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Unter allen Plätzen Londons ist keiner mit der Geschichte des Landes inniger verwebt als Smithfield. Hier war es, wo der Fanatismus Maria Tudors in kurzer aber blutiger Regierung 277 Protestanten den Scheiterhaufen besteigen ließ, und um vieles früher schon, zu den Zeiten des schwarzen Prinzen und während der Kämpfe der beiden Rosen, turnierte hier die englische Ritterschaft unter den Augen des Hofs.
Seitdem hat Smithfield viel von seinem Glanz verloren. Aus jener Zeit her hat es nur noch das Privilegium mit herübergenommen, der Markt- und Verkaufsplatz für ungetreue, des Ehebruchs überführte Frauen zu sein. Sie wurden hier – noch im vorigen Jahrhundert – von ihren beleidigten Männern mit einem Strick um den Hals öffentlich feilgeboten, und wenn ich recht berichtet bin, ist das betreffende Gesetz so wenig aufgehoben, daß sich vor wenig Jahren noch eine derartige Szene dem Auge des Smithfield-Publikums darstellen durfte. Dem Verkäufer wurde einfach bedeutet, »daß die Innehaltung solcher Gesetze nicht mehr zeitgemäß sei«. (Dies erinnert lebhaft an eine Anekdote vom walachischen Kriegsschauplatz. Albaniern, die Russenköpfe mit heim ins Lager brachten, wurde bedeutet, »daß das aus der Mode sei«.) Relata refero.
Finstre, häßliche, allerhand Winkel und Buchten bildende Häuser schließen jetzt den Platz ein, und zu welcher Zeit auch man ihm nahekommen mag, immer findet man denselben unerträglich tierischen Geruch vor, der von jenen 20 000 Schafen herrührt, die hier allmonatlich zu Markte getrieben, Montags und Freitags Nacht in unzählige, das Auge verwirrende Hürden eingepfercht und dann am nächsten Morgen verkauft werden. Mich brachte der Besuch des widerlichen Platzes zwei Tage lang um allen Appetit, und ich fand wieder einmal Gelegenheit, mich in Kraftausdrücken über jenes englische Buchstabenrecht auszulassen, das unter anderm die Bewohner von Smithfield unwandelbar mit dieser Marktplage beglücken zu wollen scheint. Zur Zeit Karl Stuarts wurde ein Gesetz erlassen, das jeden mit harter Strafe belegte, der innerhalb der Stadt Vieh schlachten würde; woran sich ein zweiter Erlaß schloß, demzufolge Smithfield, in der nordöstlichen Vorstadt von London, als Viehmarkt für die City festgesetzt wurde. Smithfield hat seitdem längst aufgehört, innerhalb einer Vorstadt von London zu liegen, aber noch immer beruft sich die Cityverwaltung auf ihr verbrieftes Recht und respektiert weder die Nasen noch die Gesundheit jener Tausende, die diesen Platz und seine Nähe bewohnen.
Unter der wüsten Steinmasse, die die Konturen dieses Platzes zieht, zeichnet sich nur ein einziges Gebäude nicht eben durch Schönheit, aber doch durch das Abweichende seiner Bauart aus. Das ist das Bartholomäushospital, ein berühmtes, reich dotiertes Krankenhaus, das unter andern Sehenswürdigkeiten zweiten Ranges in seinem Treppenhause auch einige mittelmäßige Bilder von Hogarth dem Besucher zur Schau stellt. Aber das ist es nicht, worauf ich die Aufmerksamkeit des Lesers hingelenkt haben will. Hier lebte Emma Lyons, später Lady Hamilton, als Kindermädchen des Hospitalarztes Doktor Budd, und die Lebensgeschichte dieses Mädchens ist es, die ich hier Gelegenheit nehmen möchte, in nachstehendem dem Leser zu erzählen.
Die Welt liebt es, zu Gericht zu sitzen und – zu verurteilen. Da ist keiner unter uns, der nicht begierig wäre, der Themis seine Dienste aufzudrängen; aber wir sind bestechlich aus selbstischer Eitelkeit, wir werfen unsere Tadelsucht zur Schuld des Angeklagten und handhaben das Schwert besser als die Wage. Da ist nichts so oft vergessen als das Wort des Herrn: »Wer unter euch sich ohne Sünde weiß, der werfe den ersten Stein auf sie.« Was tun wir? Den modegewordenen Mantel »sittlicher Entrüstung« umschlagend, setzen wir uns auf unseren Hochmutsklepper und reiten erbarmungslos nieder, was uns kleiner dünkt (nicht ist) als wir selbst. – Die Presse macht so oft den öffentlichen Ankläger, mache sie auch mal den Verteidiger.
Es hat vierzig Jahre lang zum guten Ton gehört, von der Lady Hamilton wie von einer Messaline zu sprechen, deren traurige Lebensaufgabe darin bestanden habe, die Glorie Lord Nelsons zu verdunkeln, seiner Sonne – ihre Flecken zu geben. Es wird Zeit, diese Verurteilung auf ihr rechtes Maß zurückzuführen. Geniale Persönlichkeiten tragen ihren Maßstab in sich und wollen vor allen Dingen nicht mit der englischen Sittlichkeitselle (daran auch Shelley und Byron zu kurz befunden wurden) gemessen werden. Zudem hat noch immer die Strafe einen Teil der Schuld gesühnt.
Mir erhellt aus der nachstehenden Biographie, der zum Teil durchaus neue Papiere zugrunde gelegt sind, eine Rechtfertigung Lady Hamiltons schon aus dem einen Umstande, daß die Liebe und Verehrung Lord Nelsons zu ihr darin zweifellos zutage tritt. Ein Nelson konnte nichts Unwürdiges lieben. Nebenher aber geben diese Mitteilungen Aufschluß über den unberechenbaren und in solchem Umfange nicht geahnten Einfluß Lady Hamiltons am neaplischen Hofe; ein Einfluß, den sie in den kritischsten Momenten und unter Opfern und Gefahren zum Heile Englands geltend zu machen wußte. England hat ihr diese Liebe und diese Dienste schlecht gelohnt, und der Leser mag vielleicht, gleich mir, das Gefühl nicht unterdrücken können, daß die größere Schuld – wie so oft – nicht auf Seite des Verklagten, sondern des Klägers liegt.
Lady Hamilton war die Tochter Henry Lyons, eines Handarbeiters, der zu Preston in Lancashire lebte. Ihre Geschichte hat den Roman auf seinem eignen Felde geschlagen; ihr Leben liest sich wie eine Fabel. Ihr Vater starb während ihrer [Kindheit]; die Mutter zog nach Hawarden in Flintshire und ernährte sich und ihr Kind, so gut sie konnte. Einige erzählen, die Tochter habe hier eine bessere Erziehung empfangen, als der Lage der Mutter nach zu erwarten gewesen wäre; nichts indes spricht für diese Annahme, wohl aber zeugt das dagegen, daß sie selbst in späteren Jahren und auf dem Gipfel ihres Ruhmes alles eher verstand als – die Rechtschreibung. Sie wurde wahrscheinlich 1764 geboren, diente als Kindermädchen in ihrer Vaterstadt, ging dann nach London und trat dort, in gleicher Eigenschaft, in die Dienste des Doktor Budd, eines geschätzten Arztes am Bartholomäushospital. Das Hausmädchen, das sie hier vorfand und mit der sie einen Freundschaftsbund schloß, wurde seltsamerweise kaum minder berühmt als sie selbst und glänzte jahrelang als die erste Schauspielerin (Mrs. Powell) des Drury-Lane-Theaters. Oftmals später, während die Sonne Lady Hamiltons im Mittag stand und ihr Geist und ihre Schönheit gleich gefeiert wurden, liebte sie es, an der Seite ihres Gemahls Drury-Lane zu besuchen, um einer glänzenden Vorstellung Mrs. Powells beizuwohnen. Die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Hauses pflegte sich dann zwischen Bühne und Loge zu teilen, zwischen der berühmten Schauspielerin und – dem noch berühmteren Gast. Man wird die Geschichte der Haus- und Kindermädchen vergeblich nach einem Seitenstück durchsuchen.
Ihr Aufenthalt im Hause des Doktor Budd währte nicht lange; sie stieg zunächst noch eine Stufe tiefer und ward Schenkmädchen in einem vielbesuchten Lokal auf dem St. James-Markt. Hier erregte sie durch ihre Schönheit die Aufmerksamkeit einer zufällig vorübergehenden Dame, welche voll wachsender Teilnahme sich ihr näherte, sie aus dem Gasthaus entfernte und die Waise als eine Art Gesellschafterin zu sich nahm. Die Geschäfte des Hauses waren nicht groß, desto größer die gern bewilligte Muße; so finden wir denn Emma Lyons als begeisterte Romanleserin wieder, lesend mit jenem Eifer und jener Leidenschaft, die ihr eigenstes Wesen waren und womit sie, auch in späteren Jahren noch, alles erfaßte, was ihr überhaupt des Erfassens würdig schien. Die nächste Folge dieser andauernden Romanlektüre war die, daß ihre Phantasie stärker ward als ihre Tugend: sie fiel und ward die Geliebte eines Marinekapitäns, den sie indes nach wenig Wochen schon gegen einen reichen und landbegüterten Baron vertauschte. Sie ward bald Meisterin in allen freien Künsten, im Reiten und Jagen, in Wettspiel und Hasard, und wußte auf alle exzentrischen Liebhabereien ihres Galans so gelehrig einzugehen, daß in Jahr und Tag der Baron ruiniert und statt anderer Gäste der Gerichtsbote an der Tür war. Emma Lyons kehrte von Sussex nach London zurück, und gebieterisch auf Erwerb angewiesen, vermietete sie sich als Modell. Aber auch hier, wie überall, sicherten Schönheit und die Blitze eines immer reicher sich entfaltenden Geistes sie vor einem Wandel auf gewöhnlicher Heerstraße, und das käufliche Modell, das seine Reize jedem Künstlerauge und gelegentlich wohl auch profanen Blicken preisgab, stand vor dieser Männerschar nicht als eine verachtete und mißbrauchte Sklavin, sondern als huldvolle Gebieterin, und kein Finger wagte es, sie zu berühren, wenn sie wie Laïs mit entblößtem Nacken vor die staunenden Augen eines Malerkreises trat und triumphierend ausrief: seht, wie schön ich bin!
Romney, einer der berühmtesten englischen Maler des vorigen Jahrhunderts, benutzte sie vielfach zu seinen besten Gemälden, und Hayley, ein Freund William Cowpers und selbst Poet, besang sie in Sonetten als das schönste Weib und den reichsten Geist seiner Zeit.
In diesem Künstlerkreise erregte sie alsbald die besondere Aufmerksamkeit des Mr. Francis Greville, der sehr reich und in Sachen des Geschmacks ein Held des Tages war. Emma Lyons ward seine Geliebte; doch als ob sie dazu bestimmt gewesen wäre, überall dem Bankrott Tür und Tor zu öffnen, teilte Franz Greville binnen kurzem das Schicksal des Sussex-Barons und war endlich noch froh, seinem Onkel Sir William Hamilton die kostspielige Geliebte überlassen zu können. Sir William ward Gesandter am neaplischen Hofe; Emma Lyons begleitete ihn.
Italien war der geeignete Schauplatz für die volle Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Hier erwachte sie erst; hier war sie in der Heimat ihrer innersten Natur. Dieser milde südliche Himmel, der selbst im Ungeschick einen Rest von Grazie erweckt, ihrer Schönheit lieh er Üppigkeit, und ihren schon reichen Geist ließ er überströmen von neuentdeckten Quellen. Über alles gebot sie, was ihren Reiz erhöhen oder ihre Kräfte steigern konnte; Luxus und Reichtum schütteten ihr Füllhorn über sie aus, und jede Regung des Talents, jeder künstlerische Trieb fand Vorschub und Befriedigung. Ihr Gesang, ihre Schauspielkunst reizten den Neid künstlerischer Berühmtheiten, und in der Tat, ein bloßes Stück Tuch oder Seidenzeug reichte aus, sie eine Jüdin oder römische Matrone, eine Helena, Penelope oder Aspasia darstellen zu lassen. Kein Charakter schien ihrer Seele fremd, und jeder, der nur einmal Gelegenheit fand, diesen Schaustellungen beizuwohnen, nahm das Gefühl mit nach Haus: die Grazie selbst gesehen zu haben. Der berühmte Schaltanz war ihre Erfindung, doch sein Reiz und sein Ruhm hafteten an ihrer Person, und was nach ihr sich Schaltanz nannte, hatte nichts als nur den Namen geborgt.
Sie war die Bewunderung aller Welt, aber kaum minder der Stolz Sir William Hamiltons, über den sie herrschte wie Delila über Simson. Sie beschloß Nutzen zu ziehen von dieser unbeschränkten Gewalt, und im September 1791 finden wir sie als – Lady Hamilton. Kurz zuvor war Sir William von seinem Gesandtschaftsposten in Neapel nach London zurückgekehrt und die »Gesellschaft« jener Tage, nach französischem Vorbild nicht allzu peinlich in Sachen der Moral, beeilte sich, eine Erscheinung willkommen zu heißen, die durch ihre Vergangenheit wie durch ihre Talente in gleichem Maße Unterbrechung der Saloneinerleiheit versprach. Nur eine Ausnahme war und blieb: der prüde Hof der Königin Charlotte weigerte sich, die ehemalige Kurtisane zu empfangen, und ignorierte es, daß das ehemalige Kindermädchen des Doktor Budd zur Lady Hamilton und Gemahlin eines Gesandten am neaplischen Hofe emporgestiegen war. Ihr Aufenthalt in London währte nicht allzulange; schon im folgenden Jahre kehrte ihr Gemahl auf seinen Posten zurück, und es entstand jetzt am sizilischen Hofe die Etikettenfrage, ob man einer Lady, die von ihrer eigenen Souveränin mißachtet worden sei, Zutritt zu gestatten habe oder nicht. Marie Karoline indes, die stolze Schwester Marie Antoinettens, war viel zu eigensinnig und viel zu wenig wählerisch in der Wahl ihrer Mittel, um andauernd die prüde Laune einer englischen Königin zwischen sich und Lady Hamilton treten zu lassen, und binnen kurzem war diese dort Freundin, rechte Hand und Ratgeberin, wo man auf Augenblicke die Möglichkeit ihres Erscheinens in Frage gestellt hatte. Das Band, das sich bald fester und fester zwischen beiden Frauen knüpfte, war kein Band wahrer und inniger Zuneigung: Marie Karoline verstand nicht zu lieben, aber ihr unbegrenzter und unvertilgbarer Haß gegen Frankreich brachten ihr die Gemahlin des englischen Gesandten schon um deshalb näher, weil diese (was immerhin sonst auch) zum mindesten doch eine Engländerin war; und nun erst schuf die überraschende Gleichgeartetheit beider Gemüter ein Maß von Anhänglichkeit, das, wie fern auch von wahrer Liebe, nichtsdestoweniger in Worten und Briefen gelegentlich einen leidenschaftlichen Ausdruck fand.
Es war 1793, nach einem ungefähr einjährigen Aufenthalt in Neapel, als die erste Begegnung zwischen Lady Hamilton und Lord Nelson, damals noch Kapitän des Agamemnon, statthatte. Nelson zählte fünfunddreißig Jahre; nichtsdestoweniger paßte noch völlig jene Schilderung auf ihn, die zehn Jahre zuvor der spätere König William IV. als Midshipman in sein Tagebuch niedergeschrieben hatte.
Es heißt daselbst: »Wir lagen in Staten-Island, und ich hatte Wache am Bord des ›Barfleur‹, als Kapitän Nelson vom ›Albemarle‹ in seiner Barke anlegte und alsbald auf dem Deck erschien. Es war das seltsamste Exemplar von einem Kapitän, das ich all mein Lebtag sah. Schon sein Anzug fiel mir auf: er trug eine reichbesetzte Uniform; sein schlichtes ungepudertes Haar war in einen steifen hessischen Zopf von beträchtlicher Länge zusammengeflochten, und die altmodischen Schöße seiner Weste waren wenig geeignet, seine Erscheinung minder auffällig zu machen. Ich wußte nicht, wer er war, und konnte nicht begreifen, was er überhaupt wolle. Meine Zweifel schwanden indes, als er mir durch Lord Hood vorgestellt wurde. Es lag etwas unwiderstehlich Liebenswürdiges in seiner Art, zu sprechen und zu sein, und die Begeisterung, mit der er sich über jeden zum ›Dienst‹ gehörigen Gegenstand äußerte, bewies hinlänglich, daß er kein gewöhnlicher Mensch sei.«
Die erste Begegnung zwischen Nelson und Lady Hamilton war nur flüchtiger Natur, dennoch hinreichend, um diese ausrufen zu lassen: »Er wird der größte Mann Englands werden!«
Fünf Jahre vergingen, bevor Nelson an die neaplische Küste zurückkehrte. Er war nicht mehr »Kapitän Nelson vom Agamemnon«, er war jetzt Pair, Feldherr, Eroberer und umrauscht von dem Jubel und Beifall halb Europas. 1794 hatte er Calvi belagert und ein Auge verloren. 1797 in der unsterblichen Seeschlacht von St. Vincent und unter dem Zuruf: »Sieg oder Westminster-Abtei!« hatte er den »San Josè« geentert und den »San Nicholas« dazu. Zwei Monate später nahm er für immer Abschied von seinem rechten Arm bei Teneriffa, und wieder nach zwölf Monaten, in demselben Augenblicke, als sich die Nilschlacht entschied, empfing er eine Wunde in den Kopf. Dieser Nelson setzte jetzt seinen Fuß auf neaplischen Boden und sah seine zukünftige Geliebte zum zweitenmal. Er war nicht schöner geworden, aber das Auge Lady Hamiltons hatte die Bewunderung glatter Gesichter hinter sich, und ihre Seele jauchzte auf bei dem Triumphzug des Helden, als gälte ein Teil davon ihr selbst. Selber ruhmesgeizig, konnte sie noch nur die Träger des Ruhmes lieben.
Lady Hamilton war inzwischen und lange vor dem Eintreffen Nelsons nicht müßig gewesen. Sie hatte sozusagen Hand in Hand mit ihm gearbeitet und zu dem Erfolg seiner Unternehmungen, sowie zum wachsenden Glanze seines Ruhms nicht wenig beigetragen. Von dem Augenblicke ab, wo sie die Sache der englischen Flotte zu der ihrigen machte, setzte sie ihre ganze Seele daran. Ihre Natur erlaubte ihr nicht, sich mit halben Triumphen zu begnügen, und jeder Stein, der ihrem Bau nicht paßte, mußte umgeformt oder beseitigt werden. Sie hatte in gleichem Maße den Mut, das Höchste zu wollen, und das Geschick, es auszuführen. Ein einziges Beispiel unter tausenden mag für den klugen und opferbereiten Eifer sprechen, mit dem sie unausgesetzt für das Wohl ihres Vaterlandes tätig war. Eines Morgens erfährt sie, daß Privatdepeschen des Königs von Spanien an den König von Neapel eingetroffen sind. Was ist ihr Inhalt? Sie weiß es nicht, aber sie will und muß es wissen. Mit Hilfe der Königin wird das Dokument aus dem Schlafgemach des Königs entwendet, abgeschrieben und ruhig wieder in die Westentasche gesteckt, daraus es genommen wurde. Der Brief war des Stehlens wert gewesen. Er sprach den festen Entschluß des Königs von Spanien aus, »die englische Allianz aufzugeben und einen Bund mit Frankreich gegen England einzugehen«. Kein Augenblick war zu verlieren. Ihr Gemahl lag lebensgefährlich krank danieder, aber Entschlossenheit weiß sich selbst zu helfen. Schon in der nächsten Stunde war ein Privatkurier Lady Hamiltons auf dem Wege nach London; aus ihrer Börse hatte sie die 400 Pfund Sterling genommen, die nötig waren, das abschriftliche Dokument in die Hände Lord Grenvilles gelangen zu lassen. Man mag über diesen gestohlenen Brief denken wie man will (das Größte muß sich oft der kleinlichsten Mittel bedienen); niemand aber wird anstehen, die Geistesgegenwart und den opferbereiten Patriotismus zu bewundern, der aus dieser Handlungsweise spricht.
Aber ein noch wichtigerer Dienst war ihrem Einfluß und ihrer Entschlossenheit vorbehalten, ein Dienst, den sie in gleichem Maße dem Lande, wie der Person Lord Nelsons leistete und der diesen fast zu ihrem Schuldner machte. Im Juni 1798 suchte Nelson die französische Flotte; er verfehlte sie am Ausfluß des Nils, weil ihm inzwischen Nachricht geworden war, sie läge bei Malta. Unschätzbare Zeit war verloren gegangen und, schlimmer als das, die englische Flotte begann Mangel zu leiden; Trinkwasser und Lebensmittel gingen aus. In dieser Not erschien Kapitän Troubridge in Neapel, um im Namen des Admirals die Erlaubnis um freien Eingang in die sizilischen Häfen nachzusuchen. Diese Erlaubnis ward verweigert, sie mußte verweigert werden; denn Frankreich und Neapel befanden sich zurzeit in Frieden, und ein Traktat bestand, wonach in allen sizilischen Häfen nicht mehr als zwei englische Kriegsschiffe angetroffen werden durften. Kapitän Troubridge stand auf dem Punkte, mit seinem abschlägigen Bescheid zum Admiral zurückzukehren, aber die immerwache Lady Hamilton war inzwischen nicht müßig geblieben. Während König und Minister in früher Morgensitzung beisammen waren und hin und her berieten, was zu tun und zu lassen sei, glitt Lady Hamilton leichten Fußes in das Schlafgemach Marie Karolinens, und sich vor ihr auf die Knie werfend, beschwor sie die überraschte Königin, selbständig und unbekümmert um das Ja oder Nein des Ministerrats, einen Entschluß zu fassen. Sie schilderte ihr in den lebhaftesten Farben, daß das Wohl beider Sizilien in ihre Hand gelegt sei, daß die französische Flotte, wenn sie dem verfolgenden Nelson entginge, nicht gegen England, wohl aber gegen das stets verdächtige Neapel sich wenden werde und daß von dem Ausgange dieser Stunde das Stehen oder Fallen ihres Thrones notwendig abhängig sei. »Schreiben Sie, Majestät! ein Federstrich, und Sie sind Ihr eigener Befreier. Warum zögern? Ihre Unterschrift gilt überall im Lande wie die des Königs selbst; eine Zeile – und Land, Gemahl und Krone sind vom Untergang gerettet.« Dieser siegenden Beredsamkeit unterlagen alle Bedenken; Feder, Tinte und Papier waren wohlweislich zur Hand; Lady Hamilton diktierte und die Königin schrieb eigenhändig den Befehl, daß alle Kommandanten beider Sizilien angewiesen seien, die englische Flotte mit Gastlichkeit zu empfangen und mit Wasser und Lebensmitteln nach Wunsch zu versorgen. Diese unschätzbare Order übersandte Lady Hamilton an Nelson, fügte aber in einem Privatschreiben den englisch-eifersüchtigen Wunsch bei, daß man die Dienste der Königin nicht weiter in Anspruch nehmen möge, als es zum Gelingen des Plans und zum Ruhme Englands dringend notwendig sei.
Nelson antwortete, daß, wenn er eine Schlacht gewönne, diese nach ihr und der Königin benannt werden solle, denn ihnen allein würde England den Sieg und den Dank dafür schuldig sein. Er gewann die denkwürdige Nilschlacht (Abukir). Wäre seine Flotte außerstande gewesen, sich im Hafen von Syrakus mit Wasser und Lebensmitteln zu versehen, so würde die Schlacht ungeschlagen geblieben sein. Es ist durchaus Pflicht, hierauf hinzuweisen. Mag man die Fehler Lady Hamiltons und ihre sittliche Führung verurteilen, es unterliegt auf der andern Seite keinem Zweifel, daß England ihrem Patriotismus große und unvergleichliche Dienste verdankt. Wie schnöde man diese Dienste vergaß, werden wir noch Gelegenheit finden, unter Erröten zu schildern.
Krank und wund kam Nelson am 20. September 1798 nach Neapel. Er trat im Hause des britischen Gesandten ab und fand von seiten Lady Hamiltons eine Abwartung und Pflege, die ihm nach verhältnismäßig kurzer Zeit Frische und Gesundheit wiedergaben.
Doch von anderer Seite her zogen sich Wolken zusammen und machten alsbald, für immer, den gastlichen Tagen in Neapel ein Ende. Der französische Gesandte zögerte keinen Augenblick, auf das Einlaufen der englischen Flotte in den Hafen von Syrakus als auf einen Friedensbruch hinzuweisen; aber so mächtig war der Einfluß Lady Hamiltons auf die Entscheidung des Hofs, daß man sich entschloß, die Beziehungen zu Frankreich überhaupt abzubrechen und dem Gesandten der Republik zu bedeuten, daß er Neapel binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe. Dieser Schritt war kühn, aber nicht glücklich. Eine französische Armee drang aus Oberitalien unaufhaltsam vor und warf das neaplische Heer über den Haufen, das halb aus Feiglingen, halb aus Verrätern bestand. Im Dezember marschierten die Franzosen auf Neapel, und der Hof mußte fliehen. Aber ohne die Geistesgegenwart der Lady Hamilton wäre es bereits zu spät gewesen: König Ferdinand würde als ein Opfer der Volkswut gefallen sein und Marie Karoline das Schicksal ihrer Schwester Marie Antoinette geteilt haben. Lady Hamilton, wiewohl selbst von tausend mißtrauischen Augen bewacht, übernahm die Rettung der königlichen Familie und führte sie aus, wie alles, was sie unternahm. Durch einen unterirdischen Gang, der vom Palast aus zur Küste führte und an dessen Vorhandensein, in der allgemeinen Furcht und Verwirrung, niemand außer ihr gedacht hatte, schaffte sie die königliche Schatulle, Kostbarkeiten und allerhand Meisterwerke der Skulptur und Malerei, alles zusammen genommen zu einem Wert von dritthalb Millionen Pfund Sterling, auf die britischen Schiffe; – mit einem Worte, sie war, wie der sonst sicherlich nicht poetisch überschwengliche Nelson sich ausdrückte, »ein vom Himmel gestiegener Engel«, herabgesandt zu Trost und Rettung der königlichen Familie. Die Verluste Sir William Hamiltons bei dieser Gelegenheit waren außerordentlich bedeutend; um nicht Verdacht zu erwecken und die Flucht glücklich bewerkstelligen zu können, ließ er die ganze Einrichtung seines Hauses, sowie alles bewegliche Eigentum seiner Gemahlin zurück und büßte dabei ein Vermögen von 39000 Pfund Sterling ein. – Nelson empfing das neaplische Königspaar, sowie Sir William und Lady Hamilton an Bord des Vanguard und führte sie in Sicherheit nach Palermo.
Die politische Bedeutsamkeit Lady Hamiltons schließt mit diesem Tage ab; der Hof eines flüchtigen Königspaares bot kein Feld mehr für ihre Tätigkeit. Wann ihre Beziehungen zu Nelson intimerer Art wurden, wäre nutzlos zu untersuchen; es genügt, daß sie es wurden. Wie man auch über dies Verhältnis denken mag, es war wenigstens ein offenes und ehrliches und entzog sich weder dem Licht des Tages noch dem Urteil der Welt. Sir William kannte und – duldete es. Nelson fiel bei Trafalgar 1805, Sir William Hamilton starb 1808. Am 30. Januar 1801 gebar Lady Hamilton eine Tochter, sie ward Horatia getauft; ihr Vater war Lord Nelson.
Die Menschen lieben es (natürlich an andern), sich Schuld und Strafe die Wage halten zu sehen. Das Leben Lady Hamiltons gewährt dem Auge des Beschauers diese Befriedigung im vollsten Maße; es endigt als Trauerspiel. Bei der Rückkehr Sir Williams nach England lag diesem begreiflicherweise nichts näher, als um annähernde Ausgleichung der schweren Verluste zu bitten, die er in Neapel erlitten hatte. Lady Hamilton setzte ihre Juwelen an die Unterstützung dieses Gesuchs. Vergeblich; Sir William starb nach Jahren, seine Bitte war und blieb unerfüllt. Sterbend beauftragte er seinen Neffen, Mr. Greville, zugunsten Lady Hamiltons Seine Majestät um Fortdauer der Pension anzugehen, die er bei Lebzeiten bezogen hatte. Er berief sich dabei auf den patriotischen Eifer, den seine Gemahlin im Dienste Englands gezeigt habe; umsonst, Eifer und Dienste waren undankbar vergessen.
Am 21. Oktober 1805, an Bord des »Victory« und angesichts der vereinigten französischen und spanischen Flotte, zog sich Nelson in seine Kajüte zurück, um ein Kodizill zu seinem Testamente zu machen. Er verwies auf die vielfachen und großen Verdienste Lady Hamiltons und schrieb wie folgt:
»Wär ich selbst imstande gewesen, diese Dienste zu belohnen, ich würde jetzt nicht das Land anrufen, es zu tun; doch es lag außer meiner Macht, und so hinterlaß ich denn Emma Lady Hamilton meinem Könige und meinem Vaterlande als ein Vermächtnis und erbitte für sie alles das, was nötig sein wird, ihre Stellung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ebenso empfehl ich meine Adoptivtochter Horatia Nelson Thompson der Wohltätigkeit meines Landes und spreche hiermit den Wunsch aus, daß sie in Zukunft allein den Namen ›Nelson‹ führen möge. Dies sind alle meine Wünsche, die ich in demselben Augenblicke an König und Vaterland zu richten habe, wo ich auf dem Punkt stehe, eine Schlacht für sie zu schlagen.
Möge Gott mein Land und meinen König segnen und alle diejenigen, die meinem Herzen nahestanden. Auf meine Familie hinzuweisen ist überflüssig; es wird sich von selbst verstehen, Sorge für sie zu tragen.«
Wenige Stunden nach der Unterzeichnung dieses Dokuments lag Nelson auf seinem letzten Bett. Ein Schuß aus dem Mastkorb des »Redoutable« hatte sein Werk getan. Doctor Scott war um ihn. »Doktor« – sprach der Sterbende – »wie ich Euch sagte, – es ist vorbei.« – Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich hinterlasse Lady Hamilton und meine Adoptivtochter Horatia dem Lande als ein teures Vermächtnis.«
Fünf Viertelstunden später trat Kapitän Hardy an das Lager des Admirals. »Ich hoffe,« – sprach Nelson mit fester Stimme – »daß keins unsrer Schiffe genommen wurde!« »Nein, Mylord,« – antwortete Hardy – »damit hat's nichts auf sich.« »Ich bin ein toter Mann, Hardy,« – fuhr Lord Nelson fort – »ich fühl es, es geht schnell; bald wird's vorbei sein. Tretet näher. Bitt Euch, sorgt dafür, daß meine liebe Lady Hamilton mein Haar empfängt und alles, was mir sonst noch gehört.«
Wieder verging eine Stunde, und wieder war Hardy an seiner Seite. »Noch wenig Minuten und – es ist aus. Werft mich nicht über Bord, Hardy.« Der Kapitän antwortete: »O nein, gewiß nicht!« und Nelson fügte hinzu: »Ihr wißt, was Ihr zu tun habt. Sorgt für meine liebe Lady Hamilton, sorgt für die Arme!«
Wenig Augenblicke noch und Nelson sprach seine letzten Worte: »Dank Gott, ich habe meine Pflicht getan!« Doch die Worte, die diesen unmittelbar vorausgingen, waren die alten Klagetöne: »Vergesset mir nicht, Doktor, daß ich Lady Hamilton und meine Tochter Horatia dem Lande als ein Vermächtnis hinterlasse. Vergeßt mir Horatien nicht!«
Nelsons Kodizill erwies sich nicht besser als ein unbeschriebenes Blatt Papier. Seine letzten Bitten verhallten in leere Luft; Lady Hamilton fand nicht Trost und nicht Hilfe. Schreiende Undankbarkeit, lieblose Härte brachen von jetzt ab in ununterbrochener Reihenfolge über die Verlassene herein. Kapitän Blackwood, gehorsam dem Wunsche seines Freundes, brachte das Dokument nach London und legte es in die Hände des Rev. William Nelson, Bruders des Admirals, und später Earl Nelson. Dieser ehrenwerte Gentleman befand sich nebst Gemahlin und Familie gerade um diese Zeit in dem gastlichen Hause der Lady Hamilton und war derselben ohnehin dadurch verschuldet, daß seine Tochter bereits sechs Jahre lang im Hause der Lady lebte und von dieser auf das liebevollste und sorgfältigste erzogen worden war. Der ehrenwerte Gentleman hielt es indessen für angemessen, alles dessen uneingedenk zu sein, und in nicht ungegründeter Furcht, daß die Überreichung dieses Kodizills die Höhe der Summe beeinträchtigen könne, welche das Parlament auf dem Punkte stand, für die Familie Lord Nelsons zu bewilligen, fand er es für passend, das Kodizill so lange in seine Tasche zu stecken, bis die volle Summe von 120 000 Pfund Sterling der Familie zugestanden war. An demselben Tage speiste er bei Lady Hamilton in Clarges-Street, und mit der befriedigten Miene eines Mannes, der sich vorgesehen hat, überreichte er jetzt das wertlos gewordene Papier seiner Wirtin und bat sie sarkastisch, damit zu tun, was ihr gut erscheine.
Und wie dieser, so alle. Man zog sich zurück, ja mehr, man floh sie, sie, die einst der Mittelpunkt fürstlicher Feste und die Freundin einer Königin gewesen war. Man kannte jetzt plötzlich ihre Vergangenheit, weil man sie kennen wollte; die Welt war nicht tugendhafter, aber Lady Hamilton war – arm geworden. Wenige Meilen von London, nahe dem Merton-Schlagbaum, hatten Nelson und seine Geliebte einst ihren gemeinschaftlichen Wohnsitz gehabt. Das Haus mit allen seinen Schulden und Verpflichtungen kam jetzt über Lady Hamilton. Sie hatte nie zu sparen verstanden und verstand es auch jetzt nicht; nach kurzer Zeit schon ward ihr das Haus genommen. Sie ging nach Richmond, verließ es aber bald und mietete sich in Bond-Street ein. Von hier ward sie durch unbarmherzige Gläubiger vertrieben und verbarg sich längere Zeit vor ihnen, man weiß nicht wo. 1813 finden wir sie in Kings-Bench, bis das Mitleid eines City-Alderman sie aus dem Gefängnis befreite. Krank an Leib und Seele und durch einen gewöhnlichen Kutscher abermals mit Gefängnis bedroht, sehen wir das unglückliche Weib auf der Flucht nach Calais. Hier gab ihr der englische Dolmetscher, selbst ein unvermögender Mann, eine armselige Wohnung. Aber der Roman ist noch nicht aus.
Eine englische Lady pflegte täglich bei einem Metzger in Calais das Fleisch für ihren Lieblingshund selbst einzukaufen. Der Dolmetscher trat an sie heran: »Ach Madame, ich weiß, Ihr habt ein Herz für Eure Landsleute! da ist eine arme Lady, die froh sein würde, den schlechtesten Bissen zu haben, den Ihr Eurem Hunde gebt.« Mistreß Hunter, eine mildherzige Dame, war zu helfen bereit; sie schickte Speisen und Wein und bat den Dolmetscher, alles zu beschaffen, was ihm nötig erscheinen möchte, die schreiendste Not zu lindern. Er tat's und bat dabei Lady Hamilton wiederholentlich, den Besuch der menschenfreundlichen Dame zu empfangen. Endlich gab jene ihre Zustimmung, aber nur unter der Bedingung, »daß es keine Dame von Rang und Titel sei«. Mrs. Hunter kam, die arme Kranke dankte ihr und segnete sie. – So starb Lady Hamilton, »schön«, wie ihr letzter Besucher erzählt, »noch im Tode«.
Der Earl Nelson aber, so wird einstimmig berichtet, ging alsbald nach Calais, um das Eigentum Lady Hamiltons in Empfang zu nehmen. Er fand nur Pfandscheine und Schuldverschreibungen, die er Miene machte, uneingelöst zu sich zu stecken. Im übrigen verweigerte er beharrlich jede Bezahlung oder Wiedererstattung und kehrte vermutlich wenig befriedigt nach England zurück.
Das ist die Geschichte des Kindermädchens Emma Lyons.
Der Name Waltham-Abbey ist mit verwebt in das Trauerspiel des Hastingstages. Zu Waltham-Abbey spielt die letzte Szene des letzten Aktes. Der Geschichtskundige weiß, daß der Abt von Waltham, ein treuer Anhänger König Haralds, zwei Mönche aussandte, um die Leiche des Königs auf dem Schlachtfelde zu suchen, und daß die Mönche trauernd heimkehrten, ohne den König gefunden zu haben; der Poet weiß, daß die Mönche vergebens suchten, bis Edith Schwanenhals, die Geliebte des Königs, ihnen folgte und mit dem scharfen Auge der Liebe den Toten unter den Toten entdeckte; und der Maler weiß, daß Horace Vernet diesen Moment des Findens zum Vorwurf eines seiner historischen Bilder machte, eines Bildes, fehlerhafter vielleicht und angriffsfähiger als andere Werke des Meisters, aber an Großartigkeit von keinem übertroffen.
Das ist Waltham-Abbey. Letzten Sonntag war ich da. Auf einem offenen Wagen fuhr ich durch die lachende Landschaft. Erst Villen, dann Pächterhäuser rechts und links, Hügel und Hecken und dazwischen, leis vom Winde bewegt, die vollen Halme des Essexweizens. Endlich hielt der Wagen; wir waren in Waltham, ein Dorf halb, halb ein Städtchen. Wir gingen die Straße hinauf, den breiten, abgestutzten Turm der Abteikirche wie einen Führer vor uns. Ein kleines Tor in der Feldsteinmauer führte uns auf den Kirchhof, einen jener wunderbaren Plätze, deren Zauber uns aussöhnt mit dem Gedanken des Sterbenmüssens. Die Häuser standen dem Kirchhofe so nahe, als gehörten sie mit dazu; einzelne hingen mit ihrem oberen Stockwerke über die Kirchhofsmauer fort, und die weißen Holunderbäume, die von der Mauer aus in die Fenster hineinwuchsen, schien eher eine Brücke zu bauen, als eine Scheidewand zu ziehen. Tod und Leben verschwammen hier miteinander. Rotbackige Kinder mit blonden Köpfen und buntem Sonntagsstaat liefen und sprangen über die Gräber hinweg. Hier und da saß ein Alter mit langem, schnurbesetztem Leinenkittel (unseren Schäfern nicht unähnlich) auf dem Grabstein eines Bruders oder Freundes und dachte an vergangene Tage und die Tage, die kommen, und über das alles hin zog der Fliederduft und das Bunt der Schmetterlinge und der Klang der Lerchen. Von den spielenden Kindern an bis zu dem Schmetterlinge, der hoch ins Blau flog, war alles sinnig und deutungsreich und ein Glied in der Kette von Leben und Tod. In der Mitte des Kirchhofs stand ein Ulmenbaum mit einer Rasenbank. Drum umher und auf dem Rasen saßen fünf alte Leute mit langen Röcken, vorgellertschen Hutformen und Schaffellgamaschen. Ich fragte sie, ob die Kirche offen sei. »Nicht jetzt, aber der Herr können sich derweilen diesen Baum ansehn, it is the biggest tree in the whole kingdom of England.« Es mag schon wahr sein, denn meine ausgebreiteten Arme lagen an dem Baum wie eine dürftige Elle an einem endlosen Stücke Kattun. Ich fragte nicht, wer den Baum gepflanzt habe, ich würde keine Antwort erhalten haben. Ich wußte es. Das mußte die Stelle sein, wo die Leiche König Haralds gestanden hatte, als die beiden Mönche sie heimbrachten vom Hastingsfelde. Dort war der Abt an die Bahre herangetreten, welche die Mönche aus schlichtem Baumgestrüpp zusammengefügt hatten, dort hatte er den verstümmelten Leichnam wiedererkannt, ihn gesegnet und ihn bestattet dann, tief und sicher vor dem Haß und den Händen des übermütigen Siegers. Die Ulme war gewachsen über dem Grabe, gewachsen wie die Insel selbst, rastlos, endlos, ein Reis erst, dann ein Baum wie andere Bäume, und dann – ein Riesenbaum.
Die Forscher streiten sich, wo Harald liegt. Die einen sagen, er liege im Dünensande bei Pevensey, bespült vom Meer. Die Gattin Haralds kam zu Wilhelm und bat um den Toten; – er schlug es ab. Den Seinen aber rief er zu: »Versenkt ihn in den Sand bei Pevensey, da mag er im Tode die Küste hüten, die er im Leben nicht hüten konnte.« Das klingt nach Wahrheit, aber die Sage spricht von Edith und von Waltham-Abtei, und die Sage hat immer recht, selbst dann noch, wenn sie unrecht hätte.
Ich sprach noch mit den Alten und rechnete aus, wieviel Male der Ulmenbaum älter sei als wir alle zusammengenommen, da gingen die Glocken, und der Kirchgang begann. – Eh wir uns anschickten, in die Kirche einzutreten, traten wir ein paar Schritte zurück, um uns zunächst von einem gut gelegenen Punkte aus das Bild dieser wunderbaren Kirche einzuprägen. – Sie lag vor uns wie eine Musterkarte aller Baustile seit Anfang dieses Jahrtausends. Von Altsächsischem war nichts mehr wahrzunehmen; aber Feldsteinmauern und Rundbogen, gotische Nischen und Tudorfenster mischten sich zu einem wunderlichen Ganzen, daran der Ungeschmack des vorigen Jahrhunderts noch ein Schulhaus und eine Sakristei im schlimmsten Barackenstil geklebt hatte. Das Läuten dauerte fort, und wir traten ein. Bunt und konfus wie die Außenseite, so harmonisch erwies sich das Innere. Kanzel und Kirchenstühle abgerechnet, war alles aus einem Guß, und die Rundbogen, ruhend auf schwerfällig mächtigen Säulen mit sonderbar geformten Kapitellen, forderten sofort zum Vergleich mit jener Towerkapelle auf, die mit der Kirche von Waltham um den Ruhm streitet, das wohlerhaltenste Stück englisch-normannischen Baustils zu sein. Der Säulengang lief durch das ganze Schiff der Kirche hin und trug eine Reihe niedrigerer Bogen, die wie ein zweites Stockwerk bis zur Höhe der Decke stiegen. Weiße Mauertünche, womit die englische Sauberkeit vieles verunstaltet, fehlte auch hier nicht, aber der Eindruck der Formen litt verhältnismäßig wenig darunter. Wir schritten von Säule zu Säule und hätten unsern Rundgang wohl noch fortgesetzt, wenn die Frau des Kirchendieners nicht an uns herangetreten und mit dem verlegenen Respekt, den ihr ein eben erhaltener Schilling auferlegte, uns mitgeteilt hätte, daß der Geistliche unser Verschwinden wünsche. Er hat es nicht gern, wenn die Leute nur zum Sehen kommen. ( »He doesn't like people coming in only for the Norman-style.«) Das war uns genug; wir nahmen Abschied von der Abtei. Draußen spielten noch die Kinder, die Alten saßen noch unter der Ulme, und die Grabsteine schimmerten so hell in der Sonne, als wäre alles Lust und Leben. Wir traten unsern Rückweg an und entschieden uns für Dampf und Eisenbahn. Die große Ostlinie führt an Waltham vorbei. Wir warteten wenig Minuten ab, als von entgegengesetzten Seiten die Züge herankamen. Die beiden Lokomotiven lagen endlich schnaubend nebeneinander, die eine der »Cromwell«, die andere der »James Watt«. Wir stiegen ein und glitten alsbald die Eisenlinie entlang. »Waltham-Abbey« – »Cromwell« – »James Watt« – wiederholte ich mir langsam. Die englische Geschichte liegt zwischen diesen Namen. Hastingsfeld und Waltham-Abbey waren Tod und Begräbnis des alten Sachsentums, Cromwell war sein Rächer, und mit dem dritten Namen kam unsere Zeit, die Zeit, die rastlos Verbindung und Vereinigung webt; – wird sie auch Einigkeit weben und Frieden und Glück?
Es war mein letzter Tag in England! Das Doverboot sollte mich um Mitternacht nach Ostende führen; mir blieben noch zwölf Stunden zu einem Ausflug, und ich entschied mich für – Hastingsfeld. Wie oft, in den Träumen meiner Kindheit, hatt ich die Kreideklippe gesehen, dran sich, laut Liedern und Sagen, das Rolandslied des Taillefer brach; wie oft hatt ich den Hügel erklommen, darauf das reiche, juwelengestickte Banner König Haralds hoch in Lüften flatterte, und wie oft war ich den Schritten jener gespenstisch-schönen Frau über das Leichenfeld gefolgt, von der's im Liede heißt:
Es watete Edith Schwanenhals
Im Blute mit nackten Füßen;
Wie Pfeile aus ihrem stieren Aug
Die forschenden Blicke schießen.
Mir schlug das Herz. Das romantische Land, wohin mich Sehnsucht und Phantasie so oft getragen hatten, – sollte es jetzt wahr und wirklich vor meine Sinne treten.]???Fragezeichen?]
Der Zug hielt. Zu meiner Überraschung blitzte weder Kreideklippe, noch brandendes Meer vor mir auf; nur grünes Hügelland dehnte sich nach rechts und links, so weit das Auge reichte. Es war das Städtchen Battle, wo wir hielten, sieben englische Meilen landeinwärts.
Hier ward die Schlacht geschlagen, die ihren Hastingsnamen gewissermaßen mit Unrecht trägt. Der Kampf ( battle), der hier tobte, gab dem Städtchen seinen Namen ganz in derselben Weise, wie wir einen Flecken »Walstatt« haben. Das Städtchen selbst bietet nichts Besonderes dar, außer seiner Abtei, – »Battle-Abbey« geheißen; dieser schritten wir zu. Als die Wage der Schlacht hin und her schwankte und an dem Trotz des Sachsenkönigs bereits der dritte Angriff gescheitert war, warf sich Herzog Wilhelm aufs Knie, und mit lauter Stimme gelobend, »eine Abtei zu bauen, darin Wein wie Wasser fließen solle, falls Gott ihm Sieg verleihe«, führte er seine Truppen zum viertenmal gegen den feindlichen Verhau. Der Sieger hielt Wort. Battle-Abbey wurde die reichste Abtei des Landes, bis fünf Jahrhunderte später dem Geize Heinrichs VIII. auch diese Stiftung zum Opfer fiel.
Nur Andeutungen sind noch geblieben von dem Glanz und der Herrlichkeit, die königliche Munifizenz hier ins Leben rief, und dies wenige selbst würde zu Staub zerfallen, wenn nicht der Flugsand, der von der Küste herüberweht, die Überreste ehemaliger Kraft unter seinen Mantel genommen hätte, wie der Aschenregen des Vesuvs die zum Märchen gewordene Welt Pompejis. Zwei Jahrhunderte vergingen seit jener Versandung. Was das Werk der Zerstörung zu vollenden schien, das gebot ihr Stillstand. Unsere Zeit, in ihrem Forschertrieb, hat das Begrabene neu ans Licht gezogen, zur Bewunderung zunächst, aber auch zu schnellerem Untergang.
Nur eines hat den Kampf mit den Jahrhunderten siegreich überdauert: das mächtige, sandsteingebaute Eingangstor. Mit breiten Flügeln und hohen Türmen steigt es vor dem Auge auf, selbst wieder ein Schloß, und läßt uns schließen auf die Größe und den Reichtum dessen, zu dem es nur die Pforte war. Sein Stil ist der normannische in seiner Blüte, als dieser sich bis zur Gotik zu erheben begann. Mächtige Bogenpfeiler bilden das Portal; aus ihren Rippen starren zwei steingehauene Fratzen hervor, wie die Sage geht: die Köpfe Wilhelms und König Haralds. Das Tor schließt sich hinter uns, und wir befinden uns jetzt auf einem geräumigen, grasbewachsenen Platz. Zur Rechten ragt ein schlanker Turm in die Luft, starr, einsam, ein Finger aus dem Grabe vergangener Herrlichkeit. Zur Linken zieht sich ein stattliches Gebäude hin, im Stil der Königin Elisabeth; es ist das Herrenhaus und zurzeit Besitztum Sir Henry Websters. Hierhin richten wir unsre Schritte. Sir Henry ist außer Landes und der Zutritt für jedermann gestattet. Meine Gefährten, echte Londoner Spießbürger, wenden sich neugierig sofort nach links, in die Privatgemächer Sir Henrys, um mit jener dem englischen Philister eigentümlichen Neugier Parallelen zu ziehen zwischen dem Kanapee oder dem türkischen Teppich der Lady Webster und seinem eigenen Hausrat daheim. Ich halte mich rechts und trete in die große Halle, die eigentliche Sehenswürdigkeit dieses Hauses. Hoch und geräumig, das Dach ein prächtiges Holzwerk, gleicht sie der schönen Banketthalle Heinrichs VIII. im Schlosse zu Hampton-Court, und wenn dort verblaßte Gobelins von rechts und links auf uns herniederschauen und unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, so ist es hier ein kolossales, die ganze Giebelwand der Halle bekleidendes Gemälde, das uns mächtig wie ein Altarbild entgegentritt und uns plötzlich wieder vergegenwärtigt, wo wir sind.
Das ist die letzte Stunde des Hastingstages! Die Sachsenfahne liegt blutig und zerrissen im Staube; halb verdeckt von ihr haucht König Harald seinen letzten Seufzer aus. Zwei Reiter, gefolgt von der Blüte französischen Adels, sprengen auf den Sterbenden zu. Der eine auf langmähnigem Scheckentier, das weiße, vom Papste selbst geweihte Banner in Händen schwingend, ist Otto, Bischof von Bayeux, der Halbbruder des Eroberers; der andre aber auf schwarzem, jetzt eben zurückprallendem Normannenhengst ist Herzog Wilhelm selbst. Die silberne Rüstung sticht wunderbar ab von dem blinkenden Schwarz seines Rosses, weithin wallt die weiße Feder von seinem hohen, konisch geformten Helm, und um den Hals des Siegers schlingt sich eine dreifach umwundene Kette, daran eine goldene Kapsel blitzt. Was ist's mit ihr? Ein Splitter vom Kreuze Christi liegt wohlverwahrt zwischen ihren Wänden; ein Splitter nur und doch die lebendige Wurzel, aus der dieser Kampf emporwuchs.
Zu Rouen war's, zehn Jahre zuvor, im kerzenerleuchteten Dom. Der Adel der Normandie stand halbkreisförmig um den festlich geschmückten Altar, aber der Halbkreis wurde zum Spalier, als jetzt zwei Männer das Schiff der Kirche entlang und die Stufen des Altars hinanschritten. Der eine, kurzgeschoren das schwarze Haar, war Herzog Wilhelm; der andre mit langem Sachsenbart, war König Harald, damals noch Graf von Kent. Ihr Herz umschloß einen Wunsch: die Krone des kinderlosen Edward; – aber ein tückischer Schiffbruch hatte den Sachsengrafen in die Hand seines Nebenbuhlers gegeben, und Herzog Wilhelm stand eben auf dem Punkt, die Gunst des Zufalls zu nützen. Harald sollte abschwören. Zögernd legte dieser die Linke auf die Decke des Altars, und die Rechte zum Eid erhebend, rief er mit bebender Stimme: »So entsage ich denn allem Verlangen nach Herrschaft; Herzog Wilhelm sei König über England; noch einmal, ich schwör's!« Da zog der Normanne die brokatne Decke vom Altar hinweg, und dem Grafen einen Splitter zeigend, darauf seine Hand unwissentlich während des Schwurs geruht hatte, rief er: »Harald, du schwurst es bei diesem Span vom Kreuze Christi!«
Und seitdem? Der Tag kam, da König Edward in selbsterbauter Kapelle seinen letzten Schlummer hielt, Harald war König, und hinüber nach Frankreich rief er: »Edward ist tot; England ist mein; nimm's, so du kannst!«
Da wurde die Normandie zum Heerlager. Um seinen Nacken schlang Herzog Wilhelm die Kette samt der Kapsel, Papst Alexander weihte die Fahnen, König Harfager von Norwegen brach auf, als Bundesgenosse in England einzufallen, und halb Frankreich wurde flott vor Lust nach Krieg und Abenteuern. Weiße Segel, zahllos wie die Wellen, darauf sie tanzten, steuerten nordwärts, und vor ihnen her flog, wie tödlicher Blitz, der Bannstrahl des Papstes.
König Harfager landete erst; sein Eifer war sein Tod. Harald umklammerte ihn bei Stamford-Bridge und zerdrückte ihn und sein Heer. Die Nacht brach ein. Auf dampfendem Schlachtfeld lagen die Sieger, berauscht von Wein und Gesang; im Zelte des Königs aber gingen Becher und Rede von Mund zu Mund, und der Erzbischof von York erhob sich jetzt und rief: »Harald, so sei das Ende aller deiner Feinde!« Da hielt ein Bote am Zelt und trat ein. Sein Haar war wirr und struppig vom langen Ritt, sein Kleid zerrissen und die Worte klangen:
Die Klippe von Hastings, wohl war sie steil,
Und das Meer, wohl hat es gebrandet,
Vergebens die Brandung, vergebens der Stein –
Herzog Wilhelm ist gelandet!
Auf sprang der König, sein Auge blitzte, sein Herz voll Sieg hatte nicht Raum für die Furcht. Gen London ging's, sein Heer ihm nach; Zuversicht auf allen Gesichtern. Am fünften Tage war's: auf blitzte die Themse – hinüber! und jetzt vor ihrem Aug die Ginsterheiden von Surrey – hindurch! am siebenten Tage aber hielt König Harald auf dem Hügellande von Sussex, und sein Schwert in die Erde stoßend, rief er: »Hier sei's!« Herzog Wilhelm kam von Hastings heran. Auf zwei Hügeln, einander gegenüber, lagerten sich die Heere; zwischen ihnen ein breites, nicht allzu tiefes Tal. Hier sollte sich's entscheiden.
Es war Nacht, die Wachtfeuer der Normannen lohten herüber. König Harald ging von Zelt zu Zelt und ordnete an und befeuerte den Mut. Wo er sein Schwert in die Erde gestoßen hatte, da stand jetzt sein Zelt, und neben demselben flatterte das große Banner von England. Es trug die alte Schlachteninschrift: »Siegen oder sterben!« Dreitausend Freiwillige aus der Hauptstadt hatten sich drum geschart und feierlich geschworen, des Spruches über ihren Häuptern wohl eingedenk zu sein. Kundschafter kehrten zurück,
Die hatten den Herzog Wilhelm gesehn
Und täten ihn mannlich preisen:
Seine Rüstung sei wie Silber und Gold
Und sein Antlitz sei wie Eisen.
Seine Ritter aber die sähen darein,
Als wären sie schon verloren,
Sie hätten nicht Schnurr- nicht Backenbart,
Sei'n alle geschabt und geschoren
»They were all shaven and shorn«, aus einer altenglischen Ballade..
Im ganzen Normannenlager sei
Nur Beten und Messesingen;
Das ganze Heer sei ein Priesterheer
Und man werd es leichtlich bezwingen.
König Harald aber hörte sie an,
In finstres Sinnen verloren,
Er sprach: Ich weiß, sie fechten wie wir,
Obwohl sie geschabt und geschoren.
Gegen Morgen kam ein Herold von Herzog Wilhelm, der bot dem König einen Zweikampf. Sie wollten den Streit in ihre beiden Schwerter legen, und der Ausgang solle ein Gottesurteil sein. Da entfärbte sich der Sachsenkönig, und Furcht und Scham liefen blaß und rot über sein Antlitz. Er kannte den Talisman seines Gegners, den sein Meineid ihm in die Hand gegeben hatte, und murmelte vor sich hin: »Ich kann nicht!« Laut aber rief er: »Nicht wir – die Schlacht!«
Auf blitzte die Sonne, und zugleich mit ihren Strahlen flogen dreißigtausend Pfeile übers Feld. Die Sonne stieg und sank. Als sie scheidend noch einmal auf des Tages Arbeit blickte, da lag König Harald unterm Linnen seines Banners wie unterm Leichentuche, und über das Blutfeld sprengte der Sieger. Sein Auge blitzte, und die goldne Kapsel glühte blutrot im letzten Abendstrahl.
Ich sah auf; da hatt ich's wieder vor mir, frisch, lebendig, – das Scheckentier Bischof Ottos sprang wie aus dem Bilde heraus. Meine Betrachtungen wurden unterbrochen; ein alter Cicerone der Abtei trat an mich heran und erbot sich, mir das Schlachtfeld zu zeigen. Ich folgte ihm. Er führte mich zu einer der ausgegrabenen Ruinen, dem ehemaligen Refektorium der Mönche. Drei Seiten des Gebäudes stehen noch ziemlich wohlerhalten, die vierte aber ist völlig verfallen. Keine Spur von Dach. Man tritt in den mit Quaderstein gepflasterten Saal wie in einen Hofraum; – der blaue Himmel hing über uns. Keines Königs Munifizenz läßt hier noch fürder Wein wie Wasser fließen; der Regen wäscht den Mörtel aus dem Gestein und versucht die Kraft seiner Tropfen an der weißen Quadertenne des Saals. Der Alte führte mich schweigend an das mittlere Giebelfenster. Ich sah hinaus; aber ehe sich die bunte Landschaft vor mir zu einem klaren Bild gestalten konnte, richtete er die Spitze seines Fingers auf eben die Stelle, wo ich stand, und rief mir mit echtem Führergleichmut zu: There fell the Saxonking – Mich überlief es; er aber, völlig unbewußt des Eindrucks, den sein Wort auf mich gemacht hatte, streckte seine magere Hand durch die Fensterhöhle, und nach rechts und links eine Linie beschreibend, setzte er mit derselben Ruhe hinzu: And that's the battle-field!
Da lag es vor mir mit dem ganzen Zauber einer englischen Landschaft. Drüben auf der höchsten Spitze jenes Hügels hielt Herzog Wilhelm während der Schlacht; jetzt schimmerte statt seiner Rüstung die weiße, sonnige Wand eines Bauernhofes herüber. Unmittelbar vor mir zogen sich schmale Teiche nach beiden Seiten hin das Tal hinunter; von Zeit zu Zeit sprang ein Fisch, gelockt von der Sonne, in den lachenden Tag hinein; nichts erinnerte mehr an jenen Tag, wo hier das Blut in tieferen Lachen als das Wasser in jenen Gräben stand. Tiefer Friede ringsum; nur das Glockenklingen weidender Kühe unterbrach die Stille. Kaum eine Saatkrähe ließ sich nieder auf dies Feld, wo einst das Krähen- und Rabenvolk von ganz England offne Tafel gehalten hatte. Noch einmal überflog mein Blick die Flur; dicht vor mir stieg ein Schwarm weißer Tauben in die Luft und wiegte sich im Sonnenschein, blitzend, als wären ihre Flügel von Licht. Lange sah ich hinauf: ein Friedenssinnbild über diesem Tal, so fand ich Hastingsfeld und – so schied ich von ihm.
Wenige Stunden später trug mich der rasselnde Zug nach Dover. Es schlug Mitternacht, als der Dampfer vom Ufer stieß. Ich stand am Steuerruder und sah rückwärts. Klippen rechts und links; Dover selbst, von tausend Lichtern funkelnd, wuchs amphitheatralisch in die Nacht hinein: der weiße Kalkstein schimmerte dahinter wie verschleiertes Mondlicht. Rascher schaufelten jetzt die Räder, höher spritzte der Schaum, eisiger ging der Wind – das letzte Licht erlosch. Nacht und Meer ringsum; hinter mir lagen Alt-England und – dieser Tag.