf der Kirchentreppe neigte sich der greise Schadewachten zu Klaus Bismarck: »Ich wollte, wir ständen nicht hier. Das läuft nicht gut. Konnten wir nicht so klug sein wie die andern, die den Lärm zu Hause abwarten! Was haben wir nun davon, uns aus der Kirche jagen und verlachen zu lassen!«

»Verlachen?« gab Klaus hochmütig zurück, und der Ton der Stimme verriet, daß er sich nicht wehrlos fühlte und gegen Hohn und Spott nicht um eine Antwort verlegen sein würde.

Und er brauchte nicht lange zu warten. Stotfalke, dem eine wilde, gehässige Freude das hagere Gesicht rot überstrahlte, schrie drohend zu dem Häuflein auf der Treppe empor: »Herren von Rat und Gilde! Hört's! Hört und merkt auf! Hört auf die Glocken! Das gilt Euch!«

Und nun trieb es die Hunderte unwiderstehlich, den Gildeherrn ihren Haß ins Angesicht zu schreien. Sie nahmen den Ruf auf. »Hört! Hört die Glocken, Ihr da!«

Immer feindseliger schwoll das Geschrei an, dicht an Klaus Bismarcks Ohr wurde eine harte Greisenstimme laut: »Hört die Glocken! Hört Euer Schandgeläut! Hört den Bann, den die Glocken über Euch ausrufen!«

Klaus maß den vor Erregung zitternden Alten mit einem verächtlichen Blick. »Schrei nicht so laut, so hört sich's noch besser!« gab er spöttisch zurück.

»Noch immer Spott!?« Drohend schnellte Stotfalke die Stufen bis zu dem jungen Gildeherrn empor, der den Anspringenden kühl von Kopf bis zu Füßen musterte. Seine roten Lippen waren geschürzt.

Dem jungen Handwerksmeister wurde das Blut heiß.

»Fort mit Euch von der Kirchentür!« schrie er überlaut, »die Kirche stößt Euch aus! Wie lang noch, so stößt Euch die Stadt aus! Ihr sollt nicht mehr lange in Rat und Gilde sitzen! Ihr –«

Schäumend fast vor Zorn brach er jäh ab, außer sich gebracht durch den stummen, doch schneidenden Hohn, der aus Klaus Bismarcks Gebärde sprach. Einen Augenblick sah es aus, als würde er dem Gegner in tierischer Wut an die Kehle fahren. Er schüttelte die geballten Fäuste: »Du –! Du, mach mich nicht toll! Du mit deinem Armverschränken und Kopfaufwerfen. Die Augen zur Erde, du, du Kind du! Mach mich nicht toll!«

»Wozu auch? Du bist toll genug.« Gelassen gab es der Bedrohte zurück.

Stotfalke trieb rasende Erbitterung zu immer wilderen Schmähungen. »Wir lehren Euch noch Bescheidenheit, Knabe! Euch allen! Aber dir vor andern! Heute stößt Euch die Kirche aus, morgen, Herrlein, morgen reden wir mit Euch! Wir, wir, das Volk, das Handwerk, der gemeine Mann jagen Euch von Euren Schöppenstühlen! Heute brechen sie Euch die Kirchenstühle, morgen –«

»Leimt Ihr sie uns wieder«, vollendete Klaus trocken.

Der Handwerker fuhr auf: »Hüte dich!«

»Das tu ich«, kam es gelassen zurück.

Stotfalke fühlte sich in seinem schäumenden Grimm wehrlos gegen den überlegenen Geist des Gildjunkers, und doch wußte er, daß die vielen hinter ihm darauf warteten, daß er den Verhaßten demütigte, der nicht aus seiner Ruhe zu locken war. Und er, Stotfalke, er wollte den Hochmütigen unterducken, und sollte er's mit den Fäusten tun. Alle Macht war in seinen Händen in dieser Stunde.

Er rückte Klaus noch dichter auf den Leib. »Herunter mit dir von der Kirchenschwelle!« schrie er, aber er packte doch nicht zu. »Herunter! Die Kirche kennt dich nicht!« In Klaus' Haltung hatte sich nichts geändert, er ließ das Auge über die Kirche schweifen und zu den noch von Baugerüsten umkleideten Turmstümpfen emporgleiten. »Ich kenne sie um so besser. Sie wird von meines Vaters Gelde erbaut.«

Stotfalke hohnlachte. »Pocht Ihr noch auf Geld? Pocht Ihr noch auf Macht? Es ist zu Ende mit Euch! Von Stufe zu Stufe –«

In der Besinnungslosigkeit seiner Wut hatte sich der Handwerksmeister hinreißen lassen, den unbeweglichen Gegner mit Gewalt zu verdrängen. Aber »Obacht, Mann, die Stufen!« rief Klaus kühl und stellte dem auf ihn Eindringenden ein Bein, daß er taumelnd in die Luft griff und die Treppe hinabstürzte.

Ein vielstimmiger Wutschrei brandete auf. Stotfalke raffte sich mit geballten Fäusten vom Boden auf, um von neuem die Treppe anzustürmen. Hardekop und andere drängten nach.

Aber plötzlich fühlte sich der Wütende am Arm gepackt und hörte an seinem Ohr eine fremde Stimme, die wie ein Heroldsruf klang: »Ho, sie kommen! Ho, sie kommen!«

Sogleich strömte die Menge stürmisch die Gasse hinauf der Prozession entgegen. Stotfalke sah sich mit einmal allein den Gildeherrn gegenüber. Nur der Fremde, der den Ruf ausgestoßen hatte, stand neben ihm und war bestrebt, ihn den andern nachzuziehen. Als der Rasende sich umwandte, blickte er gerade in zwei dunkle, seltsam ruhige und herrische Augen. Da folgte er dem fremden Willen ohne Widerstand.

Auch Klaus Bismarck war die hohe Gestalt, deren Schlankheit noch durch die schlichte, schwarze Gewandung gehoben wurde, aufgefallen, aber es war nicht Zeit, über ein fremdes Gesicht nachzudenken.

Rasch sprang er die Stufen hinunter und spähte in die Gasse. Dann wandte er sich zu den Seinen zurück. »Nichts. Es ist niemand zu sehen. Ein falscher Lärm.«

Der alte Sluden legte dem jungen Draufgänger mit einem Lächeln die Hand auf die Schulter und setzte hinzu: »der dir aber sehr zur rechten Zeit kam!«

Klaus nickte mit einem leisen Lächeln. Dann fragte er nachdenklich: »Wer war der Fremde, der sein ›Ho, sie kommen!‹ schrie, als würfe er einen Knochen unter die Hunde? Kennt ihn keiner?«

»Gleichviel, gleichviel,« brach Schadewachten ab, »er hat uns, ohne es zu wollen, einen Abzug in Ehren verschafft. Wer klug ist, geht nach Hause, ehe er mit Spott und Schande heimgejagt wird.«

Auch Sluden wandte sich zum Gehen. »Gott befohlen, Freunde!« sprach er lächelnd zu den ernst gewordenen Gildebrüdern, »Gott befohlen, wenn einer im Kirchenbann so sagen darf. Auf Wiedersehen nachher bei Rule Bismarck!«

Röxe und Jerichow schlossen sich Schadewachten an, während Klaus und Ursel Hidde einen Weg mit dem alten Sluden hatten. Der greise Schalk aber bog so rasch um die Häuserecke, als ließe er die beiden jungen Leute absichtlich zurück. Klaus verstand den Alten und schaute ihm lächelnd nach, dann wandte er sich mit einem Scherzwort an Ursel: »Ein Schelm, der alte Godin! Aber du glühst ja, Ursel?«

»O du,« gab das Mädchen leicht zurück, aber die Augen leuchteten ihr dabei verräterisch auf, »mit deiner flinken, kecken Zunge, du! Willst du jetzt deinen Spott mit mir treiben? Für heute hast du, scheint mir, genug gesprochen!« Sie reichte ihm lachend die Hände. »Klaus, dein Hochmut hat sie wie Pfeffer in die Augen gebissen! Was bist du dreist!«

Die beiden, denen herzliches gegenseitiges Gefallen aus den Augen leuchtete, hatten sich nur wenige Augenblicke versäumt, aber diese kurze Spanne wurde ihnen verhängnisvoll. Das Volk, durch den falschen Alarm nur kurze Zeit getäuscht, strömte wieder über den Kirchplatz, und Klaus vermochte nur noch mit knapper Not von neuem die Kirchentreppe zu gewinnen, ehe er und das Mädchen in die Menge eingekeilt wurden, von deren Gereiztheit jede Beschimpfung zu gewärtigen war.

Der Janhagel, der sich am weitesten vorgedrängt hatte, erkannte kaum die Lage der beiden, als er wie auf stumme Verabredung sich vor der Kirchentreppe zu einer Schandgasse teilte und mit hämischem Zuruf zum Abzug trieb.

»Nicht durch diese Gasse, Klaus!« flüsterte Ursel, die bis in die Lippen erblaßt war, Klaus ins Ohr. Ihr Stolz gab dem seinen nichts nach, und eher hätte sie sich auf der Stelle in Stücke reißen lassen, als dem Pöbel zu Willen zu sein.

Klaus wechselte mit der Geliebten einen raschen Blick, dann war sein Entschluß gefaßt. Er suchte die Nächststehenden durch herrisches Darauflosgehen zu verblüffen. »Platz da!« fuhr er den Vordersten an und suchte, das Mädchen an seiner Hand, die Menschenmauer seitlich zu durchbrechen, um den offenen Markt zu gewinnen. Es wäre ihm auch nach Wunsch gelungen, hätte sich nicht im letzten Augenblick der Gerber Hardekop statt der unwillkürlich Zurückweichenden in die entstandene Lücke geworfen. »Laßt sie nicht durch!« schrie er und Starrte dem verhaßten Gildejunker mit wutfunkelnden Augen ins Gesicht.

Aber auch diesmal wieder kam den Bedrängten unerwartete Hilfe von jenem Fremden, der vorher durch seinen Zuruf die Menge vom Platz gescheucht hatte. Er stemmte sich mit ruhiger Gewalt gegen den Andrang und rief den nächsten mit seiner tiefen Stimme, von der eine seltsame Macht ausging, entgegen: »Nicht doch, Leute! Gebt Raum! Wollt Ihr ein Mädchen beschimpfen?«

Klaus nutzte mit der ihm eigenen Entschlußbereitschaft die augenblickliche Verblüffung aus und gewann, während der Fremde ihm zur Linken den Andrang abhielt, und er selbst zur Rechten mit einem herrischen »Platz da!« freie Bahn machte, den offenen Markt.

Im selben Augenblick schwang sich Hardekop hinter ihm auf die verlassene Kirchentreppe und rief den Abziehenden in geifernder Gehässigkeit nach:

»Pack dich nach Hause, Gildejunker! Leg dich ins Bett wie dein Vater! Stell dich krank wie der alte Fuchs! Aber sag ihm, wir werden ihn doch finden, sag ihm das, Gildejunker! Sag's dem kranken Rule Bismarck! Er soll sich hüten!«

Klaus war entschlossen gewesen, den Hohn des Gesindels zu überhören, aber jetzt, als er seinen Vater auf offenem Markt beschimpfen hörte, verdunkelte ihm der Zorn die blauen Augen, er ließ das Mädchen von seiner Hand und drang drohend in den auseinanderweichenden Haufen zurück, als wollte er den Gegner von den Stufen der Kirchentreppe herunterreißen.

Es wurde ganz still auf dem Platz vor St. Marien, als der Jüngling, blaß bis in die Lippen, zurückkehrte und dem kläffenden Gegner die Stirn zeigte, von der eine zermalmende Kraft strahlte.

Hardekop wich unwillkürlich noch einen Schritt tiefer in das offene Portal zurück und rief schrill und drohend: »Komm an, du! Wag's und brich den Kirchenfrieden!«

Mit einem Schlage erlosch die flammende Wut des Jünglings, er glaubte zu spüren, wie ihm das Blut kalt wurde vor Verachtung. »Du Affenherz«, rief er, »hüte dich! sobald ich das Mädchen aus deiner schmutzigen Nähe heimgeleitet habe. So wahr ich Rules Kind bin, du sollst ihm abbitten!« Danach wandte er sich kurz um, umfaßte mit schützender Kraft die bebende Ursel Hidde und schritt mit ihr über den Platz. Hohngelächter und Schmähungen schallten hinter ihm drein. Er wandte nicht mehr das Haupt, er preßte dem Mädchen beschwichtigend die kalt gewordene Hand. »Laß sie, Liebste! Das ist Hundeart.«

Der Auftritt hätte so sehr alle Aufmerksamkeit der Menge auf sich gezogen, daß die jetzt wirklich die Kirchgasse heraufziehende Prozession fast unbemerkt blieb. Erst Stotfalkes lauter Ruf »Platz! Platz den Domherren!« ließ die Menge auseinanderweichen und ehrfürchtig in die Knie sinken. Weihrauch wallte auf. Bunte Heiligenbanner wallten, die roten Käppchen der Chorknaben leuchteten, das Gold der Meßgewänder strahlte, ein Traghimmel schwankte vorüber, braune Kutten folgten, schwarze Kutten –. Dann war der feierliche Zug im Inneren der kerzenhellen Kirche verschwunden. Das Volk drängte nach, und der Platz wurde leer.

Nun schwiegen auch die Glocken.

Da löste sich die dunkle Gestalt des Fremden von der roten Backsteinmauer des Schulbaus und schritt langsam der Kirche zu. Aber er öffnete sich nicht die schon verschlossene Pforte, sondern stand ein paar Augenblicke nachdenklich davor und glich in seinem bestaubten Reisekleid fast einem trotzigen und verstoßenen Büßer. Dann ließ er sich in einen der Steinsitze nieder, die rechts und links in die tiefe Leibung des Portals eingefügt waren.

Der da einsam saß und grübelte, war Herr Ludwig von Wittelsbach, der Herr des Landes. Es fiel dem neuen Markgrafen nicht schwer, unerkannt durch Stendal zu gehen. Er war in seinem Reiche den Augen so fremd wie den Herzen.

Das Herz des Fürsten war schwer und bedrückt, und doch schwang zutiefst in seiner Seele die warme Wallung einer jungen und ungeklärten Freude.

Woher nahm er in dieser trüben Stunde Grund zur Freude? Wahrhaftig, die Luft Stendals mußte bitter auf seinen Lippen schmecken. Er war ausgezogen, bei den reichen Geschlechtern der Stadt Verständnis und Hilfe für die Not des Landes zu suchen, und fand hier alle Nöte seines Volkes wie in einem schreckhaften Bilde vereinigt. Haß und Hader schienen dem unglücklichen Leibe des Staates alle Adern bis zum Weißbluten geöffnet zu haben.

Den einsamen Mann fröstelte in der Morgenkühle. Aber es war kein körperliches Kältegefühl, seinen Leib durchschauerte eine Erregung, die er von Waffengängen, vor Tau und Tag getan, wohl kannte. Auch heute galt es einen Streit und vielleicht eine Entscheidung. Aber zu diesem Streit war die schwertgewohnte Hand untüchtig, Herz und Hirn mußten ihn ausfechten.

Vor Wochen schon hatte er, ganz vom leidenschaftlichen Willen erfüllt, das sterbende Land zu erlösen, einen Brief an Herrn Rule von Bismarck geschrieben. Jedes Wort des Schreibens war von seinem heißen Blut fühlbar durchtränkt; vielleicht hatte er gerade darum dem kühlwägenden Sinn des eigenwilligen Greises mißfallen. Hilf mir! hatte er geschrieben, Du weißt, wie es um die Mark steht. Du weißt auch, daß Du nicht stehen kannst, wenn alles fällt. Du weißt wie ich, daß Eure städtischen Geschlechter die letzte lebendige Macht in diesem armen Lande sind. Ihr allein seid reich, alle andern sind Bettler. Aber hütet auch Ihr Euch! Die Sterbestunde der Mark ist nahe. Wendet Ihr sie nicht ab, so sterbt Ihr mit uns! In Eure reichen Häuser wird zuerst die Räuberhand des lauernden Feindes greifen. Rettet mich, und Ihr rettet Euch! Öffnet mir die Truhen der Geschlechter, helft mir die verpfändeten Landesteile auslösen, helft mir Schwerter schmieden und Hände waffnen. Ihr steht und fallt mit mir, so laßt uns Rücken an Rücken stehen!

Rule von Bismarck hatte seinem Fürsten karge und abschlägige Antwort gegeben, er hatte ihm geschrieben kaum anders, als man einem Bettler schreibt. Herrn Ludwig von Wittelsbachs zäher Wille aber überwand auch gedemütigten Fürstenstolz. Er raffte sich auf und fuhr nach Stendal, um Herrn Rule von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ihm die verschlossene Hand zu öffnen. Nun war er in Stendal. Er fand den Retter, den er hatte beschwören wollen, siech und todverfallen, fand ihn und seinen Erben im Kampf um Leben und Tod mit den Bürgern seiner Vaterstadt, er saß vor der Kirche, in der eben der Bann schreckhaft über ihre Namen dahinfuhr. Und doch wallte die leise Freude in seinem Herzen, und er wehrte ihr nicht.

Das machte, er hatte einen Menschen gesehen. Dieser Klaus von Bismarck, der wie ein junger David an ihm vorüber geschritten war, sicher im Gefühl der adligen Kraft des Leibes und der Seele, war ein Mensch, den zu ergreifen sich lohnte. Das erkannte er mit dem sicheren Spürsinn des menschenkundigen Mannes und angeborener Herzensverwandtschaft.

Könnte ich diesen Klaus von Bismarck aus Stendal reißen wie einen Brand aus dem Feuer! dachte Herr Ludwig, mit ihm wollte ich die Nacht aus dem Lande scheuchen! Seine Gedanken wurden Klang; und er summte vor sich hin:

»Ein goldenes Netz hält mich umstrickt,
ich kann mich nicht entwirren.
So einer für mich zückt das edel gold'ne Schwert,
hei! hei! wie sollte klirren mein Stahl,
dem jetzt der Streit in Schanden ist verwehrt!

Er erhob das Haupt und sah Klaus Bismarck langsam über den Platz zurückkommen. Noch brannte die Rauflust ungekühlt in dessen blauen Augen. Da gewahrte dieser den Stadtfremden und schritt rasch mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ich habe Euch zu danken, Herr. Ich habe wohl gemerkt, wie Ihr mir zweimal Luft schafftet. Darf ich wissen, wer Ihr seid?«

Herr Ludwig ließ die Hand des Jünglings langsam durch die seine gleiten, aber den Dank wehrte er leicht ab. »Wozu hilft Euch mein Name?« lächelte er, »er klingt nicht gut in der Nähe von Kirchen! Nehmt mich für Euresgleichen, für einen Mann, dem's ziemt, auf der Kirchenschwelle zu hocken, wenn die Messe gelesen wird! Es dauert nicht lange, so sind wir Gesellen, Herr Klaus von Bismarck. Schwingt Euch auf den Sitz zur Linken und wartet ein Weilchen, so geschieht Euch da drinnen, wie mir geschah.«

Die Stirn des jungen Mannes überschattete sich leicht. Trotz seines streitfröhlichen Herzens mißfiel ihm die leichte Art des Fremden. Der Markgraf gewahrte es und änderte den Ton. Mit verstellter Gleichgültigkeit holte er Klaus aus über das, was in Stendal vorging, und dieser deckte in knappen Worten den Kern des Machtkampfes auf, der die Stadt bewegte. Er geriet, ohne es zu wissen, immer mehr in Eifer und zuletzt klang seine Stimme beinah wie Streitruf.

Unverwandt sah Herr Ludwig dem Redenden ins Angesicht und fühlte, wie die Freude in seinem Herzen wuchs. Er sah das leise Spiel der Muskeln in Antlitz und Händen des Jünglings, die scheinbar ganz in beherrschter Ruhe lagen und doch sichtbar von Wille und Leidenschaft belebt waren, er sah das Aufdunkeln und Abschwellen des blauen Geäders in den gehöhlten Schläfen und hatte seine Lust an dem vollen Klang der Stimme. Alles, was Klaus Bismarck sprach, war parteiisch und leidenschaftlich und erhellte dennoch mit verblüffender Klarheit die ganze Lage. Gildejunker vom Scheitel bis zur Zehe, herrisch in seinem Pochen auf ererbtes Recht, schneidend in seinem Hohn auf den Pöbel, furchtlos in seinem Trotz gegen die Kirche, schien er dem lauschenden Markgrafen doch fast zu groß für diesen Bürgerzwist, der ihn ganz erfüllte.

Er warf nur sparsam Zustimmung und Frage in die Worte des Jünglings. Als Klaus schwieg, hörten beide den Schall der Responsorien aus der Kirche tönen. Wortlos lauschten beide eine Weile, dann schien der Fremde ganz in sich selbst zu versinken und summte, gleichsam absichtslos, eine eigene Weise in den auf- und abschwellenden Gesang der Gemeinde.

»In fremder Truhe wohlverwahrt,
weiß ich ein Schwert von Golde,
danach geht meine Fahrt.
Das edel gold'ne Schwert,
wer mir's ergraben wollte,
der Mann wär' mir wohl tausend Kampfgesellen wert!

Das lautre Schwert hat Zauberkraft,
es lockt und bannt das Eisen.
Zück' ich es aus der Haft,
das lichte, gold'ne Schwert,
und laß es ob mir kreisen, hei,
wie sich alles tapfre Eisen zu mir kehrt!

Reich' her! Reich' her das gold'ne Schwert!
Von Stahl ein Ritterdegen
wird dir dafür beschert.
Nimm hin und schlage ein,
reit' mit auf meinen Wegen,
so soll die Welt noch unsre Sattelbeute sein!«

Klaus Bismarck hörte kaum halb auf den Singsang des Fremden und ahnte nicht, wie nahe die versteckten Worte ihn angingen, die spielend auf ihn zielten. Doch fing er unabsichtlich ein paar Worte auf und lachte, als der andere schwieg: »Ja, wahrhaftig! Ein Schwert! Hier könnten wir Schwerter brauchen! Das wäre noch eine Lust, wenn wir hier rechts und links der Kirchentür wie ein paar Helden aus den alten Mären säßen, breite Schwerter querüber auf den Schenkeln, und dem Pack da drinnen den Ausgang wehrten, nur mit den Augen, die wir grimmig und kalt zwischen dem Gesindel und dem nackten Eisen auf unsren Schenkeln schweifen ließen, bis sie da drinnen in verbrauchter Luft und fadem Weihrauch ersticken müßten!«

»Ihr habt ja ein Schwert auf Euren Schenkeln!« Lauernd fast fühlte Klaus den dunklen Blick des Unbekannten auf sich ruhen. Er sah ihn fragend an. »Ich?« »Freilich Ihr! Es ist das Goldschwert, von dem ich sang.«

Langsam stand der Jüngling auf und trat nahe an den Fremden, der ihn unverwandt ansah. »Ich verstehe Euch nicht, Herr – aber ich verstehe, Ihr wollt etwas von mir. Was wollt Ihr von mir?«

Herr Ludwig von Wittelsbach fühlte seine Stunde gekommen. Was half es, länger mit Liedern und versteckten Worten nach einem Herzen zu zielen, das es frisch zu ergreifen galt!

Er wollte reden, aber in diesem Augenblick begannen die Glocken der ganzen Stadt zu läuten, und die Orgel erdröhnte hinter der verschlossenen Pforte. Klaus Bismarck richtete sich straff auf, als träte ihm jetzt erst der Gegner gewappnet gegenüber und rief spöttisch: »Ah! horcht! Die heilige Stunde ist da, die den großen Wandel bringt. Jetzt lesen sie Rule Bismarcks Namen von allen Kanzeln Stendals.«

Die Glocken schwangen aus. Die Orgel vertönte. In die tiefe Stille klang aus der Kirche ein dreimaliges, feierliches Wehe! Rom hatte seinen Bann gesprochen über Rule Bismarck und sein Geschlecht, und vor der Pforte stand Rules Erbe; und warf zur Antwort das trotzige Haupt nur um so herausfordernder in den Nacken.

Eine Weile war es still. Dann fing der Fremde an zu Klaus Bismarck zu reden, aber seine Stimme klang verändert. Grollend fast und schmähend sprangen ihm die Worte von den Lippen, daß der Jüngling betroffen aufhorchte. »Ja, werft nur das Haupt in den Nacken, Herr Klaus von Bismarck, Ihr habt Grund! Ihr habt einen großen Handel in dieser Stadt! Groß fühlt sich der Ritter, wenn er Kaufleute plündert, groß fühlt sich der Städter, wenn er adlige Raubnester berennt, groß der Handwerker, wenn er die Geschlechter haßt und beschimpft, groß der Gildejunker, wenn er alte Rechte hütet wie Königskronen, groß der Pfaffe, wenn er den Hader schürt und sein Wehe ruft – groß seid Ihr alle, alle, und nur die Mark, die Eure Mutter ist, liegt vor den Hunden!«

Erstaunt hatte Klaus die zornige Rede über sich hinfahren lassen, aber die letzte Wendung ließ ihn verächtlich lächeln. »Die Mark –?« gab er gedehnt zurück. »Gibt es noch eine Mark, seit die Markgrafen tot sind?«

»Noch lebt ein Markgraf!« rief der Unbekannte fast drohend. – Aber Klaus lachte ahnungslos. »Der Wittelsbacher, meint Ihr? Kennt Ihr seinen Schildreim? Kein Pfündlein Mark in den Knochen, keine Mark Silber, darauf zu pochen und ein Bettelsüpplein zu kochen – drum heißt er Herr der Mark!«

Da trat der andre dicht und drohend vor den Lachenden hin, und aus seinen Augen brach ein lodernder Zorn. »Schweigt von dem Reim!« herrschte er ihn an. Aber im selben Augenblick erlosch die heiße Flamme, und er sank wie unter einer unerträglichen Last auf der Kirchenschwelle zusammen.

Klaus schaute, im tiefsten betroffen, auf den gebrochenen Mann und wollte die Lippen zu einer Frage öffnen, aber der andre hob beschwichtigend die Hand. »Ihr höhnt einen toten Mann mit Eurem Schandreim,« sagte er leise, »seit Wochen herrscht ein anderer Wittelsbach!«

»Herrscht er?« spottete Klaus ärgerlich. »Worüber herrscht er noch? Die Altmark ist den Welfen verpfändet! Sachsen ist verpfändet, Pommern ist verpfändet, Brandenburg ist verpfändet, die Uckermark ist verpfändet – gibt es noch einen Fußbreit Landes, der nicht verschachert ist?«

Da richtete sich der Zusammengesunkene auf, und dicht vor Klaus hintretend, stand er in ebenbürtiger Größe vor ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Darüber spottet Ihr?«

Klaus fühlte, ohne darüber nachzudenken, wie aus dem Wesen des Unbekannten eine fremde Kraft in ihn einströmte. Er hielt den Blick der dunklen Augen voll aus und wurde ernst. Aus seiner Stimme war der Spott verschwunden, als er weitersprach. »Es ist kein Grund zum Spott. Verdirbt die Mark, so verderben wir mit. Aber, was hilft's! Jeder rettet im Schiffbruch, soviel er kann. Nennt's klein oder groß, worum ich kämpfe! Es ist alles, was ich erkämpfen kann. Wißt Ihr etwas, das größer ist, so sprecht!«.

Der Atem des andern ging schwer, seine Augen strahlten in einer dunklen und starken Glut und hauchten fühlbar die Dämonie eines herrischen Willens aus. Er schien körperlich zu wachsen und zwang den sechs Fuß hohen Bismarck zu ihm aufzusehen. Seine Stimme schwang und schwoll in Kraft. »Ja, Klaus Bismarck, ich weiß, was groß ist. Heiland der Mark zu sein – das nenne ich groß! Die Mark braucht einen Heiland. Die Mark von ihren ungezählten Leiden erlösen, das allein ist groß und manneswürdig.«

Klaus empfand bewußt das seltsam Ungewöhnliche in Wesen und Worten des Fremden, und die dunkle Mischung von Schwermut und suggestiver Kraft zog ihn geheimnisvoll an. Er lauschte fast durstig, gepackt von dem Zauber der Persönlichkeit des fremden Mannes. Ludwig von Wittelsbach ahnte nicht, wie sehr er schon von des Jünglings verwandter Seele Besitz genommen. – Aber auch er war über sich selbst hinausgerissen, und die Flut seiner Worte strömte farbig und voll trunkener Kraft dahin.

»Wenn Gott der Mark einen Helfer schickte, er müßte durch die Städte des Landes gehen und Jünger suchen. Er brauchte Jünger. Einen Jünger vor allen, einen Petrus, einen Säckelbewahrer und Schwerthüter. Wenn ich – höre wohl! – wenn ich der Markgraf wäre, ich ginge nach Stendal, meinen Jünger zu suchen, der Klaus von Bismarck heißen sollte! Ich spräche zu ihm: Klaus, du bist zu schade, in Bettlerfehden zu verbluten. Du taugst mir, meine Mark zu retten! Und ich spräche zu ihm: Deinem Urahn gab sein König voreinst Schwert und Schild und hieß ihn reiten. So kam dein Ahnherr nach Stendal. Er warf sein Schwert in die Truhe und griff zum Rechenstift. Aber der Stift wurde zum Zauberstab, und sein Stahlschwert wurde zum goldenen Schwerte, das die Welt bezwingte. Das erbte vom Ahn auf Enkel und kam in deine Hand –«

Klaus Bismarck hob die Hand. Auch sein Atem ging schwer. Die Hand auf seiner Schulter wog schwer wie Erz und schien sich wie eine Erzfaust in Rock und Haut einzuschmieden. »War das,« rief er, »Euer Lied vom goldenen Schwert –?«

Aber der andre schien ihn nicht zu hören. »Wenn ich der Markgraf wäre, ich spräche: Klaus Bismarck, willst du dein goldnes Schwert für mich brauchen? Das Goldschwert und deinen klugen Kopf, den Herrschersinn des Kaufherrn und die Stahlfaust des Reiterenkels – willst du das alles brauchen für mich, deinen Fürsten, für Brandenburg? So laß Stendal und seinen Bettlerhader! Vertrage dich mit den Kleinen und schlage dich mit den Großen! Die Mark steht in Brand, dein Fürst ruft aus den Flammen nach dir! Du sollst reiten und Schlachten schlagen, raten und taten für Brandenburg! Heide und Wald dehnt sich um Schloß Burgstall, nimm's als Lehen von mir! Meine Hand liegt auf deiner Schulter und teilt Lehen, als wäre sie mein Kurschwert. Burgstall ist dein Lehen, ich bin dein Fürst, du bist mein Mann. Vertraue mir, und die Mark ist frei!«

Jäh rief da der Jüngling in die heißen, werbenden Worte des andern: »Ihr seid der Markgraf!« Und Ludwig von Wittelsbach stand königlich vor ihm und streckte die Hand aus, die Klaus ergreifen sollte –

Aber mit einmal losch die Glut in seinen Augen aus, die Arme sanken ihm schlaff nieder, und ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Betroffen wandte Klaus das Haupt und sah nun auch, was jener gewahrte.

Eine Schar armer Leute aus der Bettlervorstadt trug rohe Holzsärge, in denen die Opfer der würgenden Pest lagen. Gespensterhaft zog das Elend die Gasse herauf und verschwand hinter der Kirche. Geißelbrüder mit nackten Füßen und entblößten, blutrünstigen Rücken, mit Augen, die in dem stumpfen Glanz des Irrsinns leuchteten, zogen voran. Schwarze Holzkreuze und dunkle Büßerfahnen schwankten. Und nun hob sich von den blassen Lippen ein rauhes, mißtönendes Singen und verwob sich schauerlich mit dem Klatschen der Geißeln, mit dem Schreien und Stöhnen und dem Tappen und Schlurfen der müden, staubigen Füße.

Es schleicht das große Sterben
und will die Welt verderben,
uns bleicht der große Tod.
O weh, der bittren Not!
Hilf, Christe! Wehre! Wehre!
Hilf, Christe! Miserere! ... Miserere! ...«

Das war das Jammergefolge der Pest, die wie ein Vampir unter den Kindern der unglücklichen Mark um sich fraß. Das düstre Elend deckte vorüberhuschend die beiden Männer wie ein finsterer Schatten. Noch schwang der Klang der von heißer, leidenschaftlicher Hoffnung bebenden Fürstenworte über dem weiten Platz, aber der Klang erstickte in dem Brodem des Elends, der wie Nebel und Fieberdunst mit einmal die Luft dick und trübe machte.

Herr Ludwig von Wittelsbach stöhnte auf. Eben noch hatte er nach der Antwort eines Menschen gelechzt. Gab nicht Gott selber Antwort? Sein übervolles Herz, das eben noch fast schmerzvoll von Wille und Hoffnung erfüllt war, ertrug nicht den jähen Anblick dieser blutleeren Fratze der Wirklichkeit, die ihn und seine Worte verhöhnte. Eine körperliche Schwäche wandelte ihn an, er sank auf den Kirchenstufen zusammen und ächzte.

Nur das leise Ächzen des geschlagenen Mannes war hörbar auf dem weiten Platz. Aber dieser fast lautlose Klang erschütterte den jungen Klaus tiefer als alle lauten Worte. Ein hilfreicher Wille brannte heiß in ihm auf. Das Herz des Jünglings riß die Entscheidung an sich, über der sein Kopf während Ludwigs Worten fieberhaft arbeitete. So heiß der Fürst den freien Bürger umworben hatte, in diesem Augenblicke gab sich doch nur der Mensch dem Menschen.

Tief beugte sich Klaus Bismarck über Ludwig von Wittelsbach. »Ihr seid der Markgraf. Nun weiß ich das. Und weiß mehr als das. Jetzt kenne ich Euch und kenne auch Euer Herz. Und, ich danke Gott, daß ich es kenne, lieber Herr!« Voll und eindringlich klang die leise Stimme des Jünglings, wie ein liebevolles Trösten.

Aber noch hielt die tiefe Erschütterung den Fürsten in Bann. »Das Miserere,« ächzte er, »immer klingt es, überall klingt es! Sie nennen es das Sterbelied der Mark, Klaus –!«

Des jungen Bismarck Herz wallte in warmer Hilfsbereitschaft. Wie ganz anders hatte dieser Ludwig von Wittelsbach noch eben vor ihm gestanden. Herrisch und königlich schien er sich wie die Verkörperung der Mark selbst emporzurecken, strahlend und heischend seinen seine Stimme das kleinliche Gassengezänk zu übertönen, zwischen den hadernden Kindern schien er drohend und gebieterisch das Leidensbild der gemeinsamen Mutter aufzupflanzen wie ein vergessenes und entweihtes Götterbild – Dieser Ludwig von Wittelsbach hatte Klaus Bismarck mächtig ans Herz gegriffen, daß es unter den Schauern eines großen, nie noch erwogenen Lebensgedankens ahnungsvoll erbebte und neuen, menschenwürdigeren Zielen entgegendrängte, als sie die Sippe ihm bot. Aber zutiefst ergriff ihn doch nun die Leidensgestalt des in prunkender Kraftfülle hilflosen Fürsten. Auch jetzt schien sich in ihm die Mark selbst zu verkörpern, aber nicht mehr herrisch und königlich, sondern als ein Bild ihres Jammers.

Er umschloß fest die Hand des Markgrafen, die schlaff auf dem feuchten Stein lag und ganz von ihm durchkältet war. »Herr Markgraf, Männer sollten nicht an böse Zeichen glauben. Eher an Wunder! Glaubt auch Ihr an Wunder! Noch ist das Sterbelied der Mark nicht ausgesungen!«

Nun empfand Herr Ludwig die warme Berührung, und das Blut strömte ihm neu durch die Glieder. Er richtete sich straff auf und riß beide Hände des Jünglings an sich. »Klaus! Klaus! Versage du dich deinem Fürsten nicht, und das Lied hat seine Schrecken verloren!«

Ehe Klaus Bismarck noch zu antworten vermochte, sah er einen der väterlichen Knechte mit allen Zeichen der Verstörung quer über den Platz auf sich zueilen. Er löste sich aus den haltenden Händen des Markgrafen und hörte auf das hastige Rufen des Knechtes. »Herr Klaus! Herr Klaus! Um Gottes willen, eilt Euch! Es geht zu Ende mit Eurem Vater –!«

Erschüttert stand der Jüngling bei der jähen Kunde, die strafend wie aus einer andern durch Schuld vergessenen Welt zu ihm zu dringen schien. Ludwig Wittelsbach ahnte, wie mächtig sich in dieser Schmerzensstunde die Vergangenheit vor dem Jüngling aufreckte, den er seinen ererbten Lebenszielen abtrünnig zu machen gekommen war, und faßte rasch von neuem die ihm entglittene Hand. »Klaus, jetzt ruft Gott nach dir. Da schweige ich. Aber die Stunde wird kommen, in der ich dich rufen darf und muß. Leb wohl.«

Er riß sich schnell los, wandte sich und schritt von dannen. Die Gestalt des Davongehenden schien um Haupteslänge gewachsen.

Klaus Bismarck aber ging dem Knechte nach, und ihm war, als trüge er eine steinerne Last im Nacken, die schwerer würde, je näher er dem Vaterhause kam.

II.

»Jetzt wähle, Klaus!«

Als Klaus in sein väterliches Haus eintrat, hatte Rule Bismarck den schweren Anfall seiner Herzkrämpfe noch einmal überwunden. Doch gab er sich keiner trügerischen Hoffnung hin. Er sah die vertrautesten der Gildebrüder, er sah Weib und Kind um sich versammelt und wußte, es galt einen Abschied. Der hünenhafte Alte zagte nicht vor dem Tode.

Noch einmal wanderten die großen Augen des Greises im Raume umher, als wollte er sich vor der Reise hausväterlich versichern, daß das Seine wohl bestellt war. Sie glitten an dem gotischen Holzgetäfel der Wände entlang und verweilten noch einmal auf den verblaßten Bildteppichen, die in sie eingelassen waren, sie streiften über Truhen und Schränke und wanderten endlich unter den Menschen, die um ihn waren, vom einen zum andern.

Rule Bismarck litt seinen Tod ohne gierigen Lebenshunger. Ein jeder stirbt in dem, worin er gelebt hat. Der Greis war darin ganz ein Sohn des sterbenden Mittelalters, daß er sich selbst stets nur als Glied einer größeren Gemeinschaft gefühlt hatte. Er empfand in seinem Tode, daß die Gilde den Verlust eines Gliedes duldete, das ihr nachwachsen würde, er litt kaum in sich selber, sondern stand vielmehr mit seinem Herzen unter den Gildebrüdern, die um ihn waren, und sah sein eigenes Sterben mit an, mit einer starkherzigen Trauer, der alle selbstische Weichmütigkeit fehlte. Sein Lebensgefühl überdauerte vorausfühlend den eigenen Tod im bleibenden Leben der Gemeinschaft, in der sich all sein Wesen und Wollen erschöpft hatte. Ein Gildebruder ging in die Fremde. Weiter nichts. Die Gilde würde bleiben.

Am längsten weilte sein Auge auf der Gestalt des alten Godin von Sluden, der ihm lebenslang vor andern lieb gewesen war. Ihre Blicke hatten sich oft in leisem Lächeln gefunden, denn was sie verband, war die innere Heiterkeit gewesen, mit der sie dem Leben zusahen. In Rule von Bismarck ging ein Mann dahin, der gern und viel gelacht hatte. Und auch sein letzter Atem wollte verlächelt sein. Ihn störte im Sterben die tiefschattende Schwermut, die das Gesicht des greisen Gefährten entstellte und fremd machte. Er öffnete die blasse Hand, die auf dem nachtschattenfarbenen Samt der Decke über seinen Knien ruhte, und beugte sich aus seinem Armstuhl vor, dem Freunde entgegen. Sluden kniete bewegt nieder und fügte seine Hand in die des Sterbenden.

»Alter Godin«, lächelte Rule, »was willst du das Lächeln verlernen? Es bleibt alles beim Alten. Rule Bismarck, Godin Sluden, Giso Schadewachten – was heißt das! Schall, Schall, Godin! Kosenamen sind's für kurze Stunden. Der Muttername für uns alle ist die Gilde, die in uns lebt und nach uns. Die alte Gilde hat so viel Namen wie eine Geliebte; was tut's, wenn man einen vergißt, man erfindet zwei neue!«

Aber Godins Züge hellten sich nicht auf. Zu schwer empfand er die Kränkung, die Rule im Sterben litt. Stark war in all den Männern, die das Zimmer füllten, der Sinn für die Würde überkommener Lebensformen, und daß an diesem Sterbenden kein Priester sein Amt übte, galt ihnen bei aller trotzigen Unnachgiebigkeit als Schmach und Raub.

Rule Bismarck wußte wohl, was die andern bewegte. Er empfand im stillen die Herzkränkung wie sie. Aber er suchte sich und ihnen über die Bitterkeit der Stunde hinwegzuhelfen. »Ich sterbe wie ein König,« fuhr er mit wehmütigem Scherzen fort. »Alle Glocken der guten Stadt haben mir zur letzten Fahrt geläutet. Freilich –«

»Nein, kein Aber!« rief Sluden herzlich. »Unsre guten Glocken klangen voll und schön wie immer. Und ob sie sollen, sie können keine Pöbelsprache reden! Es sind ja unsre Glocken, Rule! Auch ein treuer Hund gibt Laut, den man auf den Herrn hetzt, aber nicht in Wut, wie er soll, sondern in stürmischer Freude. So haben dir unsre Glocken geläutet!«

Rule kopfnickte ernst und bedächtig. »Sie haben mir für meinen letzten Weg zu Gott die Kerzen gelöscht.« Er hob das Haupt. »Ich werde den Weg zu Gott auch im Dunkeln finden. Ein Heimweg braucht kein Licht.«

Nun beugte sich der greise Schadewachten zu ihm nieder. »Ganz ohne Licht soll dein Heimweg nicht sein! Ein Kerzlein hat dir die Gilde doch gezündet, zwar ist's nur ein irdisches Lichtlein und leuchtet nach, nicht voraus, aber es gibt doch gute Helle, Rule! Hör, wir haben unter uns getagt und sind einig geworden: Wenn du von uns gehst, soll dein Stuhl in Rat und Gilde nicht verwaisen. Ein Bismarck geht, ein Bismarck soll, bleiben. Da steht dein Erbe!«

Und seine Hand deutete auf Klaus, der nahe dem väterlichen Stuhl am Fenster lehnte und widerstreitende Empfindungen duldete. Jetzt fuhr er auf, und seine Gestalt straffte sich in unwillkürlicher Abwehr. Mit grausamer Klarheit erkannte er die unüberbrückbare Kluft zwischen dem in alten Geleisen beharrenden Geiste dieser Greise, deren Leben sich in ihrer Gilde und Kaste erschöpfte, und den fremden und großen Zielen, die des Markgrafen Worte wie Fackeln aufgehellt hatten. Er wußte wohl, was Schadewachtens Worte zu bedeuten hatten. Die Gewerke liefen Sturm auf die Geschlechter, Sitz und Stimme im Rat der Stadt fordernd, die Kirche selber segnete ihre Waffen –-jetzt gab die Gilde Antwort. Diese Antwort war Hohn: sie hob auf den verwaisten Stuhl im Rat einen Jüngling, dessen Name dem Volk ein feindseliger Streitruf war. Klaus Bismarck fühlte klar, daß er den Geschlechtern Mittel und Waffe war, den offenen Kampf zu entfesseln. Er aber fühlte sich schon als Schwert in der Hand seines Fürsten. Er schwieg ohne Dank und Widerspruch und sah fast angstvoll auf die Lippen des Vaters, als erwarte er von dort die Forderung eines Schwurs, den er nicht leisten und in dieser Stunde doch auch nicht weigern durfte.

Auch Rule durchfuhr die unerwartete Kunde dieser trotzigen Wahl, aber er war des Sohnes zu sicher, um ihm zu mißtrauen. Er richtete sich hoch auf und sah seinen Erben voll an. »Ratsherr von Stendal!« sagte er schwer und wog jedes Wort, »junger Ratsherr, du! Du erbst ein brennendes Haus! Sei feuerfest!«

Dem leidenschaftlichen Gottschalk von Jerichow brannte das Herz. »Ja, Rule,« rief er, »das ist der Kampf! Und der Kampf ist der Sieg! Daß du ihn noch schauen dürftest, Rule!«

Nun blickte der Greis wieder lächelnd auf die stürmische Jugend. »Ich –?« sagte er langsam. »Was bin ich? Die Gilde wird ihn schauen.«

Eine Weile war es still in dem hohen Zimmer. Über den Sterbenden kam es wie eine treibende Unruhe. Endlich wandte er sich den stillgewordenen Freunden zu und sagte herzlich: »Und nun, Freunde, ist der Gildebrüder Rule tot. Ein Vater möchte noch ein paar Worte mit seinem Sohne tauschen. Verzeiht und lebt wohl!«

Noch einmal sammelte er ihrer aller Hände zu still beredtem Abschied in den seinen. Dann ließ er sie gehen. Seine Augen wanderten ihnen nach, bis die Tür sich hinter ihnen schloß. Als letzter ging Godin. Da feuchteten sich doch die Augen Rules, und er wandte sich ab.

»Wer glaubt ihm, daß er stirbt!« sagte draußen Jerichow zu den Freunden. »Ein Herz von Eisen!«

Bei dem Sterbenden blieben nur der Sohn und sein Weib Margarete, die bisher regungslos hinter dem Stuhl des Gatten gestanden und den Abschied der Gildebrüder mit keinem Wort und keinem Seufzer gestört hatte.

Lange sammelte sich Rule, ehe er sprach. Dann winkte er Klaus näher zu sich heran. Er zwang sich zu einem leichten Ton, aber aus der Unruhe, die über Blick und Glieder des Greises kam, sprach eine Erregung, die nicht zu der Stimme passen wollte.

»Jeder Handel,« fing er an, »hat ein Schmäcklein Heimlichkeit, Klaus. Wer wie ich sein ganzes Leben Handel trieb, kann nicht ohne kleine Heimlichkeiten sterben. Komm näher, Klaus! Ich habe eine Heimlichkeit vor dir gehabt bis zu dieser Stunde. Ich habe eine Versuchung vor dir verborgen. Je älter du wurdest, ehe ich sie an dich ließ, um so besser. Die härteste Versuchung ist die zu Torheit und Macht; die habe ich dir verborgen. Aber ehe ich sterbe, sollst du versucht sein. Da, lies das und wirf es ins Feuer!«

Er hatte im Sprechen unter der Samtdecke einen Brief hervorgeholt, an dem ein verkapseltes Siegel hing. Klaus, der ohne Ahnung war, worauf die seltsamen Worte des Vaters zielten, erblaßte jäh, als er das Siegel erblickte. Es trug das Wappen Herrn Ludwigs von Wittelsbach unterm brandenburgischen Kurhut. »Vater,« entfuhr es ihm, »das ist Markgraf Ludwigs Siegel!«

Dem Alten entging die Bewegung seines Sohnes nicht. Seine Stimme schwoll in Groll und Verachtung auf. »Fürstenbriefe an Bürger sind Bettelbriefe, Klaus! Lies, aber lies ohne Ehrfurcht!«

Er beugte sich weit vor, daß der schwere Oberleib in der Erregung leise schwankte, und faßte den Sohn scharf und lauernd ins Auge, während er las. Er sah mit Erbitterung, wie das Blut in Klaus' Antlitz kam und ging. »Lies mit kühlem Kopfe!« rief er dazwischen. »Heißes Blut ist Narrenblut! Nun, was steht in dem Wisch?«

Klaus hatte nicht geahnt, daß der Markgraf schon vorher Hilfe bei seinem Vater gesucht hatte. Nun hielt er mit einmal einen Brief in Händen, aus dem alle Worte aufklangen, die er kurz zuvor auf dem Markt von Stendal vernommen hatte, nur ruhiger und voll kühlen Abwägens; und doch sprach auch aus diesen an den scharf rechnenden Verstand eines Greises gerichteten Worten die gebändigte Leidenschaft eines heißen Willens.

Klaus bog der letzten Frage des Vaters aus, um Zeit zur Sammlung zu finden. »Wann kam dir das ins Haus, Vater?« fragte er schwer atmend.

Immer schärfer trat in dem Greisenantlitz ein herrischer und eigenwilliger Verdruß hervor. Aber Rule hielt an sich, weil er fühlte, daß er mit seinen Kräften kargen müsse. »Vor Wochen, Klaus. Ruhig, Junge, ruhig! Ein abgetaner Handel. Der Wisch wäre längst verbrannt, wenn ich nicht wüßte, daß der markgräfliche Bettler nach meinem Tode von neuem an diese Tür klopfen wird. – Nun, was scheint dir? Was schweigst du? Was schreibt er Großes?«

Klaus kämpfte mit seiner tief wühlenden Erregung und gab mit verstelltem Gleichmut zurück: »Es ist eine Bitte, Vater, aber mir scheint eine Mannesbitte, die nicht schändet.«

Aber schon diese ruhige Antwort brachte das Fieber einer zornigen Erregung über den Greis. Seine buschigen Brauen starrten wie eine Wildnis unter den gefurchten und gefältelten Stirnwülsten. Grollend und schmähend brach die zurückgestaute Flut verächtlichen Hohns von seinen Lippen. »So, so! Sieh da! Ja, ein Bettler wie andre Bettler ist das nicht! Er will nicht wenig von uns, er will alles! Alles, Klaus, was die Geschlechter sich in Jahrhunderten erworben haben, ist ihm gut genug, für einen tollen Handel vertan zu werden! Ist's nicht so?«

Klaus stand schweigend; und hielt den Widerspruch seines Herzens zurück, um den Vater in dieser schweren Stunde zu schonen. Aber gerade sein Schweigen erbitterte den Alten. »Worte, Worte, Klaus! Kluge Worte, listige Worte. Die Mark retten! Ha, wer rettet die Mark! Zweige sind wir am Baum der Mark, schreibt er, goldne Zweige! Im Fallen wird der Baum die goldnen Zweige zerschlagen. Schreibt er nicht so?«

»Wohl.«

»Nein, nicht wohl,« fuhr der Greis jäh auf, »erbärmlich! Glaub diesem Schwätzer nicht, Klaus! Wir sind keine Zweige. Wir sind Wurzeln. Laß den Baum stürzen, wenn er morsch ist. Wir sind Wurzeln und treiben aus uns selbst. Ein Schelm, wer uns entwurzeln will! Schloßgesessen will er uns machen! Ein Lehen geben! Wir treiben Handel, treiben keine Händel! – Die Gilde, die Geschlechter, das sind Worte, die gelten wie ehrliche Münze, aber die Mark und Wittelsbach – Falschmünzer, Klaus! Es gibt keine Mark mehr. Die Mark hat so viel Herren, wie sie Schulden hat. – Weg den Fetzen, Klaus! Fort ins Feuer!«

Er griff in loderndem Grimm nach dem Briefe in den Händen des Sohnes. Der aber zog ihn unwillkürlich mit einer unbedachten schützenden Bewegung, die sein Herz verriet, zurück.

Rule sah es und starrte mit geweiteten Augen auf seinen Erben. Mit einmal wußte er alles. Sein Sohn war schon versucht und der Versuchung erlegen.

Die Enttäuschung des Alten war so furchtbar, daß sie ihn trotz des kraftlosen Leibes aus den Kissen trieb. Halb aufgerichtet, von seinem Weibe gestützt, schwankend mit drohend vorgestrecktem Haupte stand er vor Klaus, und seine Arme hoben sich, als wollte er sein Fleisch und Blut an den Schultern packen und wachrütteln. »Klaus –!« Seine Stimme klang wie dumpfes, gefährliches Drohen. »Junge, her zu mir –! Mir ins Auge geschaut! Du – du kennst den Markgrafen!«

»Vater, um Gott, bleibe ruhig, Vater!« Angstvoll und beschwörend rief es der Jüngling, der die tödliche Erregung des Greises sah. Aber Rule hörte ihn nicht. Er rüttelte den Sohn, der bittend vor ihm kniete, hart und drohend an beiden Schulternd »Gehorsam, Klaus! Gehorche! Die Gilde will nicht. Du hast keinen Willen. Hüte dich! Denk an die Gilde, Klaus! Gehorsam! Sie zählt auf dich. Du darfst sie nicht betrügen – mit meinem Blute!«

Mühsam hielt Margarete Bismarck den schweren Leib, den die Empörung in Stößen erbeben ließ, nieder. Beschwörend rief Klaus: »Vater, ich schwöre dir zu: Ich werde nie tun, was mir nicht Kopf und Herz zu tun befiehlt!«

»Tu, was die Gilde dir befiehlt –!« Wie ein rauher Wutschrei gellte Rules Stimme. »Gib her!«

Widerstandslos ließ jetzt der Jüngling dem Greis den Brief. Rule griff danach und packte ihn mit wildem, gehässigem Griff, er suchte ihn zu zerreißen, aber die Hände versagten den Dienst, rissen kraftlos an dem Blatt, zerknitterten es, ließen es fallen, zuckten krampfhaft auf der samtnen Decke. – Er röchelte und rang qualvoll nach Luft. Die Herzkrämpfe kamen wieder und packten ihn mit gesteigerter Wut.

»Vater, Vater –!« rief Klaus erschüttert und barg sein Haupt unter den hilflosen Händen des Sterbenden. »Segne mich!«

Aber Rule Bismarck hörte nicht mehr. Sein Leib bäumte sich auf und fiel zusammen. Seine Augen brachen. Leise fuhr Frau Margarete über die toten Lider –

Es war eine schwere Stille –

Endlich hob der Jüngling das Haupt und sah schmerzvoll zu seiner Mutter auf. »Mutter,« stöhnte er, »ich habe ihn getötet –«

Eine Welt voll Liebe und mütterlichen Verstehens lag jetzt in Blick und Haltung Frau Margaretens, als sie den unter der Wucht der Selbstanklage zusammenbrechenden Sohn zu sich emporzog. Bisher hatte sie geschwiegen, und nur ihre großen Augen hatten bei den Reden der Männer mitgesprochen. Diese Augen, die denen des Sohnes seltsam glichen, litten sichtbar unter jedem Worte und wechselten bei aller Ruhe der hohen Gestalt unruhig und qualvoll den Ausdruck. Sie lagen in mitleidiger und hilfloser Sorge auf dem Gatten und wanderten immer wieder in grenzenloser Liebe zu ihrem Sohne.

Jetzt sprach sie. Ihre Stimme klang tief und voll, und eine beruhigende, linde Kraft ging von ihr aus. Ihre Hände lagen auf dem gebeugten Haupte des Knienden, als wollte sie ihn statt des Vaters segnen. »Geh deinen Weg, mein Kind! Du kannst nicht mehr noch weniger. Das weiß ich. Ich sehe viel voraus. Dein Weg wird schwer und voll Haß sein. Du mußt ihn dennoch bis zu Ende gehen. Steh auf, mein Sohn!«

Und sie zog den Knienden, der in inbrünstiger Dankbarkeit zu ihren verstehenden, mütterlichen Augen aufsah, an ihr starkes Herz, als wollte sie ihm Kraft geben.

Lange gab sich Klaus der Geborgenheit der mütterlichen Umarmung hin und fühlte sich innig eins mit der Frau, die Spenderin und Behüterin seines Lebens war.

Dann schrak er auf. Es klopfte. Als er die Tür öffnete, traten Schadewachten, Sluden, Jerichow und mit ihnen Ursel Hidde in mühsam niedergehaltener Erregung ein. Frau Margarete hob leise die Hand. Da gewahrten sie den Toten, bekreuzten sich und beteten still auf den Knien. Endlich erhoben sie sich, und nun erfuhr Klaus, was sie noch einmal hierher trieb.

Konrad Hidde hatte nach seinem Abschied von Rule in der Stadt durch einen Parteigänger erfahren, daß die Geistlichkeit von der jähen und hoffnungslosen Erkrankung des alten Bismarck Nachricht habe und beschlossen habe, die trotzige Seele des Mannes in ihrer Schwachheit noch einmal zu bestürmen und zur Buße zu zwingen. Auf dem Sterbebett unter den ernsten Augen des Priesters, der die Sakramente spenden und verweigern, die Tore des Himmels und der Hölle entriegeln und verriegeln konnte nach seinem Willen, hatte schon mancher Reue und Demut wiedergefunden, die er seit Kindertagen verlernt zu haben glaubte. Hidde erkannte, daß schleuniges Handeln nötig sei, um den Sterbenden und die Seinen vor einem plumpen und trotz aller Aussichtslosigkeit des Versuches quälenden Überfall zu bewahren. Eilends hatte er Ursel zu Frau Margarete geschickt, um sie auf den Anschlag vorzubereiten. Er selbst eilte von Haus zu Haus zu den Gildebrüdern, um sie zu Beistand und Zeugenschaft in so gewichtiger Stunde zu rufen. Schlössen jetzt, woran nicht zu zweifeln war, die Geschlechter das Tor des Bismarckschen Hauses vor aller Augen vor dem Priester und ließen ihren greisen Führer im Banne unbußfertig und unversöhnt dahinfahren, so war der Kampf bis aufs äußerste entfesselt und jeder Weg zur Verständigung abgeschnitten. Dieser Kampf, der zu rascher Entscheidung führen mußte, schien Konrad Hidde besser als ein faules Markten und Hadern durch Jahr und Tag.

Auf ihrem Wege zu den Bismarcks war Ursel den Freunden des Vaters begegnet, die eben erst das Sterbehaus verlassen hatten. So kehrte sie mit ihnen zurück.

Das Gerücht von den Absichten der Geistlichkeit war aber nicht nur zu den Gildeherrn gedrungen, sondern hatte sich mit fliegender Eile durch ganz Stendal verbreitet. In gewaltiger Erregung sammelte sich das Volk, das eben noch in St. Marien mit kaum unterdrücktem Jubel den Bannspruch angehört hatte, in den Gassen und strömte vor dem Bismarckschen Hause zusammen, um Zeuge von Demütigung oder Verdammung der Geschlechter zu werden.

Mit erregtem Flüstern tauschten die Gildeherrn im Sterbezimmer Rules Nachrichten und Meinungen. Die Gegenwart des Toten dämpfte den Eifer und steigerte den wuchtigen Ernst der entscheidungsschweren Stunde. Wortlos stand der Sohn des Toten, während die andern auf ihn einsprachen. Seine Lippen waren zusammengepreßt und seine Brust hob sich schwer. Er trat, ohne Antwort zu geben, ans Fenster und sah auf die Gasse. Wohl, da rottete sich das Gesindel zusammen, als gälte es ein Leichenbegängnis zu bestaunen. Ekel und feindseliger Abscheu packten ihn, aber der Wille zur Selbstbeherrschung siegte. Endlich redete er, und nur das Zucken der Lippen sprach von seiner inneren Erregung. »Wissen sie nicht, daß mein Vater tot ist?«–

»Was tut's –?« sprang es schneidend von Jerichows Lippen. »Rule Bismarck ist der Versuchung entrückt, so wird der Pfaffe – seinen Sohn versuchen!«

Klaus verstand. Die Kirche konnte den Gegner noch im Tode beschimpfen, konnte ihm die Ruhestatt neben Vätern und Brüdern verweigern. Er nagte die Lippen.

Schadewachten glaubte zu wissen, was in dem jungen Herzen vorging. Er legte Klaus die Hand auf die Schulter und deutete auf den Leichnam Rules. »Laß sie ihr Ärgstes tun,« sprach er. »Der Tote liegt in Ehren, wo du ihn auch betten mußt!«

Klaus schwieg noch immer und grübelte. Er wußte, was die Freunde wortlos von ihm heischten. Er sollte dem Priester die Tür weisen und den Kampf entfesseln, auf den man gerüstet war. Die Lage war nur zu klar. Kam es jetzt zum unversöhnlichen Bruch mit der Kirche, sah das Volk, wie die Geschlechter ihr totes Oberhaupt in ungeweihter Erde verscharren mußten, so würde bare Ehrfurchtlosigkeit auch die Zahmsten und Zagsten zu frecher Unbesonnenheit verlocken. Die Führer, die im geheimen längst zum blutigen Aufruhr geschürt hatten, würden, übermütig durch die Bundesgenossenschaft der Kirche, offen zum Kampfe rufen. Und die Gilde wartete nur darauf, daß die Häupter der Gewerke sich eine sichtbare Blöße gäben, um sie zu ergreifen und dem Henker zu überantworten. Dann mochte die führerlose Meute sehen, wie weit sie käme.

Der junge Ratsherr sah die Kette der künftigen Ereignisse klar vor sich. Kam es so, wie die Gilde wollte, so gab es auch für ihn nur ein Schicksal: Er mußte in der blutigen Stünde der Entscheidung bei den Brüdern ausharren. Und indessen ging Herr Ludwig Wittelsbach zugrunde –-

Er schwieg noch immer.

Da furchte sich des alten Schadewachten Stirn, und er sprach ernster als vorhin: »Klaus, heute macht die Gilde ihr Recht geltend an Rules Kind. Vergiß das nicht im Schmerz um eigene Schmach. Du bist durch unsern Willen Ratsherr und Aldermann der Gilde anstatt des Vaters trotz deiner Jugend. Das ist nicht umsonst. Du sollst den Kampf, den wir wollen, entfesseln, und die Stunde ist da. Schließ deine Tür vor dem Bischof; laß den Bischof an deiner Türe klopfen und sei taub, laß es alle sehen, die sehen wollen, und mache die Gasse zum Zeugen unserer Kampfansage. Die Gilde will's, und so willst auch du's.«

Da reckte sich die Entscheidung von Klaus auf, die er so lange kommen sah. Aber nun fiel sie ihm leichter, als er gedacht hatte. Der Augenblick der Tat gab ihm Kraft wie allen großen Naturen. Er richtete sich auf, und sein Haupt glitt schwer und langsam in den Nacken. Groß und unerbittlich ruhte sein Auge auf den ungeduldig fordernden Augen der Gildeherrn. »Nein,« sprach er fest. »Da irrt Ihr, Brüder. Das will ich nicht wie Ihr.«

Fassungslose Verblüffung machte die Männer stumm. – So sehr lebten sie in dem Geiste strenger, ständischer Geschlossenheit ihrer Zeit, daß der eigene Wille, der sich dem Ganzen entgegenstemmte, als Schmach und Hochverrat empfunden wurde. Die Greise wurden blaß, und dem jungen Jerichow fuhr das rote Blut wie eine Feuergarbe über Stirn und Wangen.

Kaum vermochte die Gegenwart des Toten ihre leidenschaftliche Erbitterung zu zügeln. Klaus wußte wohl, was in ihnen vorging. Er sah ihre Augen mit einmal fremd und feindlich auf sich ruhen wie auf einem Abtrünnigen und Verräter. Das Blut schoß ihm in die Stirn, und er sprach rasch: »Versteht mich recht! Was Ihr wollt, will ich nicht. Ich kann es nicht. Aber Unterwerfung will ich auch nicht, so wenig wie Ihr. Ich will eine Versöhnung in Ehren, wenn sie möglich ist. Und darum will ich verhandeln, ehe ich handle.«

Mitten in seine Worte dröhnte der Schlag des eisernen Klopfers am Haustor, und Schadewachten, der dem Fenster nahe stand, sprach aus, was alle fühlten: »Der Bischof.« Hätte er's nicht gesagt, alle hätten es doch gewußt, denn der summende Lärm von der Gasse her war plötzlich in atemlose Stille umgeschlagen.

Klaus erblaßte unter der Unerbittlichkeit des Augenblicks. Das Bitterste für ihn war, daß ihm nicht einmal Zeit blieb, den Freunden seine innersten Gründe zu enthüllen. Was er zu sagen hatte, ließ sich nicht in jagenden Worten aussprechen. Er mußte handeln, ohne sich ihnen erklären zu können. »Freunde,« sprach er noch einmal, »habt Vertrauen! Warum ich Euch nicht folge, davon ist lang zu reden. Davon ein andermal. Ihr sollt alles wissen. Dann urteilt! Heute nicht! Heute habt Vertrauen!«

»Nein,« schrie Jerichow, »ich kann nicht! Der Friede ist die Schande!« Der Tote war vergessen, aber sein Sohn und Erbe spürte doppelt den beschimpfenden Haß neben der Leiche des Vaters.

»Willst du das Schulhaus niederreißen, das dein Vater gebaut hat?« zischte Jerichow feindselig und höhnisch dicht an seinem Ohr. Klaus sah an ihm, der ihn beschimpft hatte, vorbei und griff nach Sludens Hand. »Sei gewiß,« sprach er mit einem herzgewinnenden Klang bescheidener und doch fester Bitte zu dem väterlichen Freunde, »ich reiße nichts nieder, was mein Vater gebaut hat. Glaube mir das! Aber bietet der Bischof, wie ich glaube, für leichte Kirchenbuße den Frieden, so will ich nicht den Kampf.«

Aber auch in Sludens Blick las er nur eine halb traurige, halb verächtliche Ablehnung. Da schwieg er. Sluden faßte ihn an den niederhängenden Armen und rief beschwörend, als wollte er ihn wecken: »Klaus! Klaus! Das ist ja nicht möglich! Denke an deinen Vater, Klaus!«

Gequält blickte der Jüngling um sich und bat noch einmal: »Habt Vertrauen, Freunde!«

In dem Augenblick trat Jörg, der Knecht, ein und meldete den Bischof an. Drohend trat der Älteste der Gilde, Schadewachten, zwischen den Knecht, der auf Bescheid wartete, und seinen jungen Herrn. »Jetzt wähle, Klaus! Er oder wir. Willst du den Bischof einlassen, so laß uns erst hinaus. Wähle!«

Klaus sah ihn fest an. »Ich wähle nicht. Ich handle, wie ich muß, und bitte Euch um Vertrauen.« Und er winkte Jörg, den Bischof einzulassen.

Schadewachten erblich, und seine Stimme zitterte. »Dann bleibt für uns keine Wahl. Wir weichen.« Und er wandte sich um und ging aus der Tür.

Die andern folgten. Sluden blieb noch einen Augenblick an Rules Leiche stehen und blickte, die Hand auf dem grauen Haupte des Dahingeschiedenen, auf dessen treulosen Erben. Dann ging auch er.

Jerichow griff in rasender Erbitterung in das Holz der Tür, als wollte er eine Waffe herausbrechen. Zähneknirschend stieß er hervor: »Ich traue dir nicht, Klaus! Ich traue dir nicht!« und warf die Tür des Sterbezimmers hinter sich zu.

Starr und blaß stand der junge Rat der Markgrafen und sah die alten Freunde scheiden. Ein Riß klaffte auf, der vernarben, aber nicht mehr verschwinden konnte.

Margarete Bismarck hatte schweigend alles mit angesehen, und ihr Blick war nicht um Augenblicksdauer von dem Antlitz des Kindes abgeglitten. Sie kannte seinen Weg nicht, aber sie sah, daß er in Einsamkeit führte. Und sie kannte das Herz des Sohnes. Sie wußte, er tat, was er tun mußte. Darum tat er recht. Sie störte ihn mit keiner Frage. Er würde reden, wenn es ihn zu reden trieb.

Ursel Hidde hatte den unerklärlichen Auftritt ratlos und verstört wie ein verzweifeltes Kind mit angesehen. Ihre Augen waren mit bettelnden Fragen zwischen den Hadernden hin- und hergegangen. Jetzt, da es so seltsam still im Zimmer geworden war, kam sie bleich und zitternd zu dem Verlobten. Ihre Knie zitterten und drohten zu brachen. Sie schloß die Arme Halt suchend um seinen Hals und sah ihn bittend und fragend an. »Klaus, bist du noch der, der du warst? Klaus, bist du noch derselbe, den ich heut' morgen vor St. Marien sah und hörte –?«

Herzlich und hilfreich umschloß Klaus mit seinen großen Händen ihr blondes Haupt. »Derselbe nicht mehr, Ursel,« sprach er leise, »aber auch kein Schlechterer. Glaubst du mir das?«

Die Tränen stiegen dem Mädchen in die angstvollen Augen. »Ich muß wohl, Liebster!« antwortete sie bebend und barg ihr Haupt an seiner Brust.

Frau Margarete löste das Mädchen leise und mütterlich aus der Umarmung des Sohnes und führte sie zur Seitentür. Sie wußte, daß Klaus ohne Zeugen mit dem Bischof zu reden verlangte.

Der Sohn folgte der Mutter mit den Augen. Plötzlich wurde er sich bewußt, wie sehr ihn in dieser bösen Stunde ihre schweigend vertrauende Gegenwart gestärkt hatte. Das Herz brannte ihm in zärtlicher Dankbarkeit. Er tat einen Schritt nach ihr, beugte sein junges Haupt über ihre Hand und küßte sie. »Mutter,« sagte er leise, »Mutter, warum verstehst du immer, was mir not tut?«

Voll und warm ruhte der Blick der Mutter auf ihrem Sohn. »Wenn die Mütter den Söhnen nicht mehr vertrauten,« sprach sie schlicht, »was wäre die Welt noch wert!« Und sie ging hinaus, gefolgt von seiner aufwallenden Liebe. Wußte sie, wieviel sie ihrem Kinde in dieser Stunde gegeben? Voller Ruhe sah Klaus dem eintretenden Bischof entgegen. Der erste bittere Schritt auf seinem Wege fiel ihm nicht mehr so schwer.

In dieser Stunde schloß Klaus von Bismarck seinen Frieden mit der Kirche und machte seine Hände frei für den Dienst seines Fürsten.

III.

»Herr Ludwig, nun sind meine Hände leer!
Legt mir ein Schwert hinein!
sonst dorren sie mir am lebend'gen Leib...«

Am Abend von Rule Bismarcks Sterbetag hatte Klaus den Markgrafen zu entscheidungsschwerer Beratung in sein Haus gezogen. Die ganze Nacht hindurch hatten Fürst und Ratsherr über Not und Rettung des Landes geredet. Als der Morgen graute, waren sie mit festem Händedruck geschieden. Ludwig Wittelsbach trug unsichtbar an seiner Seite, als er schied, das goldne Schwert der Bismarcks, von dem er gesungen hatte. Klaus hatte ihm den größeren Teil seines Erbes vertraut, um die verpfändete Altmark einzulösen. Auf dem schweren Eichentisch des Bismarckschen Hauses war als fürstlicher Dank ein gesiegeltes Pergament zurückgeblieben, das den Gildejunker zum schloßgesessenen Ritter machte, sobald er wollte: der Lehnsbrief über Burgstall, Ludwigs festes Schloß inmitten der Letzlinger Heide und ragender Wälder – –«

Danach galt es, die tief verletzten Freunde zu versöhnen und für die weitschauenden Pläne, die ihm am Herzen lagen, zu gewinnen. Das war keine leichte Sache. Aber vollendete Tatsachen sprachen eine gewichtige Sprache. Die Gildeherrn konnten sich der Einsicht nicht verschließen, daß der Markgraf durch den Bismarckschen Reichtum über Nacht zu einer Macht geworden war, die zu stützen sich doch vielleicht lohnte. Zudem wußte Klaus in überzeugender Weise darzulegen, welche Vorteile den ständig durch blutigen Bürgerkrieg bedrohten Geschlechtern durch die Belehnung mit festen Burgen außerhalb der Mauern von Stendal erwuchsen. In der Stadt herrschte nach Klaus' eigenmächtigem Friedensschluß, den sie freilich innerlich nach wie vor verwünschten, augenblickliche Ruhe. So folgte doch dieser und jener der Gildeherrn, sosehr es sie verdroß, daß der jüngste Ratsherr so selbstwillig neue Bahnen einschlug, dem Bismarckschen Vorgang, schoß dem Fürsten namhafte Summen vor und ließ sich dafür mit einem Burglehen entschädigen.

Das aufgesammelte Gold der Gilde floß, nachdem Klaus die Schleuse aufgezogen, in wachsendem Strom in die Staatskasse, und Markgraf Ludwig vermochte einen der schmählich verpfändeten Landesteile nach dem andern einzulösen. Eher als er in seinen kühnsten Hoffnungen geträumt hatte, hielt er die Hoheitsrechte des ganzen Staates gesammelt in Händen, aber er konnte sich nicht verhehlen, wie schwach die Grundmauern der Herrschaft noch waren. Die Welt, die ihm zukam, war sein, aber sie war erst das Chaos, das der Schöpfung wartete.

Ludwigs Herz schlug ganz dem gigantischen Werke, das er sich gesetzt hatte. Aber das in tausendfältiger Verworrenheit seufzende Land barg dem landfremden Fürsten seine innersten Geheimnisse. Klaus Bismarck trug in der Zeit den Titel eines markgräflichen Rates nicht nur dem Namen nach. Täglich fast flogen ihm die Briefe des Kurfürsten ins Haus. Sie berichteten von den Fortschritten des fürstlichen Werkes und heischten dringlich Aufklärung und Rat.

Klaus kannte die Mark besser als der Wittelsbacher. Die bodenständige Macht seines Geschlechts war herangereift unter dem befruchtenden Segen ererbter Erfahrungen. Niemand kennt ein Volk besser als der Kaufherr, der es in Handel und Wandel beherrscht. Nicht umsonst waren die Bismarcks durch Jahrhunderte stadtgesessene Aldermänner der Gilde von Stendal gewesen. Zug um Zug gewann das kühle Rechnen des Kaufherrnsohnes den Gegnern des Fürsten den Boden ab. Ohne sein Wissen hätte der Wille Ludwigs brach gelegen. Wohl liebte der Kurfürst sein Land, aber nur sein Rat kannte es. Darum betrieb der Markgraf nichts eifriger als die völlige Loslösung Klaus Bismarcks von Stendal. Klaus' Herz kam ihm darin williger entgegen, als er ahnte. Durch innerste Anlage jeder Halbheit feind, erkannte Klaus, daß seine Macht in Stendal wurzellocker geworden war und der Verpflanzung in jungfräuliche Erde bedürfte, um kraftvoll zu gedeihen. Die Zeit geht ihren Weg wie ein Mensch, keines Menschen Wille ist mächtiger als der ihre. Der Wille einer verklungenen Zeit hatte den Schwertadel der Geschlechter im Bürgertum seßhaft gemacht und zum Vormund Stendals bestellt, der Wille einer aufklingenden Zeit rief ihren Erben aus der mündig gewordenen Stadt ab, zwang ihm von neuem das ritterliche Schwert in die Hand.

Klaus hörte den herrischen Ruf der Zeit wohl und war bereit, ihm zu folgen. Nicht so die Gilde. Ihr Trotz litt nicht den Wechsel, den die Zeit ihr aufzwingen wollte, sondern stemmte sich gegen ihn mit zäher, zum äußersten bereiter Kraft. Sie erkannten keine andere Notwendigkeit an als die nackensteife Verfechtung ihres Herrenerbes gegen den Ansturm der neuen Zeit. Mochte man ihnen endlich auf offenem Markt unter dem Roland von Stendal die Köpfe vor die Füße legen – das schändete weniger als ein Pakt mit dem Gesindel, das unbotmäßig und rebellisch aufbegehrte. Das blutige Beispiel, das so viel andere Städte der Mark durch die Vertilgung ihrer Geschlechter gegeben hatten, schreckte sie nicht. Sie trugen allesamt das Eisen ihrer ritterlichen Vorfahren im Blute, es ziemte ihnen, im Kampfe zu bestehen oder zu verbluten.

So sah Klaus bald die Unmöglichkeit ein, Rat und Gilde zu Zugeständnissen an die Handwerker zu bewegen. Damit aber schien auch jeder Weg zu Versöhnung und Frieden verschüttet. Denn die Zünfte waren unnachgiebig wie die Gilde; auch sie wußten, daß ihre Zunftwehren eine den Geschlechtern ebenbürtige, ja überlegene Macht darstellten. Mochte ehedem das Reitergeschwader der ritterlichen Geschlechter Stendals Schirm und Schild gewesen sein! Was lag daran? Ihre Zeit war tot. Die Fußwehren der Bürger hatten ihr Erbe an Pflichten übernommen, so wollten sie auch ihre Rechte erben!

So standen die Dinge und warteten der blutigen Entscheidung. Für Klaus war das eine bittere Erkenntnis. Die Blutsverwandtschaft duldete nicht, daß er in der Stunde der Gefahr seine Sache von der der Gildebrüder trennte. Er wäre nicht nur in ihren Augen ein Abtrünniger gewesen.

Darum warben Ludwigs Briefe umsonst um den Mann, den er brauchte. Ehe die Schicksalsfrage der Geschlechter entschieden war, durfte Klaus dem Rufe nicht folgen, der ihn aus den wankenden Mauern des Gildehauses in die adlige Freiheit der Wälder um Burgstall lockte.

Endlich machte sich der Markgraf selbst auf den Weg, um Klaus aus Stendal abzurufen, ehe er in Stendal zugrunde ginge.

Als heimlicher Gast, selbst Frau Margarete unbekannt, kehrte er im Bismarckschen Hause ein. Er kam im Dunkel der Nacht und beriet mit Klaus bis in den grauenden Morgen.

»Ich brauche dich.« Das war's, was er wieder und wieder den leidenschaftlichen Einwendungen des jungen Ratsherrn entgegenhielt. Und in der Tat – das sah Klaus mit ingrimmiger Klarheit – die Sache des Markgrafen stand nicht weniger auf des Messers Schneide wie die der Geschlechter. Hier wie dort war seine ganze Kraft bitter nötig.

Markgraf Ludwig faßte seine Hand und rief eindringlich in den Schweigenden hinein: »Du bist mein Kopf, Klaus! Du hast kein Recht, ihn an Stendals Mauern zu zerschellen! Wenn du dich mir jetzt versagst, so war alles, was du für mich tatst, vergeblich, mehr: es war Verbrechen! Weil du halfst, mein verpfändetes Erbe einzulösen, verfolgt mich Kaiser Karl mit seinem Haß. Er lauerte auf das Erbe der Markgrafen, um die Mark seiner Hausmacht zu vereinigen. Er schäumt, daß der Mark ein Helfer ersteht, und lauert, wie er ihn zu Fall bringt, um sein Räubererbe zu bergen. Er hetzt und schürt im Lande gegen mich, und das Land ist dunkel vor meinen Augen. Du mußt es mir erleuchten, sonst sehe ich den Feind nicht einmal, der mich verdirbt!«

Klaus sah wohl die unerbittliche Wahrheit in den Worten des Markgrafen. Der Kaiser wollte den Verfall der Mark und wiegelte heimlich die Parteien zu unversöhnlichem Hader gegeneinander auf. Sein heißes Herz trieb ihn, das schnöde Spiel zu hintertreiben, aber sein eigenes Haus brannte, und die Seinen riefen aus der Glut um Hilfe nach ihm. Er schwieg und biß die Lippen.

Der Markgraf drang leidenschaftlicher in ihn. »Klaus, hast du vergessen, daß du dich mir zum Freunde gegeben hast –? Du hast mir deine Hand gegeben, ich habe sie gläubig genommen. Ich brauche dich. Ich lasse dich nicht. Du bist mein Mann. Ich gebe dich nicht frei. An deiner rechten Hand halte ich dich und fordere Treue!«

Klaus riß sich los und brach wild aus: »Treue fordert Ihr, und Treue fordert die Gilde auch! Ihr wißt ja nicht, Herr, daß meines Vaters Augen aus Sludens und Schadewachtens Blick unbarmherzig nach mir sehen und drohen: Klaus, sei treu! Ihr wißt das ja nicht, wie ich es weiß, weil ihr Blut mein Blut ist!«

Alles, was Herr Ludwig erreichte, war, daß Klaus sich zu einem letzten Versuch entschloß, die Gilde umzustimmen und zu einem Ausgleich mit den Gewerken zu bewegen. Er berief die Gilde zu einer Morgensprache ins Gildehaus. Dort mußten die Würfel fallen.

Zudem hatte Herr Klaus einen eiligen Boten nach Magdeburg an seinen dort hausenden Bruder Christian abgeschickt. Wenn dieser noch rechtzeitig zur Morgensprache der Gilde nach Stendal kam, so war von seiner schlagfertigen Beredsamkeit viel zu hoffen. In der Frühe des folgenden Tages, an dem die Beratung stattfinden sollte, kam der Bismarcksche Knecht zurück und meldete, daß ihm Herr Christian von Bismarck in kurzer Zeit nachfolge.

Mit ein paar harmlosen Scherzworten teilte Klaus seiner Mutter die zu erwartende Ankunft Christians mit. Er vermied es, die Frauen vorzeitig und, wie er meinte, unnötig in die drohenden Gefahren und Entscheidungen einzuweihen. Frau Margarete wußte indessen mehr, als er ahnte.

Eben war Ursel Hidde wieder einmal zu ihr geschlüpft, um der zweiten Mutter ihre Verwirrung und Verängstigung zu klagen. In jüngster Zeit mehrten sich schreckhaft die Gerüchte und Anzeichen drohender Unruhen. Ihr liebendes Herz empfand mit schmerzvoller Feinfühligkeit, daß bei jeder stillen Tat des Geliebten der Haß aus allen Winkeln Stendals wie in giftigen Schwaden aufströmte. So schweigsam Klaus war, so beredt sprachen die Blicke voll unversöhnlichen Hasses, die ihn verfolgten, wo er ging und stand, und alle Schrecken einer drohend nahen Schicksalswendung ließen sich ahnen aus den tausend heimlichen Geräuschen, von denen seit Wochen Tage und Nächte erfüllt waren: erregte Stimmen, Lärm und Geflüster, verhohlenes Waffenklirren, leises Türenschließen, Gehen und Kommen von Boten und Gästen, und was der angstvollen Vorzeichen mehr waren.

Mit leidenschaftlicher Ungeduld verlangte sie alles zu wissen, was um sie her vorging und, wie sie innigst fühlte, ihre Liebe und den Geliebten bedrohte. Aber Klaus blieb verschwiegen, soviel sie mit Blicken und Worten fragte. Er wurde ihr fast fremd in dem herben und wortkargen Ernst, der den Stillgeschäftigen beherrschte. Nur Frau Margarete verstand die herbe und verschlossene Art des Sohnes. Er lebte einen Kampf, in dem er der gesammelten Kraft zu bedürfen glaubte. Sie wußte, daß man den Mann in Stunden, die er allein bestehen will, nicht stören soll. Aus dem Schatze ihrer stillen, vielerfahrenen Güte tröstete sie die zagende Ungeduld der jungen Braut. Sie suchte sie die schwere Frauenkunst zu lehren, ohne Groll zurückzustehen, in Stille zu warten und die eigne Kraft, die sich so gern mit der des Mannes mischen und mit ihr ausgeben möchte, aufzuspeichern wie einen heimlichen Schatz. Verstand das Mädchen die Frau? Das Herz wurde ihr beklommen, als habe die hilfreiche Güte Frau Margaretens eine Bürde auf sie gelegt.

Als gleich darauf Klaus eintrat und die bevorstehende Ankunft des Bruders meldete, bestürmte sie ihn mit bettelnder Ungeduld und tausend Fragen. Sie wisse, daß er einen Fremden in seinem Haus versteckt halte. Wer er sei? Wozu er den Bruder in Stendal brauche?

Aber Klaus wich ihr nach seiner Art mit einem Kuß und einem Scherzwort, das seine umwölkte Stirn Lügen strafte, aus. Ursel wandte sich in kindlichem Schmollen ab, und Frau Margarete nahm sie still mit sich aus dem Zimmer. Ihr Sohn brauchte jetzt Stille, Gleichmaß, Sammlung. Das sah sie ihm an. Seine Augen begegneten dankbar den ihren, als sie ohne Bitte und Frage hinausging. Er stieß eine Seitentür auf, hinter der der Markgraf als heimlicher Gast hauste, und Herr Ludwig trat in tiefer Erregung ein. Er wußte, daß dieser Morgen vielleicht für alle Zeiten entscheidend war. Würde es Klaus gelingen, die Gildeherrn zu sich herüberzuziehen? In zehrender Ungeduld sah er ihm in die Augen.

Da schlug die Uhr von St. Marien die neunte Stunde.

Klaus Bismarcks Gestalt straffte sich. »Es ist Zeit,« sagte er ernst. »Mein Bruder kommt zur Morgensprache. Das ist ein gutes Zeichen und gilt mir viel. Aber der Erfolg steht bei Gott. Lebt wohl!«

Noch einmal drang Herr Ludwig in ihn, fordernd und heischend: »Klaus, was wirst du tun?«

Und Klaus entgegnete fest, indem er ihm die Hand reichte: »Seid gewiß, ich werde das Äußerste tun, die Gilde zum Paktieren zu gewinnen. Was ich kann, geschieht, das schwör ich Euch zu. Aber dringe ich nicht durch, so haben wir den Aufruhr über Nacht. Dann, Herr, kann ich mich den Meinen nicht versagen. Ich kann nicht, Herr. Dann muß ich mich mit ihnen im Gildehaus verschanzen und die Ehre retten. Verzeiht mir, wenn Ihr mich nicht wiederseht! Lebt wohl!«

Noch hielt der Markgraf die Hand des andern, noch einmal fing er an, in ihn zu dringen. »Klaus –«, begann er beschwörend, aber von der Stirn Bismarcks leuchtete ein so tödlicher und düsterer Ernst, daß er mutlos abbrach und die Hand des andern fallen ließ. Die hoffnungslose Gebärde griff Klaus stärker ans Herz als laute Worte, und er wandte sich noch einmal zurück. »Lieber Herr,« sagte er mit Herzlichkeit, »so müßt Ihr mich nicht ansehen! Noch hoff ich. Hofft auch Ihr!«

In diesem Augenblick wurde die Zimmertür wild aufgerissen, und Gottschalk von Jerichow brach keuchend herein. In atemloser Erschöpfung stützte er sich, ein paar Stühle umstoßend, mit ganzem Leibe über den schweren Tisch, der ihm Halt gab. Seine Kleider waren zerfetzt. Seine Augen loderten. Er rang nach Atem.

»Jerichow–-?« rief Klaus ihm entgegen. »Wo kommst du her?«

Da schrie der andre außer sich: »Wenn du ins Gildehaus zur Morgensprache willst, so spare dir den Weg!«

Klaus faßte ihn am Arm. »Wie siehst du aus, Jerichow? Was ist geschehen?«

Rasende Erbitterung verschlug dem Bestürmten fast die Rede. »Die Zünfte sind im Gildehaus!« brach er aus. »Sie halten Gasse und Tor besetzt! Wir sind knapp entronnen.«

»Das ist Gewalt!« entfuhr es Klaus. Stirn und Augen verdunkelten sich bei ihm wild in aufwühlender Leidenschaft. Jetzt war er ganz Gildejunker. »Den Teufel auch!« schrie Jerichow. »Das spürten wir! Deine Mutter flickt unten dem alten Godin die Hand, die sie ihm beinah vom Leib gerissen haben. Hunde!«

Den Markgrafen hatte der Rasende noch nicht bemerkt, oder, wenn er ihn gesehen hatte, so kannte er ihn doch nicht, und ein fremdes Gesicht kümmerte ihn wenig in dieser Stunde, in der es um Sein und Nichtsein ging.

Ludwig von Wittelsbach aber hatte seine Botschaft gehört, und es war ihm, als erfröre ihm das Herz in jäher Erkenntnis. Da war es, was er so lange gefürchtet hatte. Das tödliche Unwetter, vor dessen Ausbruch er Klaus Bismarcks Haupt hatte bergen wollen, tobte entfesselt. Aber so brennend der Schmerz um die zerstampfte Saat seiner jungen Hoffnungen in ihm wühlte, sein ritterlicher Sinn war so wach wie sein Schmerz. Er wußte, was es bedeutete, daß die Zünfte sich durch einen kecken Handstreich des Gildehauses bemächtigt hatten: die Festung und das Arsenal der Geschlechter war in Feindeshand. Aber er dachte in dieser Stunde in behütender Sorge nur an das bedrohte Haupt des Freundes und der Seinen. Jerichows erster Aufschrei hatte in ihm den Gedanken an Klaus' Bruder geweckt, der ahnungslos vielleicht eben durchs Tor von Stendal ritt und von dem empörten Pöbel in Stücke gerissen wurde.

Er rührte den Freund am Arm und sprach ernst: »Klaus –«

Aber Klaus meinte, der Markgraf wolle auch jetzt noch in ihn dringen, er wandte sich unwirsch nach ihm um, sah ihm hart in die Augen und sagte kurz und feindlich: »Ja, das ist der Aufstand, Herr!«

Herr Ludwig verstand den Treuen zu wohl, als daß er das Gefühl einer Kränkung hätte in sich aufkommen lassen. Er fuhr fort: »Nein, Klaus, so meinte ich das nicht. Ich dachte an deinen Bruder. Wer warnt ihn?«

Klaus Herz brannte in Scham. Er faßte nach der Hand des andern, als wollte er ihm abbitten. Aber zugleich packte ihn jähe Angst um den bedrohten Bruder.

»Christian ist noch nicht hier!?« schrie nun auch Jerichow und sah erschrocken auf Klaus. Der sprang zur Tür. »Christian weiß von nichts,« rief er. »Ich muß ihn warnen!«

Aber Jerichow verstellte ihm den Weg und hielt ihn an den Schultern.

»Bist du splitterrasend toll, Klaus!?« rief er. »Du bist Freiwild! Dir gilt die Jagd des Gesindels! Wo willst du hin? Die Kolonnen der Zünfte streifen durch alle Gassen. Du mußt hier bleiben!«

Aber Klaus' leidenschaftliches Herz kannte nur ein Muß. »Wer soll ihn retten, Jerichow,« schrie er außer sich und suchte sich von den ihn umklammernden Händen loszureißen, »wenn nicht ich!? Laß mich!« Er suchte Jerichow beiseitezustoßen, der ihm unerbittlich die Tür verstellte.

Da drängten von außen Schadewachten, Sluden und ein Häuflein Patrizier, die so lange bei Frau Margarete verweilt hatten, herein. Der greise Godin von Sluden hob die blutig verbundene Hand und stieß ingrimmig hervor: »Verdammt! Ich habe mich durchgebissen wie ein Fuchs, der die Rute im Eisen läßt! Was nun?«

Schadewachten drängte ungestüm zum Fenster und knirschte mit den Zähnen. »Die Bürgerwehr sperrt das Haus!« grollte er. »Wir sitzen in der Falle.«

»Wo sind die andern?« rief Klaus.

Jerichow sah ihn wild an. »Den Konrad Hidde, den Berndt Röxe und noch ein paar andre hat man von uns abgesprengt. Sie werden in Hiddes Haus in der Falle sein wie wir hier!«

Da war Klaus' verzweifelter Entschluß gefaßt. Wortlos drängte er zur Tür, um trotz allem den aussichtslosen Versuch zu machen, seinen Bruder zu retten. Der Markgraf sah und verstand ihn. Er hielt ihn zurück und sprach rasch und fest: »Bleibe hier, du kommst nicht durch! Jedes Kind kennt dich. Wenn einer durchkommt, so bin ich das. Mich kennt keiner. Kein Wort, Klaus! Ich suche ihn. Will's, Gott, ist er nicht zu schnell geritten.«

Klaus' ganzes Herz drängte in ungestümer Dankbarkeit dem fürstlichen Freunde entgegen, dessen reiches Herz er noch eben verkannt hatte. Aber er rang vergeblich nach einem Wort. Herr Ludwig preßte warm seine Hand. »Laß, Klaus. Ein Freundesdienst für den andern. Nichts weiter. Ich bin schon fort!« Und er enteilte der Tür.

Betroffen hatten die Gildeherrn den kurzen Wortwechsel angesehen. »Wer war das?« stieß Jerichow hervor. Aber Klaus antwortete nicht. Er stand stumm am Fenster und rang mit seiner Bewegung.

Jerichow ließ unwirsch von ihm ab. Die Zeit drängte. »Was nun?« rief er und stampfte mit dem Fuß.

Inzwischen hatte Schadewachten, der seit Rule Bismarcks Tod der Älteste und das Haupt der Geschlechter war, seine ganze Ruhe wiedergefunden. Die Scham fraß in dem alten Graukopf, daß die Gildeherrn drauf und dran gewesen waren, im Schrecken der jähen Überrumpelung ihre angestammte Würde daranzugeben. Ein Kampfesfeuer brach aus seinen alten Augen. Der sonst so ruhige und beherrschte Greis war nicht wiederzuerkennen. Sein Haupt unter verworrenem Haar schien in einen grauen Landsknechtskopf verwandelt. Seine Stimme klang ehern und herrisch.

»Was nun – ?« rief er. »Ich schlage vor, daß wir Morgensprache halten, soviel wir hier sind, dem Pöbel zum Trotz, in Bismarcks Haus. Fürs erste sind wir sicher, denn das Haus ist fest. Und sollen wir endlich den Kopf verlieren, so soll's durch andre geschehen, nicht durch uns selbst. Setzt Euch!«

Das war das rechte Wort für die in ihrem Herrenstolz tödlich verletzten Männer. Der Trotz wachte in ihnen auf bei den Worten ihres Führers, und sie waren mit einmal von einem verwilderten, höhnischen Geiste erfüllt, der zum äußersten entschlossen war. Die ritterlichen Ahnen wachten in den Kaufherrenenkeln auf.

Sie trugen alle Stühle des Zimmers um den schweren Eichentisch zusammen und scharten sich um ihren Führer. Jerichow zog eine alte Truhe aus dem Winkel, daß die Waffen in ihr klirrten, und hob sich aus ihr beide Arme voll alte Dolche und rostige Schwerter. Schmetternd warf er das Eisen auf den Tisch und rief dazu: »Recht so, alter Giso! Und statt der Silberhumpen der Gilde legt Schwerter auf den Tisch. Der Pöbel zerwühlt und zerreißt im Gildehaus unsre Rechtsurkunden und reißt sie in Stücke. – Eisen auf den Tisch, Brüder! Sein Recht ist härter und besser als Papier.«

Schadewachten nickte ihm mit grimmigem Wohlwollen zu. »Nehmt Platz, Brüder,« mahnte er noch einmal. »Die Bräuche weiß ich aus dem Kopf. Ich habe sie oft genug gehört und gelesen.«

Ungeduldig wehrte Jerichow ab. »Laß die Bräuche, Giso! Die Formeln sind unnütz. Laß sie heut beiseite! Die Zeit drängt!«

Da aber hob sich Sluden aus seinem Stuhl und murrte gegen den allzu Stürmischen. Der alte Schalk konnte auch in dieser Stunde ein zorniges Scherzen nicht lassen. »Wer drängt uns, Gottschalk?« sagte er verweisend. »Die Zeit drängt uns nicht. Der Pöbel will uns drängen. Wir lassen uns nicht drängen, Gottschalk! Laß sie schreien! Wir wollen unsre alten Bräuche geruhsam üben wie je. Und wenn sie uns darüber totschlagen, ich erkenne keine Morgensprache an, die nicht die alten Formeln wahrt. Behag es Euch, wie's mag– ich will behaglich sterben!«

Das zustimmende Murren der andern zeigte, daß er den rechten Ton in dieser Runde getroffen hatte.

Jetzt erhob sich Giso von Schadewachten als regierender Aldermann der Gilde und sprach: »Ich frage Euch, ob es die rechte Stunde ist, daß ich eine Morgensprache hegen und halten mag?«

Er wandte sich dabei, wie es die Übung vorschrieb, an Klaus Bismarck, der ihm an seines Vaters Statt als zweiter Aldermann zur Rechten saß. Aber im Herzen des jungen Ratsherrn gingen ganz andre Dingen vor. Er saß wie in einer Runde von fremden Gesichtern und warf dem Fragenden ein gedankenloses Ja hin.

Sluden fuhr auf. »Klaus, willst du Aldermann in der Gilde sein, und kennst ihre Formeln nicht?«

Gleichgültig besann sich Klaus auf seinen Spruch: »Sofern Ihr von der kurfürstlichen Durchlaucht, unserm gnädigsten Herrn, und einem ehrbaren Rate allhier die Macht habt, ist es wohl an der Stunde, daß Ihr eine Morgensprache hegen und halten mögt.«

Schadewachten wandte sich an Godin Sluden, der ihm als dritter Aldermann zur Linken saß: »Ich frage Euch, wie oft ich die Sprache hegen soll?«

»Dreimal, als Recht ist,« kam die Antwort zurück.

Schadewachten wandte sich zu Gottschalk von Jerichow und begann: »Ich frage Euch, was ich in dieser gehegten Sprache –« Aber er kam nicht zu Ende. Wüstes Trommeln der Zunfthaufen klang von der Gasse herauf und unterbrach ihm die Rede. Er verstummte, und die Stirnadern schwollen ihm, als sei er bübisch beleidigt worden.

Aber in grimmiger Behaglichkeit rief Sluden.: »Laß sie trommeln, Giso! Laß dich nicht stören! Noch einmal!«

Und Schadewachten begann von neuem. Die Worte kamen ihm schwer, langsam und in trotziger Feierlichkeit von den Lippen, als gäbe es keinen Aufruhr, der ihm im nächsten Augenblick vielleicht Rede und Leben mit eins abschneiden konnte. »Ich frage Euch, was ich in dieser gehegten Sprache gebieten und verbieten soll?«

Das Trommeln schwoll lauter und frecher an und übertäubte fast das gesprochene Wort. Die Männer saßen, als hörten sie nichts. Prächtige Kindsköpfe, diese Greise! dachte Klaus Bismarck wie ein Unbeteiligter. Da klang Jerichows Antwort. Seine Stimme fuhr wie Hornstoß in das wüste Trommeln! »Ihr sollt Recht – verdammtes Trommeln! Ihr sollt Recht gebieten und Unrecht verbieten, daß auch keiner des andern Wort reden oder halten soll, es geschehe denn mit Bewilligung der Aldermänner und Gildemeister.«

Schadewachten reckte sich und sprach dröhnend den Schluß: »So hege ich denn eine Morgensprache und hege sie zum erstenmal und hege sie zum zweitenmal und hege sie zum drittenmal, gebiete daneben Recht und verbiete Unrecht.« Aber als er nun fortfuhr, da lohte ingrimmige Selbstverhöhnung durch die Feierlichkeit der überlieferten Worte: »So einer der Gildebrüder etwas weiß, das der Gilde abträglich ist, der soll reden.«

Auch Sluden fuhr auf und rief, wild mit den Fingern auf dem Eichenholz des Tisches trommelnd: »Ho, Giso! Die Antwort war schon getrommelt, eh' deine Frage kam!«

»Wer spricht zur Sache?« fuhr der Regierende unbeirrt fort.

Nun war Klaus Bismarcks Stunde da. Jetzt oder nie mußte er den Versuch machen, die Gilde zum Paktieren zu bewegen. »Gildemeister, schaffe mir Gehör!« rief er laut, ehe ein andrer ihm das Wort vom Munde nahm.

Schadewachten hätte nicht mit dem Schwerte zu klappen brauchen, um Ruhe für den jungen Aldermann zu schaffen. Alle sahen in stillem und fast feindselig lauerndem Schweigen auf den blassen Mann. Klaus empfand klar, was es war, das ihn kühl aus dieser Runde anwehte. Sie mißtrauten ihm: wie dem verlorenen Sohne, seit er den Bischof eigenmächtig in Rule Bismarcks Sterbehaus eingelassen. Er biß die Zähne zusammen und sprach aus, was, wie er wußte, ihre laute Empörung entfesseln würde. Er schlug vor, den Wortführer der Zunftmeister zur Verhandlung zu laden und um die Forderungen der Gewerke zu befragen.

Seine Stimme klang kalt und mutlos. Er empfand bitter die Aussichtslosigkeit seines Versuchs. Selbst wenn es ihm gelang, die Gilde zum Anhören der Gegenpartei zu bewegen, so würden Wille und Wille, Hochmut und Anmaßung nur um so unversöhnlicher aufeinanderplatzen. Aber der sichere Instinkt des geborenen Staatsmannes ließ ihn keinen Versuch hoffnungslos aufgeben. Selbst am siegreichen Gegner mag man oft eine Blöße erspähen, die man nur zu nutzen braucht, um alles zu wenden.

So sah er gleichmütig, wie jetzt Jerichow auffuhr, daß der Stuhl hinter ihm zu Boden schlug, und scharf erwiderte: »Ich fordere, die Gilde soll bei Ehre und Leben jedem der Brüder jede Verhandlung verbieten. Wir wissen, was das Gesindel will. Wir brauchen es nicht zu hören. Wir beschließen im voraus, die alten Rechte bis ans Ende und, wenn's sein muß, mit unsrem Leibe zu decken.«

Der alte Sluden kopfnickte. »Wohl, wohl. Das ist eine gute und klare Lösung, ehrlich und herzhaft und Freund und Feind verständlich!«

Jerichow drängte scharf zum Schluß. Er setzte die Faust auf den Tisch und rief: »Ich stimme für Kampf!«

Und wieder bekräftigte Sluden die Worte des Draufgängers. Aber diesmal klang seine Stimme doch anders. »Ich stimme ebenso,« sprach er langsam. »Nur nenne ich's anders. Ich nenne es Tod. Ich stimme für den Tod.«

Alle schwiegen betreten. Einen Augenblick herrschte völlige Stille.

Mit einmal erkannten alle den Punkt, an den man gelangt war. Das Ende war da. Es galt nur noch ein der Gilde würdiges Ende.

»Ich stimme für das Unabwendliche,« sprach ein andrer in die schwere Stille. Und der Dritte und Vierte setzte dumpf hinzu: »Auch ich.« Wie Stundenschläge um Mitternacht fielen die Stimmen. Nur einige wenige verharrten zuletzt in Schweigen oder tuschelten, als ob sie noch einen andern Ausweg suchten. Aber schnell und triumphierend übertrumpfte Jerichow ihre Unschlüssigkeit, indem er den Willen der Mehrheit ausrief: »Keine Verhandlung! Es ist Beschluß!«

Das Wort entfesselte eine gewaltige Aufregung. Der und jener aus der Minderheit grollte dem voreiligen Beschluß und suchte zu Wort zu kommen. Aber die Nachbarn machten sie stürmisch mundtot: »Es ist Beschluß!«

Da klang Klaus Bismarcks herrische Stimme in das Durcheinander: »Schaffe mir noch einmal Gehör, Gildemeister!«

Schadewachten versuchte Stille zu gebieten und schlug, als der Tumult nicht schwieg, mit dem Schwert auf den Tisch. »Der Aldermann Klaus Bismarck redet!« rief er mächtig, und der Groll über die verletzte Würde der Verhandlung klang aus seiner Stimme.

Aber auch jetzt noch hatte Klaus Mühe, sich und seine Worte gegen die lärmenden Zwischenrufe Jerichows und seines Anhangs durchzusetzen.

»Brüder,« fing er an, »mancher unter Euch mißtraut mir, seit ich am Totenbett meines Vaters –«

»So ist's!« unterbrach Jerichow schneidend.

»– Besonnenheit bewahrt habe,« vollendete Klaus, den Wilderregten in überlegener Ruhe ins Auge fassend. Jerichow schäumte auf und hieb mit der Faust unter das Eisen, daß es klirrend durcheinandersprang. »Du hast paktiert!« schrie er.

Klaus sah verächtlich über den Maßlosen hinweg und blickte abwartend und fordernd auf den Regierenden. Jerichows Zuruf hatte einen Tumult entfesselt, der ihn am Weiterreden verhinderte. »Ich habe Ruhe geboten für den Aldermann!« rief Schadewachten, und seine grollende Stimme beschwichtigte den Lärm.

Und Klaus Bismarck begann von neuem. Seine Rede ging laut und klar, doch ohne Schärfe über die Aufhorchenden hin. Geschickt nutzte er die Blöße, die sich Jerichow durch sein würdeloses Lärmen gegeben hatte.

»Seit wann,« fing er an, »ist es Sitte, daß die Gildeherrn einander niederschreien? Gottschalk Jerichow, der du dich so versteifst, ein Torhüter alter Rechte zu sein, fühlst du gar nicht, daß du am ärgsten gegen alte, kluge Sitte der Geschlechter verstößt? Nicht dadurch, daß du gegen mich anlärmst – beileibe, davon rede ich nicht! Aber dadurch, daß du und Ihr andern die Waffe vergeßt oder verschmäht, durch die Stendals Gilde durch Jahrhunderte geherrscht hat – den Kopf. Unsre Urahnen mögen einst mit den Reiterwaffen, die ihnen der König gab, geherrscht haben. Das ist vorbei. Die Fußwehr der Zünfte braucht keine Reiter mehr zum Schutz. Dennoch herrschten wir. Mit dem Kopf allein herrschten wir jahrhundertelang. Heut aber soll es, so wollt Ihr's zum erstenmal, eine Schande sein für die Gildeherrn, den Kopf zu brauchen. Ich fordere Verhandlung mit unsern alten Waffen. Jerichow nimmt des Gesindels eigene Sprache an, wenn er kopflos die Fäuste brauchen will. Ich achte's nicht für Schande, den Kopf zu brauchen. Darum fordre ich noch einmal: Hört die Zünfte an, ehe Ihr über Tod und Leben beschließt. Das ziemt der Gilde besser als ein verzweifelter Raufhandel.«

Die Herren waren bei den Worten des jungen Aldermanns immer stiller und nachdenklicher geworden. Manch einem kam der Gedanke, daß es unwürdig sei, in frischem Jähzorn Weib und Kind in die Schanze zu schlagen. Klaus merkte den Umschwung der Stimmung, doch ohne Freudigkeit. Seine Gedanken schweiften während des Redens ab zu dem hartbedrohten Bruder und seinem fürstlichen Freunde. Wenn Christian doch dem Pöbel in die Hände fiele? In tiefem Ernst, der sein Gesicht mit einmal seltsam altern ließ, schloß er: »Der Tod ist nur ein Punkt. Schreibt erst einen klugen Satz, der Punkt beschließt ihn früh genug. Ist's an der Zeit, so weiß auch ich den Punkt zu setzen. Wer zweifelt daran?«

Klaus Bismarck wuchs fast sichtbar unter seinen Worten und ragte in erdrückender Überlegenheit über den andern. Der wuchtige Ernst, der aus den Worten des jungen Ratsherrn sprach, legte sich lastend über die Grauköpfe. Die Minderheit, die vorhin durch Jerichows treibenden Zorn mundtot gemacht war, brach in laute Zustimmung aus.

Jerichow fuhr auf. Da entschied Giso von Schadewachten, indem er beschwichtigend die Hand hob. »Der Aldermann hat recht,« sprach er, »ich stimme wie Klaus Bismarck.«

Laut und nachdrücklich stimmten fast alle bei. Jerichows Beschluß war umgestoßen, und die Gilde bereitete sich zu erneuter Abstimmung. Da wurde plötzlich von neuem lautes Trommeln hörbar, und Klaus Bismarcks Name schallte rufend unter den Fenstern!

Klaus erhob sieh. Jerichow fuhr ihn wild an. »Bleib sitzen, Klaus! Aldermann der Gilde, an deinen Platz!« Klaus wandte nur halb das Haupt nach ihm und gab kühl zurück: »Die rufen den Hausherrn, Gottschalk Jerichow. Der bin ich.« Und trat ans Fenster. »Hallo! Was soll's?« rief er hinunter. Eine undeutliche Stimme, die denen im Zimmer unverständlich blieb, antwortete. Klaus wandte sich zu der Gilde zurück.

»Sie bieten selber Verhandlung. Sie wissen, daß die Gilde hier versammelt ist. Ihr Sprecher will verhandeln. Wir brauchen nicht mehr um Verhandlung zu bitten.«

Fragend lag sein Blick auf den Gildebrüdern, als erwarte er Vollmacht. Wieder kam ihm Schadewachten zu Hilfe. Der Greis fühlte mit einmal etwas wie Zuneigung zu dem Jüngling, der sich gegenüber dem lauten Mißtrauen der Genossen so ruhig und beherrscht behauptete; »Brüder,« sagte er, »ich denke, wir hören sie an.«

Keine laute Zustimmung folgte. Aber niemand widersprach. Jerichow biß sich in wehrloser Erbitterung die Lippen wund, er fühlte die Aussichtslosigkeit weiteren Widerspruchs. Klaus ging ruhig aus der Tür, um Stotfalke, den Wortführer der Handwerker, in sein Haus zu lassen.

Jerichow blickte wild um sich, als suche er, woran er seinen Ingrimm auslassen könnte. Sein Blick überflog die Zahl der Stühle, er bemerkte einen überzähligen und packte ihn zornig mit beiden Fäusten an der geschnitzten Lehne. »Wäre dies mein Haus,« schrie er, »wahrhaftig, es wäre mir zu schade für den Schmutz des Gesindels! Aber Ihr wollt's. So hört sie in Teufelsnamen! Aber setzt Euch! Wollt Ihr, daß die Gildeherrn vor diesem Hanswurst wie Schulbuben stehen, die nach der Rute schielen? Setzt Euch und sitzt unbewegt und gönnt ihm keinen Gruß. Er soll's beim Eintritt fühlen, daß er als schmutziger Rebell vor den Herren der Gilde steht. Dieser Stuhl ist übrig, so zerschlage ich ihn. Sonst setzt sich der Lümmel unter uns als seinesgleichen.«

Er schwang den Stuhl, um ihn auf den Boden zu schlagen. In dem Augenblick ging die Tür auf, und Stotfalke wurde hinter Klaus Bismarcks Rücken sichtbar. Schadewachten suchte Jerichow zu beschwichtigen und raunte ihm ärgerlich zu: »Laß das, Gotschalk!«

Aber der Schäumende schrie nur um so lauter: »Er soll es sehn!« und hieb den schweren Stuhl krachend auf den Boden, daß die Trümmer umhersprangen und dem eintretenden Handwerker vor die Füße fielen.

Stotfalke sah spöttisch auf den Rasenden und warf die Splitter mit einer verächtlichen Fußbewegung beiseite. »Ich stehe gern, Ratsherrn und Gildemeister,« sagte er. »Wer sitzt, ist dem Boden näher, als wer steht.«

Er trat dicht an den Tisch und weidete sich mit schlechtverhehltem Triumph an der ingrimmigen Verlegenheit der allmächtigen Gilde. Aber nun fühlte er doch, wie ihn aus dieser Runde, die in starrer Würde gleichsam versteint vor ihm saß, ein kühler und feindseliger Hochmut anwehte, der auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckte. Das hatte er nicht erwartet. Diese Männer saßen in unversöhnlicher Hoffart vor ihm wie Richter, die einen Schelm vor sich lassen. Der Haß des Unterdrückten quoll heiß in ihm auf.

Ein wilder, höhnischer Triumph spritzte aus seinen Worten, die er den Herren wie Schimpf und Demütigung entgegenrief: »Die Rechtsurkunden der Gilde sind verbrannt!«

Klirrend schlug Jerichow auf die Schwerter. »Hier liegen neue!« schrie er drohend.

Stotfalkes Augen funkelten. »Diese neuen Siegel,« sagte er hämisch, »scheinen noch heiß zu sein. Verbrennt Euch nicht daran!«

Da wurde dem greisen Schadewachten das gassenbübische Keifen des Gildejunkers und des Handwerkers unleidlich. Schroff herrschte er Stotfalke an: »Bring deine Aufträge vor. Wir verstatten Gehör. Aber dann tritt ab und laß uns verhandeln!«

Stotfalke warf den Kopf auf und verzog die Lippen. »Schon gut,« höhnte er. »So hört! Mein Wort ist bündig. Schmecke es Euch, wie's mag!« Seine sehnige Gestalt straffte sich, er fühlte sich in diesem Augenblick des Haders und Triumphs entschädigt für Jahre der Unterdrückung. »Ich stehe vor Euch im Namen aller Gewerke und Zünfte von Stendal und erhebe vor Euch und gegen Euch Anklage. Ich klage, daß die stadtgesessenen Geschlechter, die bis heute geherrscht haben –«

»Wir herrschen!« fuhr Jerichow schneidend dazwischen.

Aber unbeirrt, nur mit einem verstärkten Unterton spöttischen Behagens fuhr Stotfalke fort: »– die bis heute geherrscht haben, ihr Amt mißbrauchten gegen unsre heilige Kirche und für Ludwig von Wittelsbach, den die Kirche gebannt hat. Ihr seid Kirchenfeinde, obwohl sich die Kirche des toten Rule erbarmt hat –« »Für Geld!« unterbrach Jerichow von neuem wild und höhnisch.

»Für Bußgeld, Herr Gottschalk Jerichow,« gab Stotfalke gelassen zurück und blickte mit barer Verachtung auf den wutbebenden Mann. Dann fuhr er fort: »Ich klage, daß die Gildeherrn die Freiheiten der Stadt bedrohen. Ich klage, daß die Geschlechter von dem Kirchenfeinde feste Burgen zu Lehen nahmen. Schloßgesessene und Städtebürger sind Todfeinde von alters her. Ihr seid Schloßgesessene. Leugnet's, wenn Ihr könnt! Herr Klaus von Bismarck, als Ihr Burgstall zu Lehen nahmt, habt Ihr Euch von Stendal geschieden!«

Klaus Bismarck blickte Stotfalke kaltblütig und abwartend ins Gesicht. In diesem Augenblick war nichts in ihm lebendig als der Instinkt des Fechters, der darauf lauert, daß der hitzige Gegner sich eine Blöße gibt. Aber gerade die scheinbar unbewegte Ruhe des Verhaßtesten unter den Gildejunkern machte dem Handwerker das Blut schäumen. Er ließ von neuem die Anklagen des Volkes über die Häupter der Gilde niedersausen.

»Seitdem Ihr Burgen haltet, ist Stendals Freiheit bedroht. Schloßgesessene gehören nicht in unsre gute Stadt. Darum treibt Euch die Bürgerschaft aus Sitz und Rechten, Rat und Gilde aus!«

Dröhnend wie ein Mann fuhr bei diesen Worten die Gilde in die Höhe, und eine Schar von geballten Fäusten drohte wie Schmiedehämmer dem Übermütigen entgegen. Nur Klaus Bismarck bewahrte auch jetzt noch Ruhe. Stotfalke sah den ruhigen Mann mit wachsendem Grimm, er übersah den drohenden Ingrimm der andern und trat dicht an den Gildejunker heran, als müßte er gerade ihn aus seiner Unbeweglichkeit herausreißen.

»Ohne Macht,« fuhr er fort, »habt Ihr allzulange geherrscht, weil wir das überkommene Unrecht ehrten» Jetzt geht Ihr daran, Euer schwaches, papierenes Recht mit Burgen vor unsern Mauern zu festigen. Hütet Euch! Der Anschlag ist entdeckt. Die Bürgerschaft hat Euer Recht verbrannt. Kraft bessern Rechts lösen wir den Rat von Stendal auf und verstoßen ihn aus den Mauern der Stadt –«

Mitten im Reden sah er die tödliche Drohung der wild gegen ihn gereckten Fäuste und sprang einen Schritt zurück. »Hütet Euch!« schrie er. »Ihr habt nur noch die Wahl, die wir Euch lassen. Weicht oder sterbt! Wir wollen nicht Euer Blut, wir wollen unser Recht. Darum lassen wir Euch die Wahl. Weicht vor Nacht aus Stendal, oder Ihr seid tot vor Nacht! Entscheidet Euch! Ihr seid nur ein Häuflein, wir sind die Stadt. Stadttore und Gildehaus halten wir besetzt und bewacht. Unsre festen Rotten umlagern alle Häuser der Gildeherrn so wie dieses hier, in dem wir reden. Wählt nun!«

Zugleich riß er ein Blatt aus seinem Kittel, das mit ungefügen Schriftzügen überdeckt war, und warf es als letzten Triumph auf den Tisch unter die in lautlosem Ingrimm stehenden Männer. »Lest das Pergament, das die Zünfte aufgesetzt haben! Lest und unterschreibt! Eine Stunde habt Ihr zur Überlegung. Dann ist unsre Langmut erschöpft. Ist dieser Pakt über eine Stunde nicht unterschrieben – Euer Blut auf Euch! Wählt, wie Ihr mögt! Der Pakt ist bündig. Auf Wiedersehn, Ihr Herren!« Er wartete keine Antwort ab, sondern schied mit spöttischer Verneigung. In der Tür sah er sich noch einmal um und lachte höhnisch auf. Er sah den Schimpf sichtbar auf den grimmig geduckten Nacken lasten. Er warf die Tür laut und frech hinter sich ins Schloß.

Eine lange Weile brachte keiner der Gildeherrn ein Wort über die Lippen. Es war, als wage einer den andern nicht mehr anzusehen. Keiner regte sich. Nur Klaus Bismarck hielt den papierenen Pakt in Händen, und sein Geist arbeitete fieberhaft über den krausen Schriftzeichen.

Da brach Jerichow die Stille. Seine Augen flackerten in unverhülltem Haß. »Wer riet uns die Schande,« rief er knirschend, »das anzuhören!? Klaus Bismarck, auf dein Haupt die Schande der Gilde!«

Aber Klaus ließ sich auch durch den Schimpf nicht fortreißen. Seit er die Forderungen der Aufrührer in Händen hielt, sah er den Weg vor sich, den er zu gehen hatte. Nichts würde ihn davon abhalten. Er blickte kühl und mit verächtlicher Überlegenheit auf den Gegner. Er spürte wohl, wie sich in dieser Stunde zwischen ihm und dem andern eine tödliche Feindschaft anspann. Aber das kümmerte ihn wenig. Die Brüder des Vaters waren ihm seltsam fremd geworden, er stand unter ihnen und tat seine Pflicht. Sonst kümmerte ihn nichts.

»Ich hadre nicht mit deiner Blindheit, Gottschalk,« sprach er kalt und wandt sich an die andern. »Dies hier, Ihr Herren,« – er klopfte mit dem Knöchel auf das Pergament–»dies hier ist keine Schande. Es ist Torheit. Der neue Rat von Stendal regiert mit Fäusten ohne Köpfe. Es ist ganz, wie ich hoffte. Lest und lacht! Dieser Pakt ist kopflos von Anfang bis Ende. Das tolle Gesindel sieht in seinem Rausch nicht auf Steinwurfsweite. Es fordert den Abzug der Geschlechter. Weiter nichts. Kein Verzicht auf alte Rechte, keine Zustimmung zu der neuen Ordnung, nichts. Seht Ihr denn nicht, daß dies den freien Abzug der Geschlechter auf ihre Burgen bedeutet? Laßt uns abziehen! Kein aufgezwungenes Wort und kein Verzicht wehrt uns das Wiederkommen. Wir kommen wieder. Laßt sie doch die Tore hinter uns verrammeln. Wir haben Zeit. Wir haben feste Schlösser und freie Hand zu offener Fehde. Kann einer in verzweifelter Lage Besseres hoffen?«

Er warf das Papier unter die Gildeherrn. Zehn, zwölf Hände haschten zugleich danach. Eine große Erregung bemächtigte sich aller. Schadewachten überlas als erster den Pakt, und aller Augen hingen an seinen Lippen, als er ihn niederlegte. Das Gesicht des Greises überzog sich mit der Röte, der Überraschung und Scham. »Wahrhaftig,« sagte er langsam, »wo hatten wir unsre Augen und Gedanken! Muß der Jüngste unter uns für uns denken? Das ist kein Verzicht, nein, das ist ein Anspruch. Das ist ein Bekenntnis erlittener Gewalt und ein verbrieftes Recht auf Rache!«

Allen schoß die Röte einer tiefen Erregung ins Gesicht. Das Pergament wanderte von Hand zu Hand. Klaus lächelte unmerklich bei Schadewachtens letzten Worten, die schon wieder nach hochmütiger Drohung klangen.

Jetzt legte auch Sluden das Pergament nieder. »Es ist wahrhaftig so,« sagte er tief atmend und drückte Klaus die Hand. »Wahrhaftig,« sprach er, »wir müßten Narren sein, unterschrieben wir nicht.«

Die unerwartete Wendung zu neuer Hoffnung weckte in dem alten Sluden wieder die grimmige Behaglichkeit, die ihn in dieser Stunde verlassen hatte. Er ergriff die Schwanenfeder und unterschrieb als erster mit einem entschlossenen Zuge. »Ich unterschreibe,« lachte er, »und wenn es ginge, so setzte ich ein Gelächter hinter meinen Namen!«

Er schob den unterschriebenen Pakt an Schadewachten weiter, für dessen Namen er den ersten Platz frei gelassen hatte. Zögernder unterschrieb der Greis. »Hart bleibt es doch,« sagte er schwer. »Mancher unter uns hat keine Burg als Zuflucht, hat kaum ein Dach für sein Haupt, wenn er Stendal hinter sich läßt. Und Stendals Mauern berennt man nicht so leicht. Wir wissen's. Wir haben sie gebaut.«

Sluden legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir sind allesamt Brüder,« sagte er. »Was einer von uns hat, das haben alle. Und besser ist eine jahrelange und harte Fehde als ein sicherer Tod ohne Hoffnung für Weib und Kind.«

Beinahe hastig unterschrieben die übrigen. Zuletzt fehlte nur noch Jerichows Name. Der leidenschaftliche Mann kämpfte einen harten Kampf. Da drückte ihm Sluden die Feder in die Hand und rüttelte ihn, als wollte er ihn wecken. »Gott weiß,« sprach da Jerichow, »daß mir das Schreiben blutsauer fällt. Aber die Gilde will's. Uneinig soll uns das Gesindel nicht finden.« Und er unterschrieb mit zornigem Federzug. Wie ein Aufatmen ging es durch die Runde.

Klaus Bismarck nahm das Papier schweigend wieder an sich, um auch seinen Namen beizufügen. Aber als er eben die Feder eintauchte, wurde die Zimmertür jäh aufgerissen, und Ursel Hidde stürzte wie eine Verzweifelte über die Schwelle. »Klaus! Klaus!« rief sie so gellend, daß den Männern das Mark gefror, und drohte taumelnd zu stürzen.

Klaus fing die Braut in seinen Armen auf. »Ursel –!« rief er erbleichend. »Um Gott, was ist –?«

Das Mädchen schluchzte im Weinkrampf an seinem Hals. »Klaus– Klaus –« jammerte sie leidenschaftlich, »Dein Bruder, Klaus –«

Der aufrechte Mann wurde totenblaß. Mit beiden Händen umfaßte er Ursels Haupt und sah ihr mit weitaufgerissenen Augen auf die Lippen, als wollte er sein Schicksal lesen. »Der Christian –?« rief er. »Ursel –? Sprich!«

Da riß sich das Mädchen los, trat mitten unter die Männer und rief ihnen aufjammernd und markerschütternd in die blassen Gesichter: »Er ist erschlagen!«

Ein Tumult brach aus. Ursel Hidde warf sich von neuem an Klaus' Brust und wimmerte: »Auf offenem Markte – vor dem Roland – ermordet –«

Einen Augenblick schienen aller Herzen auszusetzen. Da rief Jerichow flammend: »Das ist das Letzte, Brüder! Das ist das Ende! Nun bleibt noch eins und nichts sonst! Dies frische Blut löscht unsre Namen vom Papier. Ein Schuft, wer jetzt noch von Frieden redet!«

Auch Schadewachten hob tiefernst das Haupt und sprach ihrer aller Schicksal in schweren Worten aus. »Wahrhaftig, Klaus,« sagte er mahnend, »jetzt bleibt dir nur noch ein letzter Gang: an deiner linken Hand die Mutter und in deiner rechten Hand das nackte Schwert, durch Haß und Mord bis zu dem blutigen Leichnam deines Bruders –. Das ist dein und unser letzter Weg auf Erden, das weiß Gott.«

Klaus antwortete nicht dem einen noch dem andern. Er hörte sie kaum. Er blickte unentwegt auf Augen und Lippen der Geliebten und stützte ihre bebende und kraftlose Gestalt. Endlich kam ihr so viel Fassung zurück, daß sie zu erzählen vermochte. Ihr Herz zuckte fühlbar unter den eigenen Worten.

Vor noch nicht allzu langer Zeit war sie durch die plötzliche Rückkehr ihres Vaters und des Berndt von Röxe erschreckt worden, die nach dem Handstreich der Empörer gegen das Gildehaus sich fluchtartig in das Hiddische Haus retteten. Die beiden Männer berieten noch sorgenvoll über die Möglichkeit, sich mit den übrigen Gildebrüdern in Verbindung zu setzen, als sich plötzlich lauter Tumult unter den Fenstern des Hauses erhob. Trommeln und Johlen schallte vom Markt herauf. Ursel stürzte gleich den andern ans Fenster und sah, wie der zusammengerottete Pöbel einen einzelnen Mann frech umdrängte und beschimpfte. Umsonst mühte sich dieser, eine hohe Gestalt in dunkler Gewandung, sich durch den immer wachsenden Volkshaufen hindurchzuarbeiten. Ein Bursche, der wie ein Schlächtergeselle aussah, zerrte ihn frech am Rock. Der Bedrängte machte eine schnelle Wendung, schüttelte den Kläffer ab und schleuderte ihn aufs Pflaster. Im selben Augenblick hatte ihn Ursel erkannt. »Es ist Klaus Bismarcks Bruder!« schrie sie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Auch Hidde und Röxe erkannten jetzt Christian und stürzten besinnungslos hinaus, um den schwer bedrohten Jüngling zu retten. Aber ehe sie noch die Haustür entriegeln konnten, hatte sich der Kerl vom Pflaster aufgerafft und von hinten dem Ahnungslosen ein breites Messer in den Rücken gejagt. Christian Bismarck griff taumelnd mit beiden Armen in die Luft, drehte sich um sich selbst und schlug schwer wie eine gefällte Eiche zu Boden, den hündischen Angreifer unter sich begrabend und erschlagend. Zuckend hauchte der ritterliche Junge über dem hingestreckten Meuchelmörder sein Leben aus. Gaffend drängte das Gesindel näher –

Von da an war eine Lücke in Ursels Erinnerung. Das fassungslose Entsetzen hatte sie der Besinnung beraubt. Sie wußte nur, daß sie sich selbst plötzlich unten auf offenem Markt wiedergefunden hatte, wo Christians, Leiche unterm Roland hingestreckt lag. Der Pöbel erkannte kaum die Braut des verhaßten Gildejunkers, als er sie auch schon in wölfischer Gier umdrängte. Sie war allen Roheiten des Packs wehrlos ausgeliefert. – Da plötzlich sah sie den Fremden, den Klaus in seinem Hause beherbergte, wie einen Wächter neben sich stehen. Selbst bleich wie ein Toter starrte er auf den Erschlagenen. Wortlos lud er sich den schweren Leichnam auf die Schulter und faßte Ursels Hand. So schritt er langsam unter seiner Last, bleich bis in die Lippen, durch das Gesindel. Das Pack wurde still im Bann seiner dunklen Augen, wie er schweigend zu Werke ging. Aber stumm und trotzig starrten sie auf ihn und sein Tun und sperrten ihm den Weg. Da sah er sie an: »Einen toten Mann und ein wehrloses Weib führe ich nach Hause. Wer ist so ruchlos, daß er hilflose Kinder und tote Männer schändet? Gebt Raum!« Da wichen sie schweigend auseinander und ließen den Fremden durch. –

Nun wußte Klaus Bismarck um das Schicksal seines Bruders. Ludwig von Wittelsbach hatte umsonst sein Leben in die Schanze geschlagen. Nun blieb nur noch eins. Wie hatte doch Schadewachten vorhin gesagt –? Die Mutter an deiner Linken, das nackte Schwert in der Rechten, durch Mord und Tod –. Wie ein sinnloses Brausen füllten die Worte, die sein Schicksal waren, sein Hirn. Sterben –? Was galt das! Er sah im Geiste Ludwig Wittelsbachs Antlitz, von hoffnungsloser Trauer verdüstert. Da stöhnte er auf. Ihn, den Treuen, verlassen müssen – das war das bittere Ende.

Mit einmal trat der, an den er dachte, leibhaftig durch die noch offene Tür unter die still gewordenen Männer. Er hatte Frau Margarete ihren toten Sohn gebracht. Nun kam er, seinem Freunde zu helfen, der um ihn litt. Sein ritterliches Herz trieb den Fürsten, den Vielgetreuen freizugeben, daß er ohne Reue sein letztes Amt auf Erden, das Rächeramt, üben könne.

Er trat wie das Schicksal selbst schweigend in die Runde der todbereiten Männer und blickte auf Klaus. Das Herz war ihm schwer, als litte er die Verdammnis Gottes in dieser Stunde. Er wußte, daß er sich selbst in diesem Mann preisgab und verlor. Er legte die Hände auf Klaus' Schulter und sagte schwer: »Es ist aus, Freund. Ich halte dich nicht mehr. Frau Margarete weint um ihr mörderisch erschlagenes Kind. Du bist ihr Kind wie er, seit dieser Stunde habe ich kein Recht mehr auf dich. Meine Hand, Gesell! Sie ist noch rot vom Blut deines Bruders und macht dich frei von deiner Treue. Du hast nun noch eine Pflicht auf Erden, danach bleibt für die Zweite keine Zeit. Fahr wohl, Klaus!«

Klaus Bismarck rang wie ein Ertrinkender mit seinen Empfindungen, die ihn in qualvollem Andrang bestürmten. Die menschliche Größe des Markgrafen erschütterte ihn. Im tobenden Aufruhr aller Gefühle brach er aus: » Darum seit Ihr zurückgekommen –? mir das zu sagen? Zurückgekommen, einen toten Mann auf den Schultern, ein Weib an der Hand, waffenlos durch Haß, Mord und Tod – um mich von meinem Worte zu lösen?!«

Ludwig Wittelsbach litt unter der Seelenqual des Freundes wie unter der eigenen. Ihre ebenbürtigen Herzen verstanden sich. Er drückte ihm noch einmal die Hand und sagte schlicht: »Treue um Treue, Klaus! Hättest du anders gehandelt? Ich schlage mich wohl durch. Wozu freilich? Ich weiß es nicht. Vielleicht hilft Gott unsrer Mark, wenn du nicht mehr helfen kannst.«

Er wollte leise gehen, um den andern den Schmerz zu kürzen. Plötzlich stand er still und sah mit wachsendem Staunen auf Klaus. In dessen Antlitz ging jäh eine fremdartige, unvermittelte und beinahe furchtbare Wandlung vor sich. Sein von qualvoller Trauer entstelltes Gesicht schien plötzlich wie eine Maske abzufallen, und darunter kam ein Antlitz wie eine Schicksalsmaske zum Vorschein. Und nun rief er klirrend und in einem jähen Aufruhr des Herzens: »Nein, Herr! Nein! Nein! Das ist nicht wahr! Die Stunde schmiedet mich an Euch. Ich kann nicht anders. Und wenn mich Vater und Bruder vor Gott verleugnen darum – Markgraf Ludwig, ich bin dein Mann von dieser Stunde! Nimm mich! Brauche mich! Ich folge dir, wohin du willst. Ich habe keine eigene Rache, bis ich dich errettet habe, wie ich geschworen habe!«

Die Unwiderruflichkeit eines Entschlusses, der Ungeheures kostete, stand so steinern in dem Antlitz des Mannes, daß dem Fürsten das Herz schauderte. Er wußte, wozu Klaus Bismarck bereit war und wovon er um seinetwillen in dieser Stunde auf ewig ließ. Er zog ihn erschüttert an sich. »Gesell, Gesell!« sprach er leise, »weißt du auch, was du da tust?«

Aber Klaus Herz' ertrug keine weiche Regung. Er machte sich los. Er wußte, was er tat. Er stellte sich an den Schandpranger vor den Augen der Seinen, die nun mit einmal auf ihn starrten, als laste Blutschande auf ihm. Er wußte, warum sie noch schwiegen. Sie hatten wohl gehört, wer der Fremde war. Sie wußten wohl, was Klaus' Worte bedeuteten. Sie schwiegen aus Verachtung. Ihr Schweigen war Schimpf.

Aber Klaus Bismarck wankte nicht in seinem Wollen. Er wuchs in dieser Stunde hinaus über Menschen und Menschensatzung, die so lang für ihn gegolten, und die Gildebrüder verblaßten schemenhaft vor ihm wie Kinder einer toten und abgetanen Zeit, die keine Macht über den Lebendigen hatten.

Riesengroß und gewaltig wuchs etwas Neues vor ihm auf und türmte sich wie ein Sühnedenkmal über dem Leichnam des Bruders. Die Idee des Volkes, dessen Recht über allen Rechten ist, verkörperte sich ihm leibhaftig in der Gestalt Ludwig Wittelsbachs und stand vor ihm wie ein opferheischender Gott. Ihm brachte er sich zum Opfer, sich selbst, sein Leben, seine Rechte und seine Rache. Die Persönlichkeit Ludwig von Wittelsbachs hatte ihm jäh die Größe der Pflicht offenbart, für die dieser Mann zu leben verdammt und gesegnet war, und diese Offenbarung verpflichtete auch ihn, dem der Tod eben noch Pflicht und Ehre schien, an das Leben. Er wuchs über sich und seine Sippe hinaus und wurde einem größeren Ganzen leibeigen und dienstbar: dem Lande, dessen Gedeih und Verderb über dem Leben und Sterben der Einzelnen und ihrer Geschlechter ist.

Laut rief er in das tödliche Schweigen, das um ihn her war, hinein: »Schmäht mich, Ihr Gildebrüder, wenn Ihr müßt! Schmäht mich, wie Ihr wollt! Ich habe kein Recht mehr, mir mein Grab unter den Trümmern meines Vaterhauses zu graben. Ich opfere meine Rache meinem Herrn, der vor Euch steht. Markgraf Ludwig, ich kann nicht anders! Ich bin ein Stück der Mark! Komme daraus, was mag!«

Da löste sich den Herren der Gilde die Zunge. Es war ihnen klar, daß es Klaus furchtbarer Ernst um seine Worte war. Und auch das war klar, daß nur ein Ehrloser oder Wahnsinniger so handeln und reden konnte. Sie riefen ihn beim Namen, als wollten sie ihn wecken, und ohne daß sie es recht wußten, klang sein Name auf ihren Lippen schon wie ein Schimpfwort. »Klaus! Klaus! komm zu dir!« rief es durcheinander. »Du bist von Sinnen, Klaus!« Still hielt der Markgraf die Hand des Mannes, der nun verfemt wurde um seinetwillen, und er fühlte, wie sie warm und kalt wurde in der seinen wie die eines Kranken.

Da tat Klaus das Letzte. Der greise Sluden rüttelte ihn am Arm. Er riß sich los und trat bebend vor seelischer Erregung unter die andern. »Ich bin ganz wach,« sagte er. »Ich weiß, was ich tue.« Er zog den von der Gilde unterschriebenen Pakt aus seinem Gürtel. »Mein Name fehlt noch,« sagte er schwer. »Mir fällt's am schwersten zu unterschreiben. Dennoch tue ich's. Nennt es Schande – ich werde es tragen.« Und griff zur Feder, die noch feucht auf dem Tische lag.

»Klaus, daß die Hand dir dorre!« rief Jerichow und griff nach einem Schwerte, als wolle er sie ihm vom Leibe hauen. Klaus hörte und sah ihn nicht. Noch einmal rief Jerichow wild und schmähend: »Klaus, du tauchst die Feder in das Blut deines Bruders und erkaufst dein Leben!«

Jede Fiber an Klaus Bismarcks Leibe bebte, als er außer sich zurückrief: »Nein, nein, bei Gott! Ich erkaufe mir das Leben nicht! Ich verkaufe es, Gottschalk Jerichow! In mein Blut tauche ich die Feder und verkaufe mich und alles, was an mir ist, an Ludwig von Wittelsbach, den Herrn der Mark!« Er schrieb zu Ende und riß das Papier vom Tische auf. Sein Atem ging schwer und heiß wie in körperlicher Erschöpfung. »Es ist geschehen,« sagte er.

Die andern blickten auf ihn, als wollten sie ihn in Stücke reißen. Er trat ans Fenster und winkte. Eine Trommel lärmte auf, und Stotfalke löste sich aus dem Haufen und schritt auf das Haus zu.

Klaus Bismarck ging zur Tür. Die Gildeherrn wichen vor ihm zurück wie vor einem Aussätzigen. So schritt er hinaus. Am Tore reichte er Stotfalke schweigend das Pergament, das ihn und die Gilde bei ihrer Ehre band, vor Nacht aus Stendal zu weichen. Kurz danach scholl Hohngelächter und Triumphgeschrei von der Gasse herauf. Der Pöbel bejubelte seinen Sieg.

Die Gildeherrn hörten's, und die Scham fraß sich in ihr Mark. Der greise Schadewachten trat dicht vor Markgraf Ludwig und rief grollend: »Herr Markgraf, wenn Euch dieser Mann zum Glück hilft, so lebt kein Gott!« Der Fürst schwieg. Da reckte Jerichow die Faust nach ihm und rief haßerfüllt und drohend: »Fluch Euch, Markgraf! Sterbt an dieser Stunde!«

Klaus Bismarck trat wieder ein. Sein Antlitz war aschfahl. Was er getan hatte, ging über Manneskraft.

Da löste sich Ursel Hidde, die bis dahin ratlos und verständnislos dem Wortkampf der Männer gefolgt war, aus dem Winkel, in dem sie in Verzweiflung kauerte, rang die Hände und rief dem Geliebten in bettelnder Hilflosigkeit zu: »Klaus! Klaus –! Was hast du getan? Klaus, ich verstehe nichts! So hilf mir doch!«

Klaus war am Ende seiner Kraft. Er erfaßte die verschlungenen Hände seiner Braut und sagte bebend in beinahe inbrünstiger Bitte: »Ursel, Vertrauen! Helfen kann ich nicht.«

Da sank das Mädchen zusammen. Ihr Herz war dieser Stunde nicht gewachsen. Sie sah die Schande über dem Haupte des Verlobten zusammenschlagen und fand nicht Trotz noch Kraft zum Vertrauen. Ihre Hände entglitten den seinen, und er spürte einen zehrenden Schmerz in seinem Herzen.

Kurz und hart rief da Jerichow: »Ich gehe. Wer mag noch länger bleiben?« Er wandte sich verächtlich und ging aus der Tür. Wortlos folgte Godin von Sluden. Und so ging einer um den andern.

Draußen wurden die Patrizier mit Trommeln und Hohngeschrei empfangen, wie Besiegte, die durchs Joch gehen. Gellend schallte der wüste Lärm in das stille Zimmer.

Als letzter ging Schadewachten von dem Geächteten. Er zog Ursel Hidde an sich. »Komm mit uns, Kind!« sagte er mit tödlichem Ernst. »Konrad Hidde wird seine Tochter nicht länger hier wissen wollen. Komm mit mir, Kind! Ich spreche statt deines Vaters.« Er stützte die Schluchzende und führte sie halb ohnmächtig zur Tür.

»Bleib, Ursel!« rief Klaus jäh, und sein Schrei klang wie der eines im innersten Mark verwundeten Mannes. Aber Ursel warf sich aufschluchzend an Schadewachtens Brust. Sie hatte nicht die Kraft, Vater und Mutter zu verlassen und am Manne zu hangen.

Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloß. Das Hohngelächter der Gasse schwoll von neuem auf. –

Klaus Bismarck war in einen Stuhl gesunken und starrte vor sich hin.

»Gesell, Gesell, das ist zu viel!« sprach ihm Ludwig Wittelsbach in erbarmender Liebe zu. Er rührte sich nicht.

Da beugte sich der Fürst tiefer über ihn und sagte warm und schlicht: »Klaus, ich bin bei dir, heute und immer. Klaus, brauchst du einen Freund?«

Klaus saß stumm und brütend, teilnahmslos und tief in sich zusammengeduckt. Hörte er den werbenden Trost des Freundes?

Mit einmal sprang er wild auf und reckte sich. Er spürte, wie bei dem Zuspruch des andern eine Weichheit über ihn kam, die ihn verderben mußte. Er schrie auf: »Jetzt sind meine Hände leer, Herr Ludwig! Legt ein Schwert in meine Hände und gebt mir Feinde! Einen Freund brauche ich nicht, ich brauche Feinde! Sonst falle ich mich selber an!«

Erschüttert und bittend zog der Markgraf den Verzweifelnden an sich. »Klaus!«

Da warf sich der einsam Gewordene aufschluchzend an die Freundesbrust und ächzte.

IV.

Zieh' weiter, Klaus, – – – und frag' beim Kaiser nach, wer Markgraf ist!«

Fern von dem wüsten Lärmen der Vaterstadt fand sich Klaus Bismarck in der Stille der Letzlinger Forsten wieder. Statt der altvertrauten Räume, in denen er geboren und groß geworden war, umgaben ihn die ragenden Mauern von Schloß Burgstall.

Als der einsame Mann zum ersten Male die weitläufigen Höfe und Häuser seiner Burg durchwandelte, die eine ganze Sippe von Familien aufzunehmen bestimmt war, als er seine Schritte in den hohen, kahlen Räumen, in Gängen und Treppenhäusern hallen hörte, überwältigte ihn das Gefühl der Verlassenheit so sehr, daß er sich aufs Roß warf und stundenlang durch Wald und Heide ritt, um todmüde bei sinkender Nacht heimzukehren. Die Leere des Hauses schien seinem wunden Herzen wie ein höhnisches Bild der Zukunft, und ihm graute vor der Last der tausend Tage und Nächte, die ertragen und durchlebt werden mußten.

Aber zwei hilfreiche Kräfte wandelten die schmerzende Einsamkeit und tote Stille in heilende Ruhe; diese beiden Kräfte waren seine Mutter und seine Arbeit. Frau Margarete umhegte ihren Sohn mit dem wohltuenden Gleichmaß ihres wundervollen Vertrauens und war in weiblicher Sorge bemüht, ihm die fremden Räume zum wohnlichen Heim zu machen.

Was diese seltene Frau in der eigenen Einsamkeit litt, konnte der Sohn nur ahnen. Ohne Zögern und ohne Frage war sie bei dem schmerzvollen Scheiden von Stendal an ihres Kindes Seite getreten. Vor dem Tore hatte der greise Godin von Sluden ihr, die die Gefährtin seiner Jugend gewesen war, die Hand zum Abschied hingestreckt, aber dem Auge der Mutter war nicht entgangen, daß er Klaus keines Blickes würdigen wollte; da hatte sie schweigend die Hand zurückgezogen, und der Greis hatte wortlos die herbe Größe ihres parteiischen Mutterherzens geehrt.

Nun hielt die Mutter dem Sohne Haus an Weibes Statt. Wochenlang, wenn Klaus als markgräflicher Rat am Hofe des Kurfürsten weilte oder das notleidende Land bereiste, hauste sie in den alten Burgräumen wie eine Verbannte und Gefangene, nur von Vergangenem und Zukünftigem zehrend und die tote Gegenwart mit ihrer lebendigen Liebe betrügend. Ganz in der lebenslangen Pflicht der Mutterschaft aufgehend, vermochte sie das veränderte Dasein nur dadurch zu ertragen, daß aller Inhalt ihres Lebens sich restlos in dem Leben des Sohnes erschöpfte. Sie übte die heilige und geheimnisvolle Kunst der Mutter, sich selbst zu vergessen wie eine Tote und doch in lebensvoller Kraft zu brennen. Sie wußte, wann ihres Sohnes Herz nach Stille dürstete, und wann es nach einer Aussprache begehrte. Ihr Herz war ein immer offener Tempel für die Seele ihres Kindes. Nichts andres verlangte sie vom Leben.

Sie hatte ihm über die ersten schweren Wochen hinweggeholfen und sah nun mit wachsender Freude, wie ihm aus seinem Mannesschaffen neue Lebenskraft zuströmte. Wohl wußte sie, daß die Lebensfreude in der Nacht des bitteren Abschieds von Stendal aus seinem Herzen gewichen war, aber nur um so dankbarer empfand sie, daß er dennoch das Leben zu tragen vermochte, indem er sich selbst in der Rastlosigkeit seines Planem und Schaffens vergaß.

Und wahrhaftig, Markgraf Ludwig sah täglich und stündlich mehr Grund, dem Schicksal zu danken, daß es ihm die ganze Kraft dieses Mannes für seine Ziele dargeboten hatte. Nie wäre es ihm ohne den landeskundigen Sohn der Mark gelungen, die aus der Verpfändung eingelösten Landesteile, die sich wie Kinder einer gewaltsam zerstreuten Familie fast alles Gemeinsamen entwöhnt hatten, aufs neue zusammenzuschweißen und zum Gefühl der Zusammengehörigkeit zu bringen. Aber unter Klaus Bismarcks klugen und kühlen Händen ordnete sich das Chaos doch mählich zur Staatsschöpfung.

Das vornehmste Mittel, die Herzen und Hände des Volkes für den Markgrafen zu gewinnen, sah Klaus, nachdem die schwersten Gefahren von außen abgewehrt waren, in der Durchführung des allgemeinen Landfriedens, der trotz landesfürstlichen Gebots bisher nur ein hohles und in Rede und Tat verlachtes Wort gewesen war.

Die schloßgesessenen Herren des Landadels waren, während kaiserliche und markgräfliche Macht verfiel, zu übermütigen, und bei dem allgemeinen Notstand fast allmächtigen Tyrannen des Landes und seiner Handelsstraßen geworden. Die Gewalt dieser anmaßenden Sippen, die schmarotzend vom Mark des Volkes zehrten, galt es vor allem zu brechen. In ihren Kreis war Klaus als Herr von Burgstall eingerückt – ein Grund mehr für die schloßgesessenen Räuber, ihn als Eindringling und Todfeind zu hassen.

Eine Fehde auf Leben und Tod entbrannte und währte durch Jahre. Aber bald spürte das werktätige Volk der in Handel und Wandel lahmgelegten Städte die Kraft, die zu seiner Erlösung am Werke war. Der Name Klaus Bismarcks ging von Mund zu Mund. Er war der Helfer, der Gewalt und Willkür zu brechen tatkräftig vorging. Er schützte die Straßen und lähmte das Faustrecht, er umlagerte mit geworbenem Kriegsvolk die Raubnester des Diebsadels, er zerbrach ihre Hochburgen und erlöste eingekerkerte Bürger aus dumpfigen Gelassen. Die Mark lernte den Namen Bismarck in ihr Gebet zu schließen.

Freilich nicht alle suchten in ihm den Retter. Gerade die ihm am nächsten standen, verschmähten in ihrer schwersten Stunde seine Hilfe. Die Geschlechter der vertriebenen Stendaler Gilde waren enge auf wenigen festen Sitzen im Lande zusammengerückt. Jeder hauste den andern, so gut er konnte. Nur an eines Bruders Tor klopfte keine bittende Hand, Klaus' Bismarcks Haus mieden die Ausgestoßenen wie eine Pesthöhle. Sie wußten, daß Burgstalls Tor ihnen in ihrer Not gastlich offen stand, sie wußten, daß die weiten Räume Hunderte zu beherbergen vermochten, aber Godin von Sluden sprach die Meinung aller Brüder aus, als er auf Klaus' brüderliche Ladung grollend zur Antwort schrieb: »Du hast uns in Stendal dein Herz verschlossen. Was öffnest du uns in Burgstall dein Tor?« Seit dieser Absage gingen keine Botenbriefe mehr zwischen dem markgräflichen Rat und denen, die ihm durch Blut und Erinnerung verbunden waren, hin und her.

Jahre vergingen, da glaubte endlich Jerichow eine unbewachte Stunde erlauert zu haben, gemacht, um endlich den langersehnten Handstreich gegen Stendal zu führen. Mit äußerster Vorsicht hatten die Gildeherrn alle Vorbereitungen zu einer bewaffneten Überrumpelung getroffen; alles, was sich an Händen und Waffen rufen und werben ließ, war aufgeboten. Nur einen hatte niemand um Zuzug gebeten, obwohl er der Mächtigste war, Klaus Bismarck. Aber die Zünfte von Stendal waren wachsamer gewesen, als man geglaubt hatte. Mit blutigen Köpfen wurden die nächtlichen Angreifer von den Mauern geworfen.

Da endlich in zwölfter Stunde besannen sich die Geschlagenen auf die Bruderpflichten Klaus Bismarcks. Zog er ihnen jetzt mit geworbenem Kriegsvolk zu Hilfe, so waren sie des endlichen Siegs sicher. Sie schickten Boten nach ihm, aber der Herr von Burgstall lag irgendwo im Land in Fehde mit der aufsässigen Ritterschaft. Er kam nicht. Wochenlang lagen die Geschlechter mit ihren täglich durch Krankheit und Flucht zusammenschmelzenden Haufen. in den Sumpfniederungen um Stendal, zu schwach zu neuem Sturm, zu trotzig zum Abzug, bis sie endlich einem Ausfall der Bürger völlig erlagen. Ein Teil von ihnen – darunter Konrad von Hidde und Berndt von Röxe – fielen wund und gefangen in die Hände der Sieger und wurden wie Schelme in den Turm geworfen. Andere entronnen, aber sie retteten nur das nackte Leben. Die ehedem so trotzende Kraft der Gilde war gebrochen und bresthaft; Bettelstab und Gnadenbrot an fremden Tischen war ihr Schicksal. Godin von Sluden hatte in der Sumpfluft das Augenlicht eingebüßt, Schadewachten lag erschlagen, Gottschalk von Jerichow floh an den Hof Kaiser Karls, der den verbitterten und haßerfüllten Gegner des Markgrafen und seines klugen Rates gern als Schützling aufnahm; wußte er doch, daß keines Menschen Augen schärfer nach den Blößen der kurfürstlichen Macht ausspähen konnten als die des landflüchtigen Märkers.

Nur Gerüchte dieser Schicksale drangen zu Klaus. Von Konrad Hiddes Einkerkerung hatte er keine Kunde. Über Frau Margaretens Lippen gingen die altvertrauten Namen der Geschlechter nicht mehr seit dem Scheiden von Stendal.

Dennoch bekam Klaus das heimliche Wirken eines der verschollenen Männer zu spüren, ohne zu wissen, welche Kraft da gegen sein Lebenswerk wühlte und schürte. Er ahnte nicht, daß Gottschalk von Jerichow den Weg zu dem mächtigsten Widersacher Ludwig Wittelsbachs gegangen war, zum Kaiser.

Eines Tages lag Klaus mit markgräflichen Knechten im Hinterhalt auf der Straße vor Tangermünde, um ein paar schloßgesessene Fausthelden, die ihm seit langem als dreiste Störer des Landfriedens bekannt waren, beim Straßenraub auf frischer Tat zu ergreifen.

Als Lockspeise hatte er sieben schwere Planwagen, mit Warenballen beladen und behäbig anzusehen, vorausgeschickt. Der fette Köder tat seine Wirkung. Die Heckenritter brachen aus ihrem Waldversteck hervor, und während zwei Lanzenreiter mit ihren Eisenspießen die Straße sperrten, machten sich die andern daran, das Kaufmannsgut auszuplündern. Doch der fette Bissen erwies sich als unbekömmlich. Aus den grauen Ballen quollen handfeste märkische Knechte in vollen Rotten. Die wackeren Jungen packten herzhaft an, daß die Herren unsanft von ihren Rossen schieden und in den Sand flogen. Alsbald machten sich die Knechte mit gutem Humor daran, die Gestürzten statt ihrer in die leeren Ballen zu verstauen und die wohlverschnürten Pakete auf die Wagen zu verfrachten. Zähneknirschend duldeten die Hochmögenden den hartknochigen Hohn der Sieger.

Klaus Bismarck kam heran und fand das Werk bereits getan. Er neigte sich zu spöttischem Gruß im Sattel. Aber er erhielt einen sehr unerwarteten Gegengruß. Ein Herr von Zelow nämlich – das hakennasige Diebsgesicht war Klaus wohlbekannt –, den ein Schlagetot von Knecht eben mit einem Vetter verkoppeln wollte, riß sich, den verhaßten markgräflichen Rat gewahrend, jäh los und rief ihm frech ins Gesicht:

»Klaus von Bismarck! Mit welchem Recht hältst du noch Gericht im Lande? Wenn du dein Amt von dem Wittelsbacher hast, so ist es nichtig! Den Markgrafen hat der Teufel geholt und landlos gemacht über Nacht. Ja, starre nur, allwissender Nichtswisser! Markgraf Waldemar, von dessen Erbe sich die Wittelsbacher mästen seit dreißig Jahren, ist springlebendig im Land seit gestern. Als Büßer ist er ins Heilige Land gefahren, jetzt kommt er als Markgraf zurück. Leckt ihm der Wittelsbacher die Hand, so schenkt er ihm vielleicht seinen Bußkittel, aber sein Land braucht er selbst! Er ist am Hof des Kaisers, und der Kaiser hat geschworen, ihm in seine Mark einzuhelfen. Glaubst du's nicht, so sieh' selber nach. Aber uns gib frei! Du hast kein Recht gegen uns! Du hast kein Amt mehr!«

Fassungslos starrte Klaus auf den Mann, dessen Schmähungen wie ein Sturzbach über ihn hinbrausten. War das möglich? War's höllische Lüge? Dreißig Jahre tot und lebendig? Sein Gesicht war mit einmal grau wie der Staub der Straße.

Da wuchs dem Raubritter die Frechheit, und er höhnte noch einmal: »Nimm guten Rat an, Klaus Bismarck, von alten Freunden! Geh zum Kaiser und sieh dir den Waldemar an! Sieh zu, ob's der Echte ist! Sieh wohl zu! Denn wenn er's nicht ist, so hat er auch kein Recht und kann heimfahren wie der Wittelsbacher. Dann gibt's kein Kurfürstlein mehr, und die Herren der Mark sind wir allein! Laß die Hand von deinen Herren, du Tuchtrödler!«

Da ging die Leidenschaft mit dem Verhöhnten durch! Ohne Überlegung packte er den nichtswürdigen Lästerer an der Kehle und erdrosselte seihen geifernden Spott mit eisernem Griff. Ekel und Haß schüttelten ihn bei der Berührung wie im Fieber. Da machte er ein grimmiges Ende und tilgte den andern aus wie ein Ungeziefer. Er hob die Linke, die im Schildgurt hing, und schlug dem Lästerer den Schildrand krachend in die Stirn, daß er wie ein gefällter Ochse zusammenbrach. »Fahr zur Hölle, Schurke!« donnerte er. »Dort wartet der Waldemar, auf den du schwörst!« Dann trat er dröhnend unter die Vettern des Gerichteten, soviel ihrer noch herumstanden. »Auf die Knie mit Euch, Hunde!« rief er wild, »und schwört, daß Herr Ludwig Euer Markgraf und Richter ist!« Das blaß gewordene Gesindel fiel gefügig auf die Knie und schwor nach, was es sollte. Angewidert wandte Klaus ihnen den Rücken, gab seinen Knechten kurze, herrische Weisung und schwang sich wieder aufs Roß. Er drückte ihm die Sporen in die Weichen und stob davon.

Sein Blut kochte, daß sein Kopf keines klaren Gedankens fähig war. Er tobte seine Leidenschaft in tollem Ritt aus. Nach einer Stunde erst ließ er, selbst schweißgebadet, sein zitterndes Tier in Schritt fallen und zwang sich zur Ruhe. Er ging mit sich zu Rate. Eine innere Stimme sagte ihm mit grausamer Härte, daß dies alles mehr war als ein freches Lügenwort. Die Botschaft von der Totenerweckung des großen Markgrafen aus dem Ballenstädter Hause war eine zu furchtbare Drohung gegen seinen fürstlichen Herrn, als daß sie hohles Geschwätz sein konnte. Das sah nach einem teuflisch klugen Plan des ländergierigen Kaisers aus. Was hatte doch der von Zelow vom Kaiser gefaselt? Richtig, am Hof des Kaisers sollte der Wiedererstandene sein. Er wollte sich die Hand abhacken lassen, wenn dies nicht ein gewissenloser Streich Kaiser Karls war.

Mit einmal war ihm der höllische Anschlag klar. Der Name des unvergessenen Markgrafen, des letzten Herrn aus autochthonem Stamm, war eine furchtbare Waffe gegen Herrn Ludwig. Was lag daran, ob dieser Waldemar echt oder falsch war, die Drohung gegen den Wittelsbacher war gleich tödlich und furchtbar.

Kein Zweifel, es war ein Betrüger, nichts als eine Puppe, ein Strohmann des kaiserlichen Beutejägers. Der innerste Instinkt sagte Klaus Bismarck, daß eine Herrennatur wie die des letzten Waldemar nicht dreißig Jahre tatlos den Bußkittel trug. Aber was lag daran? Der Name war doch wieder lebendig, und dieses Gespenst allein genügte, die kaum beginnende Ordnung des zerrütteten Staates aufs neue in ein verwildertes Chaos aufzulösen. Das wußte der Kaiser. Darum rief er dem Leichnam zu: »Steh auf und wandle!« Die Mark sollte zerrüttet werden und zerfallen, damit er sich die Trümmer zusammenlesen konnte. Er haßte Herrn Ludwig, der die Mark zu erlösen sich erdreistete. Die Mark sollte sterben, damit er erben konnte. Darum rief er den Popanz als Würgengel ins Land und gab ihm seinen Kaisersegen. Er wußte, daß Haß und Not wundergläubig machen, und wußte, an Haß und Not fehlte es nicht in der Mark.

Klaus Herz' wurde unter diesen Gedanken hart und kalt wie Stahl. Er wußte es jetzt: Der Tod war leibhaftig im Lande. Nun gut, so galt es, den Tod zu bestehen. Seine Fäuste ballten sich. Es sollte ihm noch gelingen, den Knochenmann, der grinsend die Züge Waldemars angenommen hatte, in die Gruft zurückzuschmettern, in die er gehörte. Seinen Lügenherold hatte er ihm schon vorausgeschickt. Der Lügenherr sollte hinterdrein, koste es, was es wolle.

Klaus Bismarcks Geist arbeitete fieberhaft. Aber er fand keine Möglichkeit, dem unglücklichen Lande den neuen, furchtbaren Kampf zu ersparen. Er fühlte, wie das stundenlange Grübeln ihn schon jetzt zermürbte und an seiner Kraft zehrte. Er suchte sein Hirn zur Untätigkeit zu zwingen und alles Denken, alle Pläne auszuschalten, bis er klar sah. Aber es gelang ihm nicht. Er schrieb im Geiste Briefe an Herrn Ludwigs Briefe an den Kaiser, Briefe an die Städte und Schloßgesessenen – – so ritt er in die Nacht hinein und fühlte nicht, wie es dunkler und dunkler um ihn wurde. Sein Roß irrte in der sternlosen Nacht vom Wege und ging müde querfeld durch Heide und Rodeland. Endlich stand es an einem Graben und schnob ängstlich mit vorgestrecktem Hals. Da erwachte der sorgenerdrückte Mann aus seinem Brüten. Er sprang ab, pflockte seinen Rappen an und warf sich in den Kleidern zur Erde, ohne der herbstlichen Kühle zu achten, die aus dem Boden unter ihm und der Luft über ihm in ihn einströmte. In qualvollen Gedanken wachte er den Tag heran.

In der Frühe war sein Entschluß gefaßt. In Magdeburg, dessen Erzbischof, wie er wußte, lose Fühlung mit Kaiser Karl hielt, würde er am ehesten Klarheit finden. Dorthin wollte er reiten und sich rücksichtslos Aufklärung schaffen.

Ohne daß er's wußte, ritt Klaus von Bismarck so in das Nest, in dem die höllische Lüge ausgebrütet worden war. Kaum in die Stadt eingeritten, erfuhr er den ganzen Handel. Unlängst war vor dem Schloß Wolmirstedt des Erzbischofs von Magdeburg ein fremder, greiser Pilger erschienen. Am Tor wurde ihm ein Becher Wein gereicht. Unter dunklen und andeutungsreichen Reden trank er ihn bedächtig aus, auf den Grund des geleerten Bechers aber legte er ein Ringlein. Der Diener brachte eilends das Gefäß mit seinem geheimnisvollen Inhalt zu dem Erzbischof. Kaum hatte dieser den Ring erblickt, sprang er jäh vom Tisch auf und rief der mit ihm tafelnden Gesellschaft zu: »Bei Gott! Das ist der Ring des Kurfürsten Waldemar!« Damit enteilte er zur Tür. Die mit ihm speisenden Herren sahen sich verdutzt an und drängten dem Erzbischof nach. Sie trafen den Kirchenfürsten auf dem Schloßhof und sahen ihn den Pilgergreis mit tränenden Augen in die Arme schließen. Es hieß, der Erzbischof habe auf den ersten Blick die teuren Züge des totgeglaubten Herrn wiedererkannt, und dieser selbst habe sich in klaren Worten zu erkennen gegeben. Schon andern Tags brachte ihn der Erzbischof mit fürstlichem Geleit an den Hof des Kaisers. Alsbald verbreitete sich das Gerücht des Wunders, und allerlei Volk machte sich zu einer Art Wallfahrt zu dem heimgekehrten Pilger auf. Männer, mit denen Waldemar vor einem Menschenalter vertrauten Umgang gepflogen hatte, erkannten ihn in rührsamen Begegnungen als ihren alten Herrn. Kaiser Karl selbst nahm mit verdächtiger Eile Partei und belehnte den von den Toten Auferstandenen feierlich mit der Mark, als hätte es nie einen Kurfürsten Ludwig gegeben. Der neue Landesherr aber stattete dem Kaiser durch Abtretung der Lausitz Dank ab. Das war sein erstes Werk landesväterlicher Fürsorge.

Klaus Bismarck wußte genug. So greisenhaft konnte die Kraft des großen Waldemars nicht gebrochen sein, daß er sich zu so kopflosem Landschacher mit dem Kaiser verstanden hätte. Dieser Waldemar war falsch, das stand fest. Aber Klaus durchschaute das Gewebe der Gegner noch klarer. Der neue Markgraf war ein Betrüger, aber die Lüge selbst stammte nicht von ihm, sie stammte aus dem Haupte des Kaisers und seiner Räte. Mit furchtbarer Klugheit nutzte der kaiserliche Hof den Haß des Klerus gegen den Wittelsbacher zur Anerkennung des Lügenfürsten aus. Die vielhundertjährige Feindschaft zwischen Welfen und Waiblingern lebte fort, und Ludwig Wittelsbach mußte von neuem den Fluch des Staufenerbes spüren, der auf ihm lag, den Bannfluch Roms, der alle Diener der Kirche zu jeder noch so schnöden Tat gegen ihn bereit fand.

Es gelang Klaus, den Erzbischof mit seinem Besuch zu überrumpeln, ehe er sich dem markgräflichen Rat verleugnete. Aber die Unterredung selbst war fruchtlos. Der Kirchenfürst verschanzte sich hinter Tatsachen und schien keine anderen Beweggründe zu haben, als die unerforschlichen Ratschlüsse der Vorsehung sich ungehindert auswalten zu lassen. »Wie sollte ich es einst vor Gott verantworten,« sagte er, »den Fremden ungehört von meiner Tür verstoßen zu haben, wenn er trotz allem, was Ihr gegen ihn sagt, der Echte wäre?«

Klaus maß den anmaßlichen Wortführer göttlicher Gerechtigkeit mit einem verächtlichen Blicke. »Wenn er der Echte wäre –,« nahm er schwer und grollend die letzten Worte des andern auf, »wenn er der totgeglaubte Waldemar wäre, so lebte er wohl, aber sein Recht wäre darum doch zehnmal tot! Lügt der kaiserliche Schützling, so ist er ein Betrüger. Aber spricht er die Wahrheit, so ist er ein Schurke. Wer dreißig Jahre lang im Heiligen Land büßt und die Mark, die ihm als heiliges Land von Gott zum Schutz vertraut war, verfallen läßt, der hat zu seiner alten eine neue und todeswürdige Schuld zu büßen. So wollte er eine Schuld büßen und beging eine Todsünde, für die ihm der neue Herr, der sich redlich um die verlassene Mark gemüht hat, den Kopf als Richter vor die Füße legen müßte. Der falsche Waldemar verdiente die Peitsche, aber der echte Waldemar verdiente Rad und Galgen. Das hättet Ihr ihm sagen sollen als Sachwalter der tausendfältigen Not im Lande, die nicht durch Küsse und Tränen der Rührung zu stillen ist.«

Der Erzbischof hob schweigend die Schultern. »Was ich getan habe, ist aus Drang des Gewissens geschehen. War es unrecht, so wird Gott richten. Was hilft's, daß Ihr mich nach der Tat beratet. Ein andrer braucht Euren Rat besser als ich. Er war gestern bei mir. Ich konnte ihm nicht raten. Da fuhr er zu Euch. Auf Burgstall wird er Euer warten.«

»Der Markgraf –?« fragte Klaus Bismarck rasch. Der Kirchenfürst neigte zustimmend das Haupt. Da nahm Klaus Bismarck seinen Abschied. Der Erzbischof geleitete ihn zur Tür. »Gott wird richten,« sagte er. »Er wird es wahrhaftig tun,« gab der andre zurück und ging schweren Schritts davon.

Ohne Ahnung von dem, was geschehen war und sich bereitete, hielt Frau Margarete in Burgstall Haus. Sie saß in einem der hochräumigen Zimmer des Schlosses am Rocken. Die Spindel surrte durchs Zimmer. Ihre Gedanken gingen ins Weite und suchten den Sohn.

In ihr Sinnen verloren, überhörte sie den Eintritt des Torwarts. Erst als er ehrerbietig vor ihr stand, schaute sie auf und gewahrte den treuen Mann. »Was bringst du, Hans?« fragte sie.

»Es ist ein Blinder am Burgtor,« antwortete der Knecht. »Er will zum Herrn.«

»Wie nennt er sich?«

»Godin von Sluden.« Gleichmütig sprach der Torwart den Namen aus. Er war erst auf Burgstall in Bismarckschen Dienst getreten und ahnte nicht, welche Erinnerungen er mit diesem Name beschwor.

Frau Margarete war blaß geworden. »Blind –?« fragte sie betroffen. – »Blind,« wiederholte der Knecht. »Er läßt sagen, ein Fräulein hab ihn den Weg geführt: Sie heiße Ursel Hidde.«

Frau Margarete senkte den Kopf. »Ursel Hidde –« sprach sie leise. Dann schwieg sie. Es war lange still. Nur die Spindel surrte durchs Zimmer.

Weiche und herbe Gefühle stritten in der einsamen Frau. Ein Zug richterlicher Strenge grub sich in ihre Züge. Ursel Hidde – sie hätte wohl verdient, einen harten Willkomm vor aufgezogener Zugbrücke anzuhören. Das Haus, an dessen Tor sie pochte, war still und einsam geworden durch sie. Was wollte sie hier. Aber freilich, würde Klaus ihr das Tor schließen? –

Der Knecht wartete auf Antwort. Zögernd gab ihm Frau Margarete Bescheid. »Herr Klaus ist mit den Knappen verritten. Hast du's ihnen gesagt?« »Ich sagte, unser Herr führt Fehde für Markgraf Ludwig. Wir wissen selbst nicht wo. Kann sein, er kommt heute zurück, kann sein, er kommt erst in Wochen.«

»Und sie?«

»Das Fräulein weinte, und der Blinde sagte: ›Laß uns nur ein. Das Warten lernt sich. Wir haben's gelernt.‹«

Frau Margarete erhob sich und schob den Rocken zurück. »Führe sie zu mir,« entschied sie kurz. »Und sorge für Wein. Sie werden's brauchen.« Der Knecht ging aus dem Zimmer.

Frau Margarete stand aufrecht und lauschte. Die Vergangenheit kam mit schweren Schritten näher. Die Zukunft geht auf leiseren Füßen. Brachte die Vergangenheit die Zukunft? Stille sein und warten, das ist alle Kunst des Menschenherzens.

Wenige Augenblicke dauerte es, dann standen Ursel und der alte Sluden im Zimmer. Frau Margarete war nach des Torwarts Worten auf einen traurigen Anblick gefaßt gewesen, und doch erschütterte sie zutiefst das Bild jammervollen Verfalls, das der Greis bot.

Gebückt vom Alter und lauschend nach Art der Blinden, stand Sluden im Zimmer. Haupt- und Barthaar zeigten das unreine, fahle, gelbliche Weiß schnell gebleichter Haare, sein Antlitz war krankhaft eingefallen, fleckig und verwittert war der schwarze Mantel, den er trug, und seine Linke zitterte greisenhaft an dem derben Dornstecken, der ihm als Stütze diente. Er stand da, vorgestreckten Hauptes, und das volle Licht vom Fenster her lag auf den abgezehrten Leidenszügen und dem faltigen Halse.

Das Kind Konrad Hiddes stützte den Greis zur Rechten. Ihre Arme zitterten leise, und ihre Blicke suchten bittend Frau Margaretens Augen, die den ihren nicht antworteten. Die Lieblichkeit ihrer Gestalt war ungebrochen und strahlte doppelt aus den dürftigen Hüllen. Nur der Ausdruck anmutiger Kindlichkeit war aus ihrem Antlitz verschwunden, und ihre Züge waren von leidender Weiblichkeit vergeistigt und verschönt. Frau Margarete sah unverwandt an ihr vorbei, und ihre Blicke ruhten auf dem verfallenen Mann, der über ein Menschenalter in ihrem Hause als Rules Herzensfreund aus- und eingegangen war.

Lange redete keiner der drei Menschen. Frau Margarete spürte eine geheime Angst, die Stimme Godin von Sludens zu hören. War auch ihr Klang krank und dahin?

»Das ist ein schnödes Wiedersehen, Godin!« sagte sie endlich leise und schwer.

Sludens Lippen zitterten. Dann gab er Antwort. Die männliche Kraft seiner Stimme war ungebrochen, aber die weiche und markige Fülle hatte sich in trotzige, streitbare Härte gewandelt. »Kein Wiedersehen für mich, Frau Margarete,« sprach er verweisend, »kein Wiedersehen! Ich sehe nichts mehr. Das grämt mich wenig. Ich habe zuviel gesehen, was mir das Dunkel lieb macht. Nur eine möchte ich zuweilen noch sehen,« – die Stimme Sludens hob sich in Groll, ein Ankläger erstand in ihr – »eine, die du nicht sehen willst, diese hier, die Ursel Hidde, mein liebes Kind.«

Frau Margarete schwieg. Ursels Herz bebte. Sie fühlte, wie der Greis ihr ein Willkommen ertrotzen wollte. Sie streckte beide Arme mit einer flehenden, kindlich-hilflosen Bewegung aus. »Mutter –!« rief sie überwältigt.

Die Augen der einsamen Frau gingen über das Mädchen hin. »Ursel Hidde,« antwortete sie herb, »ich bin Herrn Klausens Mutter.«

»Sei nicht hart!« flehte das Mädchen noch einmal, und die Knie drohten ihr in Jammer und Hilflosigkeit zu brechen.

»Hart –?« gab Frau Margarete zurück, und der richterliche Ernst wich nicht aus ihrer Stimme. »Wer war hart? Im Antlitz meines Kindes ist dein hartes Wort von einst noch versteint –« Ursel Hidde hob die Hände. Aber ehe sie reden konnte, ging leise die Tür. Der Torwart brachte in einer zinnernen Kanne den Wein. Er setzte das Gefäß und die Becher auf den Tisch und ging. Seine Blicke streiften mit scheuer Verwunderung die drei Menschen, die sich ernst und schweigsam gegenüberstanden.

»Sitzt nieder und trinkt,« sprach Frau Margarete und rückte ihren Gästen die Stühle. Schweigend ertastete Sluden den kühlen Becher und führte ihn zu den Lippen. Dann wanderten seine erloschenen Augen wieder zu Rule Bismarcks Weib. »Frau Margarete, kennst du mich noch?« sagte er bitter und bot ihr das Bild seines Verfalls voll zur Schau.

Und die leiderfahrene Frau spürte, daß es dem Gebrochenen trauriges Bedürfnis sei, von seinem Elend zu reden. »Du jammerst mich, Godin,« antwortete sie, und ihre Stimme klang milder als zuvor. »Erzähle, wie dies alles dich traf!«

Da strömten die Lippen des blinden Mannes über. Er erzählte von den Leidenstagen der Gildebrüder im Lager vor Stendal, er sprach von Schadewachtens blutigem Ende und Konrad Hiddes schmachvoller Gefangenschaft im Kerker, sprach von dem Sumpffieber, das das Licht seiner Augen und das Mark so vieler blühender Männer verzehrt hatte. Name um Name, Schicksal um Schicksal klang von seinen Lippen. Eine harsche und anklagende Trauer klang bald schwer, bald schneidend aus seiner Stimme.

Frau Margarete lauschte. Ihr Herz war im tiefsten bewegt. Ihr Antlitz blieb undurchdringlich.

Sluden schloß: »Klaus Bismarck hat vor Stendal gefehlt. Die Brüder riefen nach ihm. Aber er kam nicht. Er hatte keine Zeit.« Hohn, Grimm und anklagende Bitterkeit fraßen an dem Klang seiner Stimme.

Ohne Eifer, mit verweisender Ruhe verteidigte die Mutter den Sohn. »Er lag für seinen Herrn, den Markgrafen, in Fehde. Du weißt es.«

Schneidend und verbissen klang es zurück: »Wohl, ich weiß es. Er liegt für den fremden Herrn in Fehde, bis der letzte Gildebruder stirbt. Das weiß ich.«

»Kommst du zu ihm, um ihm das zu sagen, Godin?«

»Ja, darum komme ich,« sprach Sluden und warf das Haupt mit einem Ruck in den Nacken. »Mein Herz ist tot, seit langem, mein Augenlicht verdarb vor Wochen, und mein Stolz ging heute zu Grabe, als ich als Bettler an Klaus Bismarcks Tor pochte. Ein blinder Bettelgreis ziehe ich an dieses Kindes Hand durchs Land und will Herrn Klaus das arme, alte Lied der Treue vor seiner Tür singen und horchen, ob er bei den Tönen weint. Unstät, nackt und hungernd, rechtlos und blutig wie Geißler ziehen die Gildebrüder durch die Welt und verderben an der Pest ihrer Schande – das will ich ihm sagen, weil's ihm kein andrer sagt.«

Da warf Ursel Hidde, an das blutige Leid ihres Vaters gemahnt, beide Arme über den Tisch und barg ihr Haupt in ihnen. »Vater,« schluchzte sie, »mein armer Vater! O Frau Margarete, Klaus muß ihm ja helfen!«

Die Angesprochene sah ernst auf das Mädchen nieder. »Er selbst wird entscheiden,« erwiderte sie. »Wenn er zurückkommt, führe ich Euch zu ihm. Nicht deinetwegen, Ursel Hidde, denn du bist's nicht wert, seit du vor ihm in Stendal wie vor der Pest geflohen bist. Seinetwegen tue ich es. Wach und wissend soll er in allem entscheiden. Nie habe ich ihm ein Glück und nie ein Leid verhehlt. Ungeschmälert bleibt ihm sein Mannesrecht und seine Mannespflicht, solange ich lebe. Sei, wer du seist, er ist des Markgrafen Rat und wird dich anhören, wie er alle hört. Was er dann tut, darein füge dich. Es wird das Rechte sein.«

Noch einmal hob Ursel Hidde abwehrend und flehend die Hände. »Frau Margarete,« bat sie, »seid nicht so hart –« Ihre Stimme brach, und sie sank in die Knie.

Frau Margarete zog sie empor, aber sie nahm sie nicht an ihr Herz. »Ich gebe Euch Obdach, bis er zurückkommt,« sprach sie. »Kommt jetzt, Ihr werdet hungrig und müde sein!«

Sluden erhob sich mühsam. »Bei Gott,« sagte er, »das sind wir.« Er ertastete Ursels Arm. Schweigend ging Frau Margarete voraus und öffnete die Tür. Vergeblich suchte Ursel ihre Augen. Auf der Schwelle des Gastzimmers schied die Frau mit einem Neigen des Hauptes von den Heimatlosen. Dann schloß sie die Tür. In Schuhen und Mantel sank der Greis auf sein Lager. Ursel Hidde aber preßte ihr junges Haupt gegen den kühlen Stein der Fensterleibung und schluchzte. So hielt sie ihren Einzug in das Haus dessen, der ihr einst der Nächste gewesen war vor allen Menschen. –

Frau Margarete saß still und einsam hinter der Tür, die ihre Hand verschlossen hatte. Der Abend sank nieder, und das Gemach füllte sich mit Schatten. Sie nahmen Form und Gestalt an, wie sie ihnen die Gedanken der versunkenen Frau gaben.

Ein Hornstoß vom Turm kündigte ihr nach kurzer Zeit die Rückkehr des Burgherrn an. Im Widerstreit freudiger Bewegung und schmerzvoller Erwartung des Wiedersehens, das dem Heimgekehrten bevorstand, erhob sich Frau Margarete und preßte die Linke gegen das pochende Herz.

Nun tat sich die Tür auf, und das liebende Auge der Mutter umfing die Gestalt des Sohnes. Ihre Züge wurden ernst, als fiele von der Tür her ein Schatten über sie.

Klaus Bismarck trat ein. Eisengrau von Kopf zu Füßen, schwertgegürtet und gespornt sah er aus wie ein kriegerisches Symbol der harten Zeit. Sein Antlitz war gealtert. In das Blond seines Haupthaares hatte sich ein vorzeitiges Grau gemischt, das wie Staub vom Wege auf seinem männlichen Haupte lag. Das bartlose Gesicht war von ein paar schweren Furchen durchrissen, die Brauen waren buschiger geworden und die Augen von dunklen Schatten unterfangen. Unwillkürlich verglich Frau Margarete das Manneshaupt des Sohnes, sooft ihr's vor Augen trat, mit dem goldenen Lockenkopf seiner frühen Jugend. Wie eine Sonne war der Knabe und Jüngling durch die Vergangenheit gegangen, die nun tot und verschwiegen und doch voll geheimen Lebens hinter ihnen lag; wie eine Wetterwolke fuhr der Mann durch die harsche Gegenwart.

Klaus Bismarck hatte schon am Tor erfahren, daß Markgraf Ludwig nicht in Burgstall eingekehrt war. Sorge und Enttäuschung legten sich schwer auf seine Brust. Hatte man ihn in Magdeburg betrogen? Wollte man eine Aussprache des Kurfürsten mit dem einzigen Manne, der ihm vielleicht helfen konnte, tückisch vereiteln? Der Ingrimm schnürte sein Herz zusammen. Mit schmerzhafter Anspannung des Geistes hatte er dem Zusammentreffen mit seinem Fürsten entgegengelechzt. Was nun?

Beim Eintritt gewahrte er die Mutter und zwang ein Lächeln in sein Antlitz. Er reichte den Eisenschild mit dem Dreiblattwappen an Hans, der sich geschäftig um ihn bemühte. Dann streckte er wie in unbefangener Wiedersehensfreude beide Hände aus. »Da bin ich wieder!«

»Ja, Klaus, und Gott sei Dank dafür!« antwortete Frau Margarete herzlich und schloß ihn in die Arme. Dann blickte sie ihm mit forschender Liebe ins Gesicht. Lächelnd hielt der Mann den Blick aus. Aber Frau Margarete sah es dennoch: Dieses Lächeln ging über sein Gesicht wie die Sohne über grauen Stein, es brach nicht warm und sonnig von innen heraus wie einst. Der Junker Klaus und sein sieghaftes Lachen lagen begraben in Stendal.

Leise glitten die Hände des Mannes aus denen der Frau. Er schritt zum Tisch und gewahrte die beiden Becher und die zinnerne Kanne voll Wein. Er hob einen der Becher und wies ihn lächelnd der Mutter. »Schon Wein?« sagte er. »Und gar zwei Becher? Hast du Gäste, Mutter?«

Ohne es zu wissen, hielt der einsam Gewordene den Becher in Händen, dessen Wandung kurz zuvor die bebenden Hände der Ursel Hidde umspannt hatten, an dessen Rand ihre zuckenden Lippen sekundenlang gelegen hatten, ohne zu trinken.

Frau Margaretens Augen füllten sich mit Tränen. Erstaunt wanderten Klaus' Blicke zwischen der Schweigsamen und dem Becher in seiner Hand. »Der Becher ist noch warm, Mutter, und kaum berührt. Wer nippte davon?«

Nun hatte die starkmütige Frau die Herrschaft über sich selber zurückgewonnen. »Fahrendes Volk bat mich um Obdach,« lenkte sie ab. »Der Wein blieb unberührt, Klaus. Trinke nur!«

Da führte Klaus Bismarck den Becher der Ursel Hidde an die Lippen. Der Wein durchströmte ihn mit einer seltsamen Kraft, und unter den ernsten Augen der Mutter fühlte er's wie eine dunkle Ahnung durch sein Blut rinnen. Aber er hing ihr nicht nach. Seufzend setzte er den Becher nieder und ließ sich in einen Stuhl sinken. Die Gedanken an Herrn Ludwig kehrten mit verstärkter Gewalt zurück, und er starrte finster und grübelnd vor sich nieder.

Leise trat Frau Margarete von hinten an seinen Stuhl und ließ ihre Hand durchs Haar des Sohnes gleiten. Und leise sprach sie ihm zu: »Klaus –? Sooft du von mir gehst, so oft kommst du mir ernster zurück. Weißt du das wohl? Du bist nicht froh. Du wirst so herb, Klaus. Weißt du, wie sie dich im Lande zu nennen anfangen? Sie sagen, der Kurfürst habe sich den steinernen Roland aus Stendal zum Rat geholt. – Steinerner Richter du, versteine mir nicht ganz!«

Klaus machte keinen Versuch, die Sorge der Mutter fortzuscherzen. Er zog das Kinn härter an die Brust und antwortete schwer. »Kann dich das wundern, Mutter? Denke an das, was ich hinter mir ließ. Alles fast.«

Er sah auf und sah die schwermütige Liebe des mütterlichen Antlitzes über sich wie einen Vorwurf. Ein weiches Gefühl wallte in ihm auf, und er setzte, ihre Hand erhaschend, hinzu: »Nein, nicht alles, Mutter. Du bist mir geblieben!«

Frau Margarete wollte dem Sohne besser helfen. »Und Ludwig!« vervollständigte sie mit herzlichem Zuspruch. Sie kannte den Zauber, den der Name des fürstlichen Freundes auf das Herz ihres Kindes übte, und dachte, ihn zu seinem Heil zu beschwören.

Aber wie ein Riß ging es bei der Nennung des Namens durch das Antlitz des sorgenerdrückten Mannes, und der ganze mächtige Leib zuckte wie unter einem tödlichen Schwerthieb. Die mühsam in schonender Liebe zurückgestaute Erregung ließ sich nicht länger halten und brach flutend hervor. Er sprang auf und brach aus: »Ja, Mutter, da hast du recht! Ich lasse mir Herrn Ludwig nicht entreißen!« Trotz und Leidenschaft ließen die Worte zu einem wilden Schrei aufschwellen, der wie ein Kampfruf von den Gewölben widerhallte.

»Wer drohte ihm wieder?« sprach Frau Margarete und zwang sich zu einem Lächeln.

Klaus Bismarck saß lange Zeit still und ingrimmig in sich zusammengeduckt, als habe er die Frage nicht gehört. Mit einmal aber sprang er von neuem auf, und nun strömte alles, was er wußte und ahnte, von seinen Lippen. Eine in Hassen und Wollen unbändige Leidenschaft strahlte sengend aus seinen Worten. Noch einmal litt er Folterqual unter den frechen Worten des von Zelow, noch einmal ballten sich seine mächtigen Fäuste, als müßten sie den Erschlagenen noch einmal erschlagen.

Frau Margaretens Bangen wuchs während seines Erzählens. Es war ihres Sohnes Art, vor den Frauen, die seinem Herzen lieb waren, mit den Sorgen und Leiden seines Manneslebens zu kargen und hauszuhalten wie ein Geiziger. Oft hatte sie darunter gelitten, ohne sich's merken zu lassen. Nun erschrak sie tief über seine fremde und leidenschaftliche Art, mit der er sie zum Zeugen des knirschenden Ingrimms machte, der ihn zerfraß. Sie erkannte bangend, wie untrennbar in ihrem Sohne Mann und Manneswerk verwachsen waren. Zum ersten Male wurde ihr offenbar, daß Klaus ins innerste Lebensmark verwundet würde, wenn das Schicksal die Frucht seines Schaffens in den Kot trat.

Sie wußte ihm wenig zu antworten, und alle ihre Einwürfe wurden von dem Schwall seines Grolls zurückgeworfen wie Kinderbälle von den Wogen des Meeres.

Endlich schwiegen beide. Und in dieses Schweigen tönten jäh und unvermittelt schmetternde Hornsignale. Klaus warf das Haupt auf und lauschte mit weit aufgerissenen Augen. »Was ist das –?« rief er. »Das ist –, Mutter hörst du? Das ist Herr Ludwig!« Stürmisch eilte er zur Tür.

Diese wurde im selben Augenblick von draußen aufgerissen. Der Torwart Hans kam atemlos, um die Ankunft des Fürsten zu melden. »Der Markgraf ist am Tor!« rief er und hob, als Klaus ihn ungestüm beiseitedrängte, die Hand, als habe er noch etwas hinzuzusetzen. »Herr Klaus –« rief er fast bestürzt und sah dem Davonstürmenden mit einem Ausdruck ratlosen Schreckens nach.

Frau Margarete entging die Fassungslosigkeit des treuen Mannes nicht. Sie trat zu ihm und rührte an seinen Arm. »Hans –?« fragte sie. Der Torwart zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er sah seine Herrin an und gab zögernde Antwort. Seine Worte klangen schwer und gedrückt.

»Ich hätte es Herrn Klaus gern noch gesagt,« sprach er. »Die Durchlaucht, der Markgraf, kommt nicht, Frau – Sie bringen uns den Kurfürsten! Wie einen kranken Mann führen sie ihn durchs Tor!« Frau Margarete erschrak tief. Ihr graute vor einer neuen, entsetzensvollen Schicksalswendung.

Gleich darauf führte Klaus den Markgrafen, der sich schwer auf ihn stützte, herein. Zehrendes Mitleid erfaßte Frau Margaretens Herz. Wo war der Zauber männlicher Schönheit, der die fürstliche Gestalt wie eine Gloriole umstrahlt hatte! Bleich und wankend schleppte der Kranke sich tappend vorwärts.

Klaus half ihm in einen Armstuhl. »Schaff Kissen, Mutter! Schnell!« rief er mit einer fremden und rauhen Stimme.

Jetzt erst, als die Frauenhand ihn behutsam in weiche Hüllen bettete, wurde der Markgraf der Burgherrin gewahr. »Seid Ihr's, Frau Margarete?« sagte er mühsam und suchte ihr die Pfand zum Gruße zu bieten. Aber sein siecher Leib sank schwer zurück. Er schloß die Augen.

Mit einmal öffnete er sie weit und schien nun erst aus halber Betäubung zum Bewußtsein des Ortes und seiner Lage zu kommen. Er holte tief Atem. »Dank sei Gott,« sagte er, »daß ich bis hierher kam!« Dann tasteten seine Blicke und Hände nach dem Freunde, der ihm zur Seite auf den Knien lag, und ein Lächeln spielte wehmütig über seine Züge. »Klaus!« sagte er wie staunend, »bist du's wirklich, Klaus? O, vielleicht wird nun alles gut – –«

»Das gebe Gott,« Herr Ludwig,« sprach ihm Frau Margarete mit aufrichtendem Erbarmen zu. »Nehmt Ihr einen Becher Wein?«

Der Markgraf sog durstig an dem kühlen Becher, den die Frau an seine Lippen führte. Eine rasche Röte flog über sein blasses Gesicht. »Dank!« sagte er und lehnte sich zurück.

»Soll ich ein Lager für Euch richten, Herr?« fragte Frau Margarete.

Da lief ein Schauder über den Leib des Fürsten, und er machte einen Versuch, sich zusammenzureißen. »Nicht! Nicht!« wehrte er hastig ab. »Ich fürchte, ich liege nur zu bald! Jetzt muß ich reden.«

Klaus Bismarck hatte die ganze Zeit regungslos und lautlos in kniender Stellung verharrt. Seine Gestalt war in sich zusammengeduckt, seine Hände krampften sich in die Lehne des Armstuhls, das Kinn hing ihm nieder, und alle seine Züge waren ausdruckslos und verzerrt wie bei einem, den der Schlagfluß getroffen. Nur in seinen Augen hockte ein furchtbares Leben, ein unmenschlicher Jammer und eine grausame Anspannung. Lange lag er so und konnte nicht glauben, was er sah. Plötzlich schrie er in unerträglichem Schmerz jäh und unvermittelt auf wie ein gefolterter Mensch, dem die Qual das Blut vom Herzen abschnürt: »Ludwig! Ludwig! Was ist das, Ludwig?!«

Der Markgraf blickte müde auf den treuen Mann, der ihm zu Füßen lag, und antwortete schwer: »Ich fürchte, ich bin krank. Und fürchte mehr als das. Ich fürchte, ich kenne meine Krankheit.« Seine Lippen preßten sich aufeinander. Eine namenlose Bitterkeit klang aus seiner Stimme, als er leiser fortfuhr: »Ich war nach Magdeburg geritten zum Erzbischof, um einen höllischen Lügner zu entlarven.« Er unterbrach sich. Lauernd blickte er zur Seite. »Du weißt – –?«

Klaus ließ ihn nicht ausreden. »Ja, Ludwig, alles weiß ich!« rief er atemlos.

Da vollendete der Markgraf dumpf seinen Bericht. »Als ich von der Auferstehung Waldemars hörte, ritt ich in das Nest, in welchem die Lüge ausgebrütet wurde. Ich ritt nach Magdeburg und sprach den Erzbischof und – trank von seinem Wein.« Schnell und hart sprach er die letzten Worte und biß die Zähne ineinander.

»Gift!« schrie Klaus Bismarck auf und brach in sich zusammen.

»Ja, Klaus,« fuhr Ludwig leise fort und sah auf den Nacken des mächtigen Mannes, der gebrochen vor ihm lag, nieder. »Es ist wohl so. Es ist ein fein ersonnener Streich. Die Hand, die den Toten erweckte, stößt auch den Lebendigen, der an des Toten Statt waltete, in das herrenlose Grab. Wir sollen tauschen, Waldemar und ich, er soll auf meinen Thron, ich soll in sein Grab – so ist's beschlossen.«

Klaus Bismarck lag und rührte sich nicht. Lange währte eine dumpfe und hoffnungslose Stille.

Da fuhr Herr Ludwig fort. »Du bist so still, Klaus!« sagte er mit einer seltsamen Tiefe, und seine weiße Hand legte sich auf das Haupt Bismarcks. »Weißt du keine Hilfe? Nicht mir, Klaus! Ich weiß es ja, mir ist nicht zu helfen. Aber der Mark, meiner Mark, Klaus! Du Kluger, Vielgeschäftiger du, weißt du noch Rat? Sieh, Klaus, ich kann nicht mehr denken – mein Kopf ist wüst und taub. Du hast so viel für mich gedacht, Klaus – tu's auch heute!« Immer fühlbarer war eine ruhelose und treibende Angst in seine Stimme gekommen. Jetzt warf er den Kopf voll zur Seite und sah Klaus scharf an. »Ist der Streich noch zu wenden?«

»Ludwig, Ludwig,« stöhnte Klaus auf. »Von wessen Haupt noch, wenn deins verloren ist?«

Da mehrte sich die treibende Unruhe des kranken Fürsten. »Klaus, Klaus,« fing er wieder an, und eine bittende Ungeduld sprach aus ihm. »Dein Herz spricht. Du weißt, ich liebe dein Herz. Aber jetzt frage ich es nicht; so heiß es schweigen. Deinen Kopf frage ich, Klaus. Weißt du noch Hilfe? Gibt es noch Hilfe für meine Mark?«

Angstvoll blickte er nach dem knienden Mann wie nach einem Richter. Ächzend und zähneknirschend kam die Antwort. »Ich lebe nur noch, um dich zu rächen, Ludwig!«

»Klaus,« bat der Fürst leise, »bring dein Herz zur Ruhe! Immer höre ich dein Herz. Es muß jetzt schweigen. Ich suche nicht Rache bei dir, Rat suche ich! Der Kaiser und die Nachbarfürsten haben den Lügenmarkgrafen anerkannt, die Kirche hat ihn geweiht und gesegnet, die Städte meiner Mark verschließen ihre Tore vor meinen Boten und warten auf die Wiederkehr des Heilands Waldemar, von dem die Pfaffen Kunde ins Land tragen. – Gibt es noch Rettung, Klaus?«

Er schwieg und sah forschend in das Antlitz Bismarcks, in dem es gewaltsam arbeitete. Klaus hatte das mächtige Haupt erhoben, und die Leichenstarre der Verzweiflung, die seine Züge noch eben krampfartig verzerrt hatte, hatte dem Ausdruck leidenschaftlicher geistiger Anspannung Platz gemacht. Seine Augen waren geweitet, und der Atem ging in kurzen und starken Stößen durch seine Nüstern. Seine geistige Kraft rang in übermenschlicher Anstrengung, nach Offenbarungen, und plötzlich ging es wie Feuerschein über sein Antlitz, und seine Gestalt straffte sich. Er öffnete die Lippen und sprach, und seine Stimme war voll Klang und Metall: »Ich selber sah bis zu dieser Stunde keine Hilfe, Ludwig, aber jetzt – jetzt sehe ich plötzlich klar und weiß ein Mittel!«

Schmerzlich lächelnd sah der Markgraf den Treuen an. »Ich wußte es ja,« sprach er, »in deinem starken Herzen brennt auch der Schmerz nur als Schmiedefeuer und muß Waffen härten. Alles wird deiner Kraft zum Antrieb, Klaus. Auch mein Tod. Ich wußte es. Darum kam ich zu dir.«

Klaus Bismarck hörte ihn kaum. Sein ringender Geist trieb unsichtbare Gänge in das Dunkel naher und ferner Zukunft. Er fuhr fort zu reden, und sein Reden war anfangs ein lautgewordenes Grübeln, das sich mählich zu flammender Klarheit durchrang. Klar lagen Plan und Weg vor seinem arbeitenden Geiste. Auf Jahre hinaus bestimmte in dieser Stunde Klaus Bismarck die Schicksale des Landes.

Er sah den sterbenden Markgrafen durch den Schatten eines Gegenfürsten geschreckt. Der Kaiser hatte die unheimliche Figur aufs Schachbrett gesetzt und Schach geboten. Gegen diesen tückischen Zug schien Herr Ludwig wehrlos. Aber er war es nicht. Er brauchte nur das gewissenlose Spiel der Gegner im Großen zu wiederholen, um die Gefahr auf den hinterlistigen Angreifer zurückzuschleudern. Konnte man der Mark über Nacht einen zweiten Herrn geben, um den ersten zu schlagen, warum nicht auch dem Reiche Kaiser Karls? War das Deutsche Reich weniger zerrissen als die Mark? War ein Gegenkaiser eine schlechtere Waffe als ein Gegenkurfürst? Herr Ludwig Wittelsbach trug die Kurwürde des Heiligen Römischen Reichs. Wie, wenn er kraft seines Kurrechts einen Gegenkaiser gegen Herrn Karl erschüfe? Alle Kraft und Aufmerksamkeit würde der Ländergierige zusammenfassen müssen, um sich des gefährlichsten Gegners zu entledigen. Kurpfalz, durch Bande der Verwandtschaft verbunden, würde hilfreiche Hand zur Kaiserkrönung leihen. Sollte sich nicht ein Ehrgeiziger finden lassen, der, auf Kurbrandenburg und Kurpfalz gestützt, nach der Kaiserkrone auf Karls Haupte griff? Und dann? Sobald das Reich wie die Mark zwei Herren haben würde, würde Herr Karl den Schattenmarkgrafen auslöschen und verleugnen, sobald Herr Ludwig den Schattenkaiser um solchen Preis fallen ließe und verleugnete. Dann blieb noch der Endkampf zwischen Karl und Ludwig. Aber der Kampf mit den Lebendigen würde Erlösung sein, wenn die Toten in ihre Gruft zurückgetrieben waren.

Matt hörte der Markgraf auf die gewaltsam strömende Rede des klugen Staatsmanns. Sein Geist hatte nicht mehr Spannkraft, diesem gewaltigen Kampf im Dunkel der Zukunft sehend und wollend zu folgen. Er wußte, er tat am besten, Klaus Bismarck gewähren zu lassen. Müde nur fragte er zurück: »Wer ist der Schatten, den wir mit der Kaiserkrone beschwören sollen, Klaus?«

Und Klaus Bismarck fuhr fort: »Wir müssen einen suchen, lieber Herr, der sich später abschütteln läßt, wenn wir ihn nicht mehr brauchen. Wir müssen einen wählen, der feil genug ist, sich seine Krone wieder abkaufen zu lassen, wenn's an der Zeit ist. Der Mann, den wir brauchen, muß stark genug sein, um Herrn Karl zu erschrecken, und zu schwach, um ohne uns stehen zu können.«

»Wer?« fragte der Markgraf noch einmal und dringender.

Da setzte Klaus Bismarck den Schlußstein seines unsichtbaren Baues. »Günther, Graf Schwarzburg,« sagte er fest und hob mit unfehlbarem Griffe aus Tausenden den Einen heraus, den er brauchte.

Eine Stille trat ein, als habe das Schicksal gesprochen.

Endlich wandte der Markgraf voll das Haupt nach seinem Rat und betrachtete ihn lange staunend und forschend wie einen Dämon des Willens und der Tat. Schatten senkten sich über sein Antlitz, und seine Stimme war ernst und voll geheimer Trauer, als er nun redete. »Klaus, ist das Mittel, das du mir anrätst, rein? Ist es nicht der Mißbrauch eines heiligen Rechtes, das mir vom Reich vertraut ist? Ist es kein Mißbrauch des Kurrechts?«

Mit eherner Festigkeit kam die Antwort zurück: »Ja, Ludwig, es ist ein Mißbrauch.«

Der Blick des kranken Fürsten forschte unverwandt in den voll auf ihn gerichteten klaren und großen Augen seines Ratgebers. »Und du rätst es, Klaus?« fragte er wieder.

»Ich rate es.« Schlicht und gewichtig klang die Antwort.

Da löste sich die schmerzvolle Spannung in dem Antlitz des kranken Fürsten, und ein rührender Zug grenzenlosen Vertrauens erhellte es. Noch weilte sein Blick auf dem festgefügten Gesicht Klaus Bismarcks, aber nicht mehr forschend und fragend, sondern mit dem sichtbaren Ausdruck dankbarer und erquickter Zuneigung. »So ist's beschlossen, Klaus,« sagte er einfach und schloß die Augen in der wohligen Ermattung eines kranken Kindes, das die hilfreiche und kühlende Hand der Mutter auf seiner heißen Stirn spürt.

Die Entscheidung war gefallen. Fürstentum und Fürstenehre Ludwig Wittelsbachs lagen in den Händen Klaus Bismarcks als ein Vermächtnis schrankenlosen und rührenden Vertrauens.

Klaus Bismarck fühlte erschüttert das Vollgewicht gläubiger Hingabe, das in den sparsamen Worten des Markgrafen lag. Und hatte er noch eben die eisenharte Notwendigkeit mit wortkarger und beinah finsterer Entschlossenheit vorgetragen, so wallte ihm nun das volle Herz doppelt über, und er empfand den glühenden Wunsch, das erschöpfte Herz des Freundes zu erleichtern und zu erhellen. Warm und voll mannhafter Liebe strömte ihm der Zuspruch von den Lippen. »Von allen Seiten dringen unreine Hände auf dich ein. Es ist keiner unter deinen Gegnern, der nicht heilige Rechte mißachtet oder mißbraucht. Der Kaiser tut es. Die Kirche tut's. Alle deine Feinde tun es. Ein Tor, wer sich mit reinen Händen gegen Hunde schützt! Deine Hand ist rein, Ludwig.« Für Augenblicke stockte der starkherzige Mann, während er in fühlbarer Ergriffenheit die Hand des Wittelsbachers hielt und betrachtete. Dann ermannte er sich und fuhr fort: »Deine Hand ist rein, das weiß Gott. Und dennoch oder darum sage ich dir: Greife in den Staub und hebe einen Stein! Es muß sein, Ludwig. Wir sind in unsere schuldige Zeit eingeschmiedet. Greife den Stein aus dem Staube und wirf ihn! Er trifft.«

Da hob Herr Ludwig sacht seine Hand empor und betrachtete sie, die hell vom Licht der sinkenden Sonne durchschienen wurde. »Und wäre der Steinwurf,« sprach er sinnend und doch voll rührender Festigkeit, »der letzte Dienst, den diese Hand mir tun soll –, bliebe mir danach zum Reinigen der Hand oder selbst zum Händefalten nicht mehr die Zeit – sieh, Klaus, nun höbe ich dennoch den Stein und würfe ihn und träte mit der staubigen Hand vor den allwissenden Gott und sagte ihm: Diese Hand war beim Abschied meinem Freunde nicht zu schlecht, und eine bessere habe ich auch zum Gruße nicht –«

Da sank Klaus Bismarck, ins Herz getroffen, ächzend zusammen, barg sein Haupt auf den Knien des anderen und stöhnte leise: »Ludwig, Ludwig –!« Herr Ludwig Wittelsbach hatte lebenslange Treue mit fürstlichem Danke gelohnt.

Eine Weile danach zog er seinen Siegelring vom Finger und reichte ihn Klaus. Dieses Pfand fürstlichen Vertrauens sollte den Brief beglaubigen, mit dem Bismarck die Kurpfalz zu gemeinsamem Handeln gegen den Kaiser aufzurufen gedachte. Schweigend empfing ihn Klaus.

Aber noch war zwischen den beiden Männern das Schwerste nicht abgeredet. Wieder trat der Leidenszug treibender Unruhe in den Zügen der Kurfürsten hervor. Er setzte mehrmals zum Reden an und preßte doch wieder die Lippen aufeinander. Aber der Tod stand hinter ihm, er hatte kein Recht, zu zögern und zu schweigen.

»Nun noch eins,« sprach er endlich. »Dann ist alles gut, und ich darf schlafen gehn. Ich fordere keinen Schwur, aber gib mir die Hand darauf, Klaus, daß ich für dich in meinem Bruder fortleben werde, wenn ich nicht mehr bin. Otto braucht dich mehr als ich. Das weißt du. Denn du kennst ihn –«

»Ich kenne ihn,« sprach Bismarck, und es war eine schmerzvolle und bittere Antwort.

»Mißtraue ihm nicht zu sehr!« bat Herr Ludwig für seinen Erben. »Ich kenne den leichten Sinn meines Bruders, wie du ihn kennst. Aber sei gerecht: Er glaubte nie, daß ihm einst die Krone zufallen würde. Ist's nicht so? Er ist mein Bruder, Klaus. Führe du ihn durch die harsche Zeit, härte ihn, mache ihn zum Manne! Du hast geschworen, die Mark zu retten, tue denn nun dein Meisterstück und schaffe ihr einen Fürsten!« Bittend blickte er auf. Klaus Bismarcks Stirn war verdüstert. »Meine Mannesjahre habe ich im Schildamt für Wittelsbach gelebt,« sagte er ernst. »Ist er unsrer Sache treu, so werde ich's ihm sein.«

Bismarcks Stimme klang mutlos, doch Herr Ludwig hörte und ergriff nur die Zusage. »Dank, Klaus,« sagte er leise. Dann bat er: »Ich bin sehr müde. Gib mir nun ein Lager, Klaus, und sitze still bei mir und laß uns warten, bis Otto kommt. Ich habe ihn nach Burgstall berufen. Hand in Hand soll er uns beide finden. Wenn ich dann fühle, daß mir die Hand erkaltet, so löse ich die deine aus der meinen und lege sie in die Hand des Bruders; als Bote soll sie die letzte Wärme meines Blutes zu ihm bringen, der ihrer bedarf.«

Da trat Frau Margarete, die bis dahin lauschend in der Tiefe des Gemachs gesessen, zu ihrem Sohn und rührte den Ergriffenen an der Schulter. Klaus wandte sich um und sah in das ernste mütterliche Antlitz. Die Ahnung einer Schicksalswende durchzuckte ihn. Es war nicht Frau Margaretens Art, in solcher Stunde in das Schicksal des Sohnes einzugreifen. Erhob sie in diesem Augenblick ihre Stimme, so sprach das Schicksal selbst aus ihr.

»Klaus, höre noch ein Wort, ehe du dich an einen neuen Herren bindest,« sprach Frau Margarete. »Ich will, daß du wach und klar in allen Dingen entscheiden sollst. Heute wie immer spare ich dir kein Leid, keinen Zweifel und keinen Kampf, auf den du ein Recht und eine Pflicht hast. Darum sieh und höre, ehe du schwörst! Du hast noch mehr Gäste in deinem Hause, die Jammer dulden. Höre auch diese hier!«

Sie schritt zur Tür und führte Godin von Sluden und Ursel ins Zimmer. Abwartend und angestrengt lauschend verharrte der blinde Mann auf der Schwelle, das Mädchen aber stürzte im fassungslosen Weh des Wiedersehens zu Klaus Bismarcks Füßen, umschlang seine Knie und sah aus leiddunklen Augen jammervoll zu dem ernsten Mann im eisengrauen Kleide auf, in den sich der Jugendgeliebte gewandelt hatte. »Klaus!« schluchzte sie.

Erschüttert suchte Bismarck das Mädchen aufzuheben. »Ursel Hidde –! Gott, wo kommst du her?« entfuhr es ihm, und das Herz krampfte sich unter der Wucht verschollener Erinnerungen und schmerzvoller Ahnungen zusammen. Aber Ursel Hidde widerstrebte den hilfreichen Armen, die sie emporzuziehen versuchten, und schrie dem Manne sogleich ihr Schicksal und ihre Sehnsucht ins Gesicht. »Mein Vater liegt in Stendal im Turm, Klaus!« rief sie. »Ich stehe nicht auf, eh' du nicht sagst: Ich helfe ihm!«

Und nun erhob auch der blinde Sluden seine Stimme, und seine Worte fuhren schwer und drohend durch die Stille, die sie wirkten. »Deine Brüder liegen wund und blutig im Hungerturm zu Stendal, Klaus Bismarck. Deine Brüder irren rechtlos und obdachlos um deine Burg, Klaus Bismarck! Deine Brüder tragen Wunden aus verlorenen Schlachten, weil du nicht treu warst, Klaus Bismarck! Blind und bettelnd bin ich zu deinem Tore getappt, um dich an deine Treuepflicht zu mahnen, Klaus Bismarck! Höre mich oder höre mich nicht! Ich will meine Pflicht üben an den Brüdern, solange ich Atem habe.«

In die anklagende Stimme des Blinden mischte sich ein Stöhnen. Es klang von den Lippen des Wittelsbachers, der ohne Wissen des Blinden im gleichen Raume seine letzte Not litt. »Das Sterbelied der Mark,« stöhnte der geschlagene Fürst, »es tönt – und tönt –«

Da hob der Blinde lauschend das verwitterte Haupt. »Das war die Stimme Ludwig von Wittelsbachs,« sagte er, und eine tiefe Erregung zitterte in seiner Stimme. »Ein Sterbender wie du,« kam dumpf vom Stuhle her Antwort, »ein Bettler wie du.«

Die Unversöhnlichkeit schwoll in Sluden empor, hart und grollend klang seine Stimme: »Du hast uns Unheil bedeutet, Markgraf, wo immer du uns erschienen bist. Unheil ahne ich auch heute von dir, da ich deine Stimme höre. Warum schweigst du, Klaus? Ich höre das Klopfen deines Herzens. Rede!«

Klaus Bismarck hörte kaum, was der Greis rief. Er hörte nichts als das Stammeln des einst und immer geliebten Mädchens, das tränenerstickt auf ihn eindrang. »Klaus,« flehte Ursel Hidde leise und bebend, »wenn du helfen darfst, hilf dem Vater! Er stirbt an der Schande – hilf ihm, Klaus! Gib ihn mir zurück, ehe es zu spät ist!«

Frau Margarete blickte in tiefer Bewegung auf ihren Sohn, der stumm mit übergewaltigen Empfindungen rang. Sie wußte, jetzt entbrannte in seinem hartgeprüften Herzen der furchtbare Endkampf der großen Pflichten, den er ausgekämpft und überwunden glaubte. Tote erstanden und stritten mit, Vater und Vaters Freund tauchten aus ihren Gräbern, Eingekerkerte schrien aus der Nacht ihrer Gefangenschaft, Hungernde und Heimatlose riefen um Hilfe, ein Blinder sang drohend das herbe und harsche Lied der Treue, und die Geliebte lag zagend und hoffend auf den Knien vor ihm, dem Einzigen, der Macht und Kraft hatte, die letzte, blutige Not und Marter zu wenden.

In furchtbarer Erregung brach der starke Mann schwer in die Knie, und der Schmerz riß ihm die Worte aus dem Herzen und von den Lippen, ohne daß er Macht über sie hatte. Klaus von Bismarck bestürmte seinen sterbenden Fürsten um das verlorene und verwirkte Recht auf Treue gegen die Seinen. »Ludwig,« keuchte er, »ich habe dir einst geschworen, in eigener Sache kein Schwert zu ziehen. Ich weiß es und muß es halten, wenn du willst. Ich habe geschworen. Aber heute in der schwersten Stunde, die du leidest, bitte ich dich – sieh, Ludwig, mir bleibt keine andere Stunde zu bitten! gib mir den Schwur zurück! Dies habe ich nicht vorausgesehen –. Die Brüder meines Vaters sterben im Turm zu Stendal, wenn ich mich ihnen versage. Ich kann nicht an den Nächsten treulos sein. Gib mir den Eid zurück!«

Der Markgraf sah den gemarterten Mann in tiefem Erbarmen an. »Du treuer Mann,« sagte er und neigte sich zu ihm, »du forderst dich selbst zurück, nicht deinen Eid, und du weißt es nicht einmal.«

»Nein, Ludwig, nein!« rief Klaus leidenschaftlich. »Entlasse mich nur auf Wochen, nur auf Tage aus deinem Dienst, und ich stille das Blut dieser Herzen und kehre zurück und bin dein für immer.«

Er brach ab. Ludwig Wittelsbach zwang mit der ihm eigenen dunklen Kraft der Seelensprache Bismarcks Blick in den seinen und sah ihm mit anklagender Schwermut ins Auge. »Klaus, Klaus,« sprach er, »willst du Kluger nicht sehen, was ich sehe? Glaubst du, ich hätte nicht längst die Deinen befreit, wenn es einer von uns beiden dürfte? Wir durften es nicht. Sieh, Klaus, du weißt es wie ich: Wenn wir mit dem Schwertknopf an Stendals Tor rühren, so rühren wir alle Glocken in allen Städten der Mark zum Aufruhr. Ist's nicht so, Lieber? Wer Stendal bestürmt, bestürmt die Mark und ist mir verloren. Und ich brauche dich! Du bist der Einzige, dem alle vertrauen. Wer mir vertraut, tut's um deinetwillen. Dich wissen sie selbstlos und rechtlich. Sie sagen, daß ich mir den Roland von Stendal zu Hilfe holte, du bist ihnen wie jener Stein ein Sinnbild der Gerechtigkeit. Wenn du dein reines Schwert ein einziges rasches Mal in eigner Fehde ziehst, ist der Glanz um dich dahin, du bist ein Mensch wie tausend andre, kein Roland und Richter, ein Schloßgesessener, der seinem Vorteil nachjagt. Ist's nicht so, Klaus? Ich frage meinen Rat: Ist's nicht so?«

Die Worte des Fürsten strömten in Klaus Bismarcks Herz über wie ein Zauber, der Menschen zu Stein wandelt. Alle Farbe war aus seinem Antlitz gewichen, es war grau wie Kalk. Das Haupt sank ihm in den Nacken. »Es ist so,« sagte er dumpf wie ein Gerichteter. In den Zügen des Wittelsbachers kam kein Triumph auf. Er wußte, was der Treueste der Treuen vor ihm und durch ihn litt. Er durfte ihn nicht lösen. Er war der unbestechliche Sachwalt des größeren Rechtes, das ein Volk in Not an diesen Einen hatte. Noch war der heilige Schwur, die Mark zu erlösen, nicht erfüllt. Dieser Eid band Mann an Mann und hielt eiserner in Bann und Pflicht als der Erlösungsschrei eingekerkerter Blutsbrüder. Der sterbende Markgraf empfand, es war an ihm, in seiner Todesstunde dieser heiligen Last und Pflicht auf Klaus Bismarcks Nacken Ewigkeitskraft zu geben.

»War's nur ein übereilter Schwur, der dich bindet,« begann er von neuem, »so löste ich ihn wohl. So aber habe ich eine andre Antwort an dich.«

Mühsam zog Kurfürst Ludwig das Schwert von seiner Seite, richtete sich halb auf, soweit seine Kraft es zuließ, legte das blanke Eisen auf die Schulter des Knienden, als gälte es einen Ritterschlag, und rief laut und voll Nachdruck: »Kanzler der Mark, stehe auf!«

Starr schaute Klaus Bismarck in das von innerster Erregung blutleere Antlitz des Fürsten, und er empfand wie jener Gewalt und Gewicht der Stunde. Erschöpft sank der Wittelsbacher zurück und fuhr fort: »Ja, Klaus, ich lege die Siegel von Brandenburg in deine Hände. Vor dieser Stunde schon hatte ich's beschlossen und unterschrieben. Nun ist's vollzogen. Nimm hin, sei mein Kanzler! Das ist meine Antwort.«

Er zog ein Pergament aus dem geöffneten Rock und ließ es in Bismarcks Hände gleiten.

Eine krampfhafte Wachsamkeit war in Klaus Bismarcks Antlitz getreten. Er hielt seine Bestallung zum Kanzler in Händen, und es war merkwürdig, wie er den Vollgehalt des Schnörkel- und formelreichen Schreibens mit einem Blick der großen, weit geöffneten Augen, in denen die ganze Kraft seines Geistes funkelte, in sich schlang. Er schien nicht Worte noch Sätze, er schien das Ganze mit einmal zu lesen, und als er das Blatt nach Herzschlagdauer sinken ließ, wußte er den ganzen Umkreis seiner Rechte und Pflichten. Er war Kanzler der Mark, das hieß, ohne sein Wissen und seinen Willen durfte nichts im Lande geschehen, solang er das Siegel des Fürsten führte.

Der blinde Sluden hatte die letzten Worte Ludwigs gehört, in denen noch einmal die fürstliche Kraft dieses seltenen Mannes hallend aufschwoll, nun hörte seine Seele die geheimnisvolle Stimme der Stille, die ihre Kreise um ihn und die anderen zog. Er empfand ein würgendes Angstgefühl in Brust und Kehle; die Stille, in der sich das Letzte entschied, legte sich wie erstickender Qualm auf ihn, bis endlich der Schwalch seines Grolls lodernd und flammend hindurchbrach. Beide Hände streckte er in das Dunkel vor seinen Augen und rief wie ein Beschwörer des Bösen: »Die Hand zurück, Klaus von Bismarck! Das ist ein Teufelspakt!«

Aber die Würfel waren gefallen. Klingend und herrisch erging jetzt des Wittelsbachers Stimme: »Kanzler der Mark, steh auf und steh an meiner Statt dem alten Manne dort Rede! Steh auf und sprich!«

Und Klaus von Bismarck erhob sich schwer. Seine Stimme klang schmerzlich-fest, jeder fühlte: was der Mann nun sprach, war das Unabwendbare und Unveränderliche. »Godin, der Markgraf ist mein Herr. Ich habe keine andere Antwort für dich.«

Sluden zuckte zusammen wie unter einem Natternbiß, und der Haß brannte in ihm auf. Ursel Hidde schluchzte auf, einmal, noch einmal – dann war alles still.

Klaus Bismarck wandte sich zu ihr hin. Er setzte zum Reden an, doch er schwieg; er fühlte, er hatte hier kein Recht zu reden, wo er keine Macht zu helfen hatte. Die Arme zuckten ihm, ihr hilfreich beizuspringen, die sich mühsam aufrecht erhielt, aber die Arme waren ihm schwer wie Blei und an den Leib gelötet. Godin von Sluden tappte schweigend zur Tür. Als er den Türrahmen ertastet hatte, wandte er sich noch einmal und rief hart: »Komm, Ursel!«

Das Mädchen folgte ihm willenlos ein paar Schritte, dann versagte ihr die Kraft. Sie wandte, zehrendes Weh im Blick, ihr Haupt nach dem Mann ihrer Liebe. Ihre Lippen bewegten sich jammervoll. »Rufst du mir nicht nach –?«

Klaus Bismarck stand wie ein Angeschmiedeter. »Ich darf nicht.« Er sagte es schwer, als stockte ihm das Herz unter den Worten.

Mit einmal überlief den schlanken Leib Ursels ein jähes Zittern, jede Fiber ihres Wesens zuckte in tiefster Erschütterung, die ganze Seele des Mädchens schien in ihre Augen zu treten. »Klaus –!« rief sie außer sich, überwältigt und hingebend in jäher Liebesoffenbarung, »Klaus! Ich sehe es ja, du leidest mehr als wir – ich sehe es ja!«

Sie zitterte immer stärker und tastete nach einem Halt. Da rann eine wilde und elementare Kraft durch Klaus Bismarck. Das Wunder weiblicher Hingabe sättigte seine erstarrende Seele mit Willen und Sehnsucht. Er fing sie auf, er umschloß ihr Haupt mit beiden Händen und sah dürstend in die Tiefe ihrer Augen. »Weißt du das, Ursel?!« rief er fast wild.

Das Mädchen atmete schwer, als müsse sie unter der Gewalt ihrer Gefühle vergehen. »Ich sehe, was du tust,« hauchte sie bebend. »Und wer so tut wie du, der ist verworfen, oder er ist viel zu groß, als daß wir rechten dürften mit ihm. – Klaus, du bist nicht verworfen, bist nicht ehrlos. –; Klaus, ich bitte nicht mehr um Hilfe – ich sehe ja, jetzt brauchst du Hilfe!«

Der Kanzler riß das Mädchen tief in seine Arme. »Ursel –-!« kam es aus seiner Brust wie ein rauher Schrei, »Ursel, du mein Weib!«

Eine Quelle sprang auf vor Wüstenwanderern, eine heilige Quelle. Alle Leidensfahrt durch dürre, einsame Jahre war nur ein Pilgerweg zu dieser heiligen Quelle. Zwei Seelen tauchten unter in dem Gesundbrunnen göttlichen Menschentums, das mit tiefster Liebe tränkt und weiht.

Ursel Hidde hatte heimgefunden von jahrelanger Irrfahrt. Die Stunde höchster Not sprach den Segen der deutschen Schwertbraut über ihren leidgeprüften Scheitel.

Der verbitterte Greis stand auf der Schwelle und lauschte. Sein Ohr hörte die Welle des Glücks rauschen, die einen Treulosen und Abtrünnigen überflutete.

»Lebt wohl,« rief er finster, »wenn Ihr's noch könnt! Der Konrad Hidde sieht seine Schande nicht mehr. Das ist mein Trost.« Er setzte den Stab über die Schwelle und ging. Frau Margarete ging ihm leise nach, um noch gegen seinen Willen für ihn zu sorgen.

Die beiden ineinander versunkenen Menschen hatten die Worte des Blinden kaum gehört. Ihre Welt und die des Blinden hatten nichts mehr gemein.

Da kam mit einmal aus dem Stuhle Ludwig von Wittelsbachs ein gurgelnder Schrei, wie von einem Erstickenden und Ertrinkenden. »Klaus –! Klaus –! Ich sterbe –!«

Jäh stürzte Klaus Bismarck zu seinen Füßen nieder und rief angstvoll zu ihm auf: »Ludwig! Bleibe bei uns! Siehst du uns noch?«

Die Augen des Fürsten waren starr in unsichtbare Weiten gerichtet. Aber seine Hände ertasteten noch die Häupter Klaus Bismarcks und seiner Braut. »Seid glücklich, wie Ihr treu seid,« kam es mühsam wie ein Scheidesegen von seinen Lippen. Und nach einer Weile noch einmal: »Dank, du Treuer –«

Sein Haupt sank rücküber. Er atmete schwer. Der Atem wurde Röcheln. Nach bangen Augenblicken straffte er sich noch einmal empor. Eine entstellende Angst arbeitete quälend in den verfallenen Zügen. In seinen letzten Augenblicken überfiel ihn noch einmal die folternde Angst um den Erben seiner Krone und Pflicht. »Ist Otto noch nicht hier?« stöhnte er. »Klaus, kommt er nicht? Gott, Gott, wenn du mir ein Zeichen geben willst, so führe ihn her!« Er sah hellseherisch in die Ferne, als wollte er Otto von Wittelsbach herbeizwingen.

Klaus von Bismarck faßte in qualvollem Drange zu helfen die schön erkaltenden Hände des Freundes. Herzlich dringend sprach er dem Sterbenden zu: »Ludwig, wir beiden haben nie an böse Zeiten geglaubt. Eher an Wunder, Ludwig, – glaube an Wunder! Das Sterbelied der Mark wird enden – hörst du, es wird enden!«

»Herr Gott, in deine Hände!« schrie Ludwig Wittelsbach auf und fuhr mit beiden Händen nach dem Herzen. Dann fiel er tot in sich zusammen. Klaus Bismarck und Ursel Hidde lagen auf ihren Knien und regten sich nicht.

In diesem Augenblick trat Frau Margarete wieder ins Zimmer. Sie gewahrte den Toten. Leise hob sie Ursel auf. »Komm, Töchterchen,« sprach sie, »laß diese zwei allein!« Und still führte sie das Mädchen hinaus.

Auch Klaus Bismarck erhob sich. Tappend wie ein Traumwandler tat er zwei sinnlose Schritte. Dann mit einmal schien er aus tiefer Bewußtlosigkeit wieder in den Abgrund der Wirklichkeit abzustürzen. Wankend näherte er sich dem Leichnam des Freundes. Seine Hand fuhr über die gebrochenen Augen. Und dann mit einmal brach er wie ein gefällter Baum zusammen, und aus wunder Brust quoll ihm ein hartes, röchelndes Schluchzen.

V.

Jetzt rauscht der Vogel über eurem Haupt,
den ich beschworen wie ein Opferpriester
durch unermeßlich lange Leidensjahre,
jetzt steht er schwingenbreitend über uns,
der Göttervogel, der die Krone trägt!

Leben und Tod waren am selben Tage in Klaus Bismarcks Haus getreten, und der mächtige Wechselgesang, mit dem sie sein Herz bestürmt hatten, beherrschte fortab sein Leben.

Klaus Bismarck war der Kanzler des dritten Wittelsbachers auf dem kurbrandenburgischen Thron, und die Geschicke der Mark rollten sich ab, wie er vorausgesehen und vorausbestimmt hatte. Das kühne Doppelspiel, durch das dem beutelüsternen Kaiser ein Schatten beigesellt war, gelang. Mit gelassener Hand hatte der Kanzler den Schattenkaiser Günther hervorgeholt und mit ihm den Schattenmarkgrafen beschworen, dessen gespenstische Erscheinung Herrn Ludwig aus dem Leben getrieben hatte. Der falsche Waldemar und Günther von Schwarzburg verschwanden aus dem Spiel, die Masken fielen, und der offene Endkampf um die Mark entbrannte zwischen Kaiser Karl und Otto von Wittelsbach.

Klaus Bismarcks Kraft und Wille schien seit Ludwigs Tod ins Übergewaltige gewachsen. Sein Lebenswerk wurde zu einem Totenopfer und Ehrenmal für den hingemordeten Freund. Das war die unversiegliche Quelle seiner Tatkraft. Es wurde ihm nicht leicht, den vorgezeichneten Weg zu gehen. Denn lähmend und zermürbend lag die Kleinlichkeit des Alltags auf ihm, seit Kurfürst Otto den Purpur trug. Der Kanzler hatte sich über die Artung des neuen Herrn nicht getäuscht.

Otto von Wittelsbach glich seinem Bruder äußerlich; wie nur ein Jünglingsbild dem Manne zu gleichen vermag. Oft glaubte Klaus mit beinah visionärer Qual zu fühlen, wie der Tote leibhaftig aus dem blühenden Antlitz seines Erben wie aus einem unwürdigen Spiegel ihn anschaue. Innerlich hatte Otto mit seinem edlen Bruder nicht den armseligsten Wesenszug gemein. Sein Lebensinteresse erschöpfte sich in den Freuden einer lockeren und ausschweifenden Hofhaltung. Die Sorgen um den zerrütteten Staat überließ er restlos seinem Kanzler, und nur die Sorge um den ebbenden Goldstrom, auf dem seine fürstliche Barke treiben sollte, bereitete ihm dann und wann eine schlaflose Nacht. In allen großen und kleinen Dingen verließ er sich auf die Hilfe und Umsicht seines Kanzlers, dessen Unentbehrlichkeit ihm dabei ein uneingestandenes Ärgernis war.

Mit zorniger Beharrlichkeit zwang sich Klaus Bismarck, den Willen des Toten an dem Lebendigen zu vollstrecken. Er überbrückte kraft der ihm eigenen Menschenkenntnis ohne schulmeisterliche Aufdringlichkeit die Kluft zwischen seiner Mannesart und der knabenhaften Unreife des Fürsten. Er schien seine kleinen Sorgen um den Alltag ernst zu nehmen und lag mit immer bereiter Wachsamkeit auf der Lauer, um keine Stunde zu versäumen, die geeignet wäre, Otto von Wittelsbach zum Manne zu schmieden. Aber er litt Enttäuschung auf Enttäuschung.

Am Hofe des neuen Herrn fühlte sich der Kanzler als ein fremder. Und er war es in Wahrheit. Die leichtlebige Schar schmarotzender Höflinge und Damen, mit denen sich Otto zu umgeben liebte, erkannte in ihm mit dem Instinkt der Gemeinheit die hassenswerte Art des überragenden Edelmenschen, der ihnen lieber heute als morgen den Kehraus bereitet hätte. Sie übten an ihm, der ihnen ohne Vergleich und Maßstab überlegen war, die feilen Waffen eines scheinbar harmlosen Witzes, und Herr Otto lieh nur zu gern sein Ohr, wenn man die ungefüge Art des steinernen Rolands und seine katonische Sittenstrenge durchhechelte und belächelte. Lange Zeit hindurch verschaffte ein Umstand dem spottlüsternen Gesindel unerschöpflichen Stoff, die angebliche Froschblütigkeit des steinernen Richters der Mark zu belachen. Der Markgraf, seinem Kanzler auch persönlich tief verschuldet, glaubte es besonders fein zu machen, indem er ihm als Faustpfand für unermüdlich geleistete Vorschüsse an die Staatskasse die Gerichtsbarkeit von Stendal verschrieb. Er erwartete sich insgeheim ein belustigendes Schauspiel davon, wie der unbestechliche Richter sich mit einmal als Mensch entpuppen würde, nun er Recht und Gelegenheit hatte, denen die Daumenschrauben bis zum Weißbluten anzusetzen, die ihn und seine Sippen wie räudige Hunde ausgetrieben hatten. Aber Klaus Bismarck enttäuschte seine Erwartungen. Er wußte, was auf dem Spiele stand, wenn das Volk der Mark den zum Sprichwort gewordenen Glauben an seine Rechtlichkeit verlor. So ließ er die Gelegenheit zu später Rache ungenutzt verstreichen und setzte unbestechliche Richter und Beamte zur Verwaltung der ihm verpfändeten Stadtgerechtigkeiten von Stendal ein. Damals steigerte sich, zumal unter der ätzenden Wirkung des Tuschelns und Witzelns am Hofe, Ottos innere Abneigung gegen den Kanzler, dessen Frommblütigkeit und Herzensreinheit von allen mit verstecktem Lächeln gerühmt wurden, zur uneingestandenen Verachtung des Wesensfremden. Er sah nur Unmännlichkeit, wo in Wahrheit eine asketische Selbstbeherrschung am Werke war.

Das Volk freilich verstand seinen Helden besser, und es war eine der immer seltener werdenden Feierstunden im Leben des Kanzlers, als der Rat von Stendal ihm alsbald durch freiwillige Haftentlassung Konrads von Hidde und Berndts von Röxe Dank sagte.

Konrad von Hidde freilich mied auch jetzt das Haus seines Tochtermannes. Er konnte so wenig wie Sluden die Sterbestunde der Gilde verwinden und vergessen. Da erwies sich, wie sehr Ursel Hiddes Frauenart ins Weite und Tiefe gewachsen war. Mit einem selbstverständlichen Anschmiegen bekannte sie sich nach einer zornmütigen Botschaft des haftentlassenen Vaters, die ihr Klaus schweigend hinreichte, zu ihrem Gatten. Sie hatte im tiefsten ergriffen, daß es Pflicht und Bestimmung des Weibes ist, Vater und Mutter zu lassen und am Manne zu hangen.

Bald darauf schenkte sie dem Gatten den Stammhalter und Erben. Mit immer neuer Ergriffenheit, immer gesteigerter Dankbarkeit kehrte Klaus Bismarck in Haus und Wäldern von Burgstall ein, wo ihn Ruhe und Liebe wie ein Jungbrunnen voll heimlicher Wunderkraft umfing und nach den Nöten und Sorgen verzehrender Arbeit gesund badete. Im Kreise der beiden Frauen und im Anblick des frisch gedeihenden Knaben erwuchs ihm der Glaube an die Zukunft, der ihm notwendig war wie Blut und Lebensluft.

Von Burgstall zog endlich Klaus Bismarck auch aus zur letzten Entscheidung. Die Brust war ihm geschwellt von leidenschaftlicher Zuversicht, als er zum blutigen Endkampf für die gerechte Sache der Wittelsbacher auszog. Wie tolle Hunde erwürgte er die Meute der Sorgen und Zweifel unter der Zügelfaust, während er durch Wald und Heide der Letzlinger Forsten zog. Um das märkische Städtchen Fürstenwalde lagen die Heere des Kaisers und des Markgrafen, um den alten Hader in offenem, blutigem Ringen auszutragen.

Auf dieses Endziel, an dessen Schranken es gelingen mußte, den immer wieder hinter List und Ränke ausweichenden Kaiser endlich und für immer zu stellen, hatte Klaus Bismarck ein Mannesleben hindurch mit unablässiger Spannung gewartet und gearbeitet. Nun lag die Entscheidungsschlacht vor ihm wie das hohe Fest der Erfüllung. Seine Seele war hochgestimmt und voll tatendurstiger Spannkraft. Heute vermochte er sogar des toten Freundes zu gedenken, ohne daß die Grabtücher der Trauer sich erstickend um seine Brust legten. Die Schlacht, der er entgegenzog, war eine würdige Totenfeier, die das Gefühl inniger Gemeinsamkeit mit dem Hingeschiedenen beglückend und ergreifend steigerte. Er ritt ins Feld, eine Stunde voll inbrünstiger Glut zu erleben, die Geister aus jenseitigen Sphären wieder zur Erde zu reißen vermochte. Unsichtbar würde Ludwig von Wittelsbach heute unter den Heerhaufen sein und die Schlacht im Puls der tausend Kriegerherzen mitschlagen. Mochte das kaiserliche Heer dem kurfürstlichen an Zahl überlegen sein, es würde vom Plane gefegt werden durch den Sturmhauch eines ganz auf den leidenschaftlichen Willen zum Siege eingestellten Geistes. Es konnte nicht anders sein, Klaus Bismarck glaubte aus der Ferne den glostenden Gluthauch des Krieges, der Männerschmiede, zu spüren, in der Otto von Wittelsbach den Ritterschlag des Lebens erwerben mußte. Der Kanzler hoffte mit zähester Sehnsucht, daß die leichtsinnige Lebensgleichgültigkeit des jungen Fürsten unter den Weihen der Schwerterstunde in die ritterliche Tapferkeit seines Bruders umschlagen würde.

So war dem Kanzler zu Mute, als er bei Morgengrauen in Ottos Lager vor Fürstenwalde einritt. Aber die Flut der Empfindungen schlug ihm ins Herz zurück, noch ehe er seinem Fürsten Auge in Auge gegenüberstand. Mit verkapptem Lächeln, hinter dem die Geringschätzung lauerte, wurden ihm die neuesten Gerüchte über den Markgrafen zugetragen. Er erfuhr, daß ihm das Hoffräulein Anna von Lybben in das ungastliche Kriegslager gefolgt und von ihm mit zärtlicher Feierlichkeit eingeholt worden sei. Klaus von Bismarck biß die Lippen zusammen und bereitete sich auf eine Aussprache mit seinem Herrn vor. Halbheit, Lauheit und Tändelei war Fahnenflucht in dieser Stunde, die über Vergangenheit und Zukunft zu Gericht saß. Es war an ihm, Otto von Wittelsbach an seine Fürstenpflicht zu mahnen, den Feuergeist stürmischer Begeisterung in den Truppen zu entfachen, die lohe Glut des reinen Brandes zu schüren und vor der Stickluft des Jämmerlichen und Alltäglichen zu bewahren. Wehe, wenn der Kurfürst sich heute nicht seinen Soldaten als Krieger zeigte, der nur eine Sehnsucht, Sieg oder Tod, kannte! Wehe, wenn er merken ließ, daß sein Blut, das heute vor Schlachtlust aus den Adern drängen und treiben mußte, von leichten Lüsten bewegt wurde!

Es gelang Klaus Bismarck nicht sogleich, in das Fürstenzelt des Markgrafen vorgelassen zu werden. Er erfuhr, daß Otto von Wittelsbach vor länger als einer Stunde einen Unbekannten zu einer Beratung unter vier Augen empfangen und noch nicht wieder entlassen habe.

Beunruhigt eilte der Kanzler durch das Lager ins Zelt des markgräflichen Feldhauptmanns von Alvensleben, den er als einen unbestechlichen und geraden Mann schätzte. Dieser empfing Klaus Bismarck mit tausend Freuden, doch war ihm von Ankunft und Mission des geheimnisvollen Fremden nicht das Geringste bekannt. Der Kanzler verbarg die immer stärker in ihm aufsteigende Unruhe und fragte den alten Soldaten nach seinem Kriegsplan aus.

Alvensleben schlug mit dem Schmunzeln des schlachtenerprobten Kriegsmannes den Kanzler auf die Schulter und wies in die Ebene hinaus. Die Frühnebel senkten sich schwer und dunstig wieder über das Feld. Bismarck verstand. Der Feldhauptmann wartete das Fallen der Nebel ab, um sein Heer unter ihrem Schutze unsichtbar bis an den Gegner heranzubringen. Das Herz schlug ihm stärker. Gab nicht der Herr der Schlachten selbst der Stunde den Stempel des Gottesgerichts? Hielt er nicht seine Wolken als Himmelsschild vor die Vollstrecker seines gerechten Willens? Klaus Bismarck drückte dem alten Krieger in einer frohen und starken Wallung die Hand.

Da hielt es Alvensleben für an der Zeit, die schwerste Sorge, die ihn bedrückte, vorzubringen. Otto von Wittelsbach hatte dem Heere seit dreißig Tagen schon keinen Sold zahlen können. Er wußte, wie gefährlich die Unzufriedenheit auf den Geist der Söldner zu drücken vermochte. Die Staatskassen aber waren aufs äußerste erschöpft. Es gab nur einen Ausweg: Der Kanzler mußte noch einmal persönlich für die Sache seines Fürsten einspringen und den Söldnern mit seinem eigenen Besitz für die Erfüllung ihrer Ansprüche Bürgschaft leisten.

Bismarcks Mienen hellten sich, während Alvensleben zögernd sprach, auf. Er unterbrach ihn fast heiter: »Die Bürgschaft war aufgesetzt und gesiegelt, ehe Ihr spracht. Hier, Alvensleben, ich gebe es Euren Söldnern schriftlich!« Er zog ein gefaltetes Pergament unter dem Schuppenhemd hervor und reichte es dem Feldhauptmann.

Gepackt von der selbstverständlichen Opferbereitschaft des seltenen Mannes drückte Alvensleben dem Helfer in der Not die Hand. Verehrung und Dankbarkeit leuchteten warm in seinen ehrlichen Augen auf. Lächelnd wehrte der Kanzler ab.

»Sitzt Ihr zum Angriff mit auf?« fragte der Feldhauptmann unvermittelt, und seine Frage klang dringlich wie eine Bitte. Da fühlte er sich fast schmerzhaft an beiden Schultern gepackt und sah aus Bismarcks Augen die tiefe Glut einer unbändigen Kampfessehnsucht lodern. »Das fragt Ihr, Alvensleben?« rief der Kanzler, und seine Stimme hatte ein fremdes und wildes Dröhnen. »Das fragt Ihr mich? Fesselt mich heute mit Eisenketten, ich werde doch unter Euch sein, bis wir den Sieg in roten Fäusten halten!«

»Dann, Herr Klaus,« rief Alvensleben, »habe ich nichts mehr zu fragen. Meine Söldner vergöttern Euch. Wenn ich ihnen nun sage: Der Roland von Stendal zieht zu Felde mit uns, so rennen sie blind in den Feind, als wären sie alle unverwundbarer Stein, wir Ihr es seid nach ihrem Aberglauben, sobald Ihr fürs Recht in Fehde liegt!«

Klaus Bismarck tat zwei starke und fröhliche Schritte zum Zelteingang und rief seinem Knechte Hans, der draußen wartete. »Hans,« sagte er, und seine Brust hob sich, »geh einmal vors Lager! Sieh zu, daß du mir einen Buschen von Klee und Eichenlaub bindest – es sind meine Wappenblumen, Alvensleben –, pflück ihn frisch, und wenn einer dich fragt, für wen der Strauß ist, so sag ihm: Der Strauß ist für den Kanzler. Er will die goldne Gnadenkette, die Markgraf Ludwig, sein lieber Herr, ihm einst gab, heute um den grünen Buschen winden und mitten in den Feind schleudern, wo er am dichtesten steht. Wer ihm Strauß und Kette zurückbringt, dem wiegt er's mit Gold auf. Geh, Hans!«

Der Knecht stand bestürzt. »Die Kette –?« fragte er zögernd und verdutzt, als verstände er den Auftrag nicht. Aber sein Herr drängte ihn lächelnd hinaus. »Wir holen sie wieder, Hans,« sagte er, »sonst tät ich's doch nicht!« Der Mann ging.

Alvensleben sah Klaus von Bismarck voll an. »Herr Klaus,« rief er, »das läuft durchs Lager wie Feuerlärm!«

»Darauf hoffe ich!« entgegnete der Kanzler stark und mit Nachdruck. »Jeder soll's heute fühlen: Der Sieg ist Pflicht!«

Im selben Augenblick trat ein gewappneter Mann mit tief in die Stirn gezogenem Hute ins Zelt. »Wo ist der Kanzler?« rief er. Klaus Bismarck horchte betroffen auf. Ihm war, als erkenne er die Stimme des Vermummten. Da, als Alvensleben mit einem raschen Schritt zwischen den Fremden und den Kanzler trat, entblößte der Mann freimütig sein Antlitz und bot es Bismarck voll zur Schau wie ein Geschenk. »Stotfalke!« rief der Kanzler, und das Blut schoß ihm ins Gesicht.

»Herr Kanzler,« begann nun der andere, und die Erregung flackerte aus seiner Stimme, »ich habe Euch einst gehaßt, wie Ihr mich. Heute wissen wir: Die märkischen Städte sind vaterlos, wenn Ihr verspielt. Darum komme ich Euch mit Stendals Bürgerwehr zugezogen. Wollt Ihr uns?« Er streckte die Hand aus.

Klaus Bismarck war im tiefsten erschüttert. Alle Stunden der Vergangenheit brachen wie Quellen aus verschütteten Tiefen und überrauschten ihn, daß ihm der Atem verging. Was lag nicht alles zwischen heute und dem Tag, an dem er diesem Manne zum letzten Mal Auge in Auge gegenübergestanden hatte! War das nicht ein atemraubendes Träumen, daß nun die Rotten der Zünfte, die ihn einst ausgetrieben, dem Gildejunker in Not und Tod beisprangen? »Bei Gott!« rief er erschüttert und packte Stotfalkes Hände, »bei Gott! das will ich!«

Der Handwerksmeister wandte sich frisch an Alvensleben. »Herr Feldhauptmann,« sagte er, »wir haben an diesen Mann eine alte Schuld. In unsrer Stadt ist ihm ein Bruder mörderisch erschlagen worden. Er will sich nicht rächen. Darum rächen wir selbst ihn, indem wir unsre Leiber in seine Feinde stürzen.« Ein Lachen brach ihm aus den Augen. »Wir Stendaler halten zu unsrem Roland!«

»Recht, wackrer Freund!« rief Alvensleben, der wohl wußte, welch goldener Lohn diese Stunde für den ausharrenden Sinn des Kanzlers war. »Kommt, wir wollen ins Lager und ausrufen: Der ist ein Schurke, der heute noch alten Hader wärmt! Kommt!« Er faßte Stotfalke am Arm und verließ rasch mit ihm das Zelt.

Klaus Bismarck blieb allein in tiefer Bewegung zurück. Das Herz des Volkes hatte zu ihm gesprochen, Gott selbst hatte zu ihm gesprochen. Sinn und Rätsel seines Lebens und Leidens waren erhellt und verklärt. Leise nahm er die goldene Gnadenkette seines lieben Herrn vom Halse und betrachtete sie mit einer Rührung, die ihm die Tränen in die Augen trieb. »Ludwig,« sagte er leise, »Ludwig, hast du dies gehört? Das Sterbelied der Mark ist ausgesungen, Ludwig!«

Lange stand er so in Andacht und Ergriffenheit versunken und fühlte Segen und Weihe erfüllter Mannessehnsucht auf seinem Haupte. Dann richtete er sich straff auf und schritt zur Zelttür.

Dort aber prallte er auf einen Fremden. Unbeweglich wie ein Lauscher stand im Eingang ein dunkelgekleideter Herr mittleren Alters mit blassen, klugen Zügen. Bismarck stutzte in raschem Mißtrauen vor der Erscheinung, die sich schattenhaft und lautlos in seinen Weg schob.

Ehe er reden konnte, sprach der andere ihn an. »Herr Klaus von Bismarck, wollt Ihr zur Schlacht?« Er sprach gelassen und mit einer sonderbaren Bewegungslosigkeit in Stimme und Haltung, die dem Kanzler das Blut aufrührte. Er spürte deutlich einen verhaltenen Unterton leiser Ironie und unerträglicher Überlegenheit. »Wer seid Ihr?« fragte er kurz und mit herrischem Mißtrauen.

Der andere lächelte unmerklich. »Einer, der Euch sagen kann, daß die Schlacht schon geschlagen ist, ehe sie anfing. Legt die Waffen ab! 's ist Frieden, Kanzler!«

Klaus Bismarck trat in jäh aufwühlendem Entsetzen dicht auf den Fremden zu. »Seid Ihr toll –?« rief er. Er brach ab. Redete er mit einem Wahnwitzigen?

Der andere schien seinen Gedanken zu erraten. Sein Ton wurde kühl und geschäftsmäßig. »Ich habe eine Botschaft von Kaiser Karl an Euch,« sagte er.

»An mich – vom Kaiser?« entfuhr es Klaus Bismarck.

Der Fremde neigte bestätigend das Haupt.

Mit zorniger Festigkeit suchte der Kanzler die Unterredung abzubrechen. »Nur eine Botschaft kann die schon erhobenen Schwerter senken,« sagte er finster. »Aber diese Botschaft bringt Ihr nicht. Kaiser Karl verzichtet nicht.«

Das dunkle Lächeln huschte deutlicher um die schmalen Lippen des Fremden. »Nein, Herr Klaus von Bismarck, der Kaiser verzichtet nicht.«

»So geht und schweigt!« brauste der Kanzler auf, »Laßt die Schwerter reden und geht!«

Der Unbekannte trat einen Schritt näher. »Herr Kanzler,« sagte er in seiner aufreizenden Ruhe, »hört zum zweiten Mal: Es ist Frieden!«

»Ich höre Euch nicht, und so ist Krieg!«

»Nein, Herr, denn Euer Kurfürst hat ein feineres Ohr als Ihr –«

Klaus Bismarck horchte auf. Sein Herz schlug schwer. Er witterte eine Gefahr, ohne sie ins Auge fassen zu können. Er fühlte wohl, der andere hielt absichtlich zurück und verfolgte, indem er lauernd Schritt um Schritt näher kam, ein gefährliches Ziel. Wollte er für seinen Kaiser Zeit gewinnen ? Suchte er durch sein hinterhältiges Versteckspiel Minuten zu gewinnen, die aus diesem oder jenem Grunde kostbar waren? Was es auch war, dieses dreiste Spiel sollte enden. Herr Klaus richtete sich schroff auf. »Mein Herz sagt mir, daß Ihr nichts Gutes bringt,« sagte er. »Ich lasse Euch nicht zu der Durchlaucht. Folgt mir zur Lagergrenze und kehrt zurück. Wendet Euch nicht um, sonst, bei Gott, lasse ich Euch in Eisen legen!«

Der andre schien die Abfertigung zu überhören. »Ihr laßt mich nicht zur Durchlaucht, Kanzler?« fragte er gleichmütig.

»Nein, ich sagt' es.«

Da trat der Fremde noch dichter an den Kanzler heran und dämpfte seine Stimme, die nun doppelt zum Aufhorchen zwang. »So sage ich Euch: Ihr mißtraut nicht mir, Ihr – traut der Durchlaucht nicht, Herr.« Er hatte mit gesammelter Aufmerksamkeit gesprochen und stand seinem mächtigen Widerpart gegenüber wie ein Fechter, der nach einem gefährlichen Vorstoß Gegenstoß und Blöße zugleich erlauert. Er wußte, daß er in eine offene Wunde gestoßen hatte.

Klaus Bismarck erblaßte jäh wie unter einem Schimpf und griff auffahrend ans Schwert. »Was wagst du, Schurke?!« donnerte er.

Der Fremde hob die Hand und rief rasch und laut: »Gemach –! Ich wollte nie zu der Durchlaucht. Ich bin bei Euch. Das ist mir genug.«

»Wer seid Ihr, Rätseldrechsler? Schnell! Die Zeit drängt.«

Der andre fiel in seine aufpeitschende Gelassenheit zurück. »Es drängt nicht, Kanzler,« sagte er und setzte, als er in Klaus Bismarcks Augen das gefährliche Aufflammen tödlicher Gereiztheit bemerkte, rasch hinzu: »Ich bin Hans von Calbe, das Kaisers Rat und geheimer Schreiber, und ich sage Euch: Es drängt nicht mehr, Herr Kanzler.«

»Was wollt Ihr?« fragte Bismarck kurz, wie man einen Lästigen abfertigt.

»Kaiser Karl bietet Frieden –,« begann Calbe, aber Herr Klaus unterbrach ihn wie einen Schwätzer. »So bietet er uns die Mark?« fragte er schroff.

Der Unterhändler ließ sich durch den Hohn nicht abweisen. »Nein, Herr,« fuhr er in zäher Verfolgung seines Zieles fort, »aber beinahe dasselbe. Er bietet den Wert der Mark in Gold.« Er blickte auf und gewahrte in den Augen des Kanzlers ein Hohnlachen, das aus der tiefsten Seele herauszubrechen schien. »Versteht mich wohl,« setzte er rasch hinzu, »er bietet das nicht Euch, er bietet es der Durchlaucht.«

Klaus Bismarck lachte auf. »Herr –!« höhnte er und sah den andern an wie einen Narren. Vor diesem plumpen Gegner hatte ihn ein geheimes Grauen anwandeln können?

»Ihr habt mich nicht verstanden,« wiederholte Calbe ruhig. »Wenn Euch der Kaiser das böte, so wäre Euer Lachen Antwort genug. Aber er bietet das Gold der Durchlaucht.«

»Bietet er?« hohnlachte Bismarck zornig. »So, so! Kaiser Karl kennt den Preis der Mark. Dann weiß er viel! Dann weiß er mehr als wir. Sagt doch, was wiegt Markgraf Ludwigs Blut und Sehnsucht in Gold? Wie hoch steht unser Lebenswerk im Preise? Was gilt Ehre und Treue in barer Münze –!?«

Hans von Calbe sah den Tieferregten fest und beinahe mitleidig an, und nun sagte er zum dritten Male dasselbe. »Ihr versteht mich noch nicht, Kanzler. Kaiser Karl sagt das alles nicht zu Euch. Er spricht zu Otto von Wittelsbach. Und die Durchlaucht – weiß, was ihr die Mark gilt.«

Jäh erblassend packte Herr Klaus den andern am Wams. Jetzt erst erkannte er den Abgrund, an dem er stand. »Habt ihr die Durchlaucht gesprochen?« rief er wild und stand vor dem andern, als werde er ihn im nächsten Augenblick niederschlagen oder erdrosseln.

Calbe hielt den in tödlicher Leidenschaft funkelnden Blick Bismarcks voll aus. »Nicht ich,« sagte er, »aber meinesgleichen.« Die Maske war gefallen. Der tödliche Schlag war geführt. Knapp und leidenschaftslos reihte jetzt Calbe Satz an Satz. Er hatte sein Ziel erreicht. Er kannte nun Art und Wesen seines großen Gegners aus eigener Anschauung, den er wie ein ritterliches Wild in immer engeren Kreisen umschlich. »Die Durchlaucht kennt die Übermacht des Kaisers,« sagte er gleichsam entschuldigend, »sie zieht gewissen Anspruch einer ungewissen Hoffnung, die auf der Doppelschneide des Schwertes liegt, vor.«

Er hielt während des Redens Klaus scharf im Auge, der sich krampfhaft an der Tischkante hielt und ihn drohend anstarrte. Zuweilen während seiner Worte sah er den mächtigen Leib des Kanzlers wanken; dann stockte er, sekundenlang abwartend.

Plötzlich schrie Klaus Bismarck, jäh ausbrechend, auf: »Das – ist – nicht – wahr!!«

Da kam Calbe förmlich, als spräche er von Alltäglichem, zum Schluß: »In runden Zahlen gesprochen: Die Durchlaucht schätzt die Mark auf fünfhunderttausend Goldgulden.«

Klaus starrte den andern an, sein Gesicht war zu einer Maske des Todes verzerrt. Plötzlich flammte ein lodernder Entschluß sichtbar in ihm auf. Er riß das breite Schwert aus der Scheide und rief wild entschlossen: »Dann scheide ich Kaiser Karl und den Kurfürsten für ewig durch das Blut seines Kaiserboten!« Hans von Calbe sah das richtende Schwert über seinem Haupte funkeln, aber er war auch auf diese Wendung der ungeheuren und unberechenbaren Entschlußkraft des Kanzlers gefaßt gewesen. »Halt, Herr!« rief er klirrend, als würfe er eine schützende Klinge gegen den Stahl des Gegners. »Der Kaiserbote an die Durchlaucht hat das Lager vor mir verlassen.«

Da sank Klaus Bismarcks Schwert schwer nieder, als seien ihm die Muskeln des Arms durchhauen. Und ruhig fuhr Hans von Calbe fort: »Auf Euer rasches Schwert und seinen Scheidespruch war der Kaiser gefaßt. Darum schickte er zwei Boten. Der Kaiserbote an die Durchlaucht ritt aus dem Lager, als ich einritt. Er kennt auch Euch. Er ist ein Schützling des Kaisers, aus Stendal ausgetrieben gleich Euch. ›Grüßt meinen Gildebruder Klaus Bismarck!‹ rief er mir im Davonreiten zu, ›und sagt ihm, daß Gottschalk von Jerichow es war, der dem Kaiser den besten Rat gegen ihn gab.‹«

Gottschalk von Jerichow – das also war die giftige Lösung des Rätsels. Das war die Rache der toten und verschollenen Gilde. Aschfahl im Gesicht wurde Klaus von Bismarck und starrte in Calbes unbewegtes Höflingsantlitz wie ins Dunkel. Anfang und Ende seines Manneslebens fügten sich ineinander wie Enden einer Kette, die ihn erdrosselte. »Er gab den Teufelsrat –?« stieß er rauh hervor. Mit einmal aber ging ein Zucken wie ein Riß durch sein Gesicht, und er schrie auf wie in körperlichem Schmerze: »Dann hat er mehr geraten! Dann hat er auch Herrn Ludwigs Tod geraten!«

Hans von Calbe verfärbte sich unmerklich, aber er hatte sich voll in Zucht. »Herr Kanzler,« sagte er unbewegt und abweisend, »ich kann Euch nicht verstehen.«

Klaus Bismarck trat ihm drohend nahe. »Ihr versteht mich,« sagte er ingrimmig, »Herr, Ihr versteht mich völlig!« Dann verließ ihn die Kraft, und er sank in einen Stuhl. »Ludwig –,« stöhnte er, »Ludwig –!« Gräber taten sich auf und Tote sprachen –

Plötzlich raffte sich der Kanzler auf. »Ich muß zur Durchlaucht,« sagte er, und ein gefährliches Leuchten glomm in seinen Augen auf. Calbe vertrat ihm die Tür. »Eins noch, ehe Ihr geht,« sprach er. »Ihr könnt dem Markgrafen drohen und könnt ihn zum Widerruf zwingen. Geht, und tut's, wenn Ihr mögt! Herr Otto kann noch kämpfen, siegen nicht mehr. Denn dem Feldherrn, der für ihn kämpfen wollte, zeigten wir den Pakt, durch den er die Mark verkauft hat.« Der Kanzler stand zerschmettert. Da fuhr Calbe mit veränderter Stimme, die um Vertrauen zu werben schien, fort: »Und hätten wir nichts Schriftliches von der Durchlaucht – sagt selbst, Herr Kanzler, lohnt sich's zu siegen für Otto von Wittelsbach?«

Klaus Bismarck schwieg finster. Da drang Calbe plötzlich mit vollem, warmem Ton auf ihn ein: »Bleibt, Herr Kanzler! Hört mich ruhig! Die Mark hat noch ein Wort an Euch, dem Ihr nicht taub sein dürft. Mein kaiserlicher Herr will der Mark helfen, und dazu bedarf er des Kanzlers.«

Klaus Bismarck warf das mächtige Haupt empor. »Nie!« donnerte er wild.

Calbe ließ sich nicht abschrecken. »Die Mark ist wie ein wildes Roß, das keiner reitet, der es nicht kennt. Ihr sollt es für ihn wie für Herrn Otto reiten.«

»Nie!« knirschte Klaus noch einmal, und in seinen blauen Augen flammten Haß und Verachtung.

Doch Hans von Calbe glaubte zu wissen, wo er den Kanzler packen mußte. Er hatte in dieser Stunde einen klugen und tiefen Blick in die lautere Ehrenhaftigkeit seines Charakters getan. »Der Kaiser besticht Euch nicht,« fing er noch einmal an, »er bietet Euch keinen Heller. Wenn Ihr sein Kanzler sein wollt, so lohnt er Euch mit tausendfacher Arbeit und Mühsal, mit Gefahren und Kämpfen. Euer Lohn ist die Mark, deren Glück Ihr schmieden sollt wie bisher.«

»Nie!« rief Bismarck noch einmal, und das Wort kam wie ein rauhes Dröhnen und Klirren aus seiner Brust.

Hans von Calbe gab innerlich seine Sache verloren. Doch er wußte, wieviel für den neuen Herrn der Mark daran lag, daß dieser eine Mann, der Glauben und Liebe des Volkes besaß, sich zu ihm schlug. Er änderte die Stimme: »Überlegt es Euch wohl!« sagte er ernst. »Der Kaiser kann nicht von Euch lassen. Er braucht Euch!«

»Der Kaiser trägt den Fluch der Mark,« fuhr der Kanzler auf. »Er hat den falschen Waldemar von den Toten erweckt, um die Mark zu verderben, Ludwigs Blut – –« die Worte erstickten ihm wie unter einem Krampf, der die Lungen zusammenschnürte.

»Ihr sprecht von toten Dingen, Kanzler, und von ungewisser Schuld,« sagte Calbe abweisend. »Aber selbst wenn Karl schuldig wäre, wie Ihr ihm vorwerft, so geschah alles, was immer geschah, um ihn zum Herrn der Mark zu machen. Die Gegenwart allein ist lebendig. Heute ist Karl Markgraf von Brandenburg, und das Glück der Mark ist sein Glück!«

Hans von Calbe glaubte den Kanzler zu kennen, aber hätte er in Wahrheit einen Blick in seine Seele getan, er hätte auf die feile Sprache des Verstandes verzichtet und wäre schweigend gegangen. Alles, was er sprach, war richtig und wahr und dennoch sinnlos für diesen Mann, dem der Kopf stets nur der dienende Knecht des Herzens gewesen war. Klaus Bismarck schien alle Gründe Calbes in leidenschaftlichem Zorn zu überhören, und doch entging ihm kein Wort. Aber ein untrügliches Gefühl schlug die Beweiskraft aller klugen Wendungen nieder. Sein Lebenswerk lag in Scherben. Der große Staatsgedanke Ludwig von Wittelsbachs, für den er gelebt, war vernichtet. Selbst wenn Klaus Bismarck im Dienst der Pflicht und des Volkes sein Herz vergewaltigte, er konnte es nicht mehr retten. Unter dem Zepter des Welfenkaisers blühte für die Mark keine Zukunft.

»Er ist der Fluch,« sagte er düster und voll glimmenden Hasses, »den Gott selber nicht zum Segen wandeln könnte! Ich segne das Land nicht, das Gott durch ihn verdammt und verdirbt.«

Calbe machte einen letzten Versuch. »Der Kaiser wird nicht von Euch lassen,« sagte er bedeutsam. »Er wird Euch suchen, Kanzler, wo Ihr auch sein mögt, und wird Euch zu finden wissen.«

Herr Klaus überhörte die Drohung nicht, er empfand sie in der dumpfen Qual, die ihn erdrückte, wie eine unfruchtbare Erlösung. »Herr –,« gab er höhnisch und grimmig zurück, »ich bin kein Pflug, vor den er seine Gäule spannt, wie er will! Ich bin ein Mensch, dem man die Hände vom Leibe hacken kann, – aber weder tot noch lebendig schafft meine Hand für den Kaiser! Das sagt ihm!«

»Kanzler,« sagte Calbe, als begänne er selbst, sich seines Auftrages zu schämen, »ich habe gewarnt, wie ich sollte. Ihr findet nicht Ruhe, ehe Ihr ihm als Kanzler huldigt.«

»Lieber ruhelos wie Kain,« schäumte Klaus Bismarck auf, »als – – Geht, Herr, geht, geht! Ich bin – bei Gott! ich bin kein Hund, der jedem Herrn zuläuft!«

Calbe verneigte sich und trat zurück. »Gut, ich gehe,« sagte er. »Aber ich komme wieder, Kanzler. In immer anderen Gestalten und Namen komme ich zurück und lasse Euch nicht Ruhe, bis Ihr die Siegel für Kaiser Karl führt.«

Klaus Bismarck bebte vor Ingrimm. »Herr,« sagte er und hob die Hand, die ihm schwer wie Blei war, »ich habe Herrn Ludwigs Siegel mit dieser Hand geführt. – Ehe ich an Eures Herrn Siegel rühre, stecke ich die Hand ins Feuer!«

Hans von Calbe verbarg eine männliche Rührung und entgegnete kühl: »Die Wahl steht bei Euch, Kanzler. Ihr habt die Wahl zwischen höchster Macht und leerem Trotze.«

Klaus Bismarcks Gestalt reckte sich in unnahbarem Stolze. »Ich scharre mich in meinen Trotz wie in ein Grab,« sagte er finster. »Das meldet dem Kaiser!«

»Nun, gebe Gott,« sprach Calbe nachdenklich und mit einem Anflug von Trauer, »Ihr scharrt Euch nicht ins Grab!«

Der Kanzler entgegnete nichts mehr. Da verneigte sich der Kaiserbote und wandte sich zum Gehen. In diesem Augenblick trat Otto von Wittelsbach durch den Zeltvorhang.

Calbe gönnte dem Eintretenden keinen Gruß. »Da ist Herr Otto selber,« sagte er leichthin und verächtlich zu dem Kanzler und blieb abwartend stehen.

Otto von Wittelsbach empfand wohl die absichtliche Ehrfurchtsversagung und fragte verletzt und hochmütig: »Wer seid Ihr?«

Ehe Calbe antworten konnte, trat Klaus Bismarck mit einem großen Schritt zwischen ihn und den Fürsten. »Fragt nicht!« sagte er schroff. »Ich brauche nur eins zu wissen: Verweigert Euch dieser Mann, der Euch Herr Otto nennt, Titel und Ehrfurcht zu Recht?«

Otto von Wittelsbach erblaßte. Die peinliche Unterredung, um derentwillen er kam, erschien ihm plötzlich in einem anderen und gefährlichen Lichte. »Herr Klaus,« sagte er ausweichend, »ich suchte Euch eben in dieser Sache.«

Der Kanzler fiel ihm barsch in die Rede. »Antwortet, Herr! Verweigert er die Titel zu Recht?« Otto wich einen Schritt zurück. »Droht Ihr mir?« sagte er hochmütig.

Da schleuderte Herr Klaus von Bismarck sein Schwert krachend zu Boden. »So ist's wahr!« rief er wild. »Der Markgraf hat die Mark verschachert, und dieses Schwert ist ehrlos!«

Hans von Calbe brach die Stille, die dem Schimpf folgte. Leise hob er das Schwert des Kanzlers vom Boden. »Nicht ehrlos, Kanzler, wenn Ihr's für den Kaiser führen wollt,« sprach er bedächtig.

Herr Klaus brauste auf. »Schweigt! Geht!« rief er. »Ich habe ein Wort mit diesem Manne zu reden.«

Schweigend legte Calbe das Schwert auf den Tisch nieder und ging. In der Zelttür blieb er stehen. Kam vielleicht doch noch der Augenblick, der Karls Wünschen günstig war?

Otto von Wittelsbach faßte sich. »Herr Klaus,« begann er versöhnlich, »zum Herrschen war ich nicht geboren –«

»Nein, bei Gott!« fuhr ihm Herr Klaus mit aufbrandendem Hohn in die Rede. »Das wart Ihr nicht!«

Eine Stille staute sich auf. Dann sagte Otto von Wittelsbach gelassen und mit erwachendem Trotze: »Ich muß am besten wissen, wie viel mir Brandenburg gilt.« »Wer fragt danach!« rief Klaus Bismarck schneidend. »Wenn Euch der Kurhut eine Dornenkrone war, so mußtet Ihr die Dornen verteidigen, als ob ein jeder Dorn eine Krone wäre! An diesen Dornen klebt Ludwigs Blut, der Todesschweiß der Mark klebt an ihnen, und sie sind heilig! Ehrlos, wer mit diesen Dornen Schacher treibt!«

»Ist es so schändlich,« fiel Otto dem Schmähenden unsicher ins Wort, »vor der Gewalt zurückzuweichen? Ich weiche heute aus Brandenburg, Ihr wicht vor Jahren aus Stendal und wart dennoch der Mark ein Sinnbild aller Ehren.«

Er sprach nicht weiter, denn er sah, wie des Kanzlers mächtige Hände sich um das Holz einer Stuhllehne spannten, daß ihm die Knöchel weiß wurden. »Daran wagt Ihr zu rühren?« rief Klaus Bismarck gefährlich aufflammend und den Grabschänder seiner martervollen und heiligen Erinnerungen wie einen Schandbuben anstarrend.

Hans von Calbe nahm den Augenblick wahr, trat vor und sprach mit einem verächtlichen Blick auf Otto: »Herr Kanzler, habt Ihr noch keine andere Antwort an den Kaiser?«

»Schweigt!« rief Bismarck, als schüttle er einen Bettler von den Rockschößen, »Geht! Dem Totengräber in Stendal will ich eher dienen als dem Henker der Mark! Sagt ihm das!«

Hans von Calbe warf einen Blick halb voll Enttäuschung und halb voll ehrlicher Bewunderung auf Herrn Klaus. »So lebt wohl, Kanzler,« sagte er. Noch einmal neigte er sich ehrerbietig vor Klaus von Bismarck und ging ohne Gruß mit einem kalten und verächtlichen Blick an Otto vorüber durch die Tür.

Der Kanzler und sein Fürst waren allein.

In dem regelmäßigen Knabengesicht Otto von Wittelsbachs wechselte die Farbe. Das Gefühl der Beschämung, so unwürdig wie ein gezüchtigter Bube vor seinem Ratgeber zu stehen, ging unter in dem Bewußtsein, daß sich jetzt in des Kanzlers Seele etwas Grauenvolles und Unberechenbares vorbereite. Hünenhaft und drohend stand der Kanzler vor seinen Herrn. Unwillkürlich wich Otto von Wittelsbach zurück. »Herr Klaus –,« stammelte er mahnend.

Doch Klaus Bismarck unterbrach ihn flammend. »Euch antworten, hieße mich und Euren toten Bruder schänden. Ich klage an und spreche Urteil! Ich bin die Mark, die vor Euch steht und Euch richtet!«

Otto von Wittelsbach stand wie gelähmt im Bann eines Entsetzens, das sich nicht abschütteln ließ. Der mächtige Mann vor ihm schien ins Ungeheure und Unnatürliche gewachsen und schien in Wahrheit zu dem furchtbaren Symbol des steinernen Richters erstarrt, den das Volk mit abergläubischer Scheu in ihm verehrte. Der Roland von Stendal stand steinern und unangreifbar vor ihm, kein Mensch mehr von Fleisch und Bein.

»Markgraf Otto,« sprach Klaus von Bismarck mit furchtbarem Ernste und einer Stimme voll zermalmender Kraft, »du hast dein Volk und Land verschachert. Wie ein Priester, der das Sakrament Gottes verkauft hat, bist du des Todes! Du hast den Schwur gebrochen, den dein Bruder im Sterben tat. Du bist meineidig und treulos, feige und feil wie eine Dirne, und wie eine Dirne sollte man dich nackt und in Schanden aus Land und Lager peitschen! Trügst du nicht deines Bruders Züge, bei Gott! ich ließe an dir tun, wie ich gesagt habe. So aber – blick auf dieses Schwert! Es ist das Richtschwert von Brandenburg, das mir Ludwig von Wittelsbach vertraut hat –«

Er hob das breite Schwert und wollte es auf das meineidige und treulose Haupt des Fürsten niedersausen lassen. Otto fühlte, er war dem Tote verfallen. Er stand sehr bleich, doch hob er keine Hand zur Abwehr. Eine stumpfe und beinahe höhnische Gleichgültigkeit überkam ihn. »Schlag zu!« forderte er und erwartete den Streich. »Was weiter? Ich halte dir still.«

Und fast verächtlich fuhr er fort, als er die entwaffnende Wirkung seiner geringschätzigen Gleichgültigkeit gewahrte: »Glaube mir, ich kenne meine Laster. Feigheit ist nicht darunter. Um feige zu sein, nehme ich dich und mich und mein Leben nicht ernst genug. Warum schlägst du nicht zu?«

Da erlahmte Klaus Bismarck in seinem Rächeramte. Der Geruch der Zersetzung und Verwesung wehte ihm entgegen, als stände er vor einem Leichnam. Das Schwert sank ihm nieder. Er schleuderte es fort. »Ja, du bist aalglatt,« sprach er dumpf. »Nichts ist dir ernst, nicht du selbst, noch deine Ehre. Ein Schlag in dein Gesicht ist ein Schlag in den Wind. Lebe denn, Kinderspott, solange du magst, bis du verfaulst am Ekel vor dir selber!«

Nun Stand der Kanzler stier und erschöpft, als sei sein Leib ausgeblutet und ohne Kraft, sich aufrecht zu erhalten. Otto sah es, und seine kleine Natur ertrug dieses harte und unbarmherzige Ende nicht. Er suchte in seiner unmännlichen Art nach einem glimpflichen und halben Worte und nach dem feilen Schein eines versöhnlichen Auseinandergehens. »Kanzler,« fing er tastend an, »Ihr wißt nicht mehr, wie Ihr zu mir redet. – Ich seh's Euch nach, denn Ihr seid von Sinnen – Ihr habt mir immer treu gedient.«

»Euch –!« rief Klaus Bismarck aufbrausend und bebend. »Euch?! Ich habe Euch nie gedient! Euch nie! Ich habe der Mark gedient, die Herr Ludwig mir ans Herz legte – Euch habe ich immer verachtet–!«

Otto von Wittelsbach sah den leidenschaftlich Erregten kalt an. »So braucht's auch keinen Dank,« sagte er eisig und ging.

Klaus Bismarck blickte ihm nach, tat einen Schritt, blieb stehen und faßte sich ächzend an die Schläfen.

In diesem Augenblick trat sein Knecht ahnungslos ins Zelt. Erhitzt und fröhlich hielt er dem Kanzler einen Strauß von Klee und Eichenlaub entgegen, den er im Felde gepflückt. »Hier ist der Buschen,« rief er, »die schönsten Eichen!« Er stockte und brach ab. Denn er blickte in das Gesicht des Kanzlers, das wie das eines Schwerkranken war.

Klaus Bismarck riß dem Knecht den Strauß mit entstelltem Gesicht aus der Hand. »Wirf ihn vor die Ziegen!« schrie er, schleuderte ihn wild zur Erde und stampfte darauf. Dann brach er konvulsivisch schluchzend in einem Stuhl zusammen und schlug mit dem Haupte schwer auf den Tisch.

Hans rüttelte seinen Herrn bestürzt an der Schulter. »Herr Klaus –!« rief er, »Herr, um Gottes willen, Ihr seid krank!«

Draußen erklangen Heerhörner und Trommeln. Langgezogene Signale riefen das Heer zum Sammeln. »Herr Klaus –!« rief der Knecht noch einmal, »es bläst zur Schlacht!«

Aber der Kanzler wußte besser, was die Signale verkündeten. Er suchte sich emporzuraffen und lauschte mit entstelltem und verzerrtem Antlitz. »Ludwig,« stöhnte er, »Ludwig – sie blasen das Sterbelied der Mark über deinem Grabe –. Ich muß – es – dulden –«

Und er stürzte mit einem gurgelnden Schrei schwer in sich zusammen, indes die Signale der Hörner sich unermüdlich wiederholten.

VI.

»Ich bin ein Vogel, der mit zerbroch'ner Schwinge
den Verfolger von Nest und Brut verlockt...«

In dem Augenblick, in dem Klaus Bismarck dem stolzen Bau seiner Staatskunst und Lebensmühe den Schlußstein hatte einfügen wollen, waren die unsauberen Grundwasser der Tiefe vorgebrochen und mächtig geworden und hatten das kühne und mächtige Kunstwerk zum Einsturz gebracht. Ein Ehrendom für Ludwigs des Wittelsbachers große Seele hatte es werden sollen, nun waren die Trümmer ein ewiges Schandmal seines Bruders, und Klaus Bismarcks zermalmtes Herz lag unter ihnen begraben. Der Bau, der da im Schutt lag, war sein Leben, jede Quader ein Lebenstag, der Kitt sein Herzblut gewesen. Nun lag er unter toter und verhöhnter Vergangenheit verschüttet.

Klaus Bismarck hatte sich nach dem Treubruch seines Fürsten nach Burgstall in den Kreis der Seinen und in die Einsamkeit der Wälder zurückgezogen. Aber die Grundfesten seines Wesens waren zu tief erschüttert, alle gesunde Kraft Leibes und der Seele bröckelte nach und verfiel. Weder der schweigende Trost der großen Natur noch die Tiefe und Liebe der Menschenherzen konnten ihm helfen. Seine Seele war zu sehr an Weite und Fülle der Betätigung gewöhnt, als daß sie nun in sich selbst eine Trostwelt ewiger Gedanken und Gefühle hätte gründen und in ihr hausen können.

Freilich, am Kaiser lag es nicht, wenn Herr Klaus die unentbehrliche Gewohnheit des Ratens und Tatens aus den Händen warf wie ein zerbrochenes oder entehrtes Schwert. Boten auf Boten vielmehr schickte er nach Burgstall, wie Hans von Calbe vorausgesagt, um den Kanzler der Mark in seinen Dienst zu locken und zu zwingen. Er erkannte, daß ohne diesen Mann, in dem der Glaube und das Vertrauen des tausendfältig notleidenden Volkes und die Furcht seiner Bedrücker verkörpert war, die Mark ihrem Zerfall entgegenging. Ja, er sah und fühlte mehr: Das Volk empfand die Absage des Rolands von Stendal an den neuen Herrn der Mark als ein gültiges Gericht, das abergläubisches Grauen und Mißtrauen weckte und nährte. Klaus Bismarcks verachtungsvolle Tatenlosigkeit war eine schlimmere Bedrohung, als gehässige Vielgeschäftigkeit es gewesen wäre. Darum warb der Kaiser unermüdlich mit Verheißungen und Drohungen. Aber der Roland von Stendal blieb Stein. Er schaute tiefer und empfand kraft inneren und untrüglichen Wissens, daß es für Brandenburg kein Heil und keine Zukunft gab unter den unheiligen und befleckten Händen des Luxemburgers, der nur mit lauernder und gieriger Seele auf Ernten warten, aber nicht mit selbstloser Hingabe verzichten und das Feld der Zukunft bestellen konnte. Immer wilder und zerrissener klang das Sterbelied der Mark, aber Klaus Bismarck wußte, daß kein Arzt dieses Sterben lindern und wenden konnte, solange Herr Karl das Zepter führte. Auch er selbst hätte, selbst wenn er aus Liebe zu dem gequälten Volk Trotz und Leidenschaft seines Herzens vergewaltigt hätte, nur den Glauben des Volkes an sich selbst und an die Treue und Unbestechlichkeit seiner Seele erschüttert. Der steinerne und unwandelbare Richter, den alle kannten, konnte sich nicht mit seiner Vergangenheit in lebendigen und zugleich tödlichen Widerspruch setzen. –

Kein Mittel ließ der Kaiser unversucht, den Starrsinn des Kanzlers zu brechen. Als zum sechsten Male sein Bote mit schnödem Botenlohn zurückkam und ihm das Nein des Unversöhnlichen heimbrachte, beschwor er einen mächtigen Gegner. Es gelang den Ränken seiner Politik, den Bannfluch Roms gegen den hartnäckigen Parteigänger des toten Wittelsbachers, den die Kirche im Leben wie im Tode aus ihrem Schoße ausgestoßen hatte, zu erwirken. Er hoffte darauf, der Bann werde den Trotz des alternden Kanzlers zerbrechen. Aber Klaus Bismarck gönnte dem Kaiser die Freude nicht, die Kirchenglocken der Mark zu Schandglocken dessen zu machen, der sie am zähesten geliebt hatte. Darum hob er noch einmal mit lässiger Hand das goldene Schwert, von dem einst Herr Ludwig vor St. Marien gesungen hatte – und der Bann zerriß.

Als Herr Klaus die Versöhnung mit Rom erkauft hatte, hielt er in Stendal den letzten Kirchgang seines Lebens. Wenn je ein Mann wohlvorbereitet zum Tisch des Herrn geschritten ist, so war er es. Denn die Nacht zuvor verbrachte er in seines Vaters Hause mit seiner Mutter.

Zum siebenten Male hatte der Kaiser Botschaft in Klaus Bismarcks Haus geschickt. Der sie trug und brachte, war Hans von Calbe. Der Kanzler wies ihm das Tor, wie den andern, die vor ihm da waren. Er ließ den Kaiserboten nicht in den Gastfrieden seines Hauses. Aber in der Nacht nach der Unterredung mit Hans von Calbe verließ er selbst schweigend und geheimnisvoll Weib und Kind und kehrte Burgstall den Rücken. In dunkler Nacht verritt er und kehrte beim Morgengrauen in Stendal ein. Dort bereitete er sich im Hause seiner Väter, das so lange herrenlos und unbewohnt gestanden, ein einsames Asyl.

Frau Margarete verstand ihren Sohn. Sie fuhr ihm nach und schien nun wieder in Stendal einsam mit ihm hausen zu wollen, wie einst auf Burgstall. Klaus Bismarck litt schweigend die Nähe der Mutter. Weib und Kind hatte er das Verlassen von Burgstall verboten.

Schon am dritten Tage ihrer Einkehr in Stendal erfuhr Frau Margarete, daß ihre dunklen Ahnungen sie nicht betrogen hatten. Verstört und schaudernd brachte ihr der treue Knecht Hans einen Dolch, den er einem Unbekannten entrissen hatte, der sich, in eine Mönchskutte vermummt, bis vor des Kanzlers Tür geschlichen hatte. Der unheimliche Fremde selbst war entkommen. Frau Margarete empfing still das Zeichen und Pfand eines drohenden Schicksals. Sie gebot dem Knecht Schweigen und dachte, ihr Wissen dem Sohn zu verhehlen und allein mit nie ruhender Wachsamkeit das teure Haupt zu hüten.

Noch hielt sie, in Ahnungen und Gedanken versunken, das Eisen in der leise zitternden Hand, als Klaus Bismarck mit dem Stadtschreiber Beck aus dem Nebenzimmer trat und ihn verabschiedend zur gegenüberliegenden Tür geleitete. Unbemerkt legte sie den Dolch in den Tischschrein und folgte dem Sohn mit den Augen.

Klaus Bismarck wandte sich langsam zum Fenster, schob die Vorhänge zurück und schaute schweigend in den sinkenden Abend hinaus, dessen Schatten und Lichter seine hohe Gestalt umspielten und einen Schein über sein gealtertes Antlitz warfen.

Frau Margarete empfand das Bedürfnis, ihn seinem Hinbrüten zu entreißen. »Was hast du mit dem Beck aufgesetzt?« fragte sie und suchte ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben.

Klaus Bismarck war tief in Gedanken verloren. »Mein Testament,« erwiderte er mechanisch, ohne daß sein Bewußtsein bei der Antwort war. Da sah er, wie die Mutter sich, ihr Zittern zu verbergen, in einen Stuhl niederließ, und mit einem Male hörte er Frage und Antwort, und über sein Herz kam Mitleid und Reue. Er trat zu ihr. »Verzeih mir das,« bat er ihr ab, und seine Stimme war ungewohnt weich, »ich wollte dich nicht erschrecken.«

Frau Margarete bezwang das Grauen, das immer stärker auf sie eindrang. Sie streichelte seine Hand, die auf ihrer Schulter lag. »Klaus, du hast mich nicht erschreckt,« beruhigte sie ihn.

Klaus Bismarck sah in Rührung und Liebe auf seiner Mutter Haupt nieder. Er empfand wieder die Gemeinsamkeit ihrer Seelen, deren eine sich der andern nicht verbergen konnte. »Mutter,« sagte er leise, nur dieses eine Wort, aber es war mehr als Klang und Wort, es war ein starkes und herrliches Lied, eine Predigt von Herz zu Herz und war mehr als das alles. Lange war danach für nichts Lautes Raum, nur das leise und tief aufschwingende Wort kreiste in der Stille wie ein schöner Vogel oder eine sanft schwimmende Wolke.

Nach einer Weile tauchte Klaus Bismarck aus der Weite seiner Seele in die brustengende Not der Wirklichkeit zurück. »Heute ist Herrn Ludwigs Sterbetag,« sagte er düster und gepreßt.

»Ich weiß es, Klaus,« sagte Frau Margarete innig, ohne Haupt oder Hand zu rühren. Sie fühlte, wie in ihrem mütterlichen Herzen sich die Seele ihres Kindes spiegelte, und hielt stille wie eine tiefe und klare Flut, über die kein trübender Schauer läuft, solange sie das teure Bild trägt und hegt.

Herr Klaus preßte ihre Hand fast schmerzhaft. »O Mutter, du hast an ihn gedacht?« sagte er, und aus dem Druck seiner Hand und dem Klang der Worte sprach seine wunde und ungetröstete Seele. Frau Margarete schwieg.

Klaus Bismarck grübelte in die lastende Stille hinein, die sein und ihr Herz umfing. »In diesem Zimmer starb mein Vater,« sagte er dann. Die Worte tropften schwer in die Schatten und das Schweigen des Raumes wie die Zauberformeln eines Totenbeschwörers und rührten einen spukhaften Wirbel toter und unversöhnter Menschen und Dinge auf. Klaus Bismarck sah und hörte, was ihn lautlos umgab. »Weißt du noch, Mutter, daß er mein Unglück voraussagte?« Er reckte sich, und seine Stimme wurde hart und stolz. »Mich reut nichts, was ich tat. Trotzdem.«

Dann ging er ruhelos auf und nieder und blieb wieder stehen. Der unbeugsame Stolz des Einsamen nahm überhand. »Ginge es nach dem Kaiser, ich stürbe im Banne wie mein Vater. Herr Karl soll die Glocken von St. Marien nicht schweigen machen, sie sollen von Herrn Ludwig und mir reden, trotz ihm.

Der Bischof hofft, daß eine fromme Stiftung in meinem Testamente den zerbrochenen Bann lohnt. Da irrt er. Ich habe nichts zu danken. Mein Testament weiß von einer besseren Stiftung. Vor den Mauern der Stadt, in der ich ruhelos war, solange ich denke, soll ein Haus erstehen für Heimatlose, ein Asyl für müde, alte Menschen, wo ein Friede ist, den keiner brechen darf, und Ruhe vor der stoßenden Welt. Niemand soll ihren Frieden stören dürfen oder ihren Trotz. Ich habe keinen Altar für mein Haus gestiftet. Sie sollen darin leben, wie ihnen der letzte Sinn steht. Es soll eine Freistatt sein. Darin soll niemand außer ihnen ein Recht auf Worte haben, kein Priester und auch kein Kaiser.«

Klaus Bismarck hatte in den tiefen und rauhen Kehllauten eines unversöhnlichen Hochmuts gesprochen. Nun brach er ab. Warum quälte er die Mutter mit abgetanen und fremden Dingen? Ihm war, als habe er noch vieles mit ihr zu reden, worauf sie ein Recht hatte, nur sie außer ihm selber. Er ließ sich ihr nahe nieder und begann mit der großen Ruhe derer, die überwunden haben, von den letzten Dingen des Lebens zu reden. »Bald hoffe auch ich auf Frieden,« begann er, »es werden keine Kaiserboten mehr kommen.«

Frau Margarete fühlte, nun kam aus seinen Worten die Bestätigung der Ahnung, die sie ihm nachgetrieben hatte. Sie verschränkte ihre Finger im Schoße und lauschte bangend mit schmerzhaft wacher Seele, gleich bereit zur Abwehr wie zur Duldung.

»Weißt du das so sicher?« fragte sie, und ihre Lippen zitterten doch gegen ihren Willen.

Klaus sah sie lange schweigend an. Dann sprach er mit eherner Ruhe. »Der Kaiser weiß, daß sich eher noch der steinerne Roland vom Markt in Stendal hebt und sein Kanzler wird als ich. Er schickt keinen Boten mehr nach mir. Nur einen letzten, stummen Boten hat er noch für mich. Dem muß ich folgen. Er läßt sich nicht wie die andern fortschicken.«

Es war gesagt, und Grauen und Trost der Zweieinsamkeit von Mutter und Sohn in dem von Mördern umlauerten Hause umfing die beiden Menschen.

Frau Margaretes Herz bäumte sich auf. Zum ersten Male gebrach ihr Kraft und Fassung. »Rede nicht so von deinem Tode, Klaus!« bat sie zitternd und mühsam. »Du sollst nicht, Klaus!« Gegen ihren eigenen Willen sprach sie so. O, sie wußte es, in diesem Raume sprach alles vom Tode. Und wenn er schwiege, so würde das Eisen im Tischschrein leise tönen und reden.

»Ich bin ja lange tot!« brach Klaus gramvoll aus. Klarheit war die letzte Schonung, die er dem mütterlichen Herzen geben konnte, wie sich selber. Sie selbst hatte ihn diese Weisheit gelehrt. »Ich bin nur noch mein eigenes Gespenst auf Erden und bin verdammt, sinnlos und zwecklos umzugehen, bis mich der zweite Tod von dem Fluche erlöst, der mich umhertreibt!«

Frau Margarete trieb die. folternde Angst empor. Sie trat nahe zu ihm. »Klaus,« sagte sie forschend, »weißt du, daß seit gestern kaiserliches Kriegsvolk in Stendal ist?«

In des Kanzlers Gesicht rührte sich nichts. »Ich weiß es,« sagte er herb. »Der Schreiber hat mir's erzählt. Ich bin bereit.«

»Bereit –?« flüsterte Frau Margarete zagend.

Der Sohn nahm sie bei der Hand und nötigte sie sanft in ihren Stuhl. Die stumme Bewegung bat um Ruhe, die allein ihm noch wohltat. »Der Kaiser hat mir sieben Boten in mein Haus nach Burgstall geschickt,« fuhr er düster fort. »Der letzte von ihnen war Hans von Calbe. Der sprach, als ich ihm die Tür wies: »Jetzt werden keine Kaiserboten mehr kommen, die einen Kanzler werben, aber wißt auch, daß Ihr nicht leben dürft, wenn Ihr nicht für den Kaiser lebt.«

»Das hat er dir gesagt –?«

Herrn Klaus' Antlitz verfinsterte sich noch mehr. »O,« sprach er, »er wußte noch mehr zu sagen. Wenn ich eines Tages den Tod, sei es in welcher Gestalt immer, von weitem sähe, so sei es noch Zeit, zum Kaiser zu kommen, sonst käme der Tod zu mir –. Sieh, Mutter, nun ist der Kaiserbote Tod seit gestern in Stendal und grüßt mich von ferne –« Seine Gestalt reckte sich in titanischem Trotze. »Ich gehe nicht zum Kaiser.« Fast unnahbar sprach er das Wort, das sein Todesurteil war.

Eine letzte schmerzgeborene Liebeshoffnung rang sich in Frau Margarete empor. Sie stand auf, trat zu dem Sohne und sah ihm in die Augen. »Klaus, geh nach Burgstall!« sprach sie tief und bittend. »Dort bist du zu Hause und bist sicherer als hier!«

»Sicher, Mutter?« wehrte der Mann müde ab. »Meinst du, der Kaiser muß Burgstall stürmen, um mich zu töten? Nein, Mutter, das tut er nicht. Der Tod hat viele Wege und geht gern den verschwiegensten. Glaube mir, er wird mich finden, und er soll es auch. Mir ist zu Sinn wie dem gehetzten Hirsch, der selber die Hatz endet und sich stumm und trotzig vor die Hunde wirft. Besser im Blut ersticken als im Schweiß!« Er warf sich in einen Stuhl. Nun war es fast dunkel im Zimmer. Frau Margarete rang mit sich selber. Sollte sie den Sohn noch tiefer bestürmen? Doch rechte Liebe ist wie das Schicksal, das kein schwaches Erbarmen kennt. Sie kniete zu ihm. »Denke an dein Weib,« bat sie mahnend, »und an den kleinen Klaus!«

Da brach eine unerträgliche Qual sengend aus den Augen des Mannes. Die Hand der Mutter hatte an die tiefste Wunde getastet. »Ich denke in jeder Stunde an sie, Mutter!« stieß er gequält hervor. »Sie sind ja nur sicher, wo ich nicht bin! Weil ich das weiß, habe ich Burgstall und sie verlassen und warte hier einsam auf meinen Tod. Du weißt nicht, was mir Hans von Calbe sagte. Der Tod ist stumm, sagte er zu mir, er kommt im Wind, in Speise oder Trank, er kommt als Feuer und frißt um sich und tötet, was ihm nahe kommt. – Darum denkt an Weib und Kind.«

Er umfaßte das Haupt der Mutter. »In der Nacht danach hab ich Burgstall verlassen. Verstehst du jetzt, daß ich nicht heimkehren darf?«

Frau Margarete empfand, nun hatte das Schicksal selber gesprochen. Ihrem Herzen blieb nichts zu fragen und zu suchen. Eine große Ruhe kam über sie, alle Pflicht und Bürde des Lebens sank ab von ihr und dem Sohn. Pflicht und Würde der Todesbereitschaft sank auf sie nieder, wie eine letzte Gnade. Qual und Drang der Möglichkeiten versank vor der feierlichen Ruhe der Notwendigkeit. »Nein, Klaus,« sagte sie, »nun sehe ich, du hast recht. Du darfst nicht mehr heimkehren.«

»Mutter,« sagte der Sohn, »Mutter, du verstandest mich immer –«

Wieder schwiegen beide, und nur das tote Eisen in der Lade tönte und klang.

»Mutter,« sagte der Kanzler unvermittelt, »geh du nach Burgstall!«

Frau Margarete bewegte verneinend das Haupt. »Nein, Klaus, mein Platz ist bei meinem Sohn. Bei dem kleinen Klaus ist Frau Ursel, und bei dir bleibe ich. Das ist mein Mutterrecht!«

»Dennoch, Mutter, ich bitte dich: Geh nach Burgstall!« Frau Margarete schüttelte leise das Haupt. Da strich ihr der Sohn über die liebe Hand. »Geh, Mutter,« bat er noch einmal. Und zögernd, als fürchte er, ihr wehe zu tun, setzte er hinzu: »Ich – möchte dir einen rohen Anblick ersparen, Mutter!«

Warm und fest gab Frau Margarete zurück: »Klaus; solange ich lebe, lasse ich keine rohen Hände an dich!«

Der Kanzler lächelte schmerzlich. »Mutter,« gab er aus dem Tiefsten zurück, »der ist mein Freund, der mich erschlägt, habe er zehnmal rohe Hände! Ich bin wie ein Haus, in dem kein Mensch mehr wohnt, und ich verfalle, wenn man mich nicht niederreißt. Wäre ich kein Christ, Mutter –. Nein, fürchte nichts! Gott hat mir das Leben gegeben. Ich will warten, wie er es endet.«

Frau Margarete sah den Sohn seltsam an. Die Gedanken kreisten wie Todesvögel um ihr Haupt. Sie lauschte mit zusammengezogenen Brauen auf das Rauschen ihrer dunklen Schwingen. Ihre Seele rechtete stumm mit Gott. Sie blickte den Sohn lange an. Dann ging sie zum Tisch und holte aus der Lade zwei hohe Kerzen, um sie in einen silbernen Armleuchter zu stecken.

Klaus folgte ihr mit den Blicken. »Was tust du, Mutter?« sagte er müde abwehrend. »Laß uns im Dunklen sitzen!«

Frau Margarete ließ sich nicht stören. Sie entzündete die Kerzen. »Heute ist Herrn Ludwigs Sterbetag, Klaus. Es sind geweihte Kerzen, die ich besorgt habe. Laß uns stille sitzen und warten, bis sie niederbrennen, und an ihn denken.«

»Du denkst an alles, Mutter!« dankte Herr Klaus, und seine düsteren Augen erhellten sich in einer tiefen Rührung. Er schaute in die Kerzen. »Ja, die Flamme ist hell und rein, wie sein Leben war.« Er versank in tiefes Sinnen und horchte auf die Stimmen der Vergangenheit, die dunkel vom Tode raunten.

Aber Frau Margarete entriß den Sohn noch einmal der Schwermut, die ihn tief und tiefer umschattete. »Klaus, laß uns von lieben Dingen plaudern!« bat sie und zwang sich mit der unerschöpflichen Tapferkeit ihrer Seele zu gelassener Ruhe. »Solange wir dürfen, wollen wir von Menschen reden, die uns teuer sind. Schrieb dir Ursel noch nichts?«

Und die Seele des Mannes ging die lichten Wege, auf die ein gütiger Zwang ihn sanft leitete. Er lächelte. »Ach, Mutter, sie schreibt immer dasselbe. Immer schreibt sie von unserem Kinde. Es klingt gut und schön: unser kleiner Klaus ist ein holdes Gotteswunder!«

»Gotteswunder –« sann Frau Margarete, und der tönende Klang ihrer Stimme lockte den Sohn tiefer in die lichten Gefilde freundlicher Gedanken. »Freilich, Klaus, freilich ist er's. Wir müssen wohl glauben.«

»Blüh, kleiner Klaus!« sprach der Kanzler versonnen, und sein Herz schien zu beten. »Holdes, kleines Gotteswunder, tröste mein armes Weib!«

Er versank. Sie störte ihn mit keinem Wort und keinem Blick. Es war heiliges und geweihtes Land, durch das seine Seele schweifte.

Plötzlich strafften sich Leib und Antlitz des Mannes in fernhörender Aufmerksamkeit. »Mutter,« flüsterte er, »hörst du nichts?«

Ein Schauer lief über das Herz der Mutter. »Ich höre nichts –« sagte sie erbebend und angespannt lauschend. »Die Nacht ist totenstill –«

»Wohl, totenstill –« gab Klaus mit einem seltsam heiseren Unterton zurück, ohne sie anzusehen. Sein Antlitz hatte etwas angstvoll Unirdisches und Totes, nur die großen Blauaugen des Mannes lebten ein dunkles und furchtbares Leben. Seine Seele atmete gleichsam durch diese Augen. Sein Haupt und Oberleib war weit vorgebeugt, als ginge er mit Augen und Ohren fernen Dingen und Tönen nach. Er fiel gleichsam weit vor, ohne doch völlig zu fallen, und diese haltlose und doch starr beharrende Haltung hatte etwas Unnatürliches und Krampfhaftes. –

Klaus Bismarcks Geist war aus dem Gefängnis des Leibes ausgebrochen und schweifte hellsichtig und fernhörig durch die tödliche Stille der immer tiefer dunkelnden Nacht. Das Licht der Kerzen lag auf dem maskenhaften Antlitz des Entrückten und spiegelte sich gespenstig in den visionären Augen. »Die Welt schweigt vor dem Tode –« sprach er mit Ruhe und doch mit einem fremden und erregenden Tonfall. »Aber der Tod schweigt nicht, er schreitet hörbar durch die Nacht. – Ich höre ihn! – Schwere Füße kommen näher. Eisenkappen spiegeln sich im Mondlicht – Schwerter klirren verhohlen im Wehrgehenk – das sind sie – die Kaiserboten – Horch! – Ich höre und sehe sie –. Schweren Trittes schreiten sie – stumm. Über den Markt schreiten sie hin – scheu blicken sie auf den Roland und denken an den, den sie morden sollen –. Die Nacken ducken sich – hastiger schreiten sie weiter –. Horch! Jetzt biegen sie in unsere Gasse. Das Pflaster schlittert – die Gasse dröhnt – der Tod geht Runde und gibt die Losung für morgen. Ich weiß genug und will Kirchgang halten. Trotzdem.«

Starr stand Frau Margarete und bändigte alle natürlichen Triebe der Menschenseele durch ungeheure Anspannung des Willens zu steinerner Ruhe. Sie sah, ohne zu erbeben, ein dunkles Erbteil väterlichen Blutes in dem Sohne lebendig werden. Sie sah ihn im Dunkel sehen und in bleierner Stille hören und wußte, was er da sah und hörte, war mehr als Traum und Ahnung, war Wirklichkeit und Schicksal. Sie stand aufrecht am Tisch, ohne Haupt oder Blick zu senken. Lang stand sie so. Und ihr Herz erbebte nicht, als sie nach langer Stille wirklich hörte, was der entrückte Geist ihres Sohnes zuvor spukhaft erlauscht hatte. Tritte erdröhnten. Eisen klirrte verhohlen. Wäre sie zum Fenster getreten, so hätte sie den Mond sich in den Eisenkappen der Kaiserboten spiegeln sehen. Sie rührte keinen Fuß. Sie hatte mit ihres Sohnes Augen gesehen und brauchte keine Bestätigung.

Jetzt hielten die Schritte der Kriegsknechte. Eine Faust rüttelte kurz und drohend am Torgriff. Ein leises Dröhnen ging durch das stille Haus. Mutter und Sohn verstanden die tote Sprache. Geh zum Kaiser, Herr Klaus! sägte das Dröhnen. Der Tod hat dich gegrüßt. Du bist gewarnt. Geh zum Kaiser.

Mutter und Sohn sahen sich stumm an. Ihre Gesichter waren herb, und dieselbe trotzige Falte war dem Antlitz der Frau wie des Mannes vom Mundwinkel her eingegraben. Sie waren sich wundersam ähnlich in der Härte und Größe ihrer Züge. Wir gehen nicht zum Kaiser, stand in den herrischen Gesichtern der beiden Einsamen.

Das Dröhnen verklang. Die Schritte der Kriegsknechte entfernten sich und verloren sich in der Stille. Da neigte sich Herr Klaus tief über die Hand seiner Mutter und küßte sie schweigend. Frau Margarete zog den Sohn empor und barg das todgeweihte Haupt ohne Wort und Träne an ihrer Brust. Herr Klaus litt es ohne Weichheit; er fühlte, sein Haupt lag an dem Quell der Kraft, der ihn durchs Leben geleitet hatte.

Andern Tages hielt Herr Klaus mit seiner Mutter den letzten Kirchgang nach St. Marien.

Er tat es schweigend und stumm. Aber als er hünenhaft trotz seines grauen Hauptes wie ein Totenwächter der Vergangenheit über den alten Markt an seinem steinernen Taufpaten, dem Roland, vorüber die Stufen zum Portal von St. Marien hinaufstieg, da bildete das Volk von Stendal barhäuptig und in schmerzvoller Ehrfurcht seinem Helden eine lebendige Gasse, und die Messe, die er hörte, wurde allem Volk zu einer Totenmesse unvergeßlicher und grausam vernichteter Hoffnung.

Als Klaus von Bismarck die Kirche verließ, drängte sich alt und jung an ihn, als ob ein Heiliger durch ihre Mitte schritte. Männer haschten nach seinen Händen, und Frauen küßten den Saum seines Mantels. Die Mütter erhoben tränenden Auges ihre unmündigen Kinder, als habe der Schein seines Antlitzes eine segnende Kraft für ferne und unbekannte Zukunft.

Schweigend litt Herr Klaus die Liebe der Stadt, die ihn vordem hatte steinigen wollen. Schweigend schritt Frau Margarete an seiner Seite.

Da mit einmal brachen hinter dem steinernen Roland hervor, wo sie auf stummer Lauer gelegen, drei gewappnete Männer. Blitzschnell zuckten drei nackte Schwerter gegen die unbewehrte Brust des Kanzlers. Herr Klaus sah den Tod vor Augen und verhielt trotzig den Schritt, ohne Arm und Hand zu heben. Nur seine blauen Herrenaugen unter den düsteren Brauen waren groß und weit von Verachtung.

Mit einem ruhigen Schritt trat Frau Margarete zwischen den Sohn und seine Mörder. So traf der ausholende Stahl zuerst ihre mütterliche Brust. Ein Werk der Liebe und Treue war das Letzte, was Herr Klaus mit irdischen Sinnen sah. »Mutter!« sagte er wie ein letztes Gebet und fing die tödlich Getroffene in seinen Armen auf. Da fuhr auch ihm der Mordstahl ins Herz, und das heilige Wort auf den Lippen sank er wie vom Blitz getroffen zu Füßen des steinernen Rolands in sich zusammen.


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