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Der alte Justizrat Vorberg pflegte, wenn man ihn nach Menschen und Dingen fragte, die nur noch in seiner Erinnerung lebten, die folgende Episode zu erzählen.
Bis in die zwanziger Jahre lebte in einem kleinen thüringischen Nest in äußerster Zurückgezogenheit ein pensionierter sächsischer Hauptmann. Die nächsten Nachbarn wußten nichts von ihm, als daß der Graukopf, der fast völlig gelähmt, von einer Verwandten wie ein Kind gepflegt werden müsse, Invalide von Dreizehn sei und eigentlich mehr zu den Toten von Leipzig als zu den Lebenden gehöre.
Das hatte seine Richtigkeit. Aber niemand hätte sagen können, welche furchtbare Verstümmlung ihn unter die Krüppel geworfen habe. In der Tat hatte keine Kugel ihn niedergerissen, kein feindlicher Pallasch ihn gestreift. Mit heiler Haut war er vom Platz getragen worden. Die Schande hatte ihm die gesunden Knochen im Leibe von innen heraus zerschlagen. Das war so gekommen:
Jedes Schulkind weiß, daß in der Schlacht bei Leipzig ein paar tausend Sachsen von Napoleon zu den Verbündeten übergegangen sind. Die großmäuligen Franzosen sagen, daß ihr großer Kaiser nur durch diesen elenden Verrat bezwungen worden sei. Das ist Lirumlarum und steckt nichts dahinter. Wenn eine halbe Million Kämpfer durcheinanderwogen, machen dreitausend Menschlein keinen großen Wellenschlag. Wenn fünfzigtausend Tote das Schlachtglück nicht unter sich begraben, schleppen es ein paar Bataillone nicht davon wie einen Fouragesack. Ein Berg stürzt nicht zusammen, wenn der Frost ein Steinchen herausbricht.
Ich will nicht darüber reden, warum die Sachsen übergelaufen sind. Es sind Menschen gewesen, und also hat den einen dies und den andern das getrieben, und schlechte und gute Gründe sind durcheinandergelaufen wie junge Katzen. Haben die einen gemeint, sie retten dem König das Land, so haben die andern geglaubt, daß drüben die Sonne heller scheine. Die Hauptsache wird gewesen sein, daß langunterdrückter Tyrannenhaß sich endlich Luft machte. Ein Heldenstück ist's nicht gewesen. Der Mensch muß in die Ketten beißen, solange der Sklavenvogt noch die Peitsche in Händen hat, wenn wir ihn bewundern sollen. Ihr König hat von nichts gewußt. Der hat sich von Napoleon nasführen lassen bis zuletzt. Am andern Morgen erst, als zum Rückzug geblasen wurde, hat der Kaiser dem Friedrich August beim Lever gesagt, es stünde schlecht mit der Bataille, das Nähere würde ihm Friedrich Wilhelm von Preußen gleich persönlich sagen, er selbst habe keine Zeit dazu. Und kurz darauf hat der betrogene König ganz verdutzt mit abgezogenem Hut vor dem Sieger gestanden, der nicht an die Krempe gerührt hat.
Aber ich will nicht von den Sachsen und ihrem König reden, sondern von dem Hauptmann von Vellin. Das war eigentlich kein Sachse, sondern ein nachgeborner deutscher Adliger aus Schwedisch-Pommern. In den letzten Jahren des alten Fritz war er als blutjunger Leutnant unter höchster Ungnade aus dem preußischen Heeresverband entlassen worden. Eine Schurkerei ist nicht im Spiel gewesen, und der Dummejungenstreich lohnt das Erzählen nicht. Es hat in den Befreiungskriegen manch einer sich noch unter preußischen Fahnen Lorbeeren geholt, dem es unter dem Alten einst nicht besser ergangen war. Leberecht Blücher ist auch darunter gewesen. Aber solches Glück hatte dem Leutnant von Vellin nicht geblüht. Arm wie eine Kirchenmaus hat er seinen adligen Degen in eine sächsische Scheide gesteckt und unter Friedrich August sein Heil versucht.
Bei Jena hat er noch einmal Seite an Seite mit seinen alten Kameraden fechten dürfen, dann mußte er's Stirn gegen Stirn. Wie es in seinem Herzen rumort hat, als die Sachsen gegen die Preußen zogen, danach hat niemand gefragt. Der sächsische König hat befohlen, und der sächsische Offizier hat seine Schuldigkeit getan. Damit basta. Viel Dank hat er nicht gehabt, aber ein langsames Avancement. Als Graukopf noch hat der Pommer die abgetragenen Hauptmannsepauletten auf den Schultern gehabt.
Da ist der Völkerfrühling 1813 mit Macht über die deutschen Lande gekommen. Und auch in dem alten Pommernherzen sind wuchernde Triebe aufgegangen, aber sie haben mehr als Dornen getragen, die ihm inwendig die Brust zerstachen. Nicht einmal die Gedankensünde hat er sich durchgehen lassen, auf die Niederlage seines Königs zu hoffen. Und als er das brennende Gefühl doch nicht in sich austreten konnte, hat er's wie ein Brandmal auf seiner Soldatenehre empfunden. Niemand hat ihm ansehen können, daß er im Innern ein Rebell gegen den König war, auf dessen Fahnen er eingeschworen war. Ingrimmig hat der baumstarke Mann seine Pflicht auf dem Stiernacken getragen und hat seinem Herzen kein gutes Wort gegönnt. So ist's gekommen, daß die anderen, denen das Blut die rebellischen deutschen Wünsche skrupelloser durchs Herz trieb, sich vor ihm verschlossen. Und als es vor Leipzig nach den Stürmen der ersten Schlachttage in den Lagerfeuern abgekartet wurde, daß man mitten im Feuer zu den deutschen Brüdern übergehen würde, wenn der Herrgott günstige Stunden auf der Schlachtenuhr zeigte, hat kein Raunen den Weg zu seinem Ohr gefunden. »Den Vellin müssen wir mitreißen oder umreißen«, hat einer der Kameraden von ihm gesagt. Der verschlossene Mann galt allen als Preußenfresser.
So hat der Hauptmann von Vellin andern Tags vor Paunsdorf gelegen und seine Pflicht getan. Ein großer Schlachtengott ist er sein Lebtag nicht gewesen und die tosende Sprache der Völkerbrandung in der weiten Ebene hat er nicht deuten können. Ihm genügten die paar Quadratfuß Erde, auf die ihn Pflicht und Ehre stellten, und dort stand er breitbeinig und ohne zu wanken. Daß es in ihm immer wilder und wilder tobte, konnte ihm keiner ansehen. Er vermochte sich's wohl nicht mehr zu verheimlichen, daß er keinen glühenderen Wunsch habe, als daß jetzt, jetzt ein preußischer Grenadier mit rauschender Fahne über seine Brust vorwärtsstürme, aber er hätte mit Bärenfäusten um die Adlerstandarte für seine Soldatenehre gerungen. Mit aufeinandergebissenen Zähnen feuerte er unermüdlich und wild seine Sachsen zum äußersten an. – –
Da plötzlich brach das Unerhörte unvorbereitet und betäubend über ihn herein. Das Feuer der sächsischen Linien schwieg. Die Musikkorps spielten. Die Offiziere sprengten vor die Front. Kommandos klangen. Die Reihen schwenkten ein wie zur Parade. Die Gespanne rissen die Geschütze aus den Verschanzungen. Die sächsischen Bataillone gingen mit fliegenden Fahnen zu den Befreiern Deutschlands über. Der Hauptmann von Vellin preßte die Fäuste krampfhaft gegen die Brust. Er verstand nicht, was um ihn her vorging. Irgend jemand schrie neben ihm: »Vorwärts für Deutschland!« Irgend jemand riß ihn am Arm vorwärts. Da klang der Ruf wieder. Tausende schrien ihn stürmisch, trotzig und jauchzend in das Getümmel.
Nun verstand er. Alles Blut schoß ihm zu Kopfe. Aber er wehrte sich nicht. Taumelnd wie im Traum schritt er vorwärts. Er fühlte die Erlösung. Er konnte sie fühlen, weil er sie nicht gerufen hatte. Sie war da und vergewaltigte ihn. Er desertierte nicht. Etwas Gewaltiges begab sich, das der Einzelne nicht verantwortete. Ein Einzelner kann desertieren, hier war kein Einzelner. Hier waren Tausende. Hier war ein Volk. Ein Volk desertiert nicht. Ein Volk hält Gottesgericht. – –
»Vorwärts für Deutschland!« Wie ein Rausch kam es über den Graukopf. Er übersah nicht, was sich zutrug. Das Ereignis wuchs ihm ins Riesengroße, Ungemessene. Ein Elementarereignis brach über die Franzosen herein wie eine Sintflut oder ein Erdbeben – ungerufen, ungeachtet und unwiderstehlich.
Der Hauptmann von Vellin war mit einem Mal wieder jung. Er war nicht mehr der sächsische Hauptmann. Dort flogen die preußischen Adler durch Rauch und Blut. »Vorwärts für Deutschland!« Der Leutnant des großen Friedrich war erwacht und hatte den sächsischen Hauptmann niedergerissen. Mit wildklopfenden Pulsen ließ er sich vorwärtstreiben.
Da kamen die Tausende vor Bennigsens Linien ins Stocken. Adjutanten sprengten herüber. Ein hoher Offizier preschte heran. War er ein Preuße? Ein Russe? War es Bennigsen selbst? Sein Arm fuhr mit befehlshaberischer Geste durch die Luft. Kommandoworte schallten. Ein Ruck ging durch die zusammengedrängten Reihen der Sachsen. Ein Murmeln lief durch die Massen. Erregt, zornig, entrüstet, erbittert klangen hundert Stimmen durcheinander.
Was ging da vorn vor?
Der Hauptmann von Vellin stürzte vor. Leidenschaftlich erregt drängte er sich in den Kreis der Kommandierenden. Was ging hier vor?
Da hörte er ein paar Worte. Nur ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Worte, aber sie sagten alles. Ein sächsischer Major hatte sie gesprochen und zornig dabei die Degenscheide auf die Erde gestoßen: »Sind wir Hundsfötter!? Hinter die Linien? Nicht mitkämpfen dürfen – es ist ...«
Hauptmann von Vellin hörte nichts weiter. Alles verschwamm um ihn. Er wußte genug. Man achtete sie nicht wert, Seite an Seite mit ehrlichen Soldaten zu kämpfen. Sie waren Überläufer, Ausreißer, kriegsgefangene Deserteure, Hundsfötter ...
Er fühlte keinen Augenblick etwas von dem wogenden Zorn, der in den andern aufschwoll. Er empfand die Beschimpfung, den Schlag ins Gesicht wie sie, aber es peitschte ihn nicht auf, es zerschmetterte ihn. Jäh ernüchtert fühlte er die Züchtigung, gegen die er wehrlos war wie ein Schandbube vor dem Büttel.
Der wilde, tolle Traum war vorüber. Es war kein Volk mehr um ihn, das Gottesgericht hielt. Die brausende, gewaltige Masse schmolz zu einem Trüpplein zusammen. Ein paar tausend Gefangene, weiter nichts. Der Leutnant des alten Fritz war wieder ins Nichts zerblasen. Hier war nur noch ein ehrvergessener sächsischer Offizier, den man hinter die Kombattanten abschob.
Der Hauptmann von Vellin fühlte, wie etwas Furchtbares, Tödliches sich aus seiner innersten Brust fressend heraufwühlte. Die Schande packte ihn mit klammernden Fäusten an der Kehle und erwürgte ihn. Ein widerwärtiger Blutgeschmack quoll in der Gurgel auf. Keuchend krallte er mit beiden Händen in den Uniformkragen, sich Luft zu schaffen. Nacken und Gesicht waren blutrot und gedunsen. Taumelnd brach der mächtige Mann in sich zusammen und schlug krachend, im Sturz Degen und Scheide zerschmetternd, zu Boden. Ein paar Kameraden hoben ihn auf und trugen ihn hinter Bennigsens Linien zurück. Das Gesicht des Hauptmanns war aschfahl, fast schwarz, als stünde unter der Haut geronnenes Blut. Vergebens suchte der Feldscher nach einer Verwundung. Ein Schlaganfall hatte den Riesen niedergeworfen.
Der Hauptmann von Vellin lebte nur noch auf, um als Krüppel hinzusiechen. Er blieb Zeit seines Lebens gelähmt.