Theodor Fontane
Jenseit des Tweed
Theodor Fontane

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Edinburg-Castle

Wer kennt nicht das Edwin Landseersche Bild »Der Frieden«? Grasbewachsene Dünenhügel ziehen sich am Strand hin; glatt wie ein Spiegel dehnt sich die Meeresfläche; Kinder spielen, Schafe weiden umher; eines der Schafe aber naht sich der Öffnung einer rostigen, halb im Grase verstecken Kanone und nagt die Halme ab, die ihm friedlich daraus entgegen blühn. An dieses Bild mußt' ich denken, als ich oben auf Edinburg-Castle stand. Alles ringsum atmete Frieden; selbst die Halbmondbatterie, die ein Dutzend Geschütze oder mehr aus dem Wall- und Mauerwerk hervorstreckt, erschien mir so friedlich wie jene rostige Kanone im Grase. Die ganze Burg, mit ihren kriegerischen Prätentionen, ein gutherziger Polterer und nichts mehr! Mit einer Art Staunen hört' ich, daß im Jahre 1570 noch eine wirkliche Belagerung dieser Felsenfestung stattgefunden hat. Philipp le Grange, ein Anhänger Maria Stuarts, hielt sich hier 33 Tage lang gegen die vereinigten Anstrengungen einer englisch-schottischen Belagerungsarmee. Dreiunddreißig Minuten würden jetzt ausreichen, sämtliches Mauerwerk dieser Festung in einen Schutthaufen zu verwandeln. Daß im Jahre 1745 Prince Charlie keinen Angriff auf Edinburg-Castle unternahm und die Burg in den Händen der englischen Besatzung ließ, während die Stadt in seinen Händen war, darf auf keinen Fall als ein Beweis für die Festigkeit des Platzes gedeutet werden. Die Sache war, daß die nacktbeinigen Hochländer viel Mut, aber keine Kanonen hatten und daß es nutzlos gewesen wäre, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen. Edinburg-Castle, so scheinbar gebieterisch seine Lage ist, hat nichts mehr zu gebieten, seitdem eine Höhe von 300 Fuß aufgehört hat, eine Unerreichbarkeit für Kugel und Wurfgeschoß zu sein. Daher fallen alle historischen Erinnerungen, die sich an die Verteidigung oder Eroberung dieser Felsenfestung knüpfen, in das 14. und 15. Jahrhundert, Zeiten, in denen man jenseits des Tweed noch keine Geschütze kannte. Die interessanteste dieser Erzählungen ist eine Überrumpelung der Festung durch Randolph, Grafen von Murray, die 1313, also kurze Zeit vor der Schlacht von Bannockburn, stattfand. Sie wurde nach dem Erfahrungssatz ausgeführt, daß man da angreifen muß, wo sich der Feind am sichersten fühlt. Murray und 30 auserlesene Leute kletterten in einer Nebelnacht die senkrechte, für unersteiglich gehaltene Südwand des Felsens empor. Ihr Führer bei diesem Wagstück war ein alter Soldat, der auf dem Schloß geboren und großgezogen, in jungen Jahren die Wachsamkeit seines strengen Vaters oftmals getäuscht und die Südwand des Felsens hinab- und hinaufkletternd, die Nächte bei seiner unten in der Stadt wohnenden Geliebten zugebracht hatte. Ich nahm Gelegenheit, mir auf diese Erzählung hin ein paar Tage später die ganze Felsenlokalität von unten her anzusehn. Wenn nicht die Liebe dem Glauben darin gleichkäme, daß sie Berge versetzen, also am Ende auch erklettern kann, so würde man billigerweise die Wahrheit der ganzen Geschichte bezweifeln müssen. Es geht wirklich senkrecht in die Höh', an manchen Stellen mehr denn senkrecht. Der vielbesungene Schwimmer zwischen Sestos und Abydos erscheint im Vergleich mit diesem Schotten wie ein Usurpator, der Kränze trägt, die ihm nicht gebühren.

Schottland besitzt laut der Unionsakte 4 Festungen: Edinburg-Castle, Stirling-Castle, Blackneß und Durnbarton. Sie gleichen sich wie Brüder untereinander und sind alle, um sie durch ein einziges Wort zu bezeichnen, verkleinerte, niedrig gelegene, mehr burg- als festungsartige Königsteins. Für den, der in London war, vergleich' ich sie in mancher Beziehung noch besser mit dem Tower. Edinburg-Castle insbesondere rechtfertigt diesen Vergleich. Beiden gemeinschaftlich ist unter anderm der Umstand, daß sie als Aufbewahrungsplätze für die sogenannten »Regalien« (Kronjuwelen) dienen. Wir ließen uns in das Zimmer führen, wo der schottische Königsschmuck gezeigt wird, empfanden aber angesichts desselben womöglich noch weniger als beim Anblick der verschiedenen Kronen und Zepter, die im Tower zu London gezeigt werden. Pflichtschuldigst sieht man sich solche Dinge an, hört mit halbem Ohr die hergeleierten Erklärungsworte, bezahlt den üblichen Sixpence und ist froh, wenn man aus dem Zimmer mit seinem großen sechseckigen Glaskasten wieder heraus ist. Ich legte mir die Frage vor: »Woher diese Indifferenz?« Der Hauptgrund scheint mir der zu sein, daß diese Dinge in ihrer Allgemeinverwendetheit den Reiz des Besonderen, sozusagen des Persönlichen verlieren. Alles Reliquienwesen müssen wir auf eine ganz bestimmte Person zurückführen können. »Dies ist das Gebetbuch Jane Greys, dies der Eisenhut des Großen Kurfürsten, dies die Tabaksdose des Alten Fritz«, das hat ein Interesse; die Person selbst steht wie aus dem Grabe auf, trägt wieder die Sache oder stellt sich hinter dieselbe und gibt ihr dadurch ihren Reiz und Wert. Was soll aber vor unser geistiges Auge treten, wenn wir hören, »das ist das Reichsschwert von Schottland!« Nichts. Alle die sieben Jakobs, die sich herzudrängen, selbst wenn wir was von ihnen wissen, verwirren uns nur, und wir sind schließlich froh, diesem wirren Getriebe entkommen zu können.

Die meisten Gebäude, die sich auf Edinburg-Castle vorfinden, sind, wie beim Londoner Tower, von modernem Datum. Während der Tower indes neben seinen Baracken, Speichern und Munitionshäusern noch ein Dutzend wirkliche Sehenswürdigkeiten: Traitors-Gate, den Bell-Tower, den Beauchamp-Turm, den Blutturm, die Kapelle St. Peter ad Vincula und vor allem den erinnerungsreichen, teilweise intakt erhaltenen White Tower aufweist, reduzieren sich die historisch interessanten Baulichkeiten von Edinburg-Castle eigentlich auf zwei Punkte: auf eine kleine, schmucklose, bis in die Pikten-Zeit zurückreichende Kapelle, in der jetzt die zur englischen Episkopalkirche gehörigen Soldaten der Besatzung ihre Kinder taufen lassen, und auf ein anderes an der Südostecke des Hügels gelegenes, unscheinbares Wohnhaus, in dem Maria Stuart, drei Monate nach der Ermordung Rizzios, den späteren König Jakob VI. gebar. Zwei Zimmer sind es, die in diesem Wohnhaus gezeigt werden: eine Art Vorsaal oder Wachtstube, mit langen Tischen und Bänken darin, und daran anstoßend das Klosett der Königin selbst. In jenem Vorsaal befinden sich zwei Bildnisse, das eine davon Maria Stuart darstellend. Wiewohl eine Kopie en miniature nach diesem Ölfarbenbildnis (Bruststück) existiert, die erweislich schon über 150 Jahre alt ist, so glaub' ich dennoch nicht an die Echtheit dieses Porträts. Weder ist es den beiden, unzweifelhaft beglaubigten Bildnissen der Königin irgendwie ähnlich, noch deutet die Technik auf irgendeinen Maler des 16. Jahrhunderts, von dem es bekannt geworden wäre, daß er damals in England oder gar in Schottland gelebt hätte.

Es ist vielleicht am Ort, hier einiges über die ziemlich zahlreich vorhandenen Porträts der Königin einzuschalten. Die Kunstausstellung in Manchester enthielt deren sieben, meist Miniaturen nach den verschiedensten Ölbildern, nach vorgeblichen Originalen, die zum Teil gar nicht mehr vorhanden sind. Sind diese Porträts wirklich alle echt, d. h. bei Lebzeiten der Königin und angesichts derselben gemacht, so muß man es aufgeben, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie sie denn eigentlich ausgesehen habe. Im großen und ganzen herrscht kaum irgend eine Ähnlichkeit zwischen all den Porträtköpfen, Miniatur- wie Ölbild, die ich von ihr kenne. – Von Ölbildern habe ich fünf gesehen: eines im Schlosse zu Hampton-Court, eines dem Grafen von Morton gehörig, eines in Windsor-Castle, eines in Edinburg-Castle und eines in Abbotsford; das letztere, bloß das abgeschlagene Haupt der Königin darstellend, zeigt in einer Ecke den Namen eines italienischen Malers, in der anderen die Ortsangabe »Fotheringhay«; trotz alledem bezweifle ich aufs entschiedenste, daß das Ganze etwas anderes sei als eine Schöpfung freier Phantasie. – Das Porträt in Edinburg-Castle ist sehr wahrscheinlich das Bildnis einer ganz anderen Person, und nur die drei erstgenannten Bilder, das in Hampton-Court, das in Windsor-Castle und das dem Grafen Morton zugehörige, sind echt und, soviel ich weiß, ziemlich unangefochten in ihrer Echtheit. Auf dem ersteren Bilde ist sie in der Schwesterntracht jenes französischen Klosters, in dem sie bekanntlich erzogen wurde abgebildet; auf dem anderen Bilde (dem Graf Mortonschen) als Königin, reich geschmückt, mit jener Haube und zumal mit jener aufrechtstehenden hohen Halskrause, die jeder unter dem Namen »Maria-Stuart-Kragen« kennt. Zwischen beiden Bildern herrscht eine gewisse Ähnlichkeit, nicht gerade in den Zügen, aber darin, daß beide Leben und Wahrheit verraten und nichts haben von jener Puppenkopfmanier, der es genügt, einem erfundenen Schönheitsideal einen möglichst schönen Teint gegeben zu haben.

Wir kehren jetzt in die Zimmer zurück, die die einzigen in Schloß Edinburg sind, die noch an die Königin Maria erinnern. Aus dem Vorsaal oder der Wachtstube treten wir in das Klosett der Königin. Dies Zimmerchen mit seinem braunen Wandgetäfel macht noch jetzt den Eindruck einer gewissen Eleganz, wenigstens des Niedlichen und Wohnlichen, wobei man freilich von der fast erdrückenden Kleinheit des Raumes absehen muß. Es gleicht durchaus einer braungetäfelten, altmodischen Schiffskajüte. Besonders wert gehalten scheint der Raum nicht zu werden. An der Stelle, wo das Bett der Königin stand, befindet sich jetzt ein kleiner Tisch, auf dem Beschreibungen und Ansichten von Schloß Edinburg feilgeboten werden. Wie sich von selbst versteht, hat ein Zimmerchen von dieser Ausdehnung nur ein Fenster. Aus diesem Fenster wurde Jakob VI., den die Gegner Marias schon damals in ihre Gewalt zu bekommen trachteten, wenige Tage nach seiner Geburt in einem Korbe herabgelassen und unten am Fuße des Berges von Anhängern der Königin in Empfang genommen. Der Felsen ist hier vollkommen steil. Schwindelnd sah ich aus dem Fenster in die Tiefe hinunter. Die Königin muß starke Nerven gehabt haben, daß sie nicht vor dem Gedanken erschrak, ihr Kind diese grauenhafte Luftreise machen zu lassen. Daß der junge Prinz sie glücklich machte und wohlbehalten unten ankam, mag nachträglich wie ein Zeichen gedeutet werden, daß er, im Gegensatz zu den Geschicken seiner Familie, in der von jeher ein früher und unnatürlicher Tod die Regel war, bestimmt war, zu leben.

Ich habe Edinburg-Castle mehrfach mit dem Tower verglichen und es gegen den letzteren zurückgestellt. Gewiß mit Recht. Aber eines hat es voraus, das ist die Schönheit seiner Lage. Auch vom Tower, zumal von den kleinen Ecktürmchen des White Towers aus, genießt man einer reizenden Aussicht auf die City, das Themsetreiben und die gegenüberliegenden Surrey-Ufer, aber auch der eingefleischteste »Cockney« – und wäre er aus dem vorschriftsmäßigen Bezirk, innerhalb dessen man die Glocken von Bow-Church hört – würde schwerlich den Mut haben, die Toweraussicht mit jenem Panorama zu vergleichen, daß man von Edinburg-Castle aus vor Augen hat. Zur Rechten stehen der Calton-Hill und die Salisbury-Crags wie ein paar Wächter unmittelbar vor den Toren der Stadt, linkshin dehnt sich eine lachende Landschaft aus; unten, den Fuß des Hügels mit einer Kurve fast umschreibend, ziehen sich die Linien der Glasgow-Eisenbahn, vor uns aber steigt die Neustadt mit ihren Plätzen und Palästen, mit ihren Kirchen und Statuen auf, bis endlich die dünner werdenden Linien sich in Villen und Gärten und freies Feld verlieren. An klaren Tagen wächst der Zauber dieses Bildes mit der Ausdehnung und dem Reichtum der Landschaft. Dann sehen wir jenseits der Gärten und Felder den blauen Wasserstreifen des Firth of Forth, die kleinen Felseninseln darin und blicken selbst über das blaue Band hinfort bis weit in die fruchtbaren und erinnerungsreichen Täler der Grafschaft Fife hinein.

Wir standen auf der Halbmondbatterie und freuten uns des herrlichen Anblicks; Freund B., wie gewöhnlich, nahm sein Skizzenbuch aus der Tasche, um, seinem Gedächtnis bescheiden mißtrauend, das schöne Bild in Linien und Strichen festzuhalten. Neben uns, auf dem Wallrand, stand ein schottischer Matrose, ein altes Inventarstück des Schlosses, der an Königin-Geburtstag etc. die Salutschüsse abzufeuern hat, und sah von Zeit zu Zeit neugierig in das Skizzenbuch, drin allmählich ein niedliches Bildchen entstand. Als die Sache halb getan war, marschierte vom andern Ende der Bastion her eine Schildwacht auf uns zu, um uns, nachdem sie vorher mit andern Milizsoldaten, die harmlos umherlungerten, ein Gespräch gehabt hatte, das Zeichnen zu untersagen. »Dergleichen sei verboten«. Der Unverstand lag klar zutage; gewöhnt aber, gegen Schildwachtsermahnungen keine lange Opposition zu machen, klappte Freund B. sein Buch zu und schickte sich an, den Platz zu räumen. Nur der alte Matrose war indigniert. Nonsense! diese »young hands« (etwa soviel wie unser »diese Gelbschnäbel«) sind kaum zwei Stunden hier und wollen Ordres geben; Unsinn, wissen nichts vom Dienst etc. Das Komische war, daß sein schottischer Patriotismus diese Southrons wie Eindringlinge, wie Feinde behandelte, als ob ein Königreich Großbritannien gar nicht existiere und das siegreiche England nur wieder mal erschienen sei, um eine Besatzung in die eroberte schottische Hauptstadt zu legen. Diesem Gefühl eines Gegensatzes zwischen Sieger und Besiegten bin ich auf meinen Wanderungen durch Schottland außerordentlich oft begegnet. Die Engländer kennen diesen Spezialpatriotismus ihres nördlichen Nachbarn sehr wohl und lachen darüber; die Schotten aber, anstatt einzustimmen in die Heiterkeit, werden durch die gute Laune der Southrons (in die sich allerdings ein gut Teil Überlegenheit mischt) nur noch gereizter in ihrem Gefühl.

Unsrem Matrosen indes war ein völliger Triumph über die »young hands« vorbehalten. Gleich nachdem wir die Bastion verlassen hatten, wandten wir uns an den wachthabenden Offizier, der eben von Posten zu Posten ging, um den ziemlich verlegen dreinschauenden Milizen die »Instruktion für Edinburg-Castle« vorzulesen. Das war just unser Mann. Auf unsre Beschwerde antwortete er mit vieler Artigkeit, daß er selber nicht wisse, was erlaubt und verboten sei, daß er indes höheren Orts anfragen und uns den Bescheid in wenigen Minuten zugehen lassen werde. Er kam dann selbst, um uns sein Bedauern auszusprechen, daß wir unter dem mißverstandenen Diensteifer der Schildwacht zu leiden gehabt hätten. Das Regiment käme von Dover, wo sie bis jetzt in Garnison gewesen wären; die Schildwacht habe ohne Not die strengen Instruktionen von Dover-Castle auf Edinburg-Castle übertragen. Dieser kleine Vorfall interessierte uns nach mehr denn einer Seite hin, besonders auch deshalb, weil also, den Worten des Offiziers nach zu schließen, in betreff der Kanal-Befestigungen »strengere Instruktionen« vorzuliegen scheinen als mit Rücksicht auf den minder exponierten Norden. Daß es übrigens hinsichtlich der Festungen an beiden Seiten des Kanals noch irgend etwas zu verraten geben sollte, darf billig bezweifelt werden. Ich glaube, man kennt Dover-Castle in Paris so gut wie in London.

Wir nahmen jetzt unseren Stand auf der Halbmondbatterie wieder ein; die arme Schildwacht schlich verlegen um uns her, bis wir sie durch einige Gemütlichkeitsfragen von unsrer versöhnlichen Gesinnung überzeugt hatten. Die Skizze war längst beendet, als wir noch immer an der Brüstung standen und, hinausschauend, das zauberhafte Bild vor uns in seiner stets wechselnden Beleuchtung auf uns wirken ließen. Endlich rollten die Abendnebel langsam vom Meere aus auf die Stadt zu; immer dichter legten sich die Schleier über Land und Stadt, bis diese endlich, schwarz in grau, wie ein Schatten im Schatten verschwand.


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