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La peine qu'on a n'est rien, mais celle qu'on a faite aux autres empêche de manger son pain. |
P. Claudel |
Sophie Barnekow hatte geklopft, ohne Antwort zu erhalten; nun öffnete sie leise die Tür, um sie aber sofort wieder zu schließen, behutsam, wie man's in der Krankenpflege erlernt.
Dort im halbdunklen Raum, wo die Sonne durch die schräggestellten Läden glitt und goldene Leitern auf die Dielen malte, wo der Geruch von Reseda und nassem Kies und das leise Klirren von Gießkannen durch die offenen Fenster eindrang, saß Meisi, ihre junge Herrin und Schutzbefohlene, nicht allein. Neben ihr, die Hände um eine Stuhllehne geschlungen, stand Rütten. Ohne die Frau zu berühren. Und doch, hätten sich beide in den Armen gelegen, festgeklammert, Blick in Blick getaucht, nicht deutlicher hätte es von letztem, bitterstem Abschied reden können.
Von Meisi war nichts zu sehen gewesen als der braune Hinterkopf und das feine Genick, da, wo der Haaransatz in warmen goldenen Flaum überging; tief auf den Tisch gebeugt. Wie oft befestigte Sophie das kinderweiche und doch eigensinnige Haar, mit ganz wenig Nadeln, weil alles gleich Kopfweh machte; immer wieder glitten die Zöpfe hinunter, dann musste Sophie leise erinnern: »Liebste, Ihre Haare.« Und auch eben hatte das Ende einer Flechte über die Schulter gehangen. Kleine physische Eigentümlichkeiten geliebter Menschen können einem ans Herz wachsen und es seltsam wehrlos machen, mehr als die Tugenden, die sie besitzen oder die wir ihnen andichten. So fuhr's ihr auch jetzt durchs Herz, und was erst Erschrecken gewesen, empfand sie nun als tiefe, schmerzende Zärtlichkeit. Sie seufzte auf und schlüpfte in ihr Zimmer gegenüber zurück.
Starke Leidenschaften, die ihr Ziel in offenem Aufruhr oder auch durch List und Heimlichkeit und manche schmerzliche Selbsterniedrigung zu erreichen wissen, waren Sophie fremd geblieben. Sie wusste, es gab dergleichen. Aber doch nur so, wie man von Mormonen liest oder von den Bacchanalien entarteter Cäsaren. In ihrem klaren, 14 hilfreichen Wesen, ihrem Abscheu vor jeder Unsauberkeit und Unordnung war kein Raum für Ungeregeltes; eine verbotene Liebe lag ihr im Grunde ebenso fern wie Taschendiebstahl. Dabei – oder vielleicht gerade deshalb – konnte sie von verblüffender Parteilichkeit sein, wenn sich's um Menschen handelte, die sie liebte. Sie war aus dem Holze geschnitzt, das gute Royalisten abgibt. Wen sie einmal liebte, zu dem hielt sie auch, er mochte tun und lassen, was er wollte; das war doch sehr einfach. Und dann – bei näherem Zusehen müssten gewiss Gründe genug zu finden sein, die alles erklären würden; wenn sie selbst auch gar nicht danach suchte.
Auf ihrem Bett lag die eben abgelieferte Wäsche. Ihr Blick glitt an einem grauen Leinwandkittel entlang, der in seiner knabenhaften Spärlichkeit etwas von Meisis Umriss bewahrte. »O du Armes«, sagte sie vor sich hin, und ihre Augen fingen an zu brennen. Dann begann sie mit ihren feinen, verbrauchten Händen die Sachen zum Ausbessern zurechtzulegen.
Drüben in dem dämmrigen Zimmer war es sehr still. Die leise Stimme des Mannes redete in abgebrochenen Sätzen, so von fernher, wie Selbstgespräch. Die Frau hörte und hörte auch nicht. Denn ihr war, als hätte sie's längst gewusst, dass er einmal so reden und handeln würde. Es hing ja alles in ihm – wie man es sonst nur bei Pflanzen findet – ganz selbstverständlich zusammen; so wie die äußersten Zweiglein einer Eiche immer noch die Gewaltsamkeit der Äste, den Eigenwillen der Wurzeln ausdrücken. Es waren in diesem Manne wenig Widersprüche, er musste handeln, wie er empfand, musste dies lieben, weil ihm jenes widerstrebte, selbstverständlich und unerbittlich in seinen Neigungen und Abneigungen wie ein Tier, wie ein Künstler, wie ein kleines Kind.
Meisi drückte noch immer die Stirn auf den Arm, der sich um die Tischkante krampfte; denn sie empfand es dumpf: Solange sie nicht aufblickte, würde er nicht fortgehen, erst musste er ihr Einverstehen in ihren Augen erzwingen, eher konnte er sie nicht allein lassen, nicht aufhören zu reden, zu überzeugen. Und ob ihr auch das Blut in den Ohren rauschte und sie kaum verstand, was er sprach: Ach, er war doch immer noch da, sie atmete den leisen Duft seiner Kleider; eins nur sollte er nicht, nicht aus dem Zimmer gehen. Oh, solche Tür, die zufällt, nein, nur das nicht. Dableiben, im Zimmer bleiben, er sollte 15 sich auch gar nicht um sie kümmern. Am allerseligsten war es doch immer gewesen, wenn sie still im Zimmer saß und nur auf die kleinen Geräusche horchte, wenn er den Bleistift hinlegte oder wieder ein paar Seiten aufschnitt in dem dicken, verzweiflungsvollen Buch, das er las. Über Heimindustrien war's gewesen. O Gott, die unglücklichen Menschen, von denen da erzählt wurde; welch entsetzliche Winkel gab es in der Welt, warum durfte das sein! Wenn sie ein König gewesen wäre, all die stillen, leeren Königsschlösser hätte sie den Armen aufgetan, herrlich erwärmt im Winter und im Sommer kühl und hallend inmitten heißer brütender Wiesen, mit grünen Schattengängen und Nachtigallenschlag. Man dachte nicht genug an andere, wenn man selber glücklich war, ach glücklich zum Sterben, als versänke und ertränke man in einem riesenhaften Maiblumenstrauß und würde ohnmächtig vor lauter Wonne. Ob so arme schmutzige Menschen jemals so etwas hatten? Immer nur Ruß und Lärm oder zu Haus zusammengepfercht mit verklebten Fenstern. Und alles so hässlich, auch die Kinder, und nichts, auf das sie sich freuen konnten morgens beim Erwachen. Aber Gerhard würde etwas ersinnen, um ihnen zu helfen, er schien Hilfe auszuströmen wie kluge Ärzte. Natürlich, es brauchte alles Zeit, und einstweilen war es doch kein Unrecht, wenn Glückliche ihr Glück genossen. Sie wollte niemand etwas wegnehmen, das brachte sie gar nicht fertig, es hätte ihr alles vergällt, aber ihn – ihn konnte sie nicht hergeben. Sie war abergläubisch geworden. Wenn sie etwas Hübsches besaß und jemand bewunderte es, gleich hatte sie's hergeschenkt. Hatte vielleicht Gott bestechen wollen mit Opfergaben, damit er ihr das Eine, Einzige nicht wegnehme . . . ja und nun nahm er es doch.
Immer fester drückte sie die Stirn auf den untergelegten Arm. Wie gern hätte sie nach seiner Hand gegriffen, da, ganz nah; aber sie wusste, dann würde er sie streicheln und emporziehen und sie musste noch einmal sagen: Nein, nein, ich kann nicht – ja, und dann würde er gehen.
»Meisi«, sagte die Stimme über ihr, »was hilft das Hinausschieben, es geht doch so nicht weiter. Du willst nicht mit mir gehen, und so wie du nun einmal bist und wie die Dinge liegen, verstehe ich ja, dass du, der es so hart ankommt, Schmerzen zu bereiten . . . Und es ist auch begreiflich, dass dir mein Schmerz erträglicher scheint, eben weil 16 du ihn teilst, während du dort einen tiefen Schnitt tun musst und deiner Wege gehen. Ja, und auch darin hast du recht, wenn du auch sehr zornig warst, als du es sagtest, ich sei nicht so schlimm dran wie du, ich hätte meine Freiheit und meine Arbeit und mein Bergsteigen. Nun, das Bergsteigen wollen wir fürs Erste nicht zählen (er lächelte, o so traurig) – diese Freuden, siehst du, waren so eins mit dir, dass das alles zu – anders wäre. Aber meine Arbeit, ja, die wird mir helfen, darauf zähle ich auch. Zuerst wohl nur als Betäubung . . . aber man muss eben graben und graben, und wenn man nach Jahren der Wahrheit um einen Kinderschritt näher gekommen ist, so ist das ja wohl auch Glück. Und alles das sag' ich dir, Meisi, damit du ganz ruhig seist, was mich angeht.«
Meisi hob ein wenig den Kopf. Sie hatte einen roten Fleck an der Stirn, vom Tischrand; es sauste und sang in ihren Ohren. Ach Gott, es war zu Ende, ganz und gar, er ging fort. Sein Gepäck, das sie so gut kannte, sie hatte ihm ja manches Mal geholfen es auszupacken, die große Ledertasche, die so gut roch, und der raue Mantel aus ungebleichter Wolle, alles würde aufgeladen werden, und er würde dem Maulesel voran den Pass hinunterlaufen, als ging es zu einer Bergpartie. Aber den nächsten Tag käme er nicht zurück, braungebrannt und freundlich und still, den Bergfrieden auf der Stirn und wie das Rieseln der kleinen Bergbäche in der Stimme. Sie würde auf der Terrasse hinter dem Gasthaus auf und ab gehen, wo der Pfarrer und der Wirt und der kleine italienische Schuster Boccia spielten am Abend und auf dem Mäuerchen Kürbisse lagen zum Dörren. Die lustigen bayerischen Malerinnen würden herauskommen, Schnaderhupfi und Kugelhupfi, wie Gerhard sie nannte, und das junge englische Ehepaar mit dem Kätzchen, und sie würden fragen: »Kommt Ihr Freund heut Abend zurück?« Nein, nicht heut, nicht morgen, nie wieder.
Sie hatte eine besondere, qualvolle Fähigkeit, kommende Trostlosigkeit zu wittern, zu schmecken, ihre Kälte im Voraus zwischen den Schulterblättern zu fühlen. So konnte sie sich sein Zimmer, ach das liebe, liebe Zimmer, vorstellen, wenn alles verpackt war und alles wieder fremd geworden, schon abgewandt, Menschen und Dinge treulos geworden einander. Ja, dies Zusammenschnüren in der Herzgrube, das den Zurückbleibenden schärfer anfällt als den, der geht, sie spürte es schon jetzt. Wenn die Dinge nachher eintrafen, war's wie 17 ein Erkennen, als hätte man schon die Generalprobe dazu erlebt. Dank dieser Fähigkeit konnte sie dann gefasster und umsichtiger sein, als man es ihrem raschen, wechselnden Temperament zugetraut hätte.
»Meisi, mein Liebes«, sagte die Stimme, und sie verbarg die Augen wieder auf dem Arm – er sollte nicht darin lesen, nicht ihre Ergebung, ach, sie war nicht ergeben, aber auch nicht ihre Hoffnungslosigkeit, die auf dasselbe herauskam – »ich will dich nicht betrüben und unruhig machen; wie du geschaffen bist, muss dein Gefühl allein entscheiden. Zerbrechen kann ich, will ich dich nicht. Aber denke an eins: Es ist ein Ding, für einen anderen sterben, rasch, mit geschlossenen Augen ins Feuer hinein; aber etwas anderes ist's, für einen anderen verdursten, verkümmern, langsam an jedem Nerv den Tod erleiden, Tag für Tag. Da kann Opferfreude zu Hass werden, und wo man reichlich geben wollte, gibt man schlechtes Maß. Und dann ist nur Bitterkeit und Reue um jeden Sonnenstrahl, um den man sich gebracht hat. Darum, wenn du doch den einen, tiefen Schritt tun könntest, so sei nur immer gewiss, ich bin da. Aber warte nicht, denn es wird immer schwerer und weniger reinlich. Du hast es manchmal hart empfunden, dass ich so finster war, und hattest mir doch alles zuliebe getan. Und musst den Grund doch geahnt haben; brauchst mich ja nur anzusehen, so weißt du, was ich denke. Weil du's so gut verstanden hast, alles aus dem Weg zu räumen, was dir hier ja nicht schwer wurde, denn wer betet dich nicht an, ob es nun Sophie ist oder der alte Pfarrer oder die anderen Gäste und der kleine Schuster, der dir Nägel in die Schuhsohlen klopft . . . Aber auch mit allem, was sich in uns selber gegen uns erhob, wusstest du so gut fertig zu werden, immer hattest du ein gutes Wort bereit. Wenn ich dich so herumtrippeln sah wie ein Bachstelzchen, besorgt und doch triumphierend und immer ganz sicher durch tausend Windungen und Verdrehungen deinen Weg findend, und musste mir sagen, das ist nun die Spur von meiner Hand in deinem Leben . . . Meisi, lass es klar um uns werden! Ja, ja, ich weiß, du hast ein Leben von Szenen und Aufregung gehabt und das ewige Ausweichen ist dir Gewohnheit, ach und dein Verlangen nach Ruhe und Harmonie wollte sich's auch einmal wohl sein lassen. Da bautest du ein Labyrinth, in dem du jeden Ausweg kanntest, und hast unsere Liebe gehütet und versteckt und getröstet mit deinen lieben schönen Händen. Aber nun geht das nicht mehr, es kommt ein hässlicher 18 Tropfen in unser Bestes. Meisi, wie gestern Sophie den Brief hinlegte, ohne dich anzusehen, und du stecktest ihn in die Tasche, ohne ein Wort . . . ach, mich schüttelte der Ekel. Was sag' ich dir da für harte Worte. Und du bist so weich und so traurig. Aber ich muss es doch aussprechen, denn du allein musst ja entscheiden. Was brauch' ich dir zu sagen, was du mir bist! Wenn du ins Zimmer kommst, ist alles gleich anders; immer ist Festtag um dich her. Wie oft hab ich wachgelegen, ganz früh, wenn du noch schliefst, und die reine Morgenluft kam herein und schien eins zu sein mit dir – und da habe ich das Leben gesegnet, das mir so viel geschenkt. Und wenn ich las und schrieb – trockenes Zeug – ach, wie ein süßer Unterton warst du doch immer dabei; bei allem, was ich tat. Oft hab ich über dich gelacht, wenn du bei jeder Frage, jedem Fortschritt sagtest: ›Wem wird das nützen?‹ Aber es war mir doch lieb an dir, wie deine Tränen der Empörung und deine Art, Krankes und Kleines anzufassen und einfache Leute zutraulich zu machen. Wenn du sie auch oft recht süß zu beschwindeln wusstest . . . nun ja, aber du hast sie glücklich gemacht. Und all das Liebe, das du anderen antatest, das tatest du mir an, denn auch das machte dich mein, machte mich so gänzlich dein, auch wenn ich in einer Gedankenwelt, die dir fremd blieb, einherging und meine Erkenntnis ausprobte, einriss und wieder zu neuer Überzeugung aufbaute, ohne zu wissen für wen, nur weil's mich trieb. Aber du standest und hattest arme Kinder an der Hand und sagtest immer: ›Du musst helfen, du musst helfen‹ . . . Ach, wenn ich doch uns selber helfen könnte!«
Seine Stimme wurde noch leiser, es war nur ein Flüstern über ihr, das sie mehr fühlte als verstand; an ihrer Schläfe die weiche Haarwelle, alles zitterte mit.
»Ich habe dich bewundert, Meisi, denn du bist sehr süß und kostbar, und bist auch viel gescheiter, als du dich ausmachst, du Siebenschläfer. Und hast mich auch namenlos erbarmt, weil du scheu und verlassen warst, wie irgendein Waldtierchen, das eingefangen wurde und nur fortmöchte ins Dunkel. Ach, du liebst nicht über dich zu reden, und wenn ich dich frug, und war's auch noch so behutsam, da hast du nur gelächelt, wie gequält. Aber ich habe dich besser verstanden, als du weißt, und du hast niemand so angehört, wie du mein eigen warst. Und darum weiß ich, dass du eine Eigenschaft hast, gegen die ich 19 machtlos bin; es ist eine seltsame Trägheit, wenn sich's um dein eigenes Glück handelt, und dass du nicht kämpfen magst um irgendetwas. Lächelst hinauf und denkst: Ja, der schöne Apfel, wenn er doch herunterfiele . . . aber es wird ja doch nicht geschehen! Nicht weh tun, warten, gegen alle freundlich sein – ja, Meisi, du brächtest es fertig, gegen den Henker freundlich zu sein. Und unterdessen rinnt das Leben vorbei. Wenn ich wüsste, dass du irgendetwas hättest, eine Arbeit, ein Ziel, etwas, das dich frei und mutig macht, und müsst' ich dich dadurch erst recht verlieren, dennoch Meisi, dennoch . . . Aber ich weiß, dass dir nichts bleibt als Kälte und Leere, und wenn du dich hineinfindest, das ist erst recht traurig. Aber eins hast du, haben wir, unseren Schmerz, niemand darf die Hand dran legen, heut ist er noch unser, gehört uns ganz allein, und darum müssen wir voneinander gehen, wo alles noch ganz kostbar ist und es uns so furchtbar wehtut.«
Ein stärkerer Hauch trieb den Resedaduft ins Zimmer, man hörte fernes Räderknirschen, ein Hund bellte irgendwo . . . es war so still, wie verzaubert. Der Mann fuhr sich über die Stirn und wandte sich zum Fenster; denn es schluchzte etwas in ihm auf, und er musste das erst zur Ruhe bringen. Meisi kroch noch mehr zusammen, machte sich ganz klein wie ein krankes Kätzchen. O wie grauenhaft alles doch war! Sie hatte nicht alles verstanden, aber etwas Kaltes saß ihr in der Brust und dehnte sich, wurde immer größer, und die Füße waren ihr wie zerschlagen. Wenn er sie doch chloroformieren möchte und in einen Wagen packen, nichts fragen, nichts sagen, und am nächsten Morgen würde sie an seinem Herzen aufwachen, irgendwo über der italienischen Grenze, wo es ganz heiß war und die weißen Häuser schliefen und die Zikaden in den Bäumen sägten! Wo man den Tag verschlief. Wenn er sie doch ganz rasch nehmen wollte oder ihr einen Schlag vor die Stirn geben, dass sie die Besinnung verlöre und gar nicht sagen könnte: »Ich will«, oder »Ich will nicht«; wie man Tiere betäubt vor dem Töten. Aber er war seit acht Tagen so anders, nachdenklich und freudlos, seit sie ihm gesagt, Emmo käme her; es würde wohl alles recht schwierig sein; besser, er machte zunächst eine Bergtour, aber sie würde schon alles einrichten, auf keinen Fall dürfe er ganz weg, das hielte sie nicht aus. Wie er sie da angesehen hatte – ganz fremd war sein Gesicht geworden. Und seitdem hatte er ein-, zweimal von Entscheidung gesprochen, von Wahrheit, von einem 20 tiefen Schnitt; und den sollte sie tun. Und das konnte sie doch nicht. Lieber tausend Lügen als eine solche Grausamkeit. Begriff er's denn nicht, wie nötig sie daheim war? Ob er erwartete, dass sie ihm das erklären sollte? Sie konnte doch von »dort« mit ihm nicht reden. Ach, warum verstand er sie nicht! War denn in der Liebe immer ein Teil Tortur? Konnte man sich nie dehnen und alles vergessen? Manche Namen, wie sollte sie die vor ihm aussprechen! Vergaß sie doch am liebsten, dass es für sie ein Zuhause gab, jetzt, wo dies kleine, hellgetünchte Zimmer ihr Heimat geworden. Aber nun sah sie alles deutlich: den armen, jähzornigen Menschen, der es so gar nicht verstand, mit anderen auf die Länge auszukommen, die Schwägerinnen, zarte, verblühte Mädchen, die auf so viel verzichtet hatten ihm zuliebe und auch ihr; und dann war da ihr eigenes Vermögen, es war im Gut verbuttert worden während der letzten, schlechten Jahre; Emmo würde es herauszahlen, »ihr vor die Füße werfen«, ja, so würde er sagen, und dann brach alles zusammen. Das alte, einstöckige Haus, jetzt im Spätsommer sah's so wohlwollend aus, wie eine alte Frau, die in der Sonne sitzt und in allen Runzelchen lächelt. In den Lindengängen war es so still, und im Blumenrondell duftete das Heliotrop einsam in der Sonne. Die Blumen kamen dankbar in dem leichten, sandigen Boden; die Zimtnelken in den Rabatten, in allen Farben, und Skabiosen, wie große Brombeeren; kleine, stahlblaue Schmetterlinge flogen drüber hin in der klaren Septemberluft. Am Haus die großen Fuchsienbüsche in den grünen Holzkübeln, sie waren der Stolz der alten Frau gewesen. Ach Gott, ja, die Gräber im Park, in den Birken . . . der Wald fing gleich dahinter an mit seinen riesigen Föhren und Ameishaufen. Manchmal saßen Eichkatzen auf den Grabsteinen. Ja, das war Emmos Heimat, und auch Freda und Mariagnes waren dort aufgewachsen. Das mussten sie doch behalten, den großen Saal oben, wo es so hallte, wo noch die Efeulauben standen, in denen die Schwägerinnen ihre Puppenkaffees gegeben hatten; Freda von kleinauf kränklich, und Mariagnes? So eine arme, verbitterte Hofdamenexistenz, Gradnitz bedeutete ihre ganze Jugend, ihr letzter Ehrgeiz, das Spalier, an das sich ihr blasses Wesen anklammerte. Nein, nein, es war alles Unsinn; fast wallte Zorn in ihr auf, dass Gerhart von dem tiefen Schnitt gesprochen, als sei es denkbar. Nur nicht grausam sein, nur das nicht. Nachher kam das Mitleid, diese bohrende Qual, und machte alles zunichte. 21
Aber er – still und ernsthaft dort am Fenster; und »nicht lügen« las sie auf seinem Gesicht. Ja, das war so seine Art. Er vertrug nichts Schiefes in sich, ebenso wenig wie ein schiefhängendes Bild an der Wand. Die Tischdecke mit dem hässlichen Muster hatte er gleich hinausgeworfen, als sei's ein Feind. So wollte er auch nichts, das ihm ihrer Seele Bild verdarb. Ach, was ging sie ihre Seele an! Da war ja so ein Spruch, von der Seele, an der man Schaden nimmt, und wenn man auch die Welt gewönne. Sie wollte die Welt gewiss nicht gewinnen, aber um ihre Seele sorgte sie sich nicht. Vielleicht hatte sie gar keine. Nur ein Herz, und das tat ihr weh. Wie doch die Menschen verschieden liebten. Nicht besser, nicht schlechter, nur verschieden. Ihr war alles so einerlei. In einem Keller, mitten zwischen Kohlen und alten Fässern und Kisten würde sie ihn getroffen haben und geküsst und gemeint, es sei das Paradies um sie her! Und ebenso würde sie das andere ertragen haben und, wenn's nicht anders ging, auch Lug und Trug. Aber er litt darunter, er wollte nichts Blindes, Unreines; so oder so, da war kein Mittelweg. Und deshalb musste er nun fort, musste ihr das antun, dass ihr ganzes Leben auf einmal schwer und grau wurde, viel grauer als früher, ehe sie ihn gekannt. Ach, es konnte ihm nicht so weh tun wie ihr, sonst blieb er eben, oder er kam bald wieder, oder irgendwas – aber so – auf Niewiedersehen? Nicht so weh? Nein, im selben Augenblick bat sie ihm den Gedanken ab: der Ausdruck in seinen Augen . . .
Morgen ganz früh ging er wohl, oder schon heute Abend. Besser heute Abend. Wie wär' es auch zu ertragen, noch einmal, zum letzten Mal, im Speisezimmer zu sitzen, die Kehle voll Tränen, und sich Brot anbieten und die Speisekarte weitergeben; das Bild von Wilhelm Tell im Kreise der Seinen, über das sie so oft gelacht, an der Wand gegenüber, und das offene Fenster mit der Aussicht auf die verglühenden Berge . . . wie grässlich alles – oh, zum Sterben . . .
Wie sehr hatte sie dieses Land geliebt, ach, alles darin, an seiner Hand. Gleich anfangs, als es noch neu und überraschend war, die Wege wie Rätsel, so verlockend; immer höher hätte sie steigen mögen, an schwierigen Stellen half er ihr und lachte, und sie wünschte sich heimlich viel schwierige Stellen, weil er ihr dann die Hand gab, seine starke, warme Hand. Wie wonnig war's, wenn dann nach dem Steigen der Pfad am Berggrat eben entlang ging. Man schritt aus, so rasch 22 und gesund, jede Sehne spannte sich, jedes Gelenk freute sich, bei jeder Biegung des Wegs war es, als trete man auf eine Brüstung mit neuem, verändertem Ausblick. Wie sich die Wolken im Tal verfingen, wehende Reitermäntel! Die Herdenglocken läuteten durch den Nebel. Durch verwitterte Dörfer kamen sie, so totenstill; die Leute alle fort beim Heuen, nur einsame Katzen vor verschlossenen Türen. Aber wo immer ein kleiner Platz war, da schattete ein Nussbaum, und darunter war der Brunnen – fließendes Bergwasser, stählern, eiskalt, unerschöpflich. Wie frisch und wasserklar war auch ihre Liebe auf diesen Wanderungen. Etwas Brüderliches war im Zusammenschreiten, Brudergefühl mitten in all der heftigsten Zärtlichkeit; ein Verstehen, als hätte man sich von Kind auf gekannt. Ja, sie brauchten einander nichts zu nennen, ein Blick, ein Aufleuchten, und die Schönheit dieses geliebten Landes schien sich zu weiten, sie zu umfangen und näher zusammen zu drängen mit froher, zwingender Gewalt. Oh, du tiefe, himmlische Gesundheit erwiderter Liebe!
Aber einmal hatten sie sich doch gezankt. Damals, beim Fotografieren. Da war eine Bauernfrau, sie wollte ihre Kinder so schrecklich gern fotografiert haben, und Meisi stellte sie zusammen, auf den Stufen vor der Haustür. Die Mutter band ihnen saubere Schürzen um und flocht dem kleinen Mädchen die Zöpfe. Und sie freuten sich so und waren ganz verschämt vor Stolz, und Meisi musste ihnen versprechen, ein Bild zu schicken, natürlich nur, wenn sie nicht gewackelt hätten – und die Frau diktierte umständlich Namen und Adresse. Dann aber, als sie weitergegangen waren, hatte sie ihm eingestanden, der Film sei ja schon zu Ende gewesen, aber sie hätte der Frau doch die Bitte nicht abschlagen können, und die Freude hätte sie nun doch gehabt. Da lachte er, aber es hatte ihn verdrossen, und er sagte etwas, das sie furchtbar ärgerte.
Doch solcher Streit war bald verflogen. Dazu war alles viel zu schön; das Bergwasser, die prickelnde Luft und der Atem der Wiesen, tanzendes Licht und tanzende Schatten! Und sie zwei, sie zwei, ganz allein mitten drin!
Blauer Enzian! Hochstängelig, am Waldrand gewachsen! Wenn man hineinsah in die Kelche – wurde man selbst zur Biene, zur wohlig saugenden. Ach, und später dann, ein Stübchen, ein weißgetünchtes, dorthin gingen die Gedanken, atemlos, und standen still . . . da war 23 ein tannener Tisch und der Krug mit den scharf gezackten Blüten darauf; wie sie erst ertranken in der Dämmerung und später dann, als das Licht brannte, ihr Schatten erwachte auf der kahlen, reinen Wand!
An jenem Abend waren sie, nach stundenlanger Wanderung, in dem kleinen Gasthaus eingekehrt, das sich mit seiner Front über dem Berghang erhob, an dem das verwitterte Dorf hinunter kroch im Zickzack, an steiler, gepflasterter Straße entlang: Häuser mit uralten Schindeldächern, kleinen Terrassen und blumenbunten Altanen, Brunnen, wo Frauen Salat wuschen und Kühe tranken, stöhnend vor Behagen. Am einzigen, ebenen Platz lag die Posthalterei und, etwas erhöht, die kleine Kirche mit ihrem Gräbergarten, wo die Toten in einer Wildnis von Rosenbüschen und Butterblumen, zitterndem Hafer und flatterndem Mohn, beim Klang der Posthörner eine frohmütige Ruhestatt hatten.
Aber Meisis Zimmer sah nicht auf das Dorf hinab, ihre Fenster waren auf der Rückseite des Hauses. Dort lag eine weite Wiese, die sanft abwärts glitt in ein anderes, unsichtbares Tal. Da war alles weiß von wildem Kümmel, und wie dann der Mond hinter dem Lärchenwald aufging, glitzerten die flachen Dolden wie Raureif; man hätte sich gescheut hinauszutreten, diesen Zauber, diese Heiligkeit zu durchkreuzen.
Meisi hatte auf der Fensterbrüstung gesessen, er hinter ihr. Daran will ich denken, wenn ich nicht aus und ein weiß, wenn mich der Kopf brennt, dachte sie, und dann hatte sie sich zurückgelehnt und ihren Kopf in die kleine Mulde gelegt, zwischen seiner Schulter und Brust; da lag sich's still und sicher, und sein Herzschlag ging stark und ruhig. »Nun bin ich ein kleines braunes Haus«, hatte sie gesagt, »und deine Schulter ist die Bergwand, und deine Stirn ist der Gipfel, und nun sollst du sagen: Frieden über dem kleinen Haus!« Wann war das gewesen? Vier Wochen, nicht mehr? Wann hatte sie ihn denn nicht gekannt? War's möglich, als sie ganz klein war, mit einem Korallenkettchen und einer seidenen Masche im Haar, da ging er schon irgendwo in die Schule, und später dann war er Student, und eine Zeit lang lebten sie gar nicht weit voneinander und hatten doch nichts voneinander gewusst. Und nun wusste sie nur noch von ihm und er 24 war die süße unbegreifliche Gegenwart; das Frühere . . . ach, alles vergessen, so ewig lang war das her!
Aber nun sollte es aus sein. Nie wollte sie die Berge wiedersehen. Ach, wie furchtbar ist das in der Welt; mit dem Alter, muss man da immer mehr Umwege machen, immer mehr Stätten meiden? Nein, wie ein Messer ins Herz würde alles hier sein, wenn sie's je wieder sähe . . . Auch Blumen gab es hier, kleine braune Orchideen, die wie schwedische Handschuhe rochen und jetzt eben, das Reseda, nach dem Gießen, und das Geräusch des eisernen Rechens im Kies . . . das war nun alles schon verloren, sie musste es von sich tun, sich nicht festklammern, nein, hergeben, hingeben, rasch, rasch. Sie wollte nach Hause reisen gleich, morgen schon, irgendein Vorwand würde sich schon finden. Denn Emmo durfte hier nicht her, nicht eine einzige Stunde. Wenn sie es nun alles hergeben musste, die Wege hier, die wollte sie allein mit ihm gegangen sein, kein fremder Fuß, kein fremder Fuß . . . Was hatte er doch gesagt: »Unser Schmerz ist kostbar, niemand soll die Hand dran legen.«
Ja, zu Haus würde es noch am besten sein. Pflichten sind ja auch ein Schlafmittel. So eine Art Stundenplan wollte sie sich machen, Sophie sollte ihr alles einteilen helfen. Morgens der Tee – schrecklich – aber es war wohl am besten gleich von früh an; dann Emmo bei den Büchern helfen, es war alles in Konfusion, und er dachte immer gleich, er würde betrogen. Dann war Interview mit dem Vatikan (Herr und Frau Inspektor trugen diesen Kollektivnamen), und da war auch zu begütigen, denn der Inspektor war brummig und unfehlbar, aber er hatte schließlich doch immer recht, und deshalb gerade konnte Emmo ihn nicht leiden. Dann ging sie wohl auch zur Gemeindeschwester, die Kinder sangen so blöde Liedchen; es waren ein paar dabei, die waren schön, mit langen Augenwimpern, aber sie durfte sich ihre Vorliebe für sie nicht merken lassen, denn es waren die Kinder vom polnischen Knecht, der immer betrunken war, und die Frau stahl wie eine Elster . . . Dann nachsehen, ob Freda alles hatte, was sie brauchte, Mariagnes war versorgt, sie malte vormittags im Freien; ganz modern, lila Ackergäule auf gelben Feldern, eigentlich passte das gar nicht zu ihr . . . warum malte sie nicht all die süßen, stillen Blumen – ganz genau, wie sie waren – meinte Meisi – etwas Schöneres konnte man doch nicht erfinden . . . Mittagessen! O Gott, die Unterhaltung! Wie 25 so ein ausgeleiertes Dorfkarussell, man sieht denselben schäbigen Schimmel immer schon von Weitem kommen. Hinterher musste Freda in der Veranda etabliert werden, mit Memoirenliteratur, sie hatte eine Passion für Marie Antoinette. Sophie machte den Kaffee mit ihren lieben, dünngearbeiteten Händen. Später ausgehen mit Emmo oder fahren mit Mariagnes und Emmo, er war bei allem dabei, was war zu machen; wie eine Stubenfliege, die sich einem immer wieder auf die Nase setzt – der arme Kerl. Zum Tee kamen Pastors, und der Pastor redete über die Begehrlichkeit der unteren Klassen, war dabei aber gutmütig und half ihr mit den Landstreichern, die Emmo immer gleich dem Gendarmen ausliefern wollte. Die Pastorin war fein und leise, sie sagte immer: »Mein lieber Mann«, aber sie hatte ein Grübchen, wenn sie lächelte, wie herübergerettet aus ihrer Jungmädchenzeit. Ihr kleines Töchterchen hatte sich so furchtbar verbrüht und war gestorben unter entsetzlichen Qualen. Aber sonntags saß sie in der vordersten Bank und sah zur Kanzel auf und hörte all die Worte mit blassem, geduldigem Gesicht . . . Ob das wirklich ein Trost war? Manchmal ging Emmo zum Förster, da brauchte sie nicht mit. Aber allein mochte sie nicht sitzen. Sophie sollte kommen, ihr die Haare kämmen, das machte schön schläfrig, oder sie wollten kramen, die Sachen der Schwiegermutter waren noch immer nicht verteilt. Die Mahagonischränke seufzten beim Öffnen, als sei's die alte Frau selbst . . . Später am Abend saß man unten im Gartensaal . . . Nachtmotten schwirrten um die hohe Lampe, und Mariagnes öffnete den alten Flügel und spielte das Frühlingslied von Grieg und blieb im Mittelsatz stecken. Sie wollte lesen, sich Bücher kommen lassen, über Chemie und Volksernährung, was hatte er doch gesagt: »Meine Gedankenwelt, die dir fremd ist« – Ja und dann, nachher . . . Sophie sollte bei ihr sitzen und von ihrer Kinderzeit erzählen, von der kleinen Stadt in Friesland, bis sie einschlief . . .
Sie stand auf, sah sich um, fröstelte; und weil ihr die Glieder wie tot waren, griff sie nach seinem Arm, um aufzustehen. Der stützte sie, selbstverständlich wie immer. Nun standen sie beim Fenster, und die Abendsonne kam nur noch leise durch den Laden. Da fühlte sie ein Zittern, ein Werben in seinem Arm, und schon küssten sie einander, angstvoll und rasch, ohne Ruhe, ohne Lust, wie sich Menschen küssen, wenn das Schiff im Sinken ist. Aber in ihr wartete etwas und spannte 26 sich, bis in die Fingerspitzen, und wollte gezwungen sein, nicht weil sie ihm recht gab, sondern weil sie ihn liebte. Aber da löste er leise die Arme, und sie fühlte ihre Lippen grau werden: Er hat mich geküsst, wie man seinen Koffer zuschließt.
Da trat sie noch näher ans Fenster und stieß rasch den Laden auf, und der letzte Abendglanz strömte herein und mit ihm der Duft und der Dunst der Wiesen. Wie im Traum, wie jenseits einer Brücke sah sie zurück auf ihn, sah die kleine zuckende Falte am Augenlid, die den Augen so große Freundlichkeit verlieh; die sie so sehr geliebt.
Heute Nacht würde sie die Herdenglocken noch hören, fein und deutlich, am Berghang herauf. Aber er nicht mehr; denn er würde im Nachtzug sitzen und in der Frühe schon im heißen, schläfrigen Süden sein. Und was war's, das schon jetzt in ihrem Herzen zu nagen begann, leise, unerbittlich? War's der Groll, dass er sie nicht zu zwingen vermocht, alles zu lassen, um mit ihm zu gehen, das ganze Leben? 27