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Landschaft

Von Gravesend bis London

Das ist die englische Küste! Durch den Morgennebel schimmern die Türme von Yarmouth. Ein gut Stück Weges noch in der Richtung nach Süden und die Themsemündung liegt vor uns. Da ist sie: Sheerneß mit seinen Baken und Tonnen taucht auf. Nun aber ist es, als wüchsen dem Dampfer die Flügel, immer rascher schlägt er mit seinen Schaufeln die hochaufspritzende Flut, und die prächtige Bucht durchfliegend, von der man nicht weiß, ob sie ein breiter Strom oder ein schmales Meer ist, trägt er uns jetzt, an Gravesend vorbei, in den eigentlichen Themsestrom hinein.

Alles Große wirkt in die Ferne: wir fühlen ein Gewitter lange bevor es über uns ist; große Männer haben ihre Vorläufer, so auch große Städte. Gravesend ist ein solcher Herold, es ruft uns zu: »London kommt!« und unruhig, erwartungsvoll schweifen unsere Blicke die Themse hinauf. Des Dampfers Kiel durchschneidet pfeilschnell die Flut, aber wir verwünschen den saumseligen Kapitän: unsere Sehnsucht fliegt schneller als sein Schiff, – das ist sein Verbrechen. Und doch lebt London schon rings um uns her. Gravesend liegt nicht im Bann von London, aber doch in seinem Zauberbann. Noch fünf Meilen haben wir bis zur alten City, noch an großen volkreichen Städten müssen wir vorbei, und doch sind wir bereits mitten im Getriebe der Riesenstadt; Greenwich, Woolwich und Gravesend gelten noch als besondere Städte, und doch sind sie's nicht mehr; die Äcker und Wiesen, die zwischen ihnen und London liegen, sind nur erweiterte Hydeparke. Von Smithfield nach Paddington, quer durch die Stadt hindurch, ist eine schlimmere Reise wie von London-Bridge bis Gravesend; nicht mehr Miles-end ist die längste Straße Londons, sondern der prächtige Themsestrom selbst: statt der Cabs und Omnibusse befahren ihn Hunderte von Booten und Dampfern, Greenwich und Woolwich sind Anhaltepunkte und Gravesend ist letzte Station.

Der Zauber Londons ist – seine Massenhaftigkeit. Wenn Neapel durch seinen Golf und Himmel, Moskau durch seine funkelnden Kuppeln, Rom durch seine Erinnerungen, Venedig durch den Zauber seiner meerentstiegenen Schönheit wirkt, so ist es beim Anblick Londons das Gefühl des Unendlichen, was uns überwältigt – dasselbe Gefühl, was uns beim ersten Anschauen des Meeres durchschauert. Die überschwengliche Fülle, die unerschöpfliche Masse – das ist die eigentliche Wesenheit, der Charakter Londons. Dieser tritt einem überall entgegen. Ob man von der Paulskirche oder der Greenwicher Sternwarte herab seinen Blick auf dies Häusermeer richtet, ob man die Citystraßen durchwandert und, von der Menschenwoge halb mit fortgerissen, den Gedanken nicht unterdrücken kann, jedes Haus sei wohl ein Theater, das eben jetzt seine Zuhörerschwärme wieder ins Freie strömt – überall ist es die Zahl, die Menge, die uns Staunen abzwingt.

Überall! aber nirgends so wie auf der großen Fahrstraße Londons – der Themse. Versuche ich ein Bild dieses Treibens zu geben. Gravesend liegt hinter uns, noch sehen wir das Schimmern seiner hellen Häuser und schon taucht Woolwich, die Arsenalstadt, vor unsern Blicken auf. Rechts und links liegen die Wachtschiffe; drohend weisen sie die Zähne, hell im Sonnenschimmer blitzen die Geschütze aus ihren Luken hervor. Vorbei! Wir haben nichts zu fürchten: Alt-Englands Flagge weht von unserm Mast; friedlich nur dröhnt ein Kanonenschuß über die Themse hin und verhallt jetzt in den stillen Lüften der Grafschaft Kent. – Weiter schaufelt sich der Dampfer, an Ostindienfahrern vorbei, die jetzt eben mit vollen Segeln und voller Hoffnung in Meer und Welt hinausziehen; seht, die Matrosen grüßen und schwenken ihre Hüte! wenn wieder Land unter ihren Füßen ist, so ist es des Indus oder des Ganges Ufer. Glückliche Fahrt. Und jetzt, ein Invalidenschiff sperrt uns fast den Weg, Alles daran ist zerschossen, – es selbst und seine Bewohner. Ein Dreidecker ist's; seine Kanonenluken sind friedliche Fenster geworden, hinter denen die Sieger von Abukir und Trafalgar, die alte Garde Nelsons, ihre traulichen Kojen haben.

Aber lassen wir die Alten! das junge, frische Leben jubelt eben jetzt an uns vorüber. Eine wahre Flottille von Dampfbooten, eine friedliche Scherenflotte, nur heimisch im Themsefahrwasser, kommt unter Sang und Klang den Fluß herunter. In Gravesend ist Jahrmarkt oder ein Schifferfest, da darf der Londoner Junggesell, der Kommis und Handwerker nicht fehlen; die halbe City, scheint es, ist flügge geworden und will in Gravesend tanzen und springen und sich einmal gütlich tun nach der Melodie des Dudelsacks. Kein Ende nimmt der Festzug: bis hundert hab ich die vorbeifliegenden Dampfer (die keine Masten und nur einen hohen eisernen Schornstein in der Mitte tragen) gezählt, aber ich geb es auf: sie sind eben zahllos. Und welche Jagd! wie beim Wettrennen suchen sich die einzelnen zu überholen; eine nordische Regatta ist es; welche prächtige Lagune, diese Themse – welch flüchtige Gondel jedes keuchende Boot! Greenwich taucht auf vor uns, immer reger wird das Leben, immer bunter der Strom; – wie wenn Ameisen arbeiten, hier hin – dort hin, rechts und links, vor und zurück, aber immer rastlos, so lebt und webt es zwischen den Ufern. Noch haben wir kein Wort Englisch gehört, und schon haben die Spiegel und Flaggen der vorbeisausenden Schiffe einen ganzen Sprachschatz vor uns aufgeschlagen; wie in Blättern eines Riesenlexikons hätten wir darin lesen können. Noch hat unser Fuß London nicht betreten, noch liegt es vor uns, und schon haben wir ein Stück von ihm im Rücken, – auf hundert Dampfbooten eilte es an uns vorbei. Die Bevölkerung ganzer Städte ist ausgeflogen aus der einen Stadt, und doch die Tausende, die ihr fehlen, – sie fehlen ihr nicht. – Was ein Stück Infusorienerde unter dem Ehrenbergschen Mikroskop, das ist London vor dem menschlichen Auge. Zahllos wimmelt es; man gibt uns Zahlen, aber die Ziffern übersteigen unsere Vorstellungskraft. Der Rest ist – Staunen.

Straßen, Häuser, Brücken und Paläste

London ist nicht das, was man eine »schöne Stadt« nennt. Es hat nichts aufzuweisen, was sich unserm Opernplatz oder gar dem Place de la Concorde in Paris vergleichen ließe. Die Zahl seiner durch Schönheit ausgezeichneten Gebäude steht in keinem Verhältnis zu der Zahl seiner Häuser überhaupt. Auch das Haus des Privatmannes bleibt äußerlich hinter dem zurück, was die Mehrzahl unsrer Straßen dem Auge zu bieten pflegt. Namentlich in der City und mehr noch in jenem volkreichen Stadtteil, der den Namen der »Tower-Hamlets« führt, finden sich zahlreiche Gassen, auf die das Wort jenes spöttelnden Franzosen noch immer paßt, der ganz London mit kreuz und quer gebauten Mauerlinien verglich, drin sich große und kleine Löcher statt der Türen und Fenster befänden.

Unsre Häuser weichen in Bau und Einrichtung mehr oder minder voneinander ab; es dürfte schwer fallen, auch nur ein halbes Dutzend zu finden, die sich vollständig glichen. In London ist es umgekehrt. Ganze Stadtteile bestehen aus Häusern, die sich so ähnlich sehn wie ein Ei dem andern. Es ist mithin nichts leichter, als das »englische Haus« als Kollektivum zu beschreiben. Das englische Haus hat zwei oder drei Fenster Front, ist selten abgeputzt, meist durch ein Eisengitter von der Straße getrennt und hat ein Souterrain mit der Küche und den Räumlichkeiten für das Dienstpersonal. Parterre, und zwar nach vorn heraus, befindet sich das Sprech- oder Empfangzimmer (Parlour), dahinter ein Sittingroom, in dem das Diner eingenommen zu werden, auch wohl der Hausherr seine Times zu lesen und sein Nachmittagsschläfchen zu machen pflegt. Die teppichbedeckte Treppe führt uns in die Drawingrooms zwei hintereinander gelegene Zimmer von gleicher Größe, beide durch eine offenstehende, scheuntorartige Tür in stetem Verkehr miteinander. Hier befindet sich die Dame vom Hause; hier streckt sie sich auf diesem bald und bald auf jenem Sofa; hier steht der Flügel, auf dem die Töchter musizieren; hier sind die cup- und china-boards (offene Etageren mit chinesischem Porzellan); hier stehn Humes Werke und Addisons Essays in endloser Reihe; hier hängen die Familienporträte; hier sitzt man um den Kamin oder am Whisttisch und beschließt den Tag in stillem Geplauder beim Tee oder im lauten Gespräche, wenn die Gentlemen das Feld behaupten und ihren selbstgemischten Nachttrunk nehmen. – In der zweiten Etage sind die Schlafzimmer, – noch eine Treppe höher die Wohn- und Arbeitszimmer für die Kinder, auch wohl ein Gastbett für Besuch von außerhalb.

So sind Hunderttausende von Häusern. Ihre Einförmigkeit würde unerträglich sein, wenn nicht die Vollständigkeit dieser Uniformität wieder zum Mittel gegen dieselbe würde. In vielen Fällen wird nämlich von den Bauunternehmern nicht ein Haus, sondern ein Dutzend gleichzeitig und nebeneinander aufgeführt, wodurch diese Gesamtheit von Häusern oftmals das Ansehn eines einzigen großen Gebäudes gewinnt. Gesellt sich dann noch an jener Stelle, wo die einzelnen Häuser aneinander grenzen, eine säulenartige Fassade oder gar an den ersten Etagen entlang ein zierlicher Balkon hinzu, so werden hier und da Resultate erzielt, die sich dem nähern, was unsere hübschesten Straßen aufzuweisen haben.

Eins aber haben Londons Straßen und Häuser vor uns voraus, das ist ihre äußerste Sauberkeit. Man gewahrt dies nicht ohne ein Gefühl der Beschämung, wenn man dabei des Schmutzes gedenkt, der namentlich zur Winterzeit in unsern Straßen souverän zu herrschen pflegt und sich auftürmt, als sei das so sein Recht. Jedes Londoner Haus hat bis in seine zweite und dritte Etage hinauf den unschätzbaren Vorteil eines nie mangelnden Wasserstroms, der ihm, nach Gefallen, aus Dutzenden von Röhren entgegenströmt. Alles schmutzige Wasser fließt sofort wieder ab und ergießt sich in eine tief unter jedem Straßendamm gelegene Kloake, deren Hauptkanäle mit der Themse in Verbindung stehen. Die Straßen selbst zeigen eine Reinlichkeit, die nur von der niederländischen übertroffen wird. Trottoire (meist von Sandstein) nehmen gemeinhin die ganze Breite des Bürgersteiges ein, und das eigentliche Straßenpflaster (auf den Hauptverbindungslinien makadamisiert) befindet sich selbst bei Regenwetter und trotz des unglaublichen Verkehrs in stets passierbarem Zustand. Eigentümliche Fuhrwerke, die, ähnlich wie unsere Eggen auf dem Felde, einen breiten Besen hinter sich führen, fahren bei schmutzigem Wetter auf und ab und säubern so die aufgeweichten Straßen.

Ich bin ins Loben gekommen, fast wider meinen Willen; so sei denn auch vor allem und eh der Tadel wieder in sein Recht tritt, der fünf gewaltigen Brücken (zu denen sich die Hängebrücke als sechste gesellt) Erwähnung getan, die das eigentliche London mit Southwark oder, was dasselbe sagen will, die Grafschaften Middlesex und Surrey miteinander verbinden. Diese Brücken sind meiner Meinung nach weitab das Bedeutendste, was London an Baulichkeiten aufzuweisen hat. Ich glaube den Grund dieser eigentümlichen Erscheinung darin gefunden zu haben, daß das englische Volk alles hat, was zu einem imposanten Bau ausreicht: Berechnung, Reichtum, Ausdauer, Kühnheit, – aber das entbehrt, was zur Schöpfung des künstlerisch Vollendeten nötig ist: Geschmack und Schönheit. So oft ich auch die Themse hinauf und hinunter fahre, immer wieder beschleicht mich ein Staunen, wenn die Southwark-Brücke mit ihren drei Riesenbogen, deren jeder eine Spannung von 240 Fuß hat, plötzlich vor mir auftaucht, und dies Staunen schwindet nur, wenn ich weiter stromabwärts gleite und die Londonbrücke, schwer und massig wie ein Gebirgsstück, über den Fluß geworfen sehe. Es läßt sich nichts Solideres denken, und wenn ich aufgefordert würde, einem Fremden in London den Punkt zu zeigen, der mir am meisten geeignet schiene, den Charakter dieser Stadt und dieses Landes zur Anschauung zu bringen, so würd ich ihn nicht nach St. Paul und nicht nach Westminster, sondern an die granitne Brüstung dieser Brücke führen und ihn dem Eindruck dieser festen und kühn gewölbten Masse überlassen.

Wend ich mich jetzt zur Besprechung öffentlicher Gebäude, wie Kirchen und Paläste, so ist es ein unverhältnismäßiger Mangel an derartigen Bauwerken, der sich dem Urteil sofort aufdrängt. Das neue London, besonders auf dem Waterloo-Platz, – wo sich zu den schönen Baulichkeiten des Platzes selbst die eleganten Klubhäuser Pall-Malls und einzelner Nachbarstraßen gesellen – präsentiert eine Anzahl von Gebäuden, auf denen auch das Auge des Architekten mit Anerkennung verweilen wird, aber diese Bauten, die wie zum Teil vollendet an und in sich, haben doch überwiegend den Charakter von Privathäusern und bieten, wenn mir diese Wendung gestattet ist, nicht Masse genug dar, um den Baumeister so recht als einen Meister zu zeigen. Erst in voller Bewältigung massenhaften Stoffs, im Innehalten der Schönheit auch innerhalb der größten Dimensionen, offenbart sich der Meister. Alle diese Gebäude sind, vielleicht nicht ihrem Wert, aber ihrer Gattung nach, zweiten Ranges.

Großartige Bauten von mindestens relativer Makellosigkeit hat London nur zwei: St. Paul und das britische Museum. St. Paul, wenngleich nur eine Nachahmung St. Peters, wird unter diesen Nachahmungen immer den ersten Rang einnehmen. Es ist im höchsten Maße bedauerlich, daß die Beengtheit des Platzes, auf dem dieser Riesenbau steht, einen Totalanblick unmöglich macht, aber auch was wir sehen, reicht aus, um uns den Namen Christoph Wrens mit Ehrfurcht sprechen und jener Grabschrift desselben (in der Kirche selbst) beipflichten zu lassen, die da heißt:

Si monumentum requiris – circumspice!

Das britische Museum zeigt den in London wenig vertretenen Stil der Antike. Es ist ein mächtiges Gebäude, mit zwei kurz vorspringenden Flügeln. Jonische Säulen tragen den Portikus des Haupteinganges sowohl wie der Seitenteile. Überall Einfachheit und Symmetrie; die gewaltige Masse, durch Schönheit belebt, wirkt erhebend und bewältigend zugleich.

Hiermit ist das Verzeichnis Londoner Schönheit erschöpft. St. James ist nur noch die Karikatur eines Königsschlosses. Aus rotem Backstein aufgeführt, klein, niedrig und mit zwei abgekappten Türmen am Eingangstor, gleicht es eher dem verrotteten Herrenhause eines heruntergekommenen alten Squires in Yorkshire oder Westmoreland als dem Palast englischer Könige, und es bedarf des Auges dessen, der hinter den herabgelassenen Rulos das dicke rotbärtige Antlitz Heinrichs VIII. erkennt, wie er zur Anna Bulen flüstert, um diesen Platz wiederholt zu besuchen. Buckingham-Palace, die gegenwärtige Residenz der Königin, ist minder häßlich als St. James, aber doch nicht um so viel schöner, daß es die Langeweile tilgte, die ihm auf der Stirne steht. Sollte ich zwischen beiden entscheiden, so würde ich, der Königin Viktoria zum Trotz, von zwei Übeln das kleinste wählen. – Sommerset-House ist stattlich, aber nichts weiter; seine Front markiert sich wenig, der Hof ermüdet durch Monotonie, und nur nach der Themse hinaus imponiert es durch seine Lage und seine Masse.

Und nun die Kirchen! Welch ein Verbrechen, von der Westminster-Abtei bis hierher geschwiegen und seinem Anhängsel, der Kapelle Heinrichs VII., noch keine pathetische Lobrede gehalten zu haben! Aber ich zähle nun mal zu den Unglücklichen, die es tragen müssen, keine gebornen Engländer zu sein, und infolgedessen zu der blasphemischen Ansicht neigen, daß Westminster mehr interessant als schön sei und daß seine beiden Türme (zu denen der arme Wren, kein Freund der Gotik, nolens volens gepreßt wurde), die Linie des Lächerlichen nur notdürftig vermeiden. Ich liebe Westminster und das Zauberblau seiner prächtigen Mittelfenster, ich liebe es auch, mich in einen Chorstuhl der Kapelle Heinrichs VII. zu setzen und die Wappenbanner der Ritter des Bathordens über mir hin und her schwanken zu sehen, aber es ist die Geschichte dieses Platzes und nicht seine Schönheit, die mich an ihn fesselt, und ich kann nicht mit einstimmen in den Glaubenssatz jedes alten und echten John Bull, daß dieser Platz »das Wunder der Welt« sei.

Der echte John Bull hat auch noch einen anderen Spleen, der jedenfalls unverzeihlicher ist als die Bewunderung des »Wonder's of the world«, das ist die Bewunderung seiner neuen Houses of parliament. Diese Parlamentshäuser sind da und haben viel Geld gekostet, das beides steht fest. Namentlich der letztere Umstand läßt den Gedanken gar nicht aufkommen, daß sie vielleicht doch nichts taugen könnten. Der praktische Sinn des Engländers sträubt sich dagegen, so viele Pfund Sterling vergeblich ausgegeben zu haben. Er wiederholt dir Mal auf Mal, daß das Gebäude 900 Fuß lang und einer seiner vielen Türme, zunächst noch in der Intention, 340 Fuß hoch sei, er weist dir nach, daß die Ornamente am Dach und an den Türmchen dem Wonder of the world getreulich nachgebildet seien, und ruft dir, wenn nichts mehr helfen will, mit komischem Eifer zu: »Nun, da hätten Sie erst die alten sehen sollen.« Aber freilich, es werden auch Gegenstimmen laut und sprechen unumwunden aus, daß die Sache äußerlich und innerlich total verdorben sei. Es ist ein Mißverhältnis da zwischen der Höhe des Gebäudes und der Höhe des großen Südwestturms; endlose Ornamente, die überall sich vordrängen, nehmen ihm dem Charakter schöner Einfachheit und lassen das Ganze trotz seiner riesigen Dimensionen kleinlich und fast unwürdig erscheinen. Man forscht nach einem Zweck dieser Schnörkeleien und kann keinen andern finden als den, daß sie da seien, um Staub und Rauch zu schlucken und den Raum herzugeben für viele tausend Schwalbennester. Die Verbindungsgänge innerhalb des Gebäudes entbehren aller Übersichtlichkeit und machen mehr den Eindruck von Irrgängen eines Labyrinths als von Verbindungsgängen eines Palastes.

Wenn das am grünen Holze geschieht, was soll am dürren geschehen!

London ist kein Sitz architektonischer Schönheit. Wenn einst die Hand der Vernichtung über diese Häusermasse kommen wird, wird ein meilenweiter Steinhaufe von der Weltstadt erzählen, die hier sich hinzog, aber das Fehlen von Säulentrümmern und ionischen Kapitellen, von Torso und bildgeschmücktem Fries wird darauf hindeuten, daß es keine Welt voll Schönheit war, die hier dem Zeitlichen erlag.

Die öffentlichen Denkmäler

Es ist mit der englischen Kunst wie mit dem englischen Leben überhaupt: die Straße, die Öffentlichkeit bietet wenig von beiden. Man könnte sagen, das sei das Wesen des Nordens; indes man braucht nicht nach dem Süden zu gehen, um es anders zu finden. In München, Berlin und Brüssel trifft das Auge angenehm überrascht, an Giebeln hier und unter Arkaden dort, auf die Vorläufer des Freskobildes, das Miene macht, über die Alpen bei uns einzuwandern. Und beschränken wir uns gar auf das Monumentale und eine Vergleichung dessen, was die Straße hier dem Beschauer bietet und was bei uns: wie reich sind wir Armen da. Jeder Fremde, der Berlin besucht und überhaupt ein Auge mitbringt für die Werke der Skulptur, wird auf einem einzigen raschen Gange durch die Stadt, vom »Kurfürsten« ab bis zur Quadriga des Brandenburger Tores hin, mehr Anregungen und Eindrücke mit nach Hause nehmen, als nach der Seite hin ganz London ihm zu bieten vermag. Wer die englische Bildhauerkunst bewundern, oder, wenn ihm Zweifel an ihrer Existenz gekommen sein sollten, sich wenigstens von ihrem Dasein überzeugen will, der suche Zutritt zu den Galerien der Großen und Reichen zu erlangen, oder gehe, wenn er das Bequemere vorzieht, nach St. Paul und Westminster: der erste Schritt in die Kirche, der flüchtigste Umblick darin, wird ihm Gewißheit geben, daß es eine englische Meißelkunst gibt.

Richten wir für heute unser Augenmerk lediglich auf die öffentlichen Denkmäler und beginnen wir mit der City. Wir kommen von der Londonbrücke und haben zur Rechten das »Monument«, die berühmte Denksäule, die im Jahre 1677 zur Erinnerung an das große City-Feuer (dem Londonbrücke und Paulskirche zum Opfer fielen) errichtet wurde. Ich habe nichts gegen diese Säule – wiewohl ich nicht recht fasse, was man mit ihrer Aufstellung und der steten Vergegenwärtigung eines großen Unglücks bezweckte – muß aber feierlichst protestieren gegen die 42 Fuß hohe Flammenurne, womit eine konfuse Pietät und der barste Ungeschmack den Knauf jener Säule geschmückt haben. Die vorgeblichen Flammenbüschel dieser Urne sind alles mögliche, nur eben keine Flammen, und da es dieser goldenen Kuriosität gegenüber, ähnlich wie beim Bleigießen in der Neujahrsnacht, der Phantasie jedes einzelnen überlassen bleiben muß, was sie aus diesen Ecken und Spitzen herauszulesen für gut befindet, so mache ich kein Hehl daraus, daß ich die Flammenurne für ein riesiges Kissen mit hundert goldnen Nadeln und infolge davon die berühmte Säule selbst für ein Wahrzeichen der ehrsamen Schneiderzunft gehalten habe, dessen historische Begründung mir leider nicht gegenwärtig sei. Das Piedestal trägt neben Basreliefen, die sich's angelegen sein lassen, den komischen Eindruck des Ganzen nicht zu stören, die Anzeige: daß es erlaubt sei, gegen Zahlung eines Sixpence, die Säule zu besteigen. Hat diese Erlaubnis den Zweck, die wunderliche Flammenurne auch in der Nähe bewundern zu können, so wird man durch solch humane Fürsorge in seiner guten Laune nicht wenig bestärkt; indes es handelt sich wohl um die Aussicht, um das Londonpanorama, dessen man von oben genießen soll, und hier wolle mir der Leser erlauben, abzuschweifen und ihn vor dem Erklettern von Türmen und Säulen ein für allemal zu warnen. Während meines Aufenthalts in Belgien habe ich mir diese Erfahrung mit manchem Frankenstück, mit Beulen an Kopf und Hut und schließlich mit dem jedesmaligen äußersten Getäuschtsein erkaufen müssen. Woran liegt das? Der Turm führt uns nur dem Himmel näher und diesem denn doch nicht nah genug, um eine Reiseausbeute davon zu haben; von allem andern entfernt er uns, die Ferne bleibt Ferne, und die Nähe wird zur Ferne. In Brüssel bestieg ich den Rathausturm: der Führer streckte seinen dicken Finger aus, wies auf einen schwarzen Punkt am Horizont und sagte ernsthaft: voilà le lion de Waterloo! In Antwerpen mußte ich einen blinkenden Streifen bona Fide als das Meer hinnehmen, so daß man, zur Besinnung gekommen, sich eigentlich schämt, Punkte und Striche als Sehenswürdigkeiten ernsthaft beobachtet zu haben. Und blickt man nun in die Nähe, was hat man? Dächer! wenn's hoch kommt, flache und schräge, schwarze und rote, aber doch immer nur Dächer. Unsere Bauten nehmen, wie billig, noch Rücksicht auf den Menschen, der geht. Wenn wir erst fliegen werden, dann wird das Zeitalter der Dächer gekommen sein; aller Schmuck der Fassaden: Reliefe und Bildsäulen (natürlich alle liegend wie auf Grabmälern) werden ihren Platz dann auf dem Dach, der neuen Front des Hauses, einnehmen, und der Reisende mag dann Türme erklettern oder wenigstens auf ihnen – rasten.

Doch kehren wir zurück in die City. Wenig hundert Schritte von der Säule entfernt, wo sich die King-Williamsstraße zu einem kleinen Platze erweitert, finden wir das neueste öffentliche Denkmal Londons: die Statue König Wilhelms IV., das neueste und zugleich beste. Aber das Beste ist kein Gutes oder gar ein Bedeutendes; seine relativen Vorzüge bestehen in dem Fehlen alles Störenden und Geschmacklosen. Ruhig blickt der König zur französischen Küste hinüber, als wollt er mit unterdrücktem Gähnen sagen: »Kommt ihr – gut! kommt ihr nicht – noch besser!« und mit ähnlicher Gleichgültigkeit geht der Beschauer an dem Denkmal selbst vorbei, das allenfalls befriedigen, aber nicht anregen und entzünden kann. Das Interessanteste der Statue ist ihre Ausführung in Granit. Das englische Klima, dem Marmor wie dem Erz in gleichem Maße ungünstig, wies darauf hin, ein Auskunftsmittel zu suchen. Man wählte den Granit, und das Geschick, mit dem sich die englische Skulptur diesen spröden Stoff dienstbar zu machen verstand, hat um so mehr Anspruch auf Dank, als bei der vollständigen Unleidlichkeit jener Patina, womit Luft und Rauch alles Erz hier, und zwar in kürzester Zeit, umkleiden, erst von jetzt ab an öffentliche Denkmäler, die sich des Anblicks verlohnen, zu denken sein wird.

Wir schreiten weiter, lassen vorläufig eine Wellingtonstatue zur Rechten unbemerkt und gelangen, an St. Paul vorbei, durch Fleet-Street und Strand auf den Trafalgar-Square. Hier blickt es uns an, rechts und links, von Kapitellen und Piedestalen herab, und wir machen halt. In der Mitte des Platzes erhebt sich die 170 Fuß hohe Nelsonsäule; auf ihr der Sieger von Abukir selbst. Ob die Statue gut ist oder schlecht, mag ein anderer entscheiden als ich; auf eine Entfernung von 170 Fuß bescheidet sich mein Auge jeder Kritik und überläßt es den Teleskopen, Nachforschungen anzustellen. Nur so viel: Nelson trägt Frack und Hut, aller Gegnerschaft zum Trotz, auf gut napoleonisch, und die Statue, wie sie da ist, auf den Vendome-Platz zu Paris statt auf den Trafalgar-Square in London gestellt, sollt es ihr nicht schwer fallen, vielen tausend Beschauern gegenüber, den englischen Admiral zum französischen Kaiser avancieren zu lassen. Man hat keine anderen Anhaltspunkte als den schlaff herabhängenden Rockärmel, drin der Arm fehlt, und das Gewinde von Schiffstau, dran der Rücken sich lehnt; das einzige, was jeden Zweifel lösen könnte, entzieht sich der Beobachtung – das Gesicht. Ich möchte hieran ketzerischerweise überhaupt die Frage nach dem Recht der künstlerischen Zulässigkeit dieser Säulen knüpfen. Sie geben nicht, was sie geben wollen, und deshalb hab ich Bedenken gegen die, ganze Gattung. Eine Nelsonsäule z. B., die sich faktisch, wie die vor uns befindliche, nicht mit dem Namen des Mannes begnügt, den sie verherrlichen will, sondern dadurch, daß sie ihn in effigie auf ihren Knauf stellt, auch die Absicht ausspricht, mir sein Bild einprägen zu wollen, bleibt hinter einem bloßen Gedenkstein insoweit zurück, als sie das Plus ihrer Aufgabe nicht erreicht und bei 170 Fuß Höhe nie erreichen kann. Die Skulptur tut ihr Werk dabei sozusagen umsonst und wird selbst da zum »jüngern Sohn«, wo sich, dem Prinzip nach, die künstlerische Ruhmeserbschaft wenigstens teilen sollte.

Vor der Nelsonsäule, das Antlitz nach Whitehall gewandt, steht die Reiterstatue Karl Stuarts. Wohl ist er's: der feine Kopf, in dem sich Majestät mit jenem wunderbaren Zuge mischt, der auf ein tragisches Schicksal deutet. Er ist es, aber so klein wie möglich. Er reitet nach Whitehall hinab, als drücke ihn immer noch die Schmach, die seiner dort harrte, und als fühl er, daß das Schwert ihm fehle, das – o bittres Spiel des Zufalls! – die Hände eines Straßenbuben vor Jahr und Tag ihm raubten. Wie wenig ist diese Statue und wieviel hätte sie sein können, wieviel hätte sie sein müssen in dem loyalen, königlichen England. Es war ein poetischer, glücklicher Gedanke, den Platz der Schmach nicht zu scheuen und das Haupt des Königs gerade dorthin blicken zu lassen, wo es fiel. Aber dann mußte dieses Haupt ein andres sein und der ganze Reiter dazu, dann mußte Sieg und Hoheit von dieser Stirne leuchten und jede Fiber nach Whitehall hinunterrufen: »Ich bin doch König!« Ein Rauchsches Denkmal an dieser Stelle wäre eine Verherrlichung des Königtums gewesen; was der Platz jetzt bietet, ist eine Fortsetzung der alten Demütigung.

Nach dieser Seite hin leisten die öffentlichen Denkmäler Londons überhaupt das Mögliche. Was ist die Reiterstatue Georgs III. (in unmittelbarer Nähe des Trafalgar-Squares), was ist sie anders als eine öffentliche Bloßstellung, eine Verhöhnung. Ein wohlbeleibter Mann mit einer schrägen, höchstens zwei Zoll hohen Stirn, krausem, fast negerhaftem Haar, einem wohlangebrachten Zopf im Rücken und dem Ausdruck der Gedankenlosigkeit im Gesicht, sitzt, den Hut in der Hand, nicht nur nicht als König, sondern geradezu als Karikatur zu Pferde, und das mitten im Trab zurückprallende Tier legt einem die Vorstellung nahe, daß es in einer Wasserlache am Wege plötzlich seines eignen Reiters ansichtig und vor solchem Bild scheu geworden sei. Wenn ein König für die Kunst nichts bietet, so ehre man ihn, so lang er lebt, und begrabe ihn, wenn er tot ist; die erzne Verewigung einer königlichen Unbedeutendheit kann niemandem ungelegener sein als dem Königtum selbst.

Soll ich noch von der Yorksäule sprechen, deren erznes Herzogsbild, zu äußerster Lächerlichkeit, die goldne Spitze eines Blitzableiters wie einen bankrotten Glorienschein trägt, dessen anderweitige Strahlen nach rechts und links hin fortgefallen sind? Nein! überlassen wir es einer Feuerversicherungsgesellschaft, an dieser Vorsichtsmaßregel Gefallen zu finden, und wenden wir uns lieber zum Herzog Wellington, dem Manne der ausschließlichen Denkmalberechtigung. Jede Malerakademie hat ihr Modell und die Londoner Bildhauerkunst – ihren Herzog. Wir begegnen ihm auf unsrer Wanderung dreimal: in der City als »jungem Feldherrn«, als »älterem Herrn« vor Apsley-House und als »Achill« im Hydepark. Dieser »Achill«, laut Inschrift eine Frauenhuldigung in Kanonenmetall, ist eine längst verurteilte Geschmacklosigkeit und steht auf der Höhe jener lyrischen Liebesgedichte, die schamhaft ihren rechten Namen verleugnen und sub rosa von Dämon und Phyllis sprechen. Was die Ausführung angeht, so erinnert sie an den Apoll unseres Tiergartens. – »Der junge Feldherr« in der City ist ein anständiges Mittelgut, zu gut für den Spott und zu schlecht für die Bewunderung; was bleibt da anders als – schweigen. – Der »ältliche Herr« bietet schon mehr: es ist ganz ersichtlich, daß er die Gicht hat, daß es ihn die größte Anstrengung kostete, in den Sattel zu kommen und daß er ohne seinen weiten Regenmantel so früh in der Morgenluft unrettbar verloren wäre. Sein Federhut und der Marschallstab in der Hand machen eine verzweifelte Anstrengung, ihm ein Feldherrnansehen zu geben, allein vergeblich, es ist und bleibt das langweilige Bild eines Mannes, der doppelte Flanelljacken trägt. Nur eines übertrifft ihn an Steifheit, das ist das Pferd, welches er reitet. – Die Mitwelt hat ihre großen Männer durch undankbare Unterschätzung nur allzu oft verbittert; in Herzog Wellington haben wir ein Beispiel vom Gegenteil; die Liebe der Zeitgenossen mochte der Nachwelt nichts zu tun übrig lassen. Wenn nichtsdestoweniger dem Gefeierten Zweifel kommen sollten an dem unbedingten Glück solcher Verewigung, so haben wir als Trost für ihn das Horazische Wort, daß Lied und Geschichte, drinnen er fortlebt, »dauernder sind als Erz«.

Der Fremde in London

Ich hörte einmal irgendwo die Hypothese, daß unsere Erdachse vor Zeiten anders gerichtet gewesen wäre, daß wir einen andern Nord- und Südpol gehabt hätten und daß ein mildes Italien in Kamtschatka vielleicht und ein eisiges Spitzbergen in Sumatra zu Hause gewesen sei. Ich laß es dahingestellt sein, wie viel und wie wenig es mit dieser Erdverdrehungstheorie auf sich haben mag, muß aber meine Ansicht dahin bekennen, daß innerhalb jener Geographie, die ihre Karten nicht nach Ländern und Völkern, sondern nach gewissen moralischen Eigenschaften entwirft, solche Revolutionen an der Tagesordnung zu sein scheinen. Die deutsche Treue z. B., wo ist sie hin? Und die biederen Schweizer, wo sind sie geblieben? Der Großtürke kultiviert die christliche Sittenlehre und China schneidet seinen Zopf ab. Das galante Frankreich geht in die Kirche und überläßt die Vertretung seiner Artigkeiten den Zoll- und Mauthbeamten; der Holzstoß des spanischen Inquisitors ist niedergebrannt und die englische Hospitalität liegt unterm Leichenstein.

Alt-Englands Gastfreundschaft ist nur eine Phrase noch, im günstigen Fall eine Ausnahme. Sie lebt in alten Gesetzesparagraphen, aber sie ist erstorben in den Herzen; das Land steht offen, aber die Häuser sind zu. Ich erhalte Briefe von Zeit zu Zeit (aus Surrey und Essex), in denen die Wendung »our english hospitable house« in jeder dritten Zeile wiederkehrt; aber der ohnehin bedenklichen Versicherung dieser Gastfreundschaft folgt immer das Bedauern auf dem Fuße, »aus diesem oder jenem Grunde an Ausübung derselben verhindert zu sein«, und nach einigen in höchster Artigkeit gewechselten Briefen nimmt man Abschied voneinander, ohne sich jemals mit Augen gesehen zu haben. Die Hospitalität Alt-Englands ist tot, und der mag es doppelt bedauern, dem es, gleich mir, in frühem Jahren vergönnt war, diesen liebenswürdigen Zug des englischen Volkscharakters in vollster Blüte kennen zu lernen. Im Jahre 44 verbracht ich einen schönen Mai in diesem Lande. Wie war da alles anders. Mein Fremdenpaß war eine Art Passepartout und jede in schlechtem Englisch geschriebene Zeile ein selbstausgestellter und doch vollgültiger Empfehlungsbrief. Auf der Straße fand ich freundliche Führer, an öffentlichen Orten willfährige Dolmetscher und an der Table d'hote meines Gasthauses Tischgenossen, die mich in ihre Familien einführten und einluden zu Sonntagsbesuchen auf ihre Villen und Landhäuser. Mir war es mitunter, als durchlebt' ich einen Traum, als sei ich an die Küste einer Zauberinsel geworfen, und wenn ich aus diesem Traum mich selbst erweckte, so beschlich mich ein Mißtrauen gegen solch Übermaß von Freundlichkeit. Es war zuviel, als daß ich nicht hätte nach Motiven voll Selbstsucht suchen sollen.

Acht Jahre sind seitdem vergangen, und an die Stelle einer Liebenswürdigkeit, die den Argwohn rege machen konnte, ist nun selber der Argwohn getreten. Ein Fremder sein, heißt verdächtig sein. Die Flüchtlinge, die das Jahr 49 an diese Küste warf, haben teils mit, teils ohne Schuld den Fremden diskreditiert. Im Gefolge von Patrioten und Ehrenmännern, die dankbar diese Zufluchtsstätte betraten, überflutete allerhand Gesindel die Straßen und Plätze Londons, und an die Stelle herzlichen Willkomms trat alsbald Abneigung und Ekel. Hundertfacher Mißbrauch des Asylrechts rechtfertigte die Kälte und Abgeschlossenheit nur allzusehr, die englischerseits alsbald zum guten Ton zu gehören begann, und die Dürftigkeit der Erscheinung, die Not, Armut und Abgerissenheit der Fremden vollendete, was der Undank gegen gebotene Gastfreundschaft zu tun noch übriggelassen hatte. Dieser Punkt ist wesentlich. Der Engländer begreift es entweder nicht, daß unter einem zerrissenen Rock das Herz eines Gentlemans schlagen kann, oder das Absehn von Äußerlichkeiten ist ihm so völlig unmöglich geworden, daß er lieber mit einem Laster in Frack und Handschuh, als mit einer hemdärmligen Tugend verkehrt. – Der Fremde bringt es zu keiner Gemütlichkeit mehr in diesem Lande. Im Gegensatz zum preußischen Landrecht, das jeden Menschen a Priori für unbescholten hält, gilt hier jeder Fremde für bescholten, solange er nicht das Gegenteil bewiesen hat. Der billig denkende Fremde erklärt sich das und entschuldigt's, aber unter allen Umständen nimmt es seinem Wohlbefinden die eigentliche Lebenslust, und er erscheint sich überall wie ein vor Gericht Befindlicher, der sich unbehaglich umschaut, auch wenn er mit dem reinsten Herzen von der Welt an die Barre tritt. Unter einem Verdacht sein, ist immer halb schuldig sein.

Es macht wenig Unterschied, ob man Empfehlungsbriefe hat oder nicht. Hat man keine, so sucht man natürlich sich selber zu empfehlen und Talente und Persönlichkeit nach Kräften wirken zu lassen. Im glücklichsten Falle mißglückt es nicht geradezu, man macht eine Bekanntschaft, sei's zu Haus, sei's am öffentlichen Ort; aber es ist wenig gewonnen damit. Man erobert sich eine frostige Artigkeit, auch wohl – den Damen gegenüber – ein munteres, lachendes Geschwätz, aber so oft man sich auch sehn und scheinbar herzlich begrüßen mag, man kommt sich nicht näher, und der Verdacht, unter dem der Fremde als solcher steht, bleibt auch im besondersten Einzelfall immer derselbe. Dieser Verdacht muß bleiben, denn ein für allemal sei hier der Grundsatz aufgestellt: der Engländer ist praktisch, aber ohne Menschenkenntnis. Er ist betrogen worden, und nun sind alle Betrüger. Diesen Grundsatz hält er aufrecht, nicht bloß, weil er's für praktisch hält, sondern weil er faktisch der Fähigkeit entbehrt, den ehrlichen Mann vom Beutelschneider zu unterscheiden. Blind, wie er sonst in seinem Vertrauen war, ist er jetzt in seinem Argwohn, und der Fremde, der noch die alten Zeiten kannte, seufzt, wenn er an die schönen Tage zurückdenkt, wo vierundzwanzig Stunden ausreichten, ihn »zum Kind vom Hause« zu machen.

Und nun Empfehlungsbriefe! Sie füllten ein ganzes Fach in meinem Koffer und wogen schwer, aber ihr Segen wog federleicht. Was haben sie mir, mit Ausnahme von einem oder zweien, eingetragen, als einen glänzenden, langweiligen Abend. – Es ist Frühstückszeit. Der Briefträger schlägt dreimal mit dem Ring des Klopfers an den gußeisernen Löwenkopf, und die zierliche Mary in weißer Schürze und getolltem Morgenhäubchen überreicht mir in der nächsten Minute einen feingeränderten Stadtbrief. Welch elegantes Siegel, welch feiner Lack! Ich öffne; auf einer Visitenkarte finde ich die lakonischen Worte: »Mrs. Butler wird am Freitag abend zu Hause sein.« Der Freitag kommt; es ist neun Uhr abends; ich springe in ein Cab: »Park-Lane« ruf ich dem Kutscher zu, und eh ich noch die engen Glacéhandschuh meinen Fingern angepaßt habe, hält das im schnellsten Trabe fahrende Cab an Ort und Stelle, die Wagentür wird aufgerissen, und unter einem zeltartigen Gange, über gelegte Decken hinweg, eil ich dem in hundert Lichtern blitzenden Hause zu. Ein dicker Portier ruft meinen Namen, ein Bedienter auf dem ersten Treppenabsatz wiederholt ihn echohaft, ein dritter schreit ihn (natürlich falsch und unverständlich) in den Empfangssaal hinein, und im nächsten Augenblick hat mich der Herr des Hauses bereits an einer Handschuhspitze, um mich der im Paradeanzug dasitzenden Lady und ihren Küchlein vorzustellen. Einige Salonredensarten werden gewechselt, bis ein zweiter vorzustellender Schwarzfrack mich ablöst und meinem Rückzug in eine der Zimmerecken kein weitres Hindernis im Wege steht. Die Fenster sind hoch, die Gardinen sind blau; der Kronleuchter brennt wie überall und die Virtuosen bleiben nicht aus. Ein Sohn des Hauses beginnt mit einem Burnsschen Liede; man lobt die Komposition, um doch etwas zu loben. Dann nimmt ein Säsonlöwe, ein Violinist ersten Ranges, seine Geige zur Hand und spielt brillant, wie sich von selbst versteht. Es folgen Virtuosen auf allen Instrumenten. In einer der Pausen schüttelt mir der Wirt die Hand und fragt mich, ob ich dem Parlamentsmitgliede für Finsbury vorgestellt zu werden wünsche? Ich drücke ihm mein lebhaftestes Verlangen aus. In demselben Augenblick aber setzen sich die beiden ältesten Töchter an den Palisander-Flügel, um in einem Quatre-mains dem anwesenden Virtuosentum ein Paroli zu bieten, und der halb aufgeregte, halb besorgte Vater verabschiedet sich, ohne den Kreis meiner Bekanntschaften durch den Vertreter für Finsbury erweitert zu haben. Inzwischen findet eine starke Auswanderung nach einem der Nebensäle statt, und mich auf gut Glück dem allgemeinen Strome überlassend, werde ich endlich an ein Büfett geworfen, das mit seinen Scherrykaraffen und Selterserflaschen zu den erfreulichsten Bekanntschaften des Abends zählt. Hier endlich entdecke ich einen Freund, einen deutschen Professor. Er flüstert mir zu: wie finden Sie's?, schlürft, ohne meine Antwort abzuwarten, eine zweite Tasse Tee hinunter und nimmt mich untern Arm, um zunächst in der Garderobe, dann über Flur und Treppe hinweg in einem herbeizitierten Cab mit mir zu verschwinden. Wie langweilig! seufz ich in das Ohr des Landsmanns. »Mitnichten!« antwortete er gähnend – »Sie werden es schlimmer kennen lernen.« Und fort rollt der Wagen.

Nach zwei Tagen eine abgegebene Karte, und das Lied ist aus. Der Empfehlungsbrief hat seine Schuldigkeit getan. Seine Kraft wirkt nur einmal wie Schießpulver. Der Leser spricht: das ist die große Stadt überhaupt. Gewiß! nur entschiedener, ausgeprägter, ausnahmsloser. Man gibt ein halbes Dutzend ähnlicher Briefe ab und überzeugt sich endlich von der Unabänderlichkeit seines Schicksals. Die Heimat, in nicht rastender Liebe, versorgt uns mit immer neuen rotgesiegelten Reservetruppen, aber der Mut ist hin, um sie ins Feld zu führen. Man empfängt sie lächelnd, und fest entschlossen, hinfüro weder sich noch andre zu bemühen, besteigt man um die übliche Visitenstunde statt des Cabs den Steamer, und zwischen London-Bridge und Vauxhall auf und nieder fahrend, vergißt man – auf Augenblicke wenigstens – vor der Größe des sich entfaltenden Schauspiels jenes eine, das zum Glücke fehlt – das Menschenherz und seine Liebe.

Richmond

Die großen Tyrannen sind ausgestorben; nur in England lebt noch einer – der Sonntag. Er wird auf die Nachwelt kommen wie Kambyses und Nero; nur zündet er die Städte nicht an, denn die Flamme ist Geist; Wasser aber ist sein Wesen und seine Gefahr, – das Element der Langenweile. Womit vergleich ich einen Londoner Sonntag? Leser, hast du jemals einen Abschiedsschmaus gefeiert: feuriger Wein und feurige Rede, Rundgesang und Lichterglanz, Freunde mit blauen und Schenkinnen mit schwarzen Augen, Lust und Leben, Liebe und Leidenschaft um dich her – so schliefst du ein. Du erwachst: die Morgensonne fällt ins Zimmer, alles öd und leer, im Winkel Scherben, ein niedergebranntes Licht spricht von vergangener Lust, und eine verschlafene Magd kehrt aus – das ist Londoner Sonntag.

Wir gehen den »Strand« hinunter; Glockenklang und Sonnenschein sind in der Luft und bieten uns die Wahl. Wir sind nicht von den Unkirchlichen: aber die Sonne ist seltner in London als die Kirche, und wir fürchten die Eifersucht jener fast mehr noch als dieser: so denn hinaus in Wald und Feld. Aber wohin? Da rollt zu guter Stunde ein Omnibus an uns vorüber, und wir lesen in goldnen Lettern: »Richmond«. Ja, Richmond! doch wir sind Deutsche, und eh wir uns noch bestimmt entschieden haben, ist Kutscher und Konduktör uns aus dem Gesicht, und das goldne »Richmond« leuchtet noch von fern wie ein Stern der Verheißung.

Ja, nach Richmond! aber zu Wasser. Wir biegen, nach Süden zu, in die Wellington-Straße ein, erreichen die Waterloo-Brücke, werfen einen flüchtigen, aber bewundernden Blick auf diese steinerne Linie, die über den Fluß läuft, und steigen dann rasch die Stufen zu einer jener schwimmenden Inseln hinab, die, aus Pontonen gezimmert, rechts und links an den Ufern der Themse auftauchen und die Stationen bilden für eine Flotte von Steamern. Schon läutet's; beeilen wir uns. Es ist die »Wassernixe«, die eben anlegt; das Billett ist rasch gelöst, und der nächste Augenblick sieht uns unter viel hundert geputzten Menschen, alle entschlossen, wie wir selbst, die »Wassernixe« zur Arche Noah zu machen, die uns der Sintflut einer Londoner Sonntagslangweile entführen soll.

Wir nehmen Platz an der Feueresse und haben alsbald nicht Ursache, unsere Wahl zu bereuen: vor uns auf grüner Bank sitzt eine echt englische Familie, Vater und Mutter, zwei Töchter und ein Bräutigam, – alles Vollblut aus der City, weniger dem Gelde, als der Abstammung nach. Der Alte, Seifensieder oder Talglichtfabrikant, trägt viel von jenem Selbstbewußtsein zur Schau, das nur ein alter und unbefleckter Stammbaum leiht, und seine Stirn erzählt von jenem Ahnherrn, der schon Lichte zog, als Katharina von Aragonien ihren Einzug hielt und die City illuminiert war wie nie zuvor. Die Töchter sind hübsch, – wie alle englischen Töchter. Die ältere ist Braut: sie trägt einen krausen Scheitel, ein hohes schwarzes Seidenkleid, worüber in fast vornehmer Schlichtheit sich der schmale, weiße Halskragen legt, und ihre Hände und ihre Blicke ruhen nebeneinander auf ihrem Schoß. Sie ist bräutlich-verstimmt, oder bräutlich-sentimental, oder – beides. Vor ihr steht der Erwählte, noch jung an Jahren, aber alt an Weisheit und Verstand. Seine magere Blässe verweist auf Eagle-Tavern und manche durchtanzte Nacht; im übrigen ist er Engländer von Kopf bis zu Fuß. Er trägt glanzlederne Stiefel, eine blaue Krawatte und die Vatermörder von der vorschriftsmäßigen Sonntagshöhe; die Taille seines Fracks sitzt noch um zwei Zoll tiefer als die seines Wochenrocks, und vorn im Knopfloch trägt er die ganze Poesie seines Lebens – eine Rose. Er zupft an den Vatermördern und neigt sich flüsternd zur Braut; sie aber schweigt noch immer. Da fällt plötzlich, wie Friede bittend, die Rose in ihren Schoß, und siehe da, das blaue Auge blickt schelmisch auf, als spräch es: »Das war es, was ich wollte.« Die jüngere Schwester ist allein und – ist es nicht. Wind und Sonne sind um sie her. Sie spielt mit dem zierlichen Schirme wie mit einem Fächer, und während sie vor dem Himmel und seiner Sonne sich schützt, bleibt uns Irdischen noch eben Raum genug, uns an dem Lächeln ihres Mundes zu erfreuen. Ich tu's; aber dreister ist der Wind: er faßt ihre langen Locken und löst sie auf, und wenn sein Glück nicht so flüchtig wäre, man könnte ihn drum beneiden. Die beiden Alten aber sitzen steif und regungslos wie ägyptische Königsbilder nebeneinander und halten einen baumwollenen Regenschirm gravitätisch in ihrer Hand. Von Zeit zu Zeit blicken sie auf ein Wölkchen, das über die lachende Stirn des Himmels zieht, und ihren Schirmstock fester fassend, sehen sich ihre Seelen voll Einverständnis an, als wollten sie sagen: auch unsere Stunde wird kommen.

Der Steamer inzwischen hält Wort: er ist eine »Nixe« und die Flut sein befreundet Element. Durch die Brücken hindurch geht es stromauf, vorbei an Palästen und Kirchen, die ihre Türme im Wasser spiegeln, vorbei an Westminster und Parlament, an Vauxhall und Chelsea, bis endlich die dichte Steinmasse zu armen, vereinzelten Häuschen wird, ähnlich der kleinen Münze, die weit über den Tisch läuft, wenn irgendwo ein Reichtum ausgeschüttet wird. Endlich verschwinden auch diese; nur Wiesen und Weiden noch zu beiden Seiten, bis plötzlich der Steamer hält: wir sind in Kew.

Von hier bis Richmond ist nur ein Spaziergang. Wir haben kein Auge für das Winken des Omnibuskutschers, der eben an uns vorüberfährt: Gärten rechts und Hecken links, so machen wir uns auf den Weg. Keine Stunde – und Weg und Stadt liegen bereits hinter uns; noch wenig Schritte bergan, noch dieses Tor, und wir sind in Richmond-Park. Unter allen Weibern sind das die reizendsten, die sich zu verschleiern und zu rechter Stunde, wie Turandot, auszurufen wissen: »Sieh her, und bleibe deiner Sinne Meister!« Es ist mit den Landschaften wie mit den Weibern; wer das nicht glauben will, der verliebe sich oder gehe nach Richmond. Wir sind in den Park getreten; der Kiesgang vor uns, die Buchen- und Rüsterkronen über uns verraten nichts Außergewöhnliches; gleichgültig, mit unsern Gedanken weit fort, gleiten unsere Finger an dem Eisengitter entlang, bis plötzlich ein Luftzug uns anweht und wir aufblicken. Wir stehen an einem Abhang, der ein »hängender Garten« ist. Weiß- und Rotdorn, mit ihrer Blütenfülle das dunkle Grün ihres Blattes verdeckend, tauchen wie Blumeninseln aus dem leise bewegten Grasmeer auf; wie ein Sinnbild des Reichtums dieser Fluren webt der Goldregen seine üppig gelben Trauben in dies Bild, und Fußpfade schlängeln sich rechts und links wie ausgestreckte Arme, die dich einladen, teilzunehmen an all dem Glück. So reich die Nähe, aber reicher noch die Ferne. Am Fuß des Abhangs dehnt sich ein weites Tal, drin Rosen und Ginster sich um den Vorrang streiten; Laubwald, hoch und dicht, umschreibt einen grünen Kreis um so viel Lieblichkeit, und das blaue Band der Themse, bedeckt mit Inseln und Booten, gleitet mitten hindurch wie ein Streif herabgefallenen Himmels. Frischer weht der Wind, würziger wird die Luft, tiefer sinkt die Sonne, aber immer noch stehst du, die Hand am Gitter, und blickst hinunter und atmest und träumst.

Der Park ist weit und groß; du durchwanderst ihn nach allen Seiten, freust dich an den Herden, die darin lagern, an den Schmetterlingen, die ihn durchfliegen, und den bunteren Menschen, die ihn durchziehn; aber in deiner Seele lebt immer noch jenes erste Bild, wie die Klänge einer bewältigenden Melodie, die man am Abend hörte und noch am Morgen summen muß, man mag wollen oder nicht. Die fröhliche Menge eilt zu Ball- und Kricketspiel, zu Jahrmarkt und Polichinell; du aber steckst, wie die Plantagenets taten, einen Ginsterzweig an deinen Hut, und, im Vorübergehen, aus dem Becher dieses Richmondtales noch einmal trinkend und dich mühsam losreißend wie aus Freundesarm, kehrst du zurück an das große Schwungrad der Welt, das sich London nennt, und gibst dich aufs neue ihm hin, mutig, aber dir selber unbewußt, ob es dich fördern oder zermalmen werde.

Die Dock-Keller

Unter Docken versteht man im allgemeinen die Häfen eines Hafens: kleine abgezweigte Buchten, oder auch gemauerte Bassins, in denen man die rückkehrenden Schiffe gleichsam beiseite nimmt, um sie zunächst auszuladen und – wenn's not tut – auszubessern. Die London-Docke charakterisiert man am besten, wenn man sie Flußhäfen nennt. Sie verhalten sich zur Themse, mit der sie in unmittelbarster Verbindung stehen, wie große Privatgehöfte zu einer daran vorüberführenden allgemeinen Heerstraße.

Man unterscheidet Katharinen-, London-, Westindien- und Ostindien-Docke. Alle vier befinden sich am linken Themseufer, die ersteren auf der Strecke zwischen Tower und Tunnel, die letztern beiden, weiter stromabwärts, in der Nähe des Fleckens Blackwall, eine Stunde von London. Die Ostindien-Docke sind, wie es schon ihr Name an die Hand gibt, die Ruhe- und Erholungsplätze für die großen Ostindienfahrer, die Heilanstalten, wo man die Hartmitgenommenen wieder flickt und bekupfert; auch Teer und Pech auf all die Wunden gießt, die ihnen das Sturmkap mit Wind und Wellen geschlagen.

Ich gedenke heut nur von den eigentlichen London-Docken zu sprechen, ganz besonders aber die Dock-Keller in Augenschein zu nehmen, von denen im voraus bemerkt sei, daß sie, in Gemeinschaft mit Speichern, Remisen und Lagerhäusern, die unmittelbare Nachbarschaft, sozusagen einen integrierenden Teil der Docke selber bilden. Denken wir uns eine Durchschnittszeichnung zwischen der mit der Themse parallellaufenden Citystraße und der Themse selbst, so ist die Reihenfolge diese: zuerst das Handelshaus mit seinen Kontoren, dann geräumige Höfe mit Speichern aller Art, unter diesen die Dock-Keller, und schließlich, unmittelbar an der Themse, die Docke selbst. Die Höfe und die Keller verhalten sich zueinander wie zwei Etagen, und je nachdem die Ladung des eben angekommenen Schiffes aus Wein, Öl und Rum auf der einen, oder aus Reis, Zucker, Wolle und Baumwolle auf der anderen Seite besteht, wälzt man die Fässer und Ballen direkt vom Bord des Schiffes entweder auf die Speicherhöfe, oder eine Etage tiefer, in die Dock-Keller hinein. Unter diesen spielen die Weinkeller, die (vermutlich ein Kompaniegeschäft) nicht nur unter dem Speicherhofe eines Grundstücks, sondern unter einem ganzen Citystadtteil hinlaufen, die größte Rolle.

Der Freundlichkeit eines deutschen Kaufmanns verdanke ich es, daß mir Gelegenheit wurde, diese ungeheuren Räumlichkeiten in Augenschein zu nehmen. Er gab mich für einen jungen Deutschen aus, der nicht übel Lust habe, mehrere Oxhoft Port und Scherry gegen Barzahlung sofort zu entnehmen, eine Rolle, die zu viele Vorteile und Annehmlichkeiten versprach, als daß ich hätte geneigt sein sollen, mich gegen sie zu sträuben.

Bevor wir in die Keller hinabsteigen, sei über Port und Scherry etwas vorausgeschickt. Beide Worte sind Kollektiva für alle möglichen Sorten süßen und feurigen Weins geworden. Unter all den hunderttausend Oxhoften Port und Scherry, die alljährlich in England getrunken werden, ist vielleicht kein einziger, zu dem Oporto und Jerez (Scherry ist eine Mißbildung dieses Wortes) ausschließlich und unvermischt den Saft ihrer Trauben beigesteuert haben. Die Küsten des Mittelländischen Meeres liefern diese ungeheuren Weinmassen, die – wenn von roter Farbe – unter dem Namen Port, von goldgelber unter dem Namen Scherry in die Welt geschickt werden. Die Keller der London-Docke sind übrigens schon das zweite Lager, das diese köstlichen Weine beziehen: zuerst begegnet man ihnen auf der Westküste von Sizilien, und zwar im Städtchen Marsala, wohin die aufkaufenden Engländer zunächst Ladung auf Ladung dirigieren, um von dort aus, je nach Bedürfnis, die englischen Keller zu speisen. Um sich von der Größe dieser sizilianischen Weinniederlagen einen Begriff machen zu können führe ich das Faktum an, daß allein die alljährliche Verdunstung achttausend Gallonen beträgt.

Aber lassen wir Marsala und steigen wir heute in die Keller der englischen Docke. – Wir fahren ein, wie in den Schacht eines Berges. Zwei rußige Burschen mit kleinen blakenden Lichtern schreiten uns vorauf. Nun denn: Glück auf! und lustige Bergmannsfahrt. Was sollten wir nicht? Unser Gewinn ist sicher: der Port, wie flüssiger Rubin, wird bald in unsern Gläsern blinken.

Wir sind unten: vor unsern erstaunten Blicken liegt eine Stadt. Wir haben schöne Sagen und Märchen, die von Städten auf dem Grunde des Meeres oder von Schlössern in der Tiefe unserer Berge sprechen, – diese Wunder sind Wirklichkeit geworden. Über uns lärmt und wogt die City mit ihren hunderttausend Menschen, und hier unten dehnen sich gleicherzeit die erleuchteten, unabsehbar langen Straßen einer unterirdischen Stadt. Rechts und links wie Häuser liegen übereinander getürmt die mächtigen Gebinde: jedes Faß eine Etage. Wir sind in die eine Straße eingetreten und schreiten weiter. Alle fünfzig Schritte begegnen wir einer Quergasse, die, um kein Haar anders oder gar kleiner als die Straße, die wir gerade durchmessen, nach rechts und links hin sich endlos fortzieht. Immer weiter geht es: neue Gänge, neue Tonnen, neue Lichter, immer Neues, und doch immer das Alte wieder; unser Auge entdeckt nichts, das ihm als Merkmal, als Wegweiser aus diesem Labyrinthe dienen könnte, und eine namenlose Angst überkommt uns plötzlich. Wir denken an die Irrgänge des Altertums, an die römischen Katakomben, und ein unwiderstehliches Verlangen nach Luft und Licht erfaßt unser Herz.

Aber schon ist die Heilung bei der Hand. » There 's a first rate Sherry, Sir! indeed, a very fine one,« so trifft es plötzlich unser Ohr, und schon der ruhig-sichere Klang der Stimme überzeugt uns, daß kein Grund zur Furcht vorhanden. Den letzten Rest davon spült der Scherry fort. Mit unermüdlichem Diensteifer werden jetzt rechts und links die Fässer angebohrt: hier spritzt es wie ein Goldstrahl aus dem Faß hervor, dort strömt der blutrote Port ins Glas. Wir kosten und nippen, wie wenn es Nektar wäre; die rußigen Burschen aber schätzen's nicht höher wie abgestandenes Wasser und schütten das flüssige Gold an die Erde. Der Wein hat längst aufgehört, ihnen eine Himmelsgabe zu sein; sie teilen sich schweigsam, gewissenhaft in ihre Arbeit: der eine bohrt die Löcher, der andere verstopft sie, wozu er sich kleiner Holznägel bedient. – Wir mußten in diesen Kellern schon viele Vorgänger gehabt haben, denn der Boden manchen Fasses sah wahrlich aus wie die Sohle eines neumodisch-gestifteten Stiefels.

Eine Stunde war um. Aus den unterirdischen Gassen stiegen wir lachend ans Tageslicht und schwankten in lautem Gespräch der Blackfriars-Brücke zu. Menschen und Häuser schienen uns zuzunicken, die finsteren Straßen waren wie verwandelt. – Ich habe die City von London so schmuck nicht wieder gesehn.

Alte Helden, neue Siege

Ich kam von Dulwich. Der Leser kann nicht bereitwilliger sein zu fragen: »Was ist Dulwich?« als ich geneigt bin, ihm darauf zu antworten. Dulwich ist eine Art Schönhausen, ein freundliches Dorf mit Park und Wiesen, mit hohen Ulmen am Weg und Spalierrosen an den Häusern, mit einem Schulgebäude im Königin-Elisabeth-Stil und einer Bildergalerie als Zugabe. Diese hatten wir besucht. Es ist bekannt, daß die englischen Galerien hinter denen des Kontinents zurückbleiben, und in der Tat, es sollte einem schwer werden, hier den Rubens unbedingt lieben zu lernen, oder gar den Tizian als das zu begreifen, was er ist. Mit Ausnahme von einem halben Dutzend Murillos, worin sich die Galerien von London und Dulwich brüderlich teilen, fehlen überall die Gemälde ersten Ranges. Man begegnet Raffaels, Correggios, Tizians und selbst (ungenießbaren) Michelangelos, aber sie blicken zum Teil so trübselig drein, als hätte man sie nur aufgestellt, um das Register berühmter Namen vollständig zu haben. Dennoch haben diese englischen Galerien ihren Reiz und ihr Verdienst. Wenn es ihnen versagt blieb, das Beste der großen italienischen Meister unsern Sinnen näher zu führen, so bieten sie doch stets ein Besonderes und Charakteristisches dar, und man verläßt kaum eine derselben ohne das Gefühl: über diesen oder jenen Namen erst jetzt den rechten Aufschluß gewonnen zu haben. So hat die Vernongalerie (eine Sammlung ausschließlich englischer Meister) ihren Hogarth und David Wilkins; so hat die Nationalgalerie ihren Claude-Lorrain; so haben die Säle in Hampton-Court ihre seltsamen, halb lächerlichen, halb klassischen Holbeins, und so hat die Dulwich-Sammlung ihre braunen Poussins. Schade, daß sich einige von der Herde in die Räume der Nationalgalerie verirrt haben und dort, ohnehin an unrechter Stelle, neben den Madonnen, ihre bacchantisch-sinnlichen Tänze tanzen. Könnte man sich entschließen, diese mit genialer Ockerverschwendung gemalten Satyrleiber, die grinsend schlafende Nymphen belauschen oder nüsternd sie umschleichen, der Dulwich-Galerie einzuverleiben, man würde eine Poussin-Sammlung haben, wie sie nicht besser gewünscht werden könnte. Dies Anstreben einer wenigstens einseitigen Vollständigkeit – ein Zug, der überhaupt das englische Wesen charakterisiert – ist's, was der Mehrzahl dieser Galerien einen Wert verleiht, den sie anderweitig nicht beanspruchen könnten und was einen praktischen Takt bekundet, der vielen unserer kontinentalen Bildersammler als Richtschnur dienen sollte. Es ist alter Weisheitsspruch: nur das Erreichbare zu wollen. Wessen Mittel nicht ausreichen, die Weltgeschichte zu umfassen, der macht sich nützlicher, wenn er die Chroniken von Müncheberg oder Treuenbrietzen studiert, als wenn er die römischen Kaiser mechanisch auswendig lernt; und reiche Bankiers, die gewissenhaft mit einem Prozent ihres jährlichen Überschusses »der Kunst aufhelfen wollen«, tun besser, eine Sammlung von Meyerheims, Koeckoecks oder Jordans an den Wänden zu haben, als das »Sümmchen« an einen zweifelhaften Tizian, wie z. B. »Venus und Adonis«, zu setzen, wovon, wie ich glaube, sieben echte Exemplare existieren.

Ich kam also von Dulwich; und, in die Omnisbusecke gedrückt, versuchte ich zu schlafen. Aber umsonst! Wer kennte nicht jenen unbehaglichen Zustand, wo der abgespannte Körper keine Freude am Wachen hat und der Geist zu aufgeregt ist, um uns das Schlafen zu erlauben. Die alten bewährten Mittel: bis hundert zählen und Meilensteine Revue passieren lassen, waren bereits erfolglos durchprobiert, so deklamierte ich denn in humoristischem Ärger:

»Schlaf, holder Schlaf,
Des Menschen zarte Amme, sag, was tat ich,
Daß du mein Auge nicht mehr schließen willst
Und meine Sinne in Vergessen tauchen.«

Aber auch die rührende Bitte König Heinrichs fand kein Ohr und ließ den Knicker Morpheus kein Körnchen Mohn aus seiner Kapsel fallen. Ein Engländer neben mir las die »Times«. Einen Augenblick war ich geneigt, ihn zu beneiden, und fest entschlossen, mich an der nächsten Ecke nach ähnlicher Lektüre umzutun, aber noch rechtzeitig ward ich andern Sinnes. Zwei Timeslesende Omnibusnachbarn sind gerade so ein Ding der Unmöglichkeit wie zwei Freunde, die Arm in Arm gehen und jeder einen Familienregenschirm aufspannen wollen. So sah ich denn über die nachbarliche Zeitung hinweg und begnügte mich damit, die ringsherum geklebten Omnibusannoncen: »Letzte Woche von Albert Smiths Besteigung des Mont-Blanc«; »Websters wohlriechende Sparsamkeitsnachtlichte«; »Surrey-Theater! Unerhörter Triumph! Balfes neue Oper: ›Der Teufel sitzt drin!‹ ( The devil is in it) mit Schlußfeuerwerk«, – zum hundertsten Male durchzustudieren. Man male sich mein Erstaunen, als ich unter den alten Bekannten plötzlich einen Fremden gewahrte, der mir in rot und blauen Buchstaben zurief: »Kricket!! Wettspiel zwischen elf Greenwich-Pensionären mit einem Arm und elf Chelsea-Pensionären mit einem Bein. Eintrittspreis: Sixpence. Ort: Kennington-Oval.« Das war was nach meinem Geschmack; von Müdigkeit keine Spur mehr: an Vauxhall-Bridge ließ ich halten und hatte die eine Sorge nur, vielleicht zu spät zu kommen; denn die Sonne stand bereits tief am Himmel.

Während ich rasch zuschritt, nahm meine Besorgnis freilich bald eine andere Gestalt an. Mir fiel ein Gedicht, halb Lied halb Ballade, ein, das eine ähnliche Situation behandelt wie die, der ich zuschritt; und während das Mißbehagen wieder lebendig in mir wurde, mit dem ich das sonst zierlich und reizend gearbeitete Gedicht stets betrachtet hatte, stand ich einen Augenblick auf dem Punkte, das seltsame Schauspiel dranzugeben. Jene Ballade spricht von einem alten Stelzfuß, der – einst Schillscher Husar und mit unter den Kämpfern von Stralsund – nun im geflickten Kollett inmitten der Jahrmarktsbuden steht und vergnüglich dem Karussellspiel der Kinder zuschaut. Die türkische Musik wird wilder, die hölzernen Pferde drehen sich rascher, die Kinder jubeln lauter und siehe da, das alte Husarenherz wird wie von alter Zeit berührt, und Spiel und Wirklichkeit zusammenwürfelnd, schwingt er sich auf eines der fliegenden Pferde und »jagt hinein in vergangenes Glück«. In glatten Versen macht sich so was recht gut, aber des Pudels Kern wollte mir nimmer behagen. Das Alter wird kindisch; gewiß! aber ich mag diese Wahrheit an keinem Schillschen Husaren demonstriert sehen. Nichts trostloser, als heruntergekommene Ehre oder gar kindisch gewordener Ruhm.

Das waren meine Gedanken, als ich in das Kennington-Oval, eine ringsum eingezäunte, wunderschöne Parkwiese eintrat. Ein Blick auf das Spiel, und alle meine Bedenken waren dahin. Das war kein kindisches Wesen, keine verzerrte Lust, das war die Heiterkeit, die den Mann ziert und ihn doppelt ziert, wenn er ein Held. Das ganze Schauspiel bot den Anblick eines Amphitheaters. Stühle und Bänke waren der erste Rang, der, von mehr als tausend geputzten Menschen besetzt, sich in weitem Kreis um die Spielenden herumzog; der Bretterzaun bildete die zweite Galerie, darauf die abgeschworenen Feinde des Entreezahlens in bekannter Reiter-Attitüde saßen, jeden Augenblick zur Flucht bereit; und endlich über den ganzen Schauplatz hinweg blickten ringsumher die Häuser und Balkone, auf denen die Ladys standen und bald auf das Spiel, bald in die untergehende Sonne schauten. Es war unendlich lieblich, und ein mäßiger Trompetenvirtuos, der seine Stückchen in die Abendluft hineinblies, gab der ganzen Szene etwas von dem Zauber, den die Könige unseres lieben, gestorbenen Posthorns über jede Landschaft auszugießen wußten.

So war die Szene; wie aber standen Spiel und Spieler? Die Entscheidung war nah, die nächsten Minuten mußten zeigen, wer Sieger sein sollte: Greenwich oder Chelsea. Die Chelseamänner, in ihren langen Röcken von englischrotem Tuch, standen um drei Nummern besser, aber die Männer von Greenwich mit ihren matrosenblauen Jacken und dem ehrwürdigen Dreimaster auf dem Kopf waren am Spiel, und ein guter Treffer konnte den Sieg wieder auf ihre Seite bringen. Viele hatten ihre Hüte zur Erde geworfen, und das spärliche weiße Haar der Greise flatterte im Winde. Es waren fast lauter Siebziger: bemooste Häupter von Trafalgar und selbst von Abukir, und wer seinen Arm bei Navarino gelassen hatte, war nur ein Fuchs. Da standen nun die alten Schöpfer und Träger britischen Ruhms, kaum minder eifrig als an Bord der Dreidecker, wenn die berühmte Enterbrücke Nelsons fiel; und Matrose und Soldat, die so oft gemeinschaftlich ihre Hände nach dem Kranz des Ruhmes ausgestreckt hatten, hier standen sie blitzenden Auges einander gegenüber und forderten ihn jeder für sich. Wie gesagt, Greenwich war am Spiel, und ein Alter mit einem Arm und einem Bein (das Spiel lautete: »Elf mit einem Bein gegen elf mit einem Arm«; es blieb indes jeder Partei unbenommen, sich mit weniger Gliedmaßen zu begnügen, weil begreiflicherweise die Chance des Gegners dadurch wuchs), ein völliger Krüppel und doch ein ganzer Mann, stand, die Kelle fest in der Hand und kein Auge von seinem Gegner lassend, vor den drei Gitterstäbchen seines Spiels und parierte den anfliegenden Ball mit sicherem Blick und fester Hand. Dreimal hatte er ihn zurückgeschlagen, aber nicht weit genug, um mit seinem Stelzfuß den Hin- und Herlauf, den das Spiel vorschreibt, zu wagen; aber jetzt, beim vierten Schlage, war das Glück mit ihm und mit der Ehre von Greenwich. Weit über das Feld weg flog der Ball, und schnell berechnend, daß er den vorgeschriebenen Weg werde dreimal zurücklegen können, setzte er sich jetzt, auf und ab, in Geschwindschritt. Aber an einem Haare hing der Sieg: ehe er zum dritten Male die Stäbe erreichen konnte, war sein Gegner (den er unterschätzt haben mochte) dem Ziele näher als er selbst. Was tun? Greenwich schien verloren; da sieh, mit schneller Geistesgegenwart warf sich der Alte zur Erde nieder, und schon im Fallen die Kelle vorstreckend, durchmaß er im Nu die acht Fuß Entfernung, die ihn noch von den Gitterstäben trennten. Nicht er, aber die äußerste Spitze seines Holzes war am Ziel. Ein Beifallssturm erhob sich ringsum; auf den Balkonen winkten die Damen mit ihren weißen Tüchern, und die unermüdliche Trompete schmetterte Tusch. – Das Spiel war aus und Greenwich Sieger.

Aber das wäre ein schlechtes englisches Fest, das nicht ein Festmahl hätte! Geschäftige Hände schleppten Eichentische herbei, Kellner und Mägde trugen Beef und Pudding in dampfenden Schüsseln auf, und ehe zehn Minuten vorüber waren, saßen die Gegner in bunter Reihe am Tisch, schwatzend wie am Wachtfeuer nach schwergetaner Kriegsarbeit, und schwenkten die Zinnkrüge, auf die das weiße Licht des Mondes fiel. »Die Königin hoch! Die Flotte hoch!« ging's im Kreise herum; weiter vernahm ich nichts, denn leichte Wolken hatten sich inzwischen über den Mond gelagert, und aus dem nachbarlichen Garten von Vauxhall stiegen zischend drei Raketen in die Luft. Mein Auge hatte nicht Zeit, sich von seinem Erstaunen zu erholen, denn plötzlich flammte, unter Blitzen und Knattern, der ganze Garten auf: Schwärmer und Feuerräder, Sonnen- und Bienenkörbe; – es war, als flöge der »l'Orient« zum zweiten Male in die Luft.

An den Eichentischen aber saßen bei Porter und Ale die Helden jenes Tages und manches anderen, unangefochten von der Erinnerung an sich selbst; denn der Mensch vergißt alles: seine Liebe wie seinen Haß, und selbst auch – seinen Ruhm.

The Poet's Corner

»Sieg oder Tod«, so klingt es bei uns, wenn, Mann gegen Mann, die Schlachtenwürfel fallen; aber » victory or Westminster-Abbey!« ruft Alt-England, wenn's über die Enterbrücke hinweg zum Sturm auf die feindlichen Schiffe schreitet. Wie anders das! An die Stelle des Knochenmannes tritt sein glänzender Tempel und die Schlacht wird zu einem Spiel, drin jede Nummer gewinnt: – »Sieg oder – Ruhm.«

Es gibt ihrer viele (auch in England), die in Sachen des Ruhmes wie John Falstaff denken und von der Ehre sprechen: »Sie ist kein Wundarzt.« Aber welcher Brite nur den schwächsten Ruhmeskeim im Herzen trägt, der muß ihn wachsen und gedeihen sehen, wenn er unter dem stolzen Marmor der Westminster-Abtei dahinschreitet und in dem steinernen Gedenkblatt blättert, das Volk und Land ihrer Größe errichtet haben. Wer er auch sein mag, dieser Tempel hat Raum für ihn: keiner, ob eines Bettlers oder eines Herzogs Kind, ist von der Mitbewerbung ausgeschlossen, und ob er ein Pitt sei, der von der Rednerbühne die Geschicke des Landes, oder ein Garrick, der von der Schaubühne herab die Empfindungen des Menschenherzens leitet – Westminster forscht nicht nach dem Weg zum Ruhme, es kennt keine Grade, keine Stufen, es kennt nur den Ruhm selbst.

Es sind so heiße Tage jetzt, und im Vorübergehen an dem alten Prachtwerk der englischen Baukunst lieb ich es einzutreten in das kirchenkühle Schiff und mich satt zu trinken an jenem wunderbaren Blau, das ich Mal auf Mal aus den hohen glasbemalten Fenstern wie eine wirkliche Flut auf mich herniederströmen fühle. Laß uns einen Rundgang machen, Leser, erst durch das Schiff der Kirche, wo der Kriegsruhm seine Lieblinge gebettet oder einen Gedenkstein zur Erinnerung an die weitab Gefallenen errichtet hat. Alle Punkte der Erde, alle Zonen, wohin britischer Unternehmungsgeist jemals vordrang und seine Eroberungen mit Blut besiegelte, klingen hier an unserm Ohr vorüber, und die Worte jenes spukhaften Liedes:

Und die im kalten Norden
Erstarrt in Schnee und Eis
Und die in Welschland liegen,
Wo ihnen die Erde zu heiß ...

werden an dieser Stelle lebendig in uns und steigern die Schauer des Orts. Wir haben den Hauptgang durchschritten. An der Kapelle Eduards des Bekenners vorüber, die neben dem Totenschrein des frommen Fürsten den schmucklosen Thron der englischen Könige beherbergt, eilen wir jetzt rascheren Fußes der Kapelle Heinrichs VII. zu, weniger um die Pracht des ganzen Baues, die phantastische Schönheit der Decke, oder gar die herniederhängenden Banner der englischen Ritterschaft zu bewundern, als vielmehr um rechts und links (zu beiden Seiten der eigentlichen Kapelle) die Marmorbildnisse jener königlichen Frauen zu betrachten, die jetzt, an einer Stelle fast, auf ihren Sarkophagen ruhen, während ihnen ganz England einst zu klein erschien, um beieinander Raum zu haben. Aus ihren Zügen spricht kein Haß mehr, nur Schönheit und Ruhe. Sie blicken uns nicht an wie aufgefaßt in ihrer Sterbestunde, von Alter und Tod jedes Reizes entkleidet, nein, jene Elisabeth ist es, zu deren Füßen sich der Mantel Walter Raleighs breitete, und jene Maria, an deren Auge die Jugend Schottlands hing. Jakob I. bestattete beide hier, von denen ihm die eine den Thron, die andre das Leben gab.

Noch andere Plätze lieb ich im Fluge zu berühren (die Grabmäler James Watts und Wilberforces und Warren Hastings), aber das Ziel solchen Umgangs bleibt doch immer Poet's Corner, der Poetenwinkel, wo ich, auf einer der hölzernen Kirchenbänke Platz nehmend, den Orgeltönen zu lauschen pflege, die während des Nachmittagsgottesdienstes die Kirche durchbrausen. Dann ist mir's oft, als belebe sich der Marmor um mich her, und als horche Händel von seinem Piedestal herab mit gespanntem Ohr und gehobenem Finger, und zähle die Takte und probe die Klänge – seines eigenen Chorals vielleicht. Die Orgel schweigt, nur ein Zittern geht noch durch die Luft, aber die Geister des Orts haben mich bereits in ihrem Bann, und wie Flüstern naher und ferner Stimmen summt es um mich her. Es winkt von hier und dort und zieht mich heran, näher und näher. Da lacht John Gay mich an, der Fabel- und Lustspieldichter, zu dessen Füßen Maske, Dolch und Flöte ruhen und dessen selbstverfaßte Grabschrift:

»Eine Posse das Leben! so stellt sich's dar; –
Einst hab ich's geglaubt, nun seh ich's klar.«

den Mann gibt, wie er war: kurz und scharf, Epigramm und Satire. Da ist wenig Schritte von ihm Thomas Gray, der berühmte Verfasser der »Elegie auf einem Dorfkirchhof«, der Vorläufer und das Vorbild unseres Hölty und der schuldlose Vater jener Sentimentalität, die sich noch immer durch alle englische Kunst hindurchzieht und ihren krassesten Ausdruck in den Gesichtern der englischen Stahl- und Kupferstiche findet. – Zur Seite des Grayschen Bildes und deutungsreich ihn überragend, steht Milton, der Dichter des verlorenen Paradieses, und um die Leier ihm zu Füßen, anspielend auf sein unsterbliches Werk, windet sich die Schlange mit dem Apfel. Dryden schrieb die Inschrift in der elegant-pathetischen Weise seiner Zeit:

Homer und Dante – eurem Dichtertum
Gesellte Milton seinen größern Ruhm:
Des einen Schwung, des andern Majestät
In unserm Dichter beieinander steht.
Natur tat alles, des sie fähig war,
Als aus den zwei'n – den dritten sie gebar.

Da grüßen vielberühmte Namen noch, von Chaucer an, »dem Vater der englischen Dichtkunst«, bis nieder zu Robert Southey, dem letzten lorbeergekrönten Haupte, das Einzug hielt in den Poet's Corner. Und zwischen diesem Anfangs- und Ausgangspunkt welche Reihenfolge glänzender Talente! Ben Jonson, mit der sprechenden Grabschrift: o rare Ben Jonson; Spenser, der Schöpfer jener Strophe, die unter Lord Byrons Meisterhand zu neuem Ruhme erstand; Samuel Butler, der Verfasser des Hudibras, dieses auf englischen Boden verpflanzten Don Quijote; und Oliver Goldsmith auch, dessen Pfarrer von Wakefield unser aller Jugendgefährte und der eiserne Bestand unserer Schulmappe war.

Aber vor allem sind es zwei Bildwerke doch, die immer wieder und wieder die Aufmerksamkeit unseres Auges erzwingen: Garrick und Shakespeare. Zu der Berühmtheit der Namen gesellt sich eine besondere Tüchtigkeit (ich hörte diese Tüchtigkeit später bestreiten; doch konnten mich die gemachten Ausstellungen nicht überzeugen) der Kunstwerke selbst. Eine faltenreiche Gardine nach beiden Seiten hin zurückschlagend, tritt der geniale Verkörperer des Shakespeareschen Wortes hinter derselben hervor. Sinnig hält über seinem Haupte das Brustbild Shakespeares, wie eine Agraffe, die beiden Flügel des Vorhangs zusammen, und während die tiefere Idee der Darstellung auf ein Entschleiern, gleichsam ein Auseinanderschlagen der Shakespeareschen Schönheit hinausläuft, gibt der Bildhauer zu gleicher Zeit die einfachste und möglichst charakteristische Situation für die Vorführung eines dramatischen Künstlers überhaupt. In den Zügen des Kopfes paart sich das Geistvolle mit dem freundlich Wohlwollenden auf eine herzgewinnende Art, und die Worte am Piedestal lauten wie folgt:

Ein Zeichner der Natur – in seiner Hand
Den Zauberstift – kam Shakespeare in dies Land,
Doch seinen Ruhm verschwendrisch zu verbreiten
Trat Garrick auf; die Welt sah keinen Zweiten.
Die Kunstgebilde, die der Dichter schuf,
Belebten neu sich auf des Mimen Ruf,
Und was in Schutt und Nacht begraben lag,
Es stieg in hellrem Glanze an den Tag.
Drum bis die Ewigkeit einst, unbewegt,
Die Sterbestunde aller Stunden schlägt,
Soll wie ein Zwillingssternbild anzusehn
Shakespeare und Garrick uns zu Häupten stehn.

Schrägüber seinem Jünger und Apostel steht Shakespeare selbst in ganzer Figur. Er lehnt an einem Säulenabschnitt, der die Büste Elisabeths, als der Pflegerin seiner Kunst, und die Köpfe Heinrichs V. und Richards III. als hervorragender Gestalten seiner Dramen trägt. Shakespeare selbst, nach Sitte seiner Zeit gekleidet, mit vollem Bart um Mund und Kinn, schaut ohne den leisesten Zug jener espritvollen Heiterkeit auf uns hernieder, die den Kopf Garricks so augenfällig charakterisiert. Deutsch-tief, ruhig, fast träumerisch und nur angeflogen von jenem lachenden Humor, der doch zur Hälfte das Kind des Schmerzes ist, blickt dies Antlitz vor sich hin, und die Größe des Mannes erschließt sich uns, je mehr und mehr wir uns in dies träumerische Steinbild versenken. Kaum bedarf es einer Inschrift zum vollen Verständnis dieser Züge, aber es sind berühmte Worte (Worte Miltons), und ich gebe sie:

Mein Shakespeare du, dein heiliges Gebein,
Was braucht es Marmor und granitnen Stein?
Was brauchst du Säulenschaft und Säulenknauf
Und Pyramiden bis zum Himmel auf?
Du Ruhmes Erb und der Erinnrung Kind,
Was brauchst du Zeichen, die nur flüchtig sind?
In unsrer staunenden Bewunderung
Ersteht dein Denkmal immer neu und jung,
Die Seele liest dich mit entzücktem Bangen,
Wir werden selber marmorn im Empfangen,
Und unsre Herzen sind dein Sarkophag,
Um den manch König dich beneiden mag.

Ich habe die Worte niedergeschrieben; Orgelklänge durchbrausen aufs neue das Schiff der Kirche; der Nachmittaggottesdienst ist aus, und der kleinen Versammlung mich anschließend, die eben jetzt an mir vorüberhuscht, eile ich mit hinaus, über die hundert Grabsteine hinweg, die an der Nordseite von Westminster, Stein an Stein den Kirchhof bedecken. Ich habe nicht Zeit und Muße mehr, bei ihren Inschriften zu verweilen, und aufatmend im hellen Sonnenlicht, dem ich noch vor einer Stunde geflissentlich entfloh, schreit' ich jetzt dem nördlichen Gitter des Green-Parks zu, um, Platz nehmend auf einer jener hundert Bänke, das buntbewegte Leben Piccadillys wie einen endlosen Strom an mir vorüberziehen zu sehen. Welch Fluten! Zu Roß und zu Wagen jagt der schimmernde Glanz des Tages dahin; die lachende Schönheit, das beneidete Gold, die am Ruder befindliche Macht – aber wie reich sich dieses Leben erschließen mag, wie wenige gehören ihm an, die von der Hand des Todes nicht gleichzeitig hinweggewischt werden von der Tafel des menschlichen Gedächtnisses, und wer ist unter ihnen, dessen Marmorbild jene stille Ruhmeshalle beschreiten wird, die zwischen den Bäumen des Parks wie ein Nebelbild herüberschimmert?!

Die Kunstausstellung

»Waren Sie schon in der Exhibition?« Diese nicht eben allzu oft wiederholte Frage hat in diesem Jahre eine sehr verschiedene, gleichsam eine bescheidenere Bedeutung als im vorigen: es handelt sich um keinen Weltbasar mehr, sondern nur noch um eine jährlich wiederkehrende Ausstellung von Gemälden. In den Sälen der Nationalgalerie, fast Wand an Wand mit den Murillos und Correggios, einer dort konstanten und unserem »Museum« entsprechenden Gemäldegalerie, hat man zur Schaustellung neuester englischer Kunst drei Zimmer von mäßiger Größe hergegeben; und wenn man anfangs erschrickt über die Dürftigkeit des bewilligten Raumes, so überzeugt man sich bald, daß ein Zimmer statt drei immer noch ausreichend für das vorhandene Gute gewesen wäre. Wie ich vernehme, werden alljährlich dreitausend Bilder eingesandt, unter denen, wegen Mangels an Raum, das Komitee eine Auswahl trifft. Die tausend besten werden angenommen. Es ist unmöglich, auf die Mehrzahl dieser Auserwählten zu blicken, ohne mit künstlerischem Schrecken derer zu gedenken, die da anklopften, ohne daß ihnen aufgetan wurde. Kunst und Publikum können nur wünschen, daß die Säle der Nationalgalerie immer kleiner und somit, nolens volens, das Komitee immer strenger werden möge, denn die ganze Sünde dieser Ausstellung ist ihr Zuviel. Es sind wirkliche Schätze vorhanden; aber die nachbarlichen Fratzen schrillen disharmonisch in das schöne stille Lied, das uns eine gelungene Landschaft singt, und die lächerliche Karikatur des historischen Bildes nimmt uns so gewiß Sinn und Stimmung für das wirkliche, wie Hamlet und all sein Entsetzen uns lächerlich erscheinen würde, wenn drei Schritt hinter dem Geist seines Vaters eine Katze über die Bühne schliche.

Doch halten wir uns an das Gute. Da sind zunächst die Porträte. Sie prävalieren an Wert wie an Zahl. Die Kunstausstellungen drohen mehr und mehr zu bloßen Porträtgalerien zu werden. »Die Kunst geht nach Brot.« Was Lessing seinen Maler Conti vor fast hundert Jahren sagen ließ, ist heut mehr denn je eine Wahrheit. Bestellt wird wenig oder nichts; und auf gut Glück hin ein mächtiges Wandbild zu malen, wie wenige dürfen's wagen? Jeder flüchtet in das Klein- und Familienleben, weil das große und allgemeine ihn verhungern läßt. Die eigentliche Kunst verliert dabei, die Porträtkunst gewinnt: das bloße Bildnis wird gelegentlich zum historischen Bilde. Wem hätte sich das nicht beim Besuch unserer deutschen Ausstellungen aufgedrängt? Und wie dort, so auch hier. Nur eines hat England voraus – die Schönheit der Originale, den Zauber ihrer Gesichter. Da ist eine Gräfin Kintore. Ich habe von Leuten gelesen, die sich in Bilder verliebten, und von anderen, die nicht eher ruhten, bis sie das Urbild gefunden hatten; ja, einer starb vor Gram, weil es eine Tote war, die er liebte. Das ist zum Lachen, – wie alles in der Liebe; aber jeder lacht, bis ihm selber die Stunde schlägt. Wenn mich jemand fragte, was »Adel« sei, so würde ich ihn schweigend am Arme fassen und vor dies Bildnis führen; kein deutsches Wörterbuch könnte so zu ihm sprechen wie diese stillen Züge. Da ist nichts von der herrschenden Hoheit einer Königin, und nichts von dem forcierten Stolz einer Citytochter, die über sich hinaus will; weich und doch fest, bescheiden und doch selbstbewußt blickt dich dies Auge an und erzählt dir von dem echten Adel, der weder sich brüsten noch sich bücken mag, sondern, die Hand zum Volk und das Auge zum Thron, gradauf und unbeirrt seine Pfade zieht. Und dazu wie schön! Wie neidisch blickt man auf dies Perlenband, das, bis zum Knöchel des Arms herabgeglitten, die weiße Hand zu küssen scheint!

Doch lassen wir die Gräfin; es tut ein für allemal nicht gut, wenn sich Poeten für Prinzessinnen erwärmen, und wenn ich's nicht aus dem Tasso wüßte, so könnte ein zweites Bild, zu dem wir uns jetzt wenden wollen, die Beweisführung übernehmen: »Pope erklärt Lady Montague seine Liebe.« Es ist ein vortreffliches Bild (von W. P. Frith) und erinnert an die gelungensten Arbeiten unseres Adolf Menzel. Die Situation, laut Katalog, ist folgende: »Zu der schlechtestgewählten Zeit von der Welt, wo die Lady alles andere eher als eine ›Erklärung‹ erwartete, gestand ihr der Dichter seine Liebe, und zwar in so leidenschaftlichen Ausdrücken, daß trotz aller Anstrengung, ernst und ehrbar zu bleiben, ein lautes Lachen der Lady doch endlich ihre einzige Antwort war.« Der Künstler hat seine Aufgabe glänzend gelöst. Wir sehen das Studierzimmer des Dichters, Bücherbände und mächtige Folianten im Hintergrunde; am Schreibtisch aber, dran vor wenigen Minuten noch vielleicht unsterbliche Zeilen niedergeschrieben wurden, steht jetzt, mit der rechten Hand sich auf die Tischplatte stützend und den Kopf vor herzlichem Lachen in den Nacken gebogen, die schöne Lady, mehr eine italienische als eine englische Schönheit. Das volle dunkle Haar in seiner Flechtenfülle macht den Eindruck, als sei es der Kammerfrau am Morgen schwer gefallen, Raum für diesen Reichtum zu schaffen; der rote Morgenschuh, mit der chinesisch umgebogenen Spitze, guckt kokett unter dem bauschigen Schleppenkleid hervor, und das weit ausgeschnittene Mieder macht die Raserei des Dichters doppelt begreiflich. Ach, und selbst ihr Lachen leiht ihr nur neuen Reiz: der halbgeöffnete Mund und diese Doppelreihe blendend weißer Zähne wären allein schon genug für eine Liebeserklärung, und doch spricht dies selbe Lachen sein Todesurteil. Kein Trost ringsum! im Hintergrunde steht eine reizende Marmorgruppe: »Amor und Psyche«, und ihre lachenden Gesichter scheinen mit einzustimmen in die Heiterkeit des schönen Weibes. Wie aber finden wir den Dichter! Im breitschößigen schwarzen Frack, mit seidenen Strümpfen und blitzenden Schuhschnallen, dazu im Schmuck einer riesigen Allongeperücke (vielleicht so lang nur, um den bekannten Höcker zu verbergen) sitzt er mit übergeschlagenen Beinen auf einem der prächtigen Polsterstühle und blickt, seinen Rücken der Lady zugewandt, mit einem unvergleichlichen Ausdruck von Scham, Wut und Rache vor sich hin. Alle Muskeln seines Gesichts sind in zitternder Bewegung und, aller Wut zum Trotz, noch immer von seiner Leidenschaft beherrscht (ein Wink von ihr, und er würde ihr die Spitze des chinesischen Pantoffels küssen), wägt er jetzt ersichtlich in seiner Seele ab zwischen Don Juan und Faust, zwischen Genuß und Ruhm, und seine Schale hoch in der Luft erblickend, schaut er drein wie die leibhaftig gewordenen Worte:

»es kommt die Stunde,
Wo dir der Donna Anna Busennadel
Mehr Glück verbirgt, als dir die Welt kann bieten«.

Armer Pope, für wie wenig hättest du deine berühmteste Ode hingegeben!

In demselben Saale finden wir das beste und bedeutendste Bild der ganzen Ausstellung: »Charlotte Corday auf ihrem Todesgange«. Es geht was Geniales durch das ganze Bild. Unter den vielen verfehlten Versuchen, das große französische Revolutionsdrama, oder wenigstens Szenen aus ihm, zu einem Kunstwerk abzurunden, haben wir hier endlich ein gelungenes. Charlotte (rechts vom Beschauer) tritt eben aus dem Gefängnis; ihre Tracht ist ein blutrotes Kleid; zwei republikanische Soldaten führen sie, und eine Heldin des Maratklubs, in buntfarbigem Friesrock, mit Jakobinermütze und Freiheitskokarde, hebt drohend ihre Rechte gegen das fest und ruhig einherschreitende Mädchen. Die Charakteristik dieser Gruppe ist ebenso wahr, wie die Kontraste frappant sind. Die brutal-schmunzelnden Soldatengesichter, die an dieser zweifellos mit Gemeinheiten aufgeputzten Drohrede ihre unverhohlene Freude finden; das sonnverbrannte, stumpfnasige, von Sinnlichkeit und Fanatismus beherrschte Weibergesicht, und zwischen all dem Schmutz die hohe Stirn des todesmutigen Mädchens, das (wer verdächt es ihr!) mehr Ekel als Lust an diesem Leben zu empfinden scheint – man kann nichts Ergreifenderes sehen! Die andere Seite des Bildes fesselt nicht minder: hier haben wir die Creme jener Tage: Danton, Robespierre, Camille Desmoulins. Ich habe mir den letzteren, der schlechtweg »der schöne« hieß, schöner gedacht und würde den Fleischkoloß ihm zur Seite, mit Stulpenstiefeln und roter Mütze, eher für den Fleischer Baboeuf als für den genialen Danton gehalten haben, der geistvoll, sprudelnd und schöpferisch, sozusagen der Mirabeau der Schreckensherrschaft war. Dennoch steh ich ab davon, mit dem Maler um dieser seiner Auffassung willen zu rechten; was er gegeben hat, ist an und für sich überwältigend, und kümmert's mich wenig, wessen Auge es ist, das die Kraft hat, mich mitten in jene Blutzeit zurückzuzaubern, und wem die lebensvoll ausgestreckte Hand gehört, die ich, erschüttert von dem ganzen Hergang der Szene, ergreifen möchte, um für das schöne, hohe, nun besudelte Weib um Gnade zu flehn. Und wär ich eigensinniger, und brächt ich's nicht über das Herz, ihm diesen untergeschobenen Fleischer zu verzeihen: die Mittel- und Hauptfigur des Bildes – Robespierre machte alles wieder gut. Im seidnen, himmelblauen Staatsfrack, sauber, zierlich, duftig, vom gepuderten Toupet an bis herunter zur blinkenden Schuhschnalle, so haben wir den »Träger der reinen Idee« vor uns, und wäre nicht sein aschgrauer Teint und ein gewisses Zwinkern in den Augenwinkeln, man könnte versucht sein, ihn für einen Hochzeitbitter zu halten. Er war es auch, aber des Todes; andre sagen – der Freiheit. Das Mädchen hat keinen Blick für ihn; sie kennt diesen blaubefrackten, zierlichen Mann, der sich ihr nähert, als gedächt er sie zum Tanze zu führen (welch ein Tanz!), sie weiß, seine Seele hat nichts gemein mit jenem Blumenstrauß im Knopfloch, sie weiß, das Bild seines innersten Menschen – ist jener halbmannshohe, braun und weiß gefleckte Bluthund, der jetzt, von seines Herrn Hand gehalten, noch finster vor sich niederstarrt, aber losgelassen im nächsten Augenblick sich auf sein Opfer stürzen wird – auf sie. Das ist das Bild; der Name des Malers ist Ward. Ich lieb es, Kunstwerke nach der Tiefe des Eindrucks zu beurteilen, den sie auf mich hervorbrachten; wenn dies Kriterium gilt, so zählt das Bild zu dem Besten, was ich je gesehen.

Lassen Sie mich diesen Brief mit einer allgemeinen Bemerkung schließen, deren Nüchternheit schlecht passen mag zu der warmen, freudigen Hingebung, mit der ich das Wardsche Bild besprochen. Was sich mir beim Durchwandern dieser Säle und bei wiederholten Besuchen immer wieder und wieder aufdrängte, das war (vielleicht mit alleiniger Ausnahme des eben ausführlicher besprochenen Bildes) der gänzliche Mangel an Originalität, an besonderem Stil, den man sich versucht fühlen könnte, den englischen zu nennen. Vor Jahr und Tag fuhr ich mit der Post. Ein Reisender erzählte mir von Australien und dem Charakter seiner Landschaften; aus dem Wagen blickend, rief er aus: »Wenn eine Wunderhand uns jetzt in die Nähe von Melbourne trüge, Sie würden ruhig weiter fahren und weder in Wald noch Feld bemerken, daß wir bei den Antipoden seien.« An diese Worte wurde ich auf der Londoner Kunstausstellung aufs lebhafteste erinnert: ich war wie unter alten Bekannten, da war nichts, was nicht ebensogut Produkt eines deutschen Ateliers hätte sein können. Meine Leser mögen hierauf erwidern: »wenn das ein Tadel sein soll, so trifft er Deutschland so gut wie England« – und das soll er auch. An die Stelle des Besonderen und Nationalen tritt mehr und mehr ein gewisser Kosmopolitismus in der Kunst. Das gilt nicht nur von der Malerei; vielleicht mehr noch von Dichtkunst und Musik. Viele begrüßen das und träumen sogar von einer Weltsprache. Die Partie steht so: Eisenbahn gegen Turmbau zu Babel. Ich bin nicht zweifelhaft, wer der letzte Sieger sein wird; aber das falsche Werk der Einheit stieg hoch, eh es zu Fall kam, und unsere Zeit baut wieder daran. Ich denke so: ein Gesetz der Schönheit, aber in ihm die – Mannigfaltigkeit.

Der Tower

Die Sonne lacht und der Himmel ist wolkenlos. Ein Steamer trug uns von Westend bis an die Londonbrücke, und auf gut Glück dem Menschenstrom uns überlassend, der jetzt in die Themsestraße einmündet, befinden wir uns plötzlich inmitten des bunten City-Treibens und schwanken, staunenden Auges, was reicher sei: der blitzende Basar, von dem wir kommen, oder das rußige Bergwerk, zu dem wir gehen. Ganz London ein goldener Baum: Westend seine Blüte, aber die City – Wurzel und Stamm.

Doch wir haben andere Ziele heut als Dock und Speicher, als Keller und Werft, und vorüber an Billingsgate, dem weltberühmten Fischmarkt, der mit seinen Austern und Muscheln und all seinem noch kribbelnden Seegewürm: Krabben und Krebse, Lobster und Spinnen – vor uns liegt wie ein trockengelegtes Stück Meer, vorüber auch an Zollhaus und Kohlenbörse, geraten wir jetzt auf einen weiten, freien Platz, der mählich ansteigend einem gepflasterten Hügel gleicht. Auf ihm liegt der Tower. Gespenstisch-grau steht er da: ein Grabmonument über einer gestorbenen Zeit und – die englische Geschichte seine Inschrift.

Der Tower ist eine Art Fort, von einem breiten, jetzt ausgetrockneten Graben ringsum eingefaßt, und besteht aus einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Wällen und Türmen, deren bedeutendster, der weiße Tower, wiederum eine Zitadelle für sich bildet und isoliert aus der Mitte des geräumigen Festungshofes emporragt. Wie weit der Tower unseren modernen Anforderungen an einen »festen Platz« entspricht, muß ich dahingestellt sein lassen; seine Lage indes, auf einem Hügel inmitten der Stadt und in unmittelbarer Nähe der Themse, darf noch jetzt als überaus günstig bezeichnet werden: er beherrscht Stadt und Strom. Es ist um deshalb auch mindestens wahrscheinlich, daß der alte Römerturm, dessen Überbleibsel einem noch jetzt als Fundament des weißen Towers gezeigt werden, wirklich an dieser Stelle gestanden habe, da keinem Kriegsverständigen, geschweige einem Cäsar, die Vorteile dieser besonderen Lage entgehen konnten. Der jetzige Tower, soweit er überhaupt dem Mittelalter angehört, ist überwiegend eine Schöpfung Wilhelms des Eroberers, der eine Festung nötig glaubte, um das zu Aufständen geneigte London (man ersieht nicht, ob aus Anhänglichkeit an die alte Sachsendynastie) im Zaume zu halten.

Nur wenige Teile des Towers, und nicht eben die interessantesten, stehen dem Publikum zur Besichtigung offen.

Wer alles sehen will, bedarf einer Erlaubniskarte von seiten des Herzogs von Wellington, wenn er's nicht (was anzuraten ist) vorzieht, sich jenes silbernen Schlüssels zu bedienen, der überall schließt, auch im Tower zu London.

Der Besucher passiert zunächst vier aufeinander folgende Tore, die jeden Morgen bei Tagesanbruch mit allen Förmlichkeiten einer Festung geöffnet werden. Am ersten oder zweiten Tore gewahrt man eine Art Wachtlokal, vor dem ein halbes Dutzend seltsam gekleideter Gestalten auf und ab patrouillieren und gähnend in die Morgensonne blicken: es sind die Towerwächter in ihrem mittelalterlichen Trabantenkostüm. Vordem hießen sie »Yeomen«; die große Masse Rindfleisch indes, die sie in der königlichen Vorhalle zu vertilgen pflegten, wenn sie Dienst im Schlosse hatten, zog ihnen den Namen »Beefeater« (Rindfleischesser) zu, eine Bezeichnung, die ihnen – und ihren wohlgenährten Gestalten nach mit vollem Recht – bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Ihre Tracht ist mehr auffällig als schön, wiewohl jedenfalls nicht häßlicher als der taillenlose Schwalbenschwanzfrack eines modernen englischen Soldaten. Das Kostüm des Beefeaters besteht aus einem roten, vielfach mit allerhand Plattschnur besetzten Waffenrock und einem Hut, der, mit Ausnahme seiner breiten Krempe, genau der samtnen Kopfbedeckung unsrer protestantischen Geistlichen gleicht. Einen dieser Torwächter wählt man als Führer.

Was wir zunächst gewahren, ist der Bell-Tower(Glockenturm), auf dem sich die Alarmglocke für die Garnison befindet. In diesem Turme saß Prinzessin Elisabeth und vor ihr Graf Salisbury gefangen; doch bedarf beides der Bestätigung. Wenige Schritte weiter bemerkt man in dem Steinwall zur Rechten eine schwere, eisenbeschlagene Tür; das ist »Traitors Gate«, das »Hochverrätertor«. Von einer zur Seite gelegenen Schreinerwerkstatt aus läßt sich ein Überblick über diesen Ort gewinnen. Es ist ein Wasserbassin von der Größe und dem Ansehn einer geräumigen Badezelle; von oben blickt der Himmel herein. Einander gegenüberliegend, gewahren wir zwei Tore: das eine führt auf den Strom, das andere zum Towerhof. Geräuschlos, meist in dunkler Nacht glitt das wohlbesetzte Boot die Themse hinunter. Fernab von Volk, Freunden und jeder Möglichkeit der Rettung, starrte der Angeklagte vor sich hin und ahnte: ich fahre in den Tod. Wenn das Außentor sich öffnete und wieder schloß, war er schon wie im Kerker: vier hohe Wände ringsum und nur ein Streifen Himmel über sich. Zu ihm mocht er aufblicken, ihn mocht er anrufen: das Ohr und die Gnade der Menschen lagen weit hinter ihm. Schweigend legte sich das Boot an die steinernen Stufen, die noch jetzt zu dem inneren Tore hinaufführen, und der Verklagte bestieg sie wie seine erste Leiter zum Schafott. Der letzte, der hier anlegte, war Arthur Thistlewood, ein Führer der Cato-Street-Verschwörung; wenig Wochen später war er gehenkt. Unter den wenigen, die diesen Weg zweimal machten, hin und zurück, war Prinzessin Elisabeth.

Fast gegenüber von Traitors Gate bemerken wir einen zweiten Turm. Er heißt Bloody-Tower, Blutturm. Hier wurden die Söhne Eduards erwürgt. Im zweiten Stock gewahren wir ein Fenster mit trüben, in Blei gefaßten Scheiben; dahinter liegt der Ort der Tat. Das Fenster steht halb offen und schaut drein, als bät es den sonnigen Tag um Luft und Licht. Umsonst! Der Blutgeruch haftet hier, wie an den weißen Händen der Lady Macbeth.

Das gewölbte Tor des Blutturms führt uns auf einen geräumigen Platz, von Wällen, Türmen, altertümlichen Häusern und modernen Kasernen ringsum eingefaßt. In der Mitte des Platzes erhebt sich der White-Tower. Nach der Ostseite hin erblicken wir die Überreste des Bowyer-Turms, wo der Herzog von Clarence im Malvasierfaß ertränkt wurde. Nicht fern davon ist der Brick-Tower, wo Lady Jane Grey gefangen saß, und der Wakefield-Turm, wo Heinrich VI. ermordet wurde. Interessanter aber für den Besucher ist der Beauchamp-Turm, das ehemalige Staatsgefängnis, worin die Mehrzahl derer saß, die unter der Anklage des Hochverrats standen. Wir treten ein. Was wir zuerst erblicken, ist, aus der Kellertiefe emporragend, der Oberteil eines backofenartigen Kerkers. Aber dieses Wort ist Beschönigung: es ist ein Kerkerloch. Der Raum reicht nur eben aus zum Sitzen; es ist unmöglich, sich darin zu strecken oder gar aufrecht zu stehen. Kein Lichtstrahl dringt hinein. Die Wände dieser Höhle sind mit eingekratzten Namen bedeckt (ich sah sie beim Schimmer eines angezündeten Lichtchens), aber teils unleserlich, teils ungekannt. Nur von einem weiß man mit Sicherheit, daß er hier atmete: Lord Cholmondely (zur Zeit Heinrichs VIII. oder der Maria Tudor) saß hier sieben Jahre. – Eine Steintreppe führt uns in den ersten Stock, und wir befinden uns jetzt in einem achteckigen Zimmer, dem ziemlich geräumigen Speisesaal der Tower-Garnisons-Offiziere. Vor drei Jahrhunderten saß hier minder heitere Gesellschaft am Tisch; zahllose Inschriften an den Wänden geben Kunde davon. Viele sind flüchtig eingekratzt, wie in der letzten Stunde vor der Befreiung oder doch (denn zu oft nur war es Täuschung) in dem Glauben daran. Andere sind tief und sauber eingegraben; die Arbeit eines Mannes, der da wußte: ich habe Zeit. Oft begegnet man dem Schriftzuge AR, den Anfangsbuchstaben des Lords ARundel, Grafen von Norfolk. Hier saß Thomas Bell (Glocke); er hat eine Glocke gezeichnet und seinen Vornamen samt Jahreszahl hinein. Hier saßen fünf Brüder Dudley: Guilford, Robert, John, Ambrosy und Henry. Guilford starb unterm Beil der einen Königin; Robert (Graf Leicester) stand neben dem Thron der anderen. Hier saß Arthur Poole, ein Enkel des Herzogs Clarence, und kratzte, halb Hoffnung, halb Verzweiflung in die Wand: »Gefahrvolle Fahrt verschönt den Hafen.« Hier saß Charles Baily, der Freund der schottischen Marie; dem Gedanken nachhängend, daß seine Königin dulde wie er selbst, schrieb er in den Stein: »Der ist der Unglücklichste, der verzagt, wenn er leidet, denn nicht das Unglück tötet uns, sondern die Ungeduld.« Ein breiter Rand gleich einem Rahmen zieht sich um diese Worte, und in ihm lesen wir: »Feind sei keinem, Freund nur einem.« Hier saß Thomas Clarke. Die Geschichte hat keinen Raum für ihn gehabt auf ihren Tafeln, aber die Wände dieses Kerkers überliefern uns seinen Namen und in zwei Zeilen sein Leben und seinen Schmerz:

Prüfe den Freund, bevor du vertraust,
Und wohl dir, wenn du dann sicher baust.

Wir verlassen dies Zimmer wieder, das mir schlecht gewählt scheint für die Tischheiterkeit junger Offiziere, und halten uns, hinaustretend auf den Hof, zur Rechten, um der Towerkapelle St. Peter ad Vincula einen flüchtigen Besuch zu machen. Bevor wir sie erreichen, haben wir, fast in Front der Kirche, einen mit Kalkstein gepflasterten Platz zu passieren, der durch seine kreisrunde Form kaum minder auffällt als durch die Weiße seiner Steine, auf die eben jetzt das volle Licht der Sonne fällt. Hier stand das Schafott, auf dem das Haupt der Anna Bulen fiel. Zehn Schritt davon, im sogenannten Juwelenzimmer, wird einem die Edelsteinkrone gezeigt, die sie am Tage ihrer Vermählung trug. So nah beieinander das Zeichen höchsten Glanzes und die Stätte tiefster Schmach! Nun ist vergessen fast, was hier geschah; Kinder spielten auf dem Platz. – Wir treten in die Kapelle. Es ist eine schlichte Kirche, aber ein vornehmer Kirchhof. Du siehst nicht Kreuz, nicht Stein; saubere Teppiche bedecken den Boden, helles Sonnenlicht fällt durch die Scheiben, freundlich blicken die Kapitelle auf dich nieder und doch – ein Kirchhof. Du kennst die Vinetasage! Es ist, als ob du bei sonnigem Tag über den Meeresspiegel fährst: Gold und Glanz und Bläue um dich her, doch unter dir die begrabene Stadt. Wo sich der Altar erhebt in echt englischer Einfachheit, könnten Grabmonumente stehen, tiefer noch und poetischer gedacht als der belebte Marmor in St. Paul und Westminster. Hier ruhen, den Kopf vom Rumpf getrennt, Anna Bulen und Kate Howard, Thomas Cromwell (der Diener Kardinal Wolseys und dann sein Nachfolger in der Gunst Heinrichs VIII.) und Graf Essex, Jane Grey und Guilford Dudley, und zuletzt auch Herzog Monmouth, der unterm Beil sterben mußte, weil seines Vaters Blut in seinen Adern war; denn wer ein Stuart war, stand dem Schafotte näher als dem Glück. – An der andern Seite, grad über dem Altar, ist eine zweite Grabstätte. Bänke und Betstühle ziehen sich darüber hin, und allsonntäglich singt hier die gedankenlose Menge und weiß kaum, auf wessen Köpfe sie tritt. Dort ruhen drei Schotten: die jungen Grafen Kilmarnock und Balmerino, und Lord Lovat, ein Greis von achtzig. Sie waren mit bei Culloden und sahen den Stern der Stuarts und ihren eignen untergehen. Die Schlacht schonte ihr Leben, nicht so der Henker. Da ist eine vielgesungene Ballade aus der Zeit der Königin Elisabeth, vom alten Norton und seinen sechs Söhnen:

Sie fielen nicht auf blutigem Feld
Und litten doch alle blutigen Tod:
Vergebens war seine Locke so weiß,
Vergebens war ihre Wange so rot –

das mochte man wieder singen im schottischen Hochland auf den Tod der drei Lords, des alten und der zwei jungen.

Wir verlassen die Kirche und wenden uns jetzt zum White-Tower. Er hat seinen Namen vermutlich von dem weißen Kalkstein, womit seine Wände und Türme an den Ecken eingefaßt sind. Was wir zuerst sehen, ist eine Rüstkammer: fünfundzwanzig Ritter zu Pferde, jeder ein König oder doch mächtig wie er. Wer entschlüge sich des Eindrucks, wenn er durch einen Ahnensaal geht und Bild auf Bild längst verschwundener Herrlichkeit auf ihn niederschaut! Dieser Eindruck verstärkt sich hier. Der Beschauer nimmt Revue ab: vierhundert Jahre und ein Geschwader von Königen ziehen an ihm vorüber. Der Zug beginnt mit Eduard I. und schließt ab mit Jakob II. Gegen ihn hat sich auch hier noch der Haß und die Verachtung des Volkes gekehrt: das Schwert an seiner Seite gleicht einer Harlekinspritsche, und mit zerzauster Perücke, schäbigem Rock und einem Gesicht voll unendlicher Stupidität schaut er drein, eher ein Barbier zu Pferde als ein König von England. In der langen Reihe derer, die, wo nicht das Zepter, doch die Zügel des Reiches in Händen hatten, fehlt nur einer – Cromwell. Statt seiner reitet Graf Strafford an der Seite seines königlichen Herrn, auch hier noch sein Schildknapp wie einst im Leben. – Wir verlassen die Rüstkammer und treten zunächst in einen schmalen Gang. Auf einem Fenstersims liegt ein hartes, schweres Stück Holz; der Führer gibt es dir in die Hand; du wägst es; was ist's? Das ist Stammholz von einem Maulbeerbaum, der dicht unter diesem Fenster auf dem Grabe der Söhne Eduards wuchs. Während Prinzessin Elisabeth hier gefangen saß, liebte sie es, unter dem schattigen Maulbeerbaum zu sitzen und in Sommerszeit von seinen Beeren zu essen. Süße Frucht von bittrem Leid! – Eine schmale Stiege führt uns in die Kapelle Wilhelms des Eroberers. Sie ist wohlerhalten und zeigt deutlich den alten Normannenstil: kein Spitzbogen, nur runde, mächtige Säulen mit stets wechselndem Schmuck der Kapitelle. Im zweiten Stock treten wir in einen weiten Saal. Seine Wände sind vierzehn Fuß dick; ein dreimannsbreiter Gang ist rundum in die Mauer gehauen und dient als ein versteckter Korridor. Der Saal selbst ist das Tower-Archiv: Bücher, verstaubte Akten und Pergamente ringsum. Einst lagen hier nicht Chroniken und die Berichte geschehener Dinge, sondern die Dinge selbst geschahen hier. Hier hielt Richard III. Staatsrat; am teppichbedeckten Tische saßen Buckingham und Hastings, Stanley und Bischof Ely, Catesby und eine lange Reihe stolzer Grafen und Lords. Auf sprang Richard, ein Todesurteil auf der Lippe; und als Lord Hastings dazwischen trat, mit einem zitternden »wenn« das bedrohte Leben Elisabeths (der Witwe Eduards IV.) zu retten, rief ihm der König zu:

Wenn?! Du Beschirmer der verdammten Beß,
Sprichst du von »wenn« mir noch? Verräter!
Herunter seinen Kopf!

Und wie er mit dem Fuße das Zeichen gab, traten jetzt seine Söldner aus dem verdeckten Gange hervor, und Lord Hastings war – ein toter Mann.

Wir lauschen den Worten des Führers, die Eindruck machen trotz ihrer Leiermelodie, und schweratmend unter der schwülen, staubigen Luft dieser Räume, vielleicht auch unter ihren Erinnerungen, erklimmen wir jetzt die letzte schmale Treppe und treten durch einen der vier Türme auf das flache Dach des Towers hinaus. Welcher Anblick!

Die Sonne lacht und der Himmel ist wolkenlos; glitzernd zieht sich der breite Strom vor uns dahin; tausend Boote durchkreuzen ihn; Bienenfleiß in den Straßen und geschäftiger Lärm an Dock und Werft. Das Gesumm steigt gen Himmel auf, bewußt und unbewußt, wie die fromme Bitte: »Unser täglich Brot gib uns heute.« Und der Himmel gibt's. Wir aber, verloren in dem Anblick, der sich vor uns auftut, fühlen im Innersten: schön sind die Schauer der Romantik wie Gespenstergeschichten am Kamin, aber wohl uns, daß wir nur hören davon; – sie lesen sich gut, aber sie erleben sich schlecht.


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