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Die Eiszeit

Einen sehr bedeutenden Einfluß auf die Verteilung der heutigen Tierwelt hat die Eiszeit mit ihren Folgeerscheinungen gehabt, obgleich es verkehrt ist, nun alles auf sie zurückführen zu wollen, wir wissen aus der Erdgeschichte, daß Europa sich zur Tertiärzeit eines außerordentlich milden, subtropischen Klimas erfreute, und aufgefundene Versteinerungen beweisen uns, daß damals, z. B. im Pariser Becken, bunte Papageien sich auf rauschenden Palmenwipfeln schaukelten. Dann aber trat eine starke Abkühlung ein, die weithin alles Leben vernichtete oder verdrängte und in den Sagen aller Völker als »Sintflut« wiederkehrt. Schweden und Finnland hüllten sich in einen Eispanzer, und von da aus drangen die Gletscher siegreich nach Mitteleuropa vor bis zum Harz und zum Riesengebirge, wo mir noch heute das von ihren Endmoränen abgesetzte Felsgeröll antreffen. Ebenso setzten sich die Gletscher unserer Hochgebirge in Bewegung und bedeckten von den Hochalpen aus die ganze Schweiz und Süddeutschland bis zum Jura sowie einen großen Teil der lombardischen Ebene. Damals kamen im Gefolge der Kälte so ausgesprochen nordische Tiere wie Vielfraß, Polarfuchs und Renntier nach Deutschland, und die Gemsen, Steinböcke und Murmeltiere der Alpen stiegen in die Ebene hinab. Die wärmegewöhnte tertiäre Tierwelt aber wurde durch diese wahrscheinlich dreimal wiederholten Eisvorstöße entweder vernichtet oder verdrängt, soweit sie sich nicht den so gründlich veränderten Verhältnissen anzupassen wußte. Die Abwanderung erfolgte naturgemäß nach zwei Seiten hin, nach Südwesten und nach Südosten, und so wurden viele Arten durch die wie ein Keil ins Herz Europas vordringenden Eismassen in zwei Stämme gespalten, die Jahrtausende hindurch völlig voneinander getrennt blieben. Während dieser Zeit wirkten auf jeden Stamm die Einflüsse der neuen Heimat ein, die also auch verschiedenartige Abänderungen hervorrufen mußten. Beim späteren Zurücktreten und Abschmelzen der Eismassen rückten dann die Verdrängten von beiden Seiten her auf verschiedenen Wegen allmählich wieder in die alten Wohngebiete ein und mußten hier schließlich wieder mit den früheren Artgenossen zusammentreffen. Nun kam es darauf an, wie weit die durch die Isolierung und durch die Eigenart der neuen Heimat bewirkten Veränderungen schon vorgeschritten waren. Waren sie so stark geworden, daß darüber die gegenseitige geschlechtliche Anziehungskraft verloren gegangen war, so daß eine geschlechtliche Vermischung trotz räumlicher Wiedervereinigung nicht mehr oder nur ausnahmsweise stattfand, so hatten sich neue Arten (Realgattungen, Formenkreise) gebildet. Ein gutes Beispiel dafür ist unser Baumläufer, der durch die Eiszeit in zwei Arten gespalten wurde, nämlich den langkralligen und kurzschnäbligen Waldbaumläufer (Certhia familiaris) und den kurzkralligen und langschnäbligen Gartenbaumläufer (Certhia brachydactyla), die jeder für sich wiederum verschiedene geographische, in den einzelnen Teilen des Verbreitungsgebietes sich vertretende Rassen bilden. Beide Arten leben heute in Deutschland neben- und untereinander, ohne sich aber zu vermischen. Waren dagegen die Veränderungen so geringfügig, daß die Tiere bei ihrem Wiederzusammentreffen auch geschlechtlich sich wieder vermischten und fruchtbare Bastarde erzeugten, so ist die Art als solche geblieben, und es sind nur verschiedene Rassen (conspecies) von ihr entstanden. Dies ist z. B. der Fall bei unserer Schwanzmeise, die im Osten eine rein weißköpfige, im Westen eine streifenköpfige Form ausgebildet hat, während Mitteldeutschland von einem Mischmasch aller nur erdenklichen Bastardabstufungen zwischen beiden bewohnt wird (Abb. 5).

Abb. 5

I. Weißköpfige Schwanzmeise aus Ostpreußen
II. Streifenköpfige Schwanzmeise aus der Rheingegend
III. Mischling von I und II aus Mitteldeutschland

Bezeichnend ist auch, daß die einem rauheren Klima ausgesetzte Ostform ein viel dickeres und pelzartigeres Gefieder hat als die Westform. Bei manchen Arten ist die Wiederverschmelzung schon vollständig geworden, so daß nur noch die starke individuelle Variation des Gefieders die ursprünglich getrennten Stammeltern verrät. So ist unser heutiger Mäusebussard meiner Meinung nach aus der Verschmelzung einer weißlichen Ost- und einer bräunlichen Westform hervorgegangen. Unverfälschte Reste der westlichen Stammform (Buteo vulgaris insularum Floer.) fand ich noch auf den Kanarischen Inseln, wo sie sich infolge der Absonderung reinblütig erhalten konnten. Bei der schwarzen Raben- und der grauen Nebelkrähe vollzieht sich derselbe Prozeß gerade in der Gegenwart, sozusagen vor unseren Augen. Solche Tiere nun, die sich dem sibirischen Klima der Eiszeit angepaßt und zwischen den beiden großen Gletscherwelten ausgeharrt hatten, fühlten sich bei der Rückkehr der Wärme natürlich wenig behaglich und zogen sich deshalb in die Gebirge zurück, wo die Verhältnisse doch noch einigermaßen den angenommenen Lebensgewohnheiten entsprachen. Als die Gletscher vollends weggeschmolzen waren, blieben sie als Überbleibsel der Eiszeit auf ihren Bergen vereinsamt sitzen und bilden heute die sogenannte Reliktenfauna. Hierher gehören z. B. der Schneehase und das Schneehuhn der Alpen sowie gewisse Platt- und Schnurwürmer der schweizerischen Seen, wohl auch der schöne Apollofalter mit seinen vielen Abarten (Abb. 6). Man hat freilich auch viele Tiere zu Eiszeitrelikten zu stempeln versucht, die es in Wirklichkeit gar nicht sind, sondern die ihre Eigenart lediglich durch Anpassung an besondere Verhältnisse der Umwelt erworben haben.

Abb. 6. Verbreitung des Apollofalters
Nach R. F. Scharff

Man beachte die Beschränkung auf Gebirgsgegenden


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