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Die nächsten Tage vergingen ruhig. Am Vormittag hatte Hugo sein Repetitorium, dann ging er zu Tisch, dann nach Wilmersdorf; am Abend war er zu Haus, wenigstens meist, und war alles in allem ein Muster von Solidität Was Mathilden auffiel, war sein Studium. Aus allem, was sie sah und auch aus Andeutungen von ihm selber hörte, ging hervor, daß er sich zu einem Examen vorbereitete, er steckte auch jeden Morgen, wenn er ausging, immer ein Buch oder ein Heft zu sich, trotzdem war ihr klar, daß, wenn er wieder zu Hause war, von Studien keine Rede war. Auf einem am Fenster stehenden Stehpult, das er sich angeschafft hatte, lagen zwar ein paar dicke Bücher umher, aber sie hatten jeden Morgen eine dünne Staubdecke, Beweis genug, daß er sich den Abend über nicht damit beschäftigt hatte. Was er las, waren Romane, besonders auch Stücke, von denen er jeden zweiten, dritten Tag mehrere nach Hause brachte; es waren die kleinen Reclam-Bändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingeknifft und mit Zeichen oder auch mit Bleistiftstrichen versehen. Mathilde konnte genau kontrollieren, was ihm gefallen oder seine Zweifel geweckt hatte, denn es kamen auch Stellen mit Ausrufungs- und selbst mit drei Fragezeichen vor. Aber das waren doch nur wenige; »Das Leben ein Traum« hatte die meisten Zeichen und Randglossen und schien ihn am meisten interessiert zu haben.
»Mutter«, sagte Thilde, »wenn da nicht ein Wunder geschieht, der macht es nie.«
»Was denn, Thilde?«
»Na, das Examen. Uns kann es recht sein. Je länger es dauert, je länger bleibt er. Und wenn er es macht und durchfällt, so bleibt er auch. Wohin soll er am Ende? Sehr viel Anhang scheint er nicht zu haben. Selbst der Herr mit der Polnischen Mütze war noch nicht wieder da.«
Das hatte freilich seine Richtigkeit. Rybinski war seit seinem ersten Besuche noch nicht wieder dagewesen, aber am Abend desselben Tages, wo Thilde Möhring diese Betrachtungen gemacht hatte, kam er und traf auch seinen Freund Hugo zu Haus.
»Endlich, Hugo. Du wirst gedacht haben, ich hätte geschwindelt und das mit dem Kosinsky sei nur ein Ulk gewesen. Aber ich sage dir, großer Ernst. Eigentlich heißt es bittrer Ernst, aber dies Wort möchte ich begreiflicherweise vermeiden. Man ist übrigens der Meinung, ich müsse gefallen, und einer sagte mir heut früh, ›ich sei der geborne Kosinsky‹. Leider war es Spiegelberg, aber wie das immer ist, gerade dieser ist eine treue Seele. Nun, morgen muß sich alles entscheiden. Ich bringe dir hier Billets, ein Parquet für dich und zwei zweiten Rang für deine Damen drüben, wenn sie auf diesen Namen hören, was mir allerdings zweifelhaft ist. Ich hätte dir drei Parquets bringen können, aber ich dachte mir, beide so dicht bei dir könnte dich vielleicht genieren, namentlich die Alte, sie ist doch noch sehr Mutter aus dem Volk. Und dann, offen gestanden, liegt mir und dem Direktor auch mehr am zweiten Rang; im Parquet sitzt immer Kritik, und wenn sich da zwei solche Damen auf Enthusiasmus ausspielen, wird es lächerlich, aber im zweiten Rang, da geht alles, auf den zweiten Rang, wenn man ein bißchen aufpaßt, kann man sich verlassen. Dein Platz unten ist Eckplatz, alles vorgesehn, aber ich finde, Hugo, du bist etwas nüchtern.«
»Nein, Hans, ich bin nur etwas benommen; ich dachte nicht, daß du mir Wind vorgemacht hättest, ich dachte nur, es wäre was dazwischengekommen, weil es sich so hinzog...«
»Ah, ich versteh; man hatte schließlich gemerkt, es ginge doch nicht, es sei nichts [mit] mir.«
»Du mußt nicht empfindlich sein, bist noch nicht aufgetreten und fängst schon damit an. Aber das ist nur die Hälfte von dem, was ich eben dachte. Das andre ist das mit den zwei Möhrings.«
»Aber, Herz, das ist ja leicht zu ändern, du kannst auch zwei Parquets haben.«
»Nein, das ist es nicht; im Gegenteil, das mit dem zweiten Rang hast du dir gut ausgedacht und rücksichtsvoll gegen mich. Es ist mit dem Mitnehmen überhaupt solche Sache, wenn wir auch verschiedne Plätze haben, das ist doch wie gesellschaftliche Gleichstellung, und wenn ich mit der Alten über den alten Moor spreche oder sie mit mir, denn ich werde nicht anfangen, so sind wir intim. Und das geht doch nicht gut. Und dann, was kann denn solche Frau sagen? Alles bringt nur in Verlegenheit.«
»Ach, Hugo, das ist ja lächerlich. So viel mußt du doch wissen, daß überhaupt bloß Unsinn gesprochen wird.«
»Und dann muß ich sie doch hinbringen, und wenn es aus ist, muß ich sie wieder nach Hause begleiten.«
»Das seh ich nicht ein. Du machst ihnen ein Geschenk und läßt sie ihrer Wege gehn.«
»Gut, du sollst recht haben: ich will es so machen. Du siehst nun, warum ich so benommen war, was du nüchtern nanntest. Von nüchtern keine Rede, eigentlich bin ich aufgeregt, wie wenn ich selber den Kosinsky spielen sollte.«
»Wer weiß, was kommt.«
Und damit brach der Freund wieder auf, weil er noch hunderterlei zu tun und zu bedenken habe. »Bei Philippi sehn wir uns wieder. Und ficht tapfer. Unterlieg ich, so muß ich mich ins Schwert stürzen.«
»Verlange nur nicht, daß ich es halte.«
Rybinski war kaum fort, so ging Hugo zu den beiden Frauen hinüber, um ihnen die zwei Billets zu bringen; Parquet sei ausverkauft, das sei der Grund, daß sie sich trennen müßten, aber er werde immer hinaufsehn.
Mutter Möhring sagte gar nichts, Thilde aber fand sich leicht zurecht und sagte mit vielem Anstand und in ihrer ganzen Haltung wie verändert: »Es sei sehr liebenswürdig, an sie zu denken, und sie empfänden es als eine große Ehre.«
»Ja«, sagte die Alte, das habe sie auch sagen wollen.
Und nachdem noch ein paar Fragen gestellt und hin und her komplimentiert worden war, ging Hugo wieder in sein Zimmer hinüber, während die Alte eine Fußbank an den Ofen schob und sich hinsetzte; Thilde setzte sich aufs Sofa und schob die kleine Petroleumlampe so, daß sie daran vorbei zur Alten hinübersehen konnte.
»Was ich nur anziehe, Thilde? Das Schwarzseidne geht doch nich mehr und war ja doch eigentlich auf Trauer gemacht. Und wenn ich das rote Tuch drübernehme, dazu bin ich wieder zu alt.«
»Ach, Mutter, das laß nur gut sein. Ich werde dich schon zurechtmachen, mit ein paar Schleifen zwingen wir's schon. Es sieht einen ja doch keiner an. Und wenn auch. Die Haube ist für 'ne alte Frau immer die Hauptsache, und deine Haube ist noch ganz gut, ein bißchen tollen und aufplätten, und du siehst aus wie 'ne Gräfin.«
»Ach, Kind, rede doch nicht solch Zeug.«
»Na, ich sage dir, Mutter, das wollen wir schon kriegen. Mit das bißchen Anziehn und Zurechtmachen, das is es nicht, ich habe Putzmachen gelernt und Blumenmachen auch und Klöppeln auch, und das müßte doch nicht mit rechten Dingen zugehn, wenn ich uns nicht rausstaffieren sollte. Wundern soll er sich, wie du aussiehst, und wenn er uns nach dem Theater in ein Lokal führt...«
»Ach Thilde, wie kannst du nur so was denken.«
»Na, wenn nich, denn nich. Ich hänge nicht dran, es macht nur so einen Eindruck und sieht ein bißchen nach was aus und daß man doch auch mit zugehört.«
»Ja, ja; das is schon recht.«
»Und weißt du, Mutter, was ich dir schon vor ein paar Tagen sagen wollte, wir wollen doch die alte Runtschen wieder ins Haus nehmen, das heißt immer bloß eine Stunde, daß sie drüben rein machen kann und alles einholen. Ich bin ja nich dagegen, und mir kommt es nicht drauf an. Aber neulich hatte er was vergessen und kam gerade dazu, wie ich da bei all dem Planschen und Gießen war und der Blecheimer mitten in der Stube - da war es mir doch genierlich. Und ich denke wirklich, wir nehmen die Runtschen. Sie kann dann auch einholen, was wir brauchen.«
Die Mutter hatte kleine Bedenken und sagte: »Thilde, das läuft so ins Geld. Und man weiß doch nicht, wenn er dann kündigt...«
»Dann kündigen wir auch wieder. Die Runtschen is ja 'ne vernünftige Frau. Und dann, was heißt kündigen! Glaube mir, der kündigt nicht.«
Der andere Tag war ein großer Tag. Der Inhalt einer großen Pappschachtel, darin sich Bänder und alte Blumen befanden, war auf die Chaiselongue ausgeschüttet, damit man einen besseren Überblick hatte. Der Alten war es nicht recht.
»Thilde, das fusselt alles so. Und es ist doch unser Prachtstück. Kind, Kind, wo soll es denn alles herkommen.« Aber Thilde ließ sich nicht einschüchtern, und als sie gefunden hatte, was sie für sich und die Alte brauchte, war sie fleißig bei der Arbeit. Dann wusch sie zwei Paar hellbraune Handschuh. Es roch bis in Hugos Zimmer hinüber nach Brönner. Dann wurde geplättet. Thilde war in einer apart guten Laune. »Sieh nur, wie er glüht.« Und dann schlug sie den Schieber mit einem Feuerhaken zu.
»Hast du auch die Billetter, Thilde«, das waren die letzten Worte, die vor Verlassung der Wohnung gesprochen wurden. Ihr Mieter Hugo Großmann hatte sich den ganzen Tag nicht sehn lassen, wodurch er der Begleitungsfrage klug entgangen war.
Kosinsky war dreimal gerufen worden, und die Alte, die nicht klatschen wollte, hatte sich begnügt, dem Darsteller der Rolle zuzunicken, als er sich grade nach der andren Seite hin bedankte. Dann sagte sie zu Thilde, während der Lärm noch fortdauerte: »Er macht es recht gut, er hat soviel Anstand. Es muß doch sehr schwer sein.«
»I Gott bewahre«, sagte Thilde, die sich ablehnend gegen alles verhielt, weil sie bemerkte, daß Hugo vermied, nach dem zweiten Range hinaufzusehn. Einmal geschah es, und nun grüßte er auch, aber sehr steif und förmlich. Sie legte sich's aber schließlich doch zum Guten zurecht, und als der große Traum kam und eben das weiße Haar in die Waagschale des Gerichts fiel, sagte sie sich: Es ist ein gutes Zeichen, daß er nich raufsieht, weil er kein Leichtfuß ist und es ernst nimmt. Er sagt sich, all so was hat eine Tragweite ... ja, von Tragweite hat er schon ein paarmal zu mir gesprochen ... Und so ganz abgeschlossen hat er noch nicht... er nimmt es nicht als Spaß... Sie kam in ihren Betrachtungen nicht weiter, weil die Alte sagte: »Sieh doch mal nach, Thilde, wer der alte Diener ist; er zittert ja so furchtbar.«
»Ach, laß doch«, sagte Thilde und reichte der Alten die Tüte mit Drops zurück, die sie mitgenommenen hatte.
Seitens der Möhrings waren Mantel und Hut draußen abgegeben worden, Thilde hatte drauf bestanden. »Mutter«, hatte sie gesagt, »du weißt doch, daß ich's zusammenhalte. Aber mitunter muß man, und mitunter ist Anständigkeit auch das klügste.«
»Na, wenn du meinst, Thilde. Wir wollen es aber auf eine Nummer geben.«
Jetzt hatten sie sich eingemummelt und stiegen die Treppe hinunter. Unten in der Vorhalle verweilte sich Thilde, weil sie's für möglich hielt, daß ihr Mieter an einer der Barren stehn und auf sie warten würde. Aber er war nicht da. Das gab eine neue Verstimmung, und einen Augenblick überkam die sonst unerschütterliche Thilde die Frage: »Ob ich mich doch vielleicht irre?« Sie war aber, weil sie den Charakter ihres Mieters ganz genau zu kennen glaubte, von einem unvertilgbaren Optimismus oder Hoffnungsseligkeit und sagte sich: er muß natürlich seinen Freund beglückwünschen, und er kann nicht an zwei Stellen zugleich sein.
Erst nach zehn waren sie zu Hause, was nichts schadete, da sie den Hausschlüssel mithatten. »Siehst du, Thilde, wie gut«, sagte die Alte, als sie den Hausschlüssel aus ihrer Tasche hervorholte.
»Ach, Mutter, als ob ich nicht gewollt hätte. Natürlich. Ich dachte ja sogar, wir könnten erst um elfe kommen.«
Auf der Treppe trafen sie den Portier, der eben das Gas ausmachte. »Soll ja sehr schön gewesen sein«, sagte dieser.
»Gott, Krieghoff, wissen Sie denn schon?«
»Ja, meine Ida war auch da; Ida ist immer da. Sie kennt welche von's Theater.«
»Na, das ist recht«, sagte Thilde. »Theater bildet.« Und damit stiegen Mutter und Tochter höher die Treppe hinauf, während der Portier, in einem Anfall von Wohlwollen, ihnen noch eine halbe Treppe hinaufleuchtete.
Oben sagte Thilde: »Nu, Mutter, wollen wir uns einen Tee aufgießen und warten, bis er kommt. Er wird uns wohl auch noch sehn wollen und hören, ob wir uns amüsiert haben.«
»Ach, Thilde, es war ja doch so graulich. Der alte Mann. Und wie er aussah, wie er da rauskam und der andre gleich rin. Na, da fiel mir'n Stein vom Herzen. Wenn ich mir denke, daß so einer noch frei rumliefe...«
»Das kann er ja gar nich, Mutter; es ist ja schon so lange her. Und dann is es ja doch auch bloß so was Ausgedachtes. Du denkst immer, es ist wirklich so.«
»Ja, Kind, warum soll ich so was nich denken. Es gibt so viele schlechte Menschen...«
»Ja, ja, erzähle nur nich die Geschichte von dem Kürschnermeister in Treptow; ich weiß ja, daß er seine Frau mit'm Marderpelz erstickt hat. Aber es gibt auch gute Menschen.«
»Ja, die gibt es auch. Und ich glaube, unser Jetziger hier drüben ist ein guter Mensch.«
»Ja, das ist ein sehr guter. Das heißt, wenn er so ist, wie ich ihn mir denke.«
»Du sagst ja immer, du bist so sicher.«
»Bin ich auch. Bloß mitunter wird einem doch so bange. Aber es geht gleich wieder vorüber.«