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Ich beginne dies Kapitel, das sich ausschließlich (wie bereits angedeutet), damit beschäftigen wird, Gesammt-Eindrücke wiederzugeben, mit dem Bekenntniß, daß ich in die vielfach laut werdenden Klagen, ja, es muß ausgesprochen werden, in den Ton der Verachtung und Empörung nirgends habe einstimmen können; – weder die Dinge noch die Personen sind mir an irgend einer Stelle von einer besonders häßlichen Seite entgegentreten. Ich leugne damit nicht die Richtigkeit dessen, was andere beobachtet oder an sich selbst erfahren haben; ich gebe nur einfach wieder, was von mir persönlich wahrgenommen worden ist.
Zunächst ein Wort über das Land. Daß es schön ist, hob ich schon hervor; es ist aber auch eigenthümlich. Diese Eigenthümlichkeit liegt zum Theil in den Kulturverhältnissen, in der Art und Weise, wie das Land bebaut und bewohnt ist. Es fehlen – ganz im Gegensatz zu andern slawischen Ländern – die weiten Flächen; auf verhältnismäßig kurze Distanzen hin wachsen die Dörfer am Wege oder auf den Feldern auf und geben dadurch der Landschaft einen Charakter, der mehr an die niedersächsische Art, als an die slawische erinnert. Und doch ist die Aehnlichkeit nur landschaftlich, nur für das Auge da, keineswegs im Bebauungs-Prinzip. Die niedersächsische Art lehnt sich gegen das »geschlossene Dorf« auf, sie setzt die Theile über das Ganze, sie ist der Gegensatz der städtebauenden Concentration, des Ringes, der Umzirkung, der Mauer. Niedersächsische Dörfer (wenn sie auch ihren festen Kern haben) liegen im Wesentlichen ausgestreut über die Feldmark da, ihr bester Theil sind die ausgebauten Höfe, die mit Wohnhaus und Stallgebäuden, mit Baumpartieen und Grenzweiden wiederum ein Dorf im Kleinen bilden. Nach diesem niedersächsischen Prinzip sind nun die böhmischen Dörfer keineswegs gebaut, im Gegentheil, der centrale Hang ist da, der Hang, sich um einen Mittelpunkt zu gruppiren, größere oder kleinere Gemeinheiten zu bilden. Es liegt aber auf der Hand, daß, wenn es aus diesem oder jenem Grunde nur zur Bildung kleinerer, sich auf kurze Strecken wiederholender Gruppen kommt, zuletzt Dörfer entstehen müssen, die in allem, was landschaftliche Erscheinung angeht, an die ausgestreuten, reichgegliederten niedersächsischen Gehöfte erinnern. Und das ist in der That der Fall. Die reiche böhmische Landschaft gewährt ein ähnliches Bild, wie ein Blick von den Oderhöhen, zwischen Freienwalde und Frankfurt in das reiche, wenigstens theilweise nach niedersächsischer Art bebaute Oderbruch hinein, – das Ganze ein Felderteppich mit Dörfern gemustert.
So viel über das, was die böhmischen Dörfer landschaftlich bedeuten. Es bleibt noch die Frage, wie wirken sie an und für sich, wie sind sie, wenn man in sie eintritt? Sie sind wenigstens besser als ihr Ruf. Es fehlen die massiven Häuser, mit stattlicher Vortreppe und gemauerter Veranda, es fehlen die Erkerthürme und die Balkone, ja es fehlt das Ziegeldach (wenigstens zumeist) und altmodisch sitzt die moosbedeckte Strohkappe auf dem niedrigen, kleinfenstrigen, aus Horizontalbalken aufgezimmerten Blockhause. Aber wenn man selten eine gefällige Neuschöpfung bemerkt, aus der einem (was unsere Dörfer so sehr charakterisirt) ein rasch wachsender Fortschritt, oder jener beständige Entwicklungsdrang entgegentritt, der heute schon über das hinaus will, was gestern noch gut war, – ich sage, wenn man diesem Eindruck des Prosperirens auch selten begegnet, so begegnet man doch auch nicht gerade seinem Gegentheil. Es fehlen die Bilder des Reichthums, aber doch auch die der Armuth, und selbst das Betteln, das darauf hindeuten könnte, macht mehr den Eindruck einer schlechten Gewohnheit, eines schlaraffenhaften Hinschleppens der Tage, als wirklicher Noth und Verkommenheit. Vielleicht hat mich das Malerische, das in diesem schönen Lande allem wie eine unveräußerliche Mitgift anhaftet, über das Maß dieser Noth getäuscht und die weinumrankten, aus dem Grün zahlloser Obstbäume hervorschimmernden Häuser und Hütten, dazu die graziösen, halb bekleideten Frauen- und Kindergestalten, haben mich, weil sie meinem Auge ein gewisses künstlerisches Genüge thaten, möglicherweise über manches Elend hinwegsehen lassen, das nichtsdestoweniger vorhanden war. Möglich das alles, aber doch nicht allzu wahrscheinlich. Ich entsinne mich, an den Frauen und Kindern des schottischen Hochlandes auch ein malerisches Gefallen und doch (weit mehr als hier in Böhmen) den vollen Eindruck äußersten Elends gehabt zu haben. Die Bestechungskraft des Pittoresken hat ihre Grenzen.
Malerisch wie die böhmischen Dörfer sind auch die böhmischen Städte. Daß sie klein sind, thut ihnen keinen Abbruch. Mit Ausnahme von Prag und Reichenberg werden sich wenige bis über zehntausend Einwohner erheben; die meisten bleiben weit unter fünftausend. Sie sind klein, aber sie sind nicht unbedeutend. Im Gegentheil, alle sehen nach etwas aus, und der »Ring« auch des kleinsten Städtchens, macht in der Regel einen großstädtischen Eindruck. Hier stehen Kirche und Rathhaus, in der Mitte erhebt sich eine Mariensäule, und Arkaden oder »Lauben« (nach Art unserer ehemaligen Stechbahn) umziehen den Platz, dadurch den stattlichen Eindruck des Ganzen steigernd. Man empfindet etwas von einer alten Kultur; alte Zusammenhänge mit dem Süden, mit Italien werden sichtbar.
An diesem »Ring« befindet sich denn auch der Hostinec, der Gasthof. Wie alles in diesem Lande typisch ist, so auch das Gasthaus. Es ist groß, geräumig, ein breiter Flur scheidet links das Gastzimmer von der rechts gelegenen Küche, deren Herdfeuer beständig brennt und deren Dampf und Fettwrasen das Haus durchzieht. Küchengeheimnisse kennt der Hostinec nicht; wer nicht dem Brodem abmerkt, was es giebt, dem sagt es das Auge, denn das Backen und Braten, selbst der mißliche Prozeß des Wurststopfens, alles vollzieht sich vor dem Auge des Gastes und zwar mit einer gewissen Ostentation, die besagen will: »hier bin ich; ich habe das Licht des Tages nicht zu scheuen.«
So interessant wie die Küche ist auch das Gastzimmer. Meist durch die ganze Tiefe des Hauses sich ziehend, ist es nach vorn hin sonnig, nach hinten zu dunkel und schattig. Man sucht sich helle und dunkle Plätze, je nach Gefallen. Breite lederüberzogene Bänke laufen an den Wänden hin und feste, mächtige Tische stehen davor. Alles, ohne geradezu unsauber zu sein, hat jenen verräucherten Ton, jene ihren Bestandtheilen nach noch nicht genau untersuchte Patina, die einem Gastzimmer so wohl kleidet, es so behaglich macht. Und auf dies Behagen kommt Alles an. Unseren großstädtischen Gasthäusern fehlt alles das, was wohltut, auf die beklagenswertheste Weise; sie geben uns Flitter, dürftige Brocken, hohe Rechnungen und bieten uns eigentlich nichts, als die »Ehre«, bei ihnen zu Gast gewesen zu sein. Wer nicht auf den Höhen der Menschheit wandelt, bringt es über das Gefühl eines bloßen Geduldetseins nicht hinaus; er mag von Glück sagen, wenn er Artigkeit findet, Behagen findet er sicher nicht. Behagen aber ist in einem Hostinec. Von »Eleganz«, diesem Schreckensartikel, keine Rede; es fehlen die gestickten Gardinen, es fehlen die Goldleisten, es fehlen die Anstands- und Repräsentationsbilder. Statt dessen hängen die schlecht kolorirten Nachbildungen französischer Soubretten (schlimmerer Worte zu geschweigen) an den Wänden und wenn auf dem Bilde: »die Schlummernde« die Kostümfrage nach oben zu so gut wie völlig erledigt ist, so giebt auf dem Bilde Le tourbillon der sich in den Kleidern verfangende Wind eben dieser Frage eine fast noch bedrohlichere Bedeutung. Alles dies ist nicht elegant, kaum anständig, aber es paßt zum Ganzen und stimmt trefflich zu dem langen halbdunklen Tisch, von dessen unterem Ende eben die Ungarweinflaschen fortgeräumt werden, um einer dampfenden Glühwein-Bowle aus Melniker und rothem Ober-Ungar Platz zu machen.
Die ewige Klage, der man begegnet, ist die Unsauberkeit. Nun denn auch darüber ein Wort. Es hat mit dieser Klage seine Richtigkeit, aber es kommt darauf an, wer sie vorbringt. Ich habe sie von Seiten gehört, wo sie nichts anderes war als Ungerechtigkeit und Ueberhebung. Wer die Sauberkeits-Vorstellungen eines siebenmal gewaschenen Engländers mitbringt, wer nie anders gereist ist als zwischen Homburg und Baden-Baden, oder zwischen Genf und Interlaken, der mag in einem Hostinec in Klagen und Verzweiflung ausbrechen, wer aber seine Touren zwischen Beeskow-Storkow und Finsterwalde, und zwar zu seiner Zufriedenheit gemacht hat, der hat kein Recht, sich in einem böhmischen Hostinec an den Grenzen aller Kultur zu glauben. Im Gegentheil. Die Verpflegung ist im Großen und Ganzen vorzüglich und jedenfalls besser, als in den kleinen Städten unserer alten Provinzen. Kaffee, Weißbrot, Butter sind gut, die »Kipfel« eine Delikatesse; der Thee (dies vornehme Getränk, das so wenige zu bereiten verstehen) hält sich auf der Höhe wenigstens bürgerlichen Anstandes. Die Fleischspeisen passiren, Wildpret ist ausgezeichnet. Die Art des Servirens erregt Bedenken, was nicht ganz bestritten werden soll. Das Tischzeug kommt weniger aus dem Schrank als aus der »Presse«, Messer und Gabel spotten des Versuchs, den fork and knife-Kultus der Engländer mit ihnen durchzuführen; der Wasser- und Handtuch-Luxus ist noch unbekannt und das Ein-Waschbecken-Prinzip wird noch in rigoroser Weise aufrecht erhalten. Aber wie lange ist es denn her, daß wir dieses Prinzipes los und ledig geworden sind? und wie viele kleine Städte giebt es überhaupt, die siegreich damit gebrochen haben?
Bleibt als letztes – die Bettfrage. Hiermit steht es nun freilich schlimm; aber – wo stünd' es besser? Wo sind die Betten, angesichts deren das »gute Nacht« des sich zurückziehenden Hausknechts nicht zu einer blos schabernackschen Bemerkung würde, wo sind die Ruhekissen, die wirklich Ruhe verheißen, wenn nicht das »persische Pulver« bereits seine Zauberkreise gezogen hat? Der kleine norddeutsche Gasthof und der böhmische Hostinec, sie sind Geschwisterkind, und Anverwandte sollen nichts übles von einander reden.
So viel über Dörfer und Städte, über »Ring« und »Hostinec.« Auch noch ein Wort über die Menschen.
Von unseren Truppen, die nun seit zwei Monaten Zeit gehabt haben, die böhmische Bevölkerung kennen zu lernen, hört man nichts Gutes über diese letztere; Offiziere wie Mannschaften führen eine bittere Sprache und es bleibt höchstens darüber ein Zweifel, ob mehr Empörung oder Verachtung diese bittere Sprache diktirt. Alle Zeichen des Racenhasses (um so echter da, wo man sich keine Rechenschaft davon giebt) treten hervor. Zu den persönlichen Erlebnissen jedes Einzelnen kommen die »Trautenauer Geschichten«, die Geschichten von Leichenraub und Verstümmelung, von verschütteten und vergifteten Brunnen hinzu, um das ohnehin bis an den Rand gefüllte Glas überlaufen zu machen.
Es ist nicht Hang zum Widerspruch, sondern nur eine Pflicht gegen Recht und Wahrheit, wenn ich hiermit versichere, all' diese Tage über keinem einzigen Erlebniß begegnet zu sein, das mich berechtigte, in das so lebhaft lautgewordene Verdammungsurtheil einzustimmen. So oft wir um Auskunft fragten, wurde uns diese Auskunft ertheilt, in der Regel mit Zuvorkommenheit; da, wo man aus berechtigtem Vaterlandsgefühl, diese Zuvorkommenheit nicht zeigen wollte, trat eine gewisse reservirte Haltung ein, aber diese reservirte Haltung nahm nie die Form eines direkten Abweises an. Mitunter – namentlich bei solchen, die sich durch militairische Haltung als alte Soldaten kennzeichneten – flammte in den Augen etwas wie Haß auf; sie sahen uns scharf an, musterten uns und schienen sagen zu wollen: »wir sehen uns wieder;« aber all der Groll, der in ihnen kochen mochte, hielt sie nicht ab, auf die ruhig gestellte Frage eine ruhige Antwort zu geben. Dies geschah selbst an solchen Orten (beispielsweise in Podoll), wo sie über die rückgängigen Bewegungen der Ihrigen, über große Verluste und endliche Niederlage zu berichten hatten. Von Schabernack, von absichtlichem Irreführen, von all den Eulenspiegeleien Norddeutschlands keine Spur. Zu Gängen immer bereit, immer bereit einen Mantelsack zu tragen, immer bereit einen Trunk Wasser herbeizuschaffen! Die Motive dabei gehen mich nichts an, ich berichte die Thatsachen.
Der hervorstechende Zug im Volkscharakter schien mir eine scheue, leise sprechende, leis auftretende Artigkeit zu sein. Alles machte den Eindruck, als ob man sich auf Socken bewege, während das preußische Auftreten (durch den Kontrast gesteigert) mich regelmäßig an Stulpstiefel und Pfundsporen erinnerte. Die Czechen, nach ihrer Oberfläche zu urtheilen, sind ein feingebautes, glattes Volk. Sie haben »Formen« und diesen Formen gegenüber, wird der mehr oder weniger formlose Norddeutsche immer eine Neigung haben, von Falschheit und Tücke zu sprechen. Schon der Sachse muß sich, um seiner Artigkeit willen, beständig diese Anklage gefallen lassen.
Was ist es denn nun aber eigentlich mit dieser »Falschheit und Tücke?« Die ewige Fehde dagegen ist nichts wie eine Glorifizirung der Rücksichtslosigkeit, wie eine Prämiirung der Grobheit. Es ist dabei mit den Stämmen, wie mit den Individuen. Jeder, der artig und umgänglich ist, der in der Debatte, selbst im Streit, Gewalt über sich hat, jeder der »allerstärkste Ausdrücke« vermeidet und es nirgends als seinen Beruf empfindet, allen Menschen ein Register ihrer Schwächen und Sünden vorzuhalten, jeder, sag ich, der diese feineren Formen des Verkehrs besitzt, wird immer einmal der Gefahr verfallen, für einen heimtückischen Gesellen, für einen »unsicheren Passagier« gehalten zu werden. Wie beneidenswerth dagegen ist die Rolle des pommersch-brandenburgischen Biedermanns! A. tritt in das Haus seines Freundes und Nachbars B. und findet alles schlecht: das Geschäft wird nach falschen Prinzipien betrieben, die Kinder werden nach falschen Prinzipien erzogen, Apfelwein ist Gift, Weißkohl ist Magenmörderei und die Sitte des Tischgebets halb eine Lächerlichkeit, halb eine Blasphemie. Die Unterhaltung nimmt einen Charakter an, daß man fürchten muß, die Freunde werden sich nie wieder sehen. So trennen sie sich. Am Abend ist A. in seinem Stammlokal; er findet einen beliebigen C., der es sich einfallen läßt, den abwesenden B. wegen seiner »Prinzipien in Geschäft und Erziehung« anzugreifen. Es sind genau dieselbe Gründe, die unserem A. vor wenigen Stunden noch so geläufig waren. Aber das ist vergessen. Im Grunde genommen ist A. ein Krakehler und weiter nichts, ein Oppositionsmacher von Beruf und nunmehr seiner ewigen Streitlust den Mantel biedermännischer Hochherzigkeit umhängend, tritt er plötzlich in aller Freundschafts-Glorie für den abwesenden und bedrohten B. in die Schranke. C. wird culbutirt, denn in solchen Kämpfen siegt immer der Edle. B. erfährt es am andern Morgen beim Frühstück, wie A. für ihn gefochten. Ihm werden die Augen feucht und er sagt zu seiner Frau: »Ich lobe mir doch die groben Menschen. Sieh diesen A. Es ist doch eigentlich eine edle Natur«.
So liegen die Dinge und man sollte, Individuen wie Stämmen gegenüber, doch nach gerade darauf verzichten, die Grobheit als die Vorhalle zum Tempel der Wahrheit anzusehen. Auch die Grobheit lügt. Und die Geschliffenheit, selbst mit den Mängeln, die sie haben mag, steht jedenfalls der Kultur näher als ihr Gegentheil.