Theodor Fontane
Reisebriefe vom Kriegsschauplatz
Theodor Fontane

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III Ankunft in Prag. Im »Alten Ungeld«

Den langen, halb erleuchteten Perron entlang, durch hohe gewölbte Säle und Corridore hindurch, schleppten wir uns und unser Gepäck bis an den Ausgang. Keine dienstbereiten Hände hatten sich uns zur Verfügung gestellt. »Droschke!« riefen jetzt ein halbes Dutzend Stimmen in die Nacht hinein, aber nur das Echo kam zurück. Wir glaubten nunmehr uns corrigiren zu müssen und schickten ein dringlich betontes »Fiacre« unserem ersten Nothschrei nach. Aber mit demselben Erfolg. Endlich erschien, von jenseit der Straße her, ein radebrechender Czeche, der eine Mittelstellung zwischen Dienstmann und Gepäckträger einnehmen mochte, und bot seine Dienste an. Die Situation war derart, daß an Ablehnung gar nicht zu denken war. Er wurde mit einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Reisetaschen, Plaids und Gummi-Mänteln bepackt, an die Tête gestellt und nunmehr mit Führung des ihm willig folgenden Zuges betraut. Wir ahnten wenig davon, welchen neuen Enttäuschungen wir entgegen gingen. Es genüge hier die kurze Andeutung, daß etwa sechs Stunden vor uns, zu der ohnehin sechstausend Mann starken Garnison, noch vierzehntausend Mann Garden in Prag eingerückt und bei ihrer Einquartierung den besten Hotels der Stadt mindestens nicht aus dem Wege gegangen waren.

Wir läuteten beim »schwarzen Roß«. Besetzt! Beim »blauen Stern«. Besetzt! Beim »goldenen Engel«. Besetzt! Nun riß uns die Geduld. Wir erwählten einen der Unsern, einen märkischen Gutsbesitzer, der über die bekannte glückliche Mischung von Humor und Grobheit eine ungemessene Verfügung besaß, zu unserem Sprecher und der Erfolg rechtfertigte unsere Wahl. Unser Delegirter nahm den Oberkellner bei Seite, appellirte an sein böhmisches Herz und stellte ihm vor, daß er mit Kaiserlich österreichischen Freunden machen könne, was er wolle, daß es aber niedrig und verwerflich sei, seine Feinde elend umkommen zu lassen. Der Angeredete lächelte gutmüthig, versicherte auf Ehre und Gewissen, daß keine Dachkammer leer sei, fügte aber hinzu, daß im »alten Ungeld« (wie er eben erfahren habe) noch einige Zimmer frei seien.

Also nach dem »alten Ungeld«. Unser Zug setzte sich zum vierten Male in Bewegung, Einzelne unter uns nicht ohne trübe Vorahnungen. Zum »alten Ungeld«! Es klang ebenso räthselvoll, wie dumpf und kerkerhaft. Ein halbes Dutzend Wörter mit »Un« gingen uns durch den Kopf: Unheil, Unglück, Unhold, Ungethüm und zuletzt immer wieder Ungeld. Und noch dazu altes Ungeld. »Alt« erschien uns in diesem Augenblick nichts weniger als ein Epitheton ornans, oder doch höchstens im Sinne einer Schauer-Ballade. Balladenhafte Lokalitäten sind aber selten gute Gasthöfe.

Wir wanden uns durch ein Gewirr dunkler Straßen und Gassen, traten auf kurze Strecke unter die Arkaden eines Marktplatzes, hatten zur Linken (mitten auf dem Platz) eine Mariensäule, deren Muttergottesbild, mit dem Sternenkranz um die Stirn, eben jetzt im Mondschimmer leuchtete und traten dann, nach rechts hin, aus den Arkaden hinaus wieder in dunkle, schmutzige Gassen ein, die uns zuletzt in einen Hof oder eine Sackgasse führten. Wunderliche alte Häuser standen umher; vor dem ältesten und größten hielt jetzt unser Führer und zog an der Glocke. Man hörte, wie aus weiter Ferne her, das Läuten.

Wir Draußenstehenden hörten es, aber nicht die drinnen, die es hören sollten. Wir hatten inzwischen vollauf Zeit, uns mit der Außenseite des »alten Ungeld« bekannt zu machen. Thorweg und Erdgeschoß schienen mittelalterlich gewölbt, die vergitterten Kellerfenster deuteten noch weiter zurück, während die oberen Stockwerke allerhand moderne Fensterverkleidungen zeigten; es war als hätten alle Jahrhunderte seit König Georg Podiebrad hier im »alten Ungeld« ihre Karte abgegeben.

Wir läuteten noch immer. Niemand kam, wenigstens nicht von innen her, während draußen unsere Gruppe einen beständigen Zuwachs erfuhr. Es war ersichtlich, daß das »alte Ungeld« den Charakter eines Nothhafens, einer letzten Retirade hatte, wohin, nach einem stillen Abkommen zwischen den besseren Gasthofsbesitzern Prags, alles das dirigirt wurde, was in den eigentlichen Hotels kein Unterkommen finden konnte. Wir waren bereits auf zwanzig Mann angewachsen, Offiziere aller Waffengattungen, und das Glockenläuten und Säbelrasseln, dazwischen das Lachen, Rufen und Donnern, durchlärmte die Nacht. »Wir müssen hinein«; darüber herrschte nur eine Stimme. Pläne wurden bereits entworfen, wie das »alte Ungeld« im Sturm zu nehmen sei, als ein ungewisser Lichtschimmer zwischen den Ritzen des Thorwegs sichtbar und bald darauf der Schlüssel im Schloß gedreht wurde. Die Thür ging auf und eine kleine Laterne in der Hand, stand ein czechischer Hausknecht, klein, strubblig, verschlafen, vor uns.

Allgemeine Heiterkeit begrüßte ihn. »Der ist ächt!« riefen einige der Vordersten, und so bereitwillig zugestanden werden muß, daß ein starker Campagne-Ton bereits unter uns vorherrschte, so gewiß ist es doch auch, daß eine übermüthige Laune nie dringender herausgefordert wurde. Diese Herausforderung lag zum großen Theil in der leichtfertigen Behandlung, die die Kostümfrage von Seiten dieses czechischen Struwelpeters erfuhr. Ob er nun sein Beinkleid verkehrt angezogen hatte, oder ob der böhmische Schnitt sich mehr der Kinderhose nähert, gleichviel, seine Rückseite hatte nach unten zu jenen sonderbaren, flaggenhaften Appendix, der Hierlandes einen wohlbekannten, aus den Haus- und Miethsverhältnissen entnommenen, in seiner Entstehungsgeschichte noch nicht genügend aufgeklärten Namen führt.

Unser Lachen mochte den Betroffenen wenig verdrießen; er führte uns vielmehr an großen Biertischen vorbei, dann und wann seine Laterne hoch haltend, treppauf und – hony soit qui mal y pense – in das Schlafzimmer der Schließerin hinein. Diese schien an derlei Unterbrechungen ihrer nächtlichen Ruhe gewöhnt und rief uns, während wir Kopf an Kopf zwischen Thür und Bett standen, in beneidenswerther Naivität zu: »Sind's die zwei Herren, die bestellt haben?« »Jawohl«, riefen zwanzig Stimmen.

Kein längeres Verweilen bei diesen Details! Genug, – wir kamen schließlich unter. Der letzte Trupp, wie wir anderen Tags erfuhren, hatte sich unten auf die Biertische gelegt, die Reisesäcke als Kopfkissen, und war mit großen blutrothen Deckbetten, an denen die Böhmen einen Ueberfluß zu haben scheinen, zugedeckt worden. Wir (unserer vier) hatten ein kleines Zimmer erhalten, zwei Treppen hoch, am Ende eines langen Corridors, gegenüber einem jener Räume, die in ganz Böhmen einen für unser norddeutsches Ohr durchaus unverfänglichen Namen führen, so unverfänglich, daß es sich allenfalls gestatten würde, denselben hier herzusetzen. Doch nehmen wir Abstand davon und zwar um so lieber, als unleugbar eine tiefe Kluft besteht zwischen der Harmlosigkeit ihres Namens und ihrer Wirklichkeit.

Es war drei Uhr, als wir das Licht löschten. Zwei von uns lagen in Bettstellen; einer auf dem Sopha; ich saß rittlings auf einem Stuhl und stützte meinen Arm auf die Lehne. Mir zu Füßen lag ein Haufen hoch aufgeschichteter, aus den zwei Bettstellen herausgeworfener Kissen, über deren dunklen Gipfel hinweg ich auf die Fensterscheiben sah und den Morgen heranwachte. Meine Gefährten, glücklicher als ich, schliefen bald; ich aber hatte Zeit, über das »alte Ungeld« nachzudenken. In manchen Stücken traf ich's. Was ich nachträglich erfuhr, ist folgendes:

Das »alte Ungeld«, früher der Teinhof genannt und unmittelbar neben der Teinkirche, der ältesten und berühmtesten Kirche Prags, gelegen, war im neunten Jahrhundert eine Herzogliche Residenz und hieß der »Tein« von »tyniti« umpfählen, weil er mit Pfahlwerk befestigt war. Dieser »Teinhof« bildet noch jetzt einen abgeschlossenen Komplex von zehn Bürgerhäusern. Schon 1101 wurde die ehemalige Residenz in ein Kaufhaus umgewandelt. König Johann von Böhmen (derselbe »blinde König Johann«, der 1346 in der Schlacht bei Crecy gegen die Engländer blieb) errichtete hier 1310 ein »Ungeld« das heißt ein Acciseamt für die neu eingeführte Wein- und Salzsteuer. Später ging es in Privatbesitz über, ein neues Acciseamt wurde errichtet und was bis dahin einfach das »Ungeld« gewesen war, sank nun zum alten Ungeld herab, als welches es in die Reihe der Ausspannungen und Bierschänken eintrat.

All dies trat erst andern Tages mit historischer Gewißheit an mich heran, aber mehr als alle »Führer durch Prag« mich wissen lassen konnten, trug ich bereits in ahnendem Gemüth, während ich rittlings auf meinem Stuhl die Nacht durchwachte. Aus den aufgethürmten Bettmassen, deren Roth trotz aller Dunkelheit mir vor den Augen stand, stiegen immer neue Herzöge auf, Wenzeslav, Boleslav, Wratislav, die Einen mit breiten Wunden auf der Stirn, die Andern mit tiefen Wunden in der Brust.

Endlich dämmerte der Tag; noch eine kurze halbe Stunde und die ersten Sonnenstrahlen fielen über den Dachfirst des Hauses gegenüber, mitten in unser Zimmer hinein. Unsere Schläfer schüttelten den Schlaf ab und durch das schnell geöffnete Fenster drang nun die Morgenfrische und ließ uns fast vergessen, daß wir im »alten Ungeld« waren. Aber wir sollten bald daran erinnert werden. All die Nacht über hatten draußen auf dem Korridore unsagbar dunkle Wetter gebraut und eine dichte Wolke gezogen zwischen uns und der Welt. Ein erster Versuch, diesen Dunstkreis zu durchbrechen, war eben so gewiß gescheitert, wie er in ahnungsloser Unbefangenheit unternommen worden war. Und doch mußten wir hindurch, es koste, was es wolle. Wir waffneten uns also und wie bei Feuersbrünsten alle diejenigen, die innerhalb eines brennenden Hauses retten wollen, zuvor um einen kalten Ueberguß bitten, um der leckenden Flamme wenigstens einen kurzen Widerstand entgegensetzen zu können, so traten wir jetzt an das offene Fenster, thaten drei volle Züge, füllten unsere Lungen, gleichsam wie auf Vorrath mit Luft und brachen nun, unter kurzem Spruch und Anruf, durch die Malaria des Korridores durch.

Es glückte. Unten fanden wir die Schließerin; aber besser als das, wir fanden auch einen Kameraden vom Tag zuvor, der schon vor uns die rothen Betten abgeschüttelt und in der Nachbarschaft erfolgreich rekognoszirt hatte. »Sieg!« so rief er uns zu, »Quartier im goldenen Engel.«

Das war eine Botschaft! Das letzte Wort, wie in Huldigung gegen den Sprecher, hallte von dem gewölbten Thorweg des »alten Ungeld« zurück.

 


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