Gorch Fock
Seefahrt ist not!
Gorch Fock

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Vierter Stremel

1887 schreiben wir, und die Hochseefischerei unter Segeln steht in Sommerblüte. Finkenwärder hat seinen Gipfel erreicht und ist Baas auf See.

300 Ewer und Kutter nennt die Elbe ihr eigen, von denen 187 zu Finkenwärder beheimatet sind und ein H. F. auf den braunen Segeln tragen, 83 reedern mit S. B. und griesen Segeln nach Blankenese, der Rest gehört dem Lüneburgischen Finkenwärder, dem Kranz, dem Mühlenberg und der Teufelsbrücke.

Die das Land mit Fischen versorgen, sind die Mewes und Külper von Finkenwärder und die Breckwoldt und von Appen von Blankenese. Sie liefern Hamburg und Bremen, Oldenburg und Glückstadt, Geestemünde und Tönning ihre Schollen und Zungen und fangen wintertags so viele Heringe, daß halb Holstein und Hannover damit gedüngt werden könnten, sie sind die Könige der Nordsee, die man in Dänemark so gut wie in Holland und England kennt, denn es macht ihnen nichts aus, bei Südwind einmal nach Esbjerg zu segeln oder bei Nordwind nach Jimuiden oder bei Ostwind nach London.

Wohl haben sie auf der Weser schon einen Fischdampfer, die kleine Sagitta, aber unsere Fahrensleute lachen noch über den »Smeukewer«, wenn sie ihm begegnen. Wohl sind schon die Zeiten vorbei, daß nur Finkenwärder auf Finkenwärder und Blankeneser auf Blankeneser Schiffen fahren, sie müssen sich schon mit Butenländern behelfen. Aber dennoch steht die Sonne von Finkenwärder auf der Mittagshöhe, und seine Segel beschatten die ganze See.

Wir grüßen euch, ihr hundertsiebenundachtzig Schiffe, als wenn ihr noch alle am Leben wärt!

 

Klaus Störtebeker hatte es am anderen Morgen ganz verteufelt eilig. Er mußte Brot vom Bäcker holen und Proviant vom Krämer, mußte einen Schinken aus der Rauchkammer herabschleppen (denn Klaus Mewes tat die erste Ausfahrt nicht ohne einen Schinken, obgleich man am Deich meinte, der Schinken dürfe nur beim ersten Kuckucksruf angeschnitten werden), er trug die Kruken mit Weiß- und Schwarzsauer, die Beutel mit Strümpfen und Unterhosen nach dem Bollwerk und quälte sich mit Vaters Seestiefeln und seinem Ölzeug ab wie Roland mit seines Vaters Waffen, aber es machte ihm Spaß, und er vergaß seinen Kummer darüber, daß er noch an Land bleiben sollte.

Als alles bereit war, konnte er es aber doch nicht lassen, dem saumseligen Schuster noch mal die Wacht anzusagen. Der Hans Niedersachs von Finkenwärder, der ein Schelm war und einen Schalk als Gesellen hatte, sah ihn schon, als er die Treppe hinunterstieg, und sagte zu seinem Gesellen: »Kiek ut vör Störtebeker!«

Wir müssen nun freilich wissen, daß Klaus Mewes bei der Bestellung der Siebenmeilenstiefel für seinen Jungen heimlich gesagt hatte, es eile nicht, und vor Pfingsten brauchten sie nicht fertig zu sein, und daß Gesa hinterher bestimmt hatte, sie sollten erst im Herbst geliefert werden, wenn der Junge der unruhigen Witterung wegen nicht mehr mit nach See kommen könne; der Schuster tat deshalb nur, was ihm geheißen war, wenn er ihn vertröstete. Er hatte mit den Stiefeln übrigens noch nicht mal angefangen.

Als Störtebeker die Tür aufklinkte, saßen die beiden Pechräte tiefgebückt da, duckten sich hinter die großen Glaskugeln wie Verschwörer und klopften für fünfzehn, ohne aufzugucken.

»Schoster, sünd mien Stebeln klor?«

Der Schuster und sein Geselle klopften das Leder noch lauter und deftiger, daß die Fenster wie bei einem Gewitter klirrten, und taten, als könnten sie weder hören noch sehen.

»Schoster, wat mien Stebeln klor sünd?«

Störtebeker rief schon lauter, aber die beiden Pfriemenreiter stellten sich wieder taub und hämmerten, als wollten sie Stahl aus den Kuhhäuten machen. Dabei aber sahen sie einander heimlich an: Wat he nu woll upstillt?

Der Junge sah sich in der Werkstatt um. Da lagen die großen, langen Stiefel der Elbfischer, de güngen bit ant Gatt und waren größer als er selbst. Da standen die schweren, starken Seefischerstiefel, so gewaltig, daß er sich dahinter verstecken konnte. Da waren Bauernschuhe, so klotzig, daß er damit hätte über die Elbe schippern können, – aber Kniestiefel, die ihm zupaß waren, konnte er nicht dazwischen finden.

»Schoster, sünd mien Stebeln klor?« Er grölte es, so laut er konnte, aber die Schuster ließen sich in ihrer Klopferei nicht stören, denn sie wußten noch nicht, was sie diesmal sagen sollten: Sollten sie wieder über seine Seefahrt loslegen oder von seinem Kahn anfangen oder ihm ein paar linke Mannsstiefel anpassen? Störtebeker war ärgerlich geworden, er sah den Kram noch eine Weile an, dann drehte er sich um und lief hinaus.

»Nanu«, sagte der Meister und ließ das Hämmern. »Nanu«, sagte der Geselle und stellte auch den Betrieb ein. Aber ehe sie sich's versahen, sauste ein großer Mauerstein durch das Fenster, daß die Splitter flogen, zerschlug eine der Glaskugeln, daß das Wasser über den Tisch spritzte, und bumste schwer gegen die Wand.

»Nu hol mi noch mol förn Buern!« rief Störtebeker draußen, nahm seine Pantoffeln in die Hand und sauste auf Strümpfen davon wie ein gejagter Hase, hast du nicht, so kannst du nicht – bang bün ik ne, ober lopen kann ik fix! Der Schuster wollte ihm nach, aber ehe er soweit war, war der Junge schon längst über Heide und Zaun. Da lasen die beiden die Splitter auf, nagelten ein Stück Leder vor das Fenster und gelobten große Rache.

Störtebeker war weit genug gelaufen und zog seine Pantoffeln wieder an. Seine Strümpfe waren klatschnaß geworden, denn er hatte auf seiner Flucht zwar über alle Pfützen springen wollen, aber es war ihm nicht immer gelungen, und dann saßen sie auch voller Schlick. Er konnte sich zu Hause nicht damit sehen lassen, wenn er nicht eine Tracht Knüppelholz riskieren wollte, das war ihm klar. Und da kam er bei und kletterte den Stegel hinunter, setzte sich hinter eine dicke hohle Wichel, daß er vom Deich nicht wahrgenommen werden konnte, und wusch die Strümpfe im Graben, bis sie wieder rein waren, wrang sie aus und hängte sie zum Trocknen auf, sah den Sperlingen zu, bis die Strümpfe einigermaßen trocken waren und zog sie dann getrost an.

»Klor is de Käs!« sagte er zu den beiden kleinen Jungen, die ihm bewundernd zuguckten, und lief nach Hause. Jan Husteen, der Elbfischer, den sie seines Lieblingsessens wegen allgemein Jan Sturenzupp nannten, rief ihm nach: »Störtebeker, du kummst ne mihr mit, dien Vadder ist all weg!«

»Wat schull he woll?« rief der Junge erregt und lief schneller, aber er kam doch zu spät, denn das Haus war leer. Da war kein Vater mehr und kein Kap Horn, kein Hein Mück und kein Seemann. Sie waren schon alle an Bord, und als er verstört hinausrannte und Utkiek hielt, da sah er den Ewer schon bei Nienstedten unter Segeln treiben.

Er hätte brüllen mögen, so überkam es ihn. »Is Vadder all weg? Worüm hett he mi denn ne Adjüst seggt, Mudder? He wull mi doch Adjüst seggen!«

»Neem kummst du her, Junge? Neem büst du wesen?« fragte sie dagegen. »Wi hebbt di soveel ropen un allerwärts söcht! Vadder wull di so giern Adjüst seggen und hett noch en ganze Tied na di teuft

»Och wat!« gnitzte Störtebeker, der traurig und zornig war, »harr he denn ne noch en betjen stoppen kunnt? Ik bün jo man bloß eben langsen Diek ween! Vadder mütt mi doch Adjüst seggen, un ik mütt em ok doch Adjüst seggen! Dat geiht jo gorne anners, Mudder! Minschenkinners ne, wat ist dat ok doch all für Krom!«

Und er stand auf dem Deich und blickte mit dunkeln Augen und finsterem Gesicht nach dem Ewer, der mit glockenhellem Klippklang des Spills den Anker hievte und dann das Boot an Deck zog. Es wollte ihm nicht in den Kopf hinein, daß sein Vater fahren konnte, ohne ihm Adjüst gesagt zu haben, und er dachte: Wärst du doch bloß nicht nach dem Schuster gelaufen, dann hättest du deinen Vater noch gesehen!

Wirklich hatten sie mit allemann nach dem Jungen gerufen, als es Hochwasser werden wollte und die Zeit gekommen war, daß sie an Bord mußten. »Störtebeker! Störtebeker! Klaus! Klaus Mees!« schallte es über den Neß. Auch Kap Horn und Hein Mück riefen mit, und sogar der kluge Seemann gab ein kurzes Bellen drein, aber der Junge war nicht zu finden, auf keinem Bug lag er an und kam nicht und kam nicht. Da mußten sie endlich los, ohne ihn gesehen zu haben, wenn sie nicht die Tide verpassen wollten. Klaus und Gesa schieden aber mit Widerhaken im Herzen, die ihnen noch weh taten, denn er hatte sie im Verdacht, daß sie den Jungen weit weggeschickt habe, damit er nicht im letzten Augenblick noch mitgenommen werden könne. Sie dagegen konnte den Gedanken nicht loswerden, daß er den Jungen an Bord versteckt halte, um ihn doch mit nach See zu nehmen und dann nachher zu sagen, es habe nicht anders gemacht werden können. Das verbitterte ihnen den Abschied.

Als Gesa nun den Jungen wiederhatte und sah, daß sie ihrem Mann Unrecht getan hatte, kam die Reue über sie, und sie winkte vom Bodenfenster mit der großen Dweel, der leinenen Tischdecke, bis er es sah und seine deutsche Flagge dreimal grüßend dippte, denn sein Unmut war längst verweht, seitdem er wieder als Fahrensmann an Bord stand und seine Segel über sich hatte. Es war eine Lust zu fahren! In der weiten Runde, welch ein reges Leben, welch ein freudiges Arbeiten! Da war nicht ein Ewer, nicht ein Kutter, nicht eine Jolle, auf denen es still war: Überall eisten sie, trugen Segel und Proviant herbei, hievten die Anker, setzten die Segel, ließen die Gaffeln knarren und schipperten einer nach dem andern aus der großen Rinne, die schon ihren Namen bekommen hatte und Klaus Mees sien Lock hieß. Draußen ließen sie sich mit dem Ebbstrom treiben, denn es war windstill. Der erste aber war Klaus Mewes mit seinem Laertes, dem die deutsche Flagge von der Besan hing.

So güngen se up de Schullen dol.

 

Störtebeker stand noch auf dem Deich, als wenn er dort angewachsen wäre, sah nach dem Ewer, der unter der gründachigen Nienstedter Kirche kreuzte, und grübelte, ob es wohl darum so gekommen sei, weil er bange gewesen war. Da hatte er ja gleich die Strafe für seine Bangbüxigkeit: Er war nicht mitgekommen nach See, und sie hatten ihm nicht einmal Adjüst gesagt. Wäre er langsam nach Hause gegangen, so hätte er seine Strümpfe nicht auszuwaschen brauchen und seinen Vater noch gesehen.

Nu will ik ober gewiß ne mihr bang warrn! Ganz gewiß will ik nu ne mihr bang warrn! sagte er sich.

Die Mutter stand in der Tür. Der kleine Boitel dauerte sie. »Jä, Klaus, dor lett sik nu nix mihr an don. Herkieken kannst du em ne wedder! Nu sünd wi wedder den ganzen Sommer alleen!«

»To Sommer bün ik doch all mit an Burd«, sagte er mit halbem Vorwurf, ohne sich umzudrehen.

»Kumm man rin, weut Kaffee drinken.«

»Och, ik mag nix, Mudder!«

»Ik will di bi magnix! Gliek anto!«

Da mußte er sich geben, und als er erst in der Küche am Tisch saß, schmeckte es auch. Wann hätte es Klaus Störtebeker übrigens nicht geschmeckt? Nach dem Kaffee wusch sie ihm das Gesicht. Er hielt ausnahmsweise still, obgleich er sich schon selbst waschen konnte und genau wußte, daß sie es nur tat, um ihm dabei die Backen streicheln zu können. Als sie dann aber nach seiner Bunge fragte und nach der Krähe (denn sie hatte sich fest vorgenommen, sein Vertrauen zurückzugewinnen, wollte auch nicht mehr so streng gegen ihn sein, sondern versuchen, seine Kameradin zu werden), da ging er bald hinaus, denn diese Fragen schienen ihm recht verfänglich. So guckt der Spatz mißtrauisch vom Dach, wenn ihm Krumen gestreut werden.

Da, beim Schloß von Godeffroy – der guten Frau, wie es am Deich hieß – segelte der Ewer; viel weiter war er noch nicht gekommen, denn es war immer noch totenstill.

Störtebeker besann sich, daß er noch nicht gefüttert hatte. Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, auch wenn er Kummer hat. Er ging über die Wurt zum Hof und warf den Kaninchen Kartoffelschalen hinein, aber trotz seines wehen Herzens konnte er sich nicht enthalten, der Eve den Bauch zu befühlen, denn er wartete sehr darauf, daß sie jungen sollte, hatte er doch schon fünf Junge fest zugesagt: Hein Meier kriegte einen Bock und eine Eve, Peter Fock einen Bock, Hannis Külper und Jan Loop jeder eine Eve.

Dann bekam die Nebelkrähe ihren aufgeweichten Stuten. Der struppige Kluß schlug mit den Flügeln und quarkte vergnügt über das Fressen. Störtebeker faßte es aber anders auf und sagte betrübt: »Jä, Kluß, Vadder is nu no See hin und hett mi ne Adjüst seggt!«

Da sah er am Schauer seine Kreek stehen und dachte: Wenn du damit über das Eis pektest, ganz nach Blankenese hinunter, könntest du deinen Vater noch sehen und ihm Adjüst sagen. »Ik mütt un mütt em Adjüst seggen!« Er suchte die Pek hervor, nahm die Kreek auf den Nacken und schlich wie ein Indianer den Binnendeich entlang, damit die Mutter ihn nicht gewahr werden sollte. Als er weit genug war, kletterte er über den Deich, sprang vom Bollwerk auf das Eis und pekte sich über Rillen und Sickberge, an Waken und offenen Stellen vorbei nach dem Fahrwasser.

Vadder, ik komm!

 

Der Schuster war ein Schlauer. Er wartete ruhig ab, daß der Polizist auf seinem gewohnten Rundgang den Deich entlang kam. und schloß sich dann dem ahnungslosen Beamten unter harmlosen Gesprächen an. So dachte er, Klaus Störtebeker einen großen Schrecken einzujagen.

Aber er hatte seine Arbeit umsonst liegen lassen – der Vogel war nicht da. Die ängstliche Gesa suchte den Jungen im Keller und auf dem Boden, als sie ihn aber nicht fand, nahm sie an, daß er geflohen sei, ließ sich kopfschüttelnd die schlimme Tat berichten und bezahlte die Scheibe und die Kugel. Auch versprach sie dem Schuster, daß Klaus kommen und Abbitte tun solle, gab ihm noch ein Paar alte Stiefel zum Besohlen mit und brachte den Zwischenfall damit glücklich wieder in die Reihe.

 

»Adjüst, Vadder! Adjüst, Vadder!«

Klaus Mewes staunte nicht schlecht, als er seinen Jungen mit einem Mal auf dem Eis stehen sah, Dwars ab von Blankenese, hart am Rande des Fahrwassers. Störtebeker stand neben seiner Kreek, auf die Pek gestützt, und winkte.

»Wat kummst du hier her? Wat deist du up dat mörre Is?«

»Ik wull di noch Adjüst seggen, Vadder«, rief der Junge. »Du büst jo so fohrn.«

Kap Horn aber machte Weiberlärm: »Junge, Junge, wat kannst du wat moken, wo licht harrst du inne Wok oder innen Lock kommen kunnt!«

Aber Störtebeker sagte ruhig: »Dorför hett de Minsch doch Ogen, Kap Horn!«

Sein Vater ließ den Ewer in den Wind schießen und überlegte, was er tun sollte.

»Dat Is is so mörr as Tunner, dor güng ik gewiß ne mihr rup«, ließ Hein Mück sich vernehmen, aber Störtebeker rief: »Dat gläuf ik, du Bangbüx! Non, Adjüst, Vadder!«

»Kannst du ok wedder no Hus finnen, Junge?«

»Jo, dat is jo nix, Vadder!«

Kap Horn aber legte sich ins Mittel und sagte: »Umschicken kannst du em nich, Klaus, dat geiht nich. He kummt uns innen Lock un buddelt weg!«

»Dat hebb ik ok all dacht«, stimmte der Schiffer besorgt zu, denn auch er hatte kein Vertrauen mehr zu dem mürben Eis mit den zahllosen Löchern und den großen Wasserstellen; er konnte nicht begreifen, wie der Junge es überhaupt fertiggebracht hatte, so weit vorzudringen, bis an die ständig abbröckelnde Kante.

»Klaus, wat ik di seggen do: Dat sall so sien, dat ist Schicksol. De Jung sall mit no See! Nimm em mit!«

»Dat woll jüst ne«, lenkte Klaus ab. »Dat ist noch to kold buten, un Gesa weet dor ok jo nix van af. Ober an Burd weut wie em man mol hieven! Wi geeft em denn an en upkommen Fohrtüch af un schickt em seker no Hus. Boot vant Deck! Loop ne weg, Störtebeker, ik hol di!«

»Junge, Junge, jo, Vadder, dat do man!« frohlockte Störtebeker und dachte: Nu geiht dat mit en vullen Huroh no See!

Die Fahrensleute nahmen das Boot in die Taljen und fierten es ins Wasser. Klaus Mewes stieß es nach dem Eis hinüber, packte den Jungen samt der Kreek zwischen die Duchten und wriggte zum Ewer zurück.

Da war Störtebeker nun doch an Bord! Wie er sich freute, wie gesprächig er war, wie scharf er auf alles achtete! Zumeist stand er bei seinem Vater im Rudergang und half beim Steuern, sah aufmerksam auf Segel und Kompaß und hielt tapfer das Helmholz mit fest, dabei konnte er sich aber doch nicht enthalten, an den Streek zwischen Kirche und Apfelbaum zu erinnern: »Düt mokt ober söbenmol soveel Spoß, Vadder!«

Er ließ es sich sogar einfallen, beim Wenden »Ree« zu rufen und Hein Mück nach der Fock zu schicken, bis sein Vater es wie der holländische Kapitän machte, dem der große Friedrich in der Ems mit »Ree« zwischen sein Kommando kam, und sagte: »Mynheer, dat Ree kummt mi to!«

Als er genug gesteuert hatte, setzte er sich auf die Luken, zog Seemann an sich und ließ sich von Kap Horn und von seinem Vater alles verklären, was es zu sehen gab, während sie mit der Ebbe langsam elbabwärts kreuzten, wenn dieses Treiben noch den Namen Kreuzen verdiente. Da war Dockenhuden mit den vielen Tannenbäumen, da war Blankenese mit den vielen Ewern und dem hohen Süllberg, da war der Schweinesand mit seinen Wicheln, da war Hahnöfer mit den großen Bäumen, um die Hunderte von Krähen flogen, die dort ihre Nester hatten, da war Falkental mit dem Taucherdampfer, mit den Wracks und mit den zu Stein gewordenen Zementsäcken, da war Schulau mit dem Leuchtturm und dem Feuerschiff, dahinter Wedel mit dem Kirchturm und den roten Dächern, da war die Lühe mit ihrem hohen Deich – und von allem gab es Geschichten zu erzählen.

Als sie bis zur Lühe gekommen waren, wogte die Flut ihnen entgegen und zwang sie, vor Anker zu gehen. Großsegel und Besan konnten die fünf Stunden ruhig stehen bleiben, nur die Fock ließen sie fallen, und den Klüver nahmen sie weg. Klaus Mewes langte den Kieker aus dem Nachthaus und suchte den Strom nach bekannten Fahrzeugen ab, denen er seinen Jungen hätte mitgeben können, aber er konnte zunächst nur einige Dreuchewer und Jollen ausmachen, die nicht in Frage kamen.

So gingen sie in die Kajüte hinunter und setzten sich zum Kaffee nieder.

»Ik wull, dat geef brodte Schullen«, rief Störtebeker übermütig. »Dor verlangt mi eulich no!« Er ging aber auch dem Graubrot tüchtig in den Topp.

Klaus Mewes sah ihn an und freute sich seiner. Wenn Gesa Bescheid gewußt hätte, es wäre ihm von Herzen recht gewesen, den Jungen an Bord zu behalten. Aber so ging es nicht. Sie ängstigte sich ja zu Tode und suchte mit der Leuchte und mit der Harke, wenn er heute abend nicht heimkam.

Hein Mück dachte noch immer an die große, gefährliche Reise über das Eis, die Störtebeker gemacht hatte, und mit einem Mal sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen: »Junge, dat is jüst so as der Reiter und der Bodensee!«

Gotts den Donner – Klaus Mewes verschüttete den halben Kaffee, und Kap Horn blieb der Brotknust im Halse stecken, so verwunderte sie schließlich diese Rede ihres Speisemeisters. »Wat ist dat?« fragte der Schiffer.

»Och, nix.«

»Nix?«

»Ne, nix!«

»Ik will di gliek bi nix! Hier vertillst oder du warrst afmunstert, un Klaus Störtebeker ward uns Kock«, befahl Klaus.

»Och nix: Ik dach bloß an en Gedicht in uns Leesbook, dat is meist as Störtebeker sien Reis.«

»Upseggen!«

Hein Mück bekam einen roten Kopf. Das war eine schöne Tasse Tee! Hätte er doch nichts gesagt! Nun mußte er in seine Koje steigen und sein Lesebuch aus dem Stroh suchen.

Kap Horn konnte sich einen kleinen, freundlichen Hieb auf Klaus nicht verbeißen: »Jä, jä, Klaus Mees, du kiekst un wunnerst di woll, dat he sien Leesbok noch hett, wat? He hett dat nich so mokt as du. Du hest den lesten Dag jo all dien Beuker opfluckern loten, hest dor annen Westerdiek en grote Ostermoon von mokt!«

»Jo«, sagte Klaus Mewes, »ik wür son groten Döskupp: man god, wat de Jungens nu all en Deel kleuker sind. Non, denn legg los, Heinrich Mücke«, setzte er gemütlich hinzu, und der Koch las von dem Reitersmann, der über den zugefrorenen Bodensee geritten war, ohne es zu wissen:

»Den Reiter schaudert's, er atmet schwer:
Da hinten die Ebne, die ritt ich her.
Da recket die Magd die Arm' in die Höh:
Herrgott, so rittest du über den See!
An den Schlund, an die Tiefe bodenlos
Hat gepocht des rasenden Hufes Stoß!
Und unter dir zürnten die Wasser nicht,
Nicht krachte hinunter die Rinde dicht,
Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut,
Der hungrigen Hecht' in der kalten Flut?
Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär;
Es stellen die Knaben sich um ihn her,
Die Mütter, die Greise, sie sammeln sich:
Glückseliger Mann, ja segne du dich!
Herein zum Ofen, zum dampfenden Tisch,
Brich mit uns das Brot und iß vom Fisch!...«

Als der Junge fertig war, entstand eine kleine Pause im Ewer, obgleich Klaus Mewes der Schluß nicht recht gefallen wollte, denn hinterher vor Angst sterben, war nichts für ihn. Auch Störtebeker war still, so sehr wunderte er sich darüber, daß Hein Mück laut lesen konnte.

Dann stand sein Vater auf, klopfte dem Koch auf die Schulter und sagte anerkennend: »Du kannst god beden, Hein! Blief man giern betjen bi de Beuker. Wennt weiht, hest dor Tied genog to.« Damit stand er auf und ging an Deck, um wieder nach einer Fahrgelegenheit für seinen Jungen zu suchen. Und diesmal fand sie sich, obschon Störtebeker wünschte, es möchte kein einziges Schiff vorbeisegeln, damit er die Nacht und immer an Bord bleiben mußte.

Aber da kam Jan Külper mit seiner alten Jolle heraufgesegelt und drehte richtig bei, als Klaus Mewes ihn anrief und ihm die Sache verklarte. Jawohl, er nehme ihn gern mit, sagte Jan. Da kamen auch schon Kap Horn und Hein Mück an Deck.

Störtebeker sah, daß die Herrlichkeit vorbei war und er von Bord sollte. Tränen standen ihm in den Augen, als sein Vater ihn hinüberwriggte und Kreek und Pek an die Jolle übergab. Dann mußte er selbst übersteigen. »Adjüst, Störtebeker.«

»Jüst, Vadder!« Er konnte kaum sprechen, so traurig war er geworden, und hatte für Jan Külper keinen guten Tag und guten Weg.

»Greut Mudder man un segg man, wie kommt bald mit en Reis lebendige Schullen, hürst? Un to Sommer kummst du ok mit no See!«

»Jo«, sagte Störtebeker dumpf und dachte: Lot dien Snacken doch bloß no!

Klaus Mewes wriggte zurück, und Jan Külper ließ die Jolle schwoien. »Adjüst, Störtebeker!« riefen Kap Horn und Hein Mück, die auf den Luken standen, aber der Junge starrte ins Wasser und gab keine Antwort mehr. Er war ganz krank und wollte nichts hören und sehen. Er wollte auch den Ewer nicht mehr angucken. Jan Külper hatte gedacht, einen munteren Fahrtgenossen zu bekommen, der ihm den langen Weg verkürze, aber Störtebeker blieb ein trübseliger Maat und blickte während der ganzen Fahrt bis nach Finkenwärder hinauf starr ins Wasser.

»Warr man ne seekrank, Störtebeker«, sagte der Elbfischer einmal.

»Dor quäl di man ne üm!«

»Sutje, mien Jung, anners kriegst du de Utsettung«, drohte der Fischer.

»Smiet mi doch ober Burd, wenn mi ne mihr mithebben wullt«, rief der Junge patzig. Da goß Jan ihm zur Strafe ein Euschfatt voll Wasser über den Kopf.

Mit der hereinbrechenden Dämmerung kamen sie in Finkenwärder an. Am Köhlfleet, eben hinter der Königsbake, setzte Jan seinen mürrischen Passagier an Land. Störtebeker nahm seine Kreek auf den Buckel, die Pek in die Hand und ging den dunklen Deich entlang zum Neß.

Als er bei Gerd Eitzen um die Huk bog, hörte er seine Mutter schon rufen:

»Klaus! Klaus! Klaus!« Und er sah, daß Leute bei ihr standen. Auch sein Großonkel, der alte Jäger, den er oft wochenlang nicht sah, war auf dem Deich.

»Klaus! Klaus! Klaus! Neem schull de Jung doch woll bloß ween?«

»Hier is he!«

»Woneem, woneem?«

»Hier uppen Diek, Mudder!«

Da lief sie ihm entgegen, laut aufschreiend, und nahm ihn bei der Hand, führte ihn in die Stube und fragte, wo er gesteckt hätte. Und als er seine Reise über das Eis und seine Fahrt mit dem Ewer die Elbe hinunter und mit der Jolle die Elbe herauf verklart hatte, ohne jede kindliche Übertreibung, denn er hielt sich an das Wort seines Vaters: Eulich wat beleben, denn brukt en ok ne to legen, da warf die Mutter sich schluchzend auf den Tisch und sagte: »Haut ji em, Unkel, haut ji em. Ik kannt ne!«

»Hebben mütt he wat«, erklärte der verbissene und durch das viele Rufen gereizte Alte.

»Du kannst mi haun, Mudder, ober van Korl-Unkel lot ik mi ne haun«, sagte Störtebeker mit blitzenden Augen. Doch der alte Jäger, den das Schreien aus dem Schlaf gerissen hatte, knurrte grimmig: »Wat? Van mit lettst du di ne haun, du Kosak? Dat weut wi doch mol wies warrn!«

Erst wollte Störtebeker sich wehren, wollte hinauslaufen, dann aber war ihm auch das einerlei. Mochte er ihn tothauen, wie Jan Külper ihn über Bord werfen wollte. Unbeweglich blieb er stehen und ließ sich schlagen, ohne zu zucken oder zu schreien. Nur seine Augen funkelten: Dat ward ne vergeten! Diese Ruhe brachte den Alten noch mehr auf, und er schlug ihn ärger. Da warf sich aber die Mutter dazwischen und drängte die beiden auseinander, denn sie wußte, daß der Trotz des Jungen nicht zu brechen war, daß er sich lieber krumm und lahm prügeln ließ, ehe er einen Laut von sich gab.

»Lot em man, Unkel, lot em man! Goht man wedder uppen Bitt, ik will woll alleen mit em klor warrn«, bat sie dringend. Der Alte ging mit einem bösen Blick hinaus und brummte noch auf der Diele.

Ungerührt ließ Störtebeker sich die Geschichte von dem Schuster vorhalten. »Dat betjen Hoveree«, sagte er verächtlich. »Wat he dor son Larm üm moken mag! Harrst em dat Gild jo man ut mien Sporputt geben kunnt!« Abbitte aber täte er nicht. Der Schuster hätte ihn zum Narren gehalten und hätte selbst schuld, daß ihm das Fenster eingeworfen worden sei.

Nach dem Abendessen zog er sich aus und legte sich zu Bett. Nach dem langen, ereignisreichen Tag schlief er schnell ein. Er dachte noch: Wenn ik irst an Burd bün, denn haut mi keenen mihr: Vadder litt dat ne as Mudder. Dann sang der Schlafschiffer mit ihm ab.

Wie seelenruhig er schlief, als die Mutter an sein Bett schlich und ihm in das stille braune Gesicht sah! Lange Zeit sah sie ihn an und bat ihm ab, daß sie ihn hatte schlagen lassen, denn der kleine Kerl konnte ja nicht anders flöten, als sein wilder, lachender Vater es ihn gelehrt hatte. Die Mutterliebe wallte heiß in ihr auf. Sie beugte sich über ihn und küßte ihm den festgeschlossenen Mund. Bei Tag hätte sie das nicht tun dürfen, er hätte sich mit Händen und Füßen gesträubt gegen solchen Kinderkram, wie er es nannte, und wäre lieber aus dem Fenster gesprungen, als daß er ihr einen Süßen gegeben hätte.

»Mien Jung büst du doch«, flüsterte sie zärtlich und strich ihm über das Haar. Da regte er sich und sagte halblaut: »U, Vadder, kiek mol dat grote Schipp!«

Gesa schlich in die Küche zurück und dachte schmerzlich: Er steht schon wieder bei seinem Vater an Bord – und du, Gesa?


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