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(Für Agnes und Else und andere artige Kinder)
Also – da war einmal eine Prinzessin, die hatte sich im Walde verirrt und da begegnete ihr ein Drache, der sie sehr erschreckte. Aber so gräulich er auch aussah, so hatte er doch ein mitleidiges Herz, und wie er sie weinen sah, nahm er sie mit in seine Höhle. Als sie nun einige Tage bei ihm gewesen war, gefiel sie ihm so gut, dass er sie nicht weglassen wollte, denn er führte ein einsames Leben, und etwas Jugend tat ihm wohl. So wurde die Prinzessin Stütze des Drachen mit Familienanschluss, aber was die Familie angeht, da war nur der Drache, denn er war ein alter Junggeselle, hatte auch keine Dienerschaft, darum war auch alles so verwahrlost, ja es sah recht unordentlich aus in der Höhle; aber das sollte ja nun die Prinzessin mit feinem Geschmack anders gestalten, und sie tat auch, was sie konnte, mit Girlanden und Waldblumenbuketts. Als nun die Prinzessin einige Zeit bei dem Drachen gewesen war und sich an mancherlei hatte gewöhnen müssen, begann sie, denn obgleich sie eine Prinzessin war, fehlte ihr doch nicht der Sinn dafür, die komischen Seiten ihrer Umgebung zu erkennen. Es war dabei manches schlimm genug. Wie zum Beispiel das Schnarchen des Drachen, wenn er sich schamlos dem Mittagsschlaf hingab, denn er gehörte zum Geschlecht der Suppenbläser und stieß abwechselnd aus dem rechten und linken Nasenloch gräuliche Dämpfe aus. Hypochondrisch veranlagt wie er war, litt er an beständiger Angst vor Erkältungen, die ihn zu den seltsamsten Maßregeln greifen ließ. So hatte er sich eines Tages ausgeklügelt, der Besitz zweier Nasenlöcher bilde eine stete Gefahr für das katarrhalisch disponierte Individuum, da sich das Gehirn zwischen diesen beiden Korridoren in fortwährender Zugluft befände. Deshalb hatte er, trotz ernstlicher Gegenvorstellungen der Prinzessin, das eine Nasenloch mit Moos verstopft, was eine Anschwellung der Gesichtshälfte, verbunden mit heftiger Migräne, zur Folge gehabt hatte. Nachts hörte die Prinzessin den Drachen in seinen großen Filzparisern durch alle Gänge schlurren, um 93 nachzusehen, ob auch alles zu sei, und bei dem geringsten Wetterumschlag trank er einen abscheulichen Tee aus Baumrinde, zog Pulswärmer an und umwickelte sich den Hals mit einem alten himbeerfarbenen Cachenez, was zu seiner Hautfarbe äußerst fatal aussah und den Schönheitssinn der Prinzessin, die früher beim Hofmaler Weichschnabel aquarelliert hatte, empfindlich verletzte. Angenehm war es auch nicht, dabei sitzen zu müssen, wenn der Drache Makkaroni fraß. Diese hingen ihm dann wie Schlangen zu beiden Seiten des Maules herab, und mit den Pfoten stopfte er nach; die Prinzessin musste wegsehen, sonst verging ihr der ohnedies zarte Appetit.
Abends legte der Drachen Patience. Seine Klauen waren nie ganz rein; er tunkte sie ab und zu in den Sumpf und meinte damit ein Übriges getan zu haben; und der Prinzessin blieb auch hier nichts anderes, als emsig an ihren Binsenkörbchen zu flechten, um nur nicht hinsehen zu müssen. Diese zum Sammeln von Erdbeeren bestimmten Behälter häuften sich in einer Ecke der Höhle an. Es gab keine Erdbeeren in diesem Walde, und so waren sie eigentlich zwecklos. Einmal ertappte sich die Prinzessin bei dem Gedanken, man könne sie ja auf einen Basar für Ferienkolonien geben, denn die Handarbeiten fürstlicher Frauen fanden bei solchen gemeinnützigen Veranstaltungen stets reißenden Absatz. Hier freilich türmten sie sich als Angebot ohne Nachfrage im Hintergrund der Drachenwohnung auf.
Alles in allem aber war die Prinzessin auf bestem Wege, sich den ungewohnten Lebensbedingungen anzupassen. Alles was recht ist, dachte sie (diese Redewendung hatte sie von einer bayerischen Kinderfrau aufgeschnappt), aber dies absolute sans gêne, diese Dehnbarkeit in der Zeiteinteilung (zum Beispiel das Mittagessen, das, ebenso unberechenbar wie das Osterfest, bald früh, bald spät stattfand), die schönen, ausgiebigen Schläfchen unter den Tannen . . . das alles ließ ihr das frühere Leben, die Residenz im Stadtschloss, wie auch die sogenannte ländliche Zwanglosigkeit der sommerlichen Monrepos' und Sorgenfreis wie öde Korrektionshäuser erscheinen, wenn sie auch ab und zu nach ihrer Zofe Fanny mit dem Manikürekasten, nach ihrer silbernen Badewanne und schönen schaumigen Frühstückschokolade Sehnsucht verspürte.
Manchmal ging der alte Drache aus, um andere Drachen, die wie nie abgelöste Schildwachen vor ihren Schatzkammern lagen, zu 94 besuchen. Er selbst war ein freier Drache, sozusagen ein Finanzminister im Ruhestand, der keine Rechenschaft mehr abzulegen hat, nur die Prinzessin war sein Schatz; und da er von Natur misstrauisch war, nahm er sie wenn irgend möglich zu diesen Besuchen mit. Dann tranken die Drachen Meth, priemten und spuckten und spielten Karten, wobei sie sich grässlich beschimpften und mit den Trümpfen auf den Tisch schlugen, dass es dröhnte. Aber allmählich gewöhnte sie sich an den Humor dieser Sonderlinge, ein Gemisch von abgestandenen Börsenwitzen und alemannischer Vierschrötigkeit, das aber zu den alten warzigen Herren passte, wie die Verwünschungen cholerischer Propheten zu den Steinfratzen gotischer Kathedralen. – – –
Eines Tages nun, es war zu Frühlingsanfang, sah der Drache, nachdem er sein Mittagessen bewältigt hatte, gerührten Auges zu, wie die Prinzessin, nachdem sie einen Rest geschmorter Pilze und das übrige Blaubeerkompott weggeräumt hatte, mit ihren kleinen raugewordenen Händen den Eichelkaffee filtrierte. Ach, das war doch alles keine Arbeit für eine Prinzessin, dachte er beschämt und fühlte, wie sich seine kleinen grünen Plieraugen mit Tränen füllten, die er verstohlen mit den Klauen wegwischte, wenn sie auf seinen höckerigen Lederwangen niederflossen, die an ein Reisenecessaire aus Krokodilhaut erinnerten, nur dass sie nicht so schön poliert waren wie diese Erzeugnisse einer raffinierten Kultur.
Draußen zwitscherten die Buchfinken in den knospenden Büschen und suchten nach gegabelten Ästen, ihre Nester darin zu befestigen. Durch das dürre Laub streckten Tausende von Anemonen ihre weißen, feingeäderten Kelche, die im Frühlingswind schwankten, und überall, wo immer ein feuchtes Fleckchen zu finden war, hatte die Sonne es aufgespürt und blitzte darin wie in Glasscherben; durch die kahlen Baumwipfel sah man den blauen Himmel mit vielen kleinen, runden Lämmerwölkchen schimmern, es roch nach Erde und nach Moos, und aus den Sümpfen kamen bedächtig die Kröten gewandert und trugen, wie einst die Weiber von Weinsberg, eine jede ihren kleinen Ehemann auf dem Rücken. Da auf einmal fühlte die Prinzessin ein so tiefes Mitleid mit dem armen Drachen, der so alt und schäbig mitten in dem hellen Frühlingswetter dasaß, und den man eigentlich in eine chemische Reinigungsanstalt hätte schicken müssen. Er würde nie eine Drachin und liebe kleine Drachen sein eigen nennen, dazu 95 war er doch viel zu alt und hässlich, und wenn sie einmal befreit würde, bliebe er allein zurück und hätte niemand, der sich um ihn kümmern würde; denn wenn sie ihn mitnahm, kam er doch nur in den Zoologischen Garten, wo ihn die Kinder mit Sonnenschirmen und Stöcken ärgern würden und er eine betonierte Felsenhöhle bekäme – die reine Attrappe, und alle Tage abgekochte Mohrrüben, die er nicht leiden konnte. Armer, alter Drache! Und sie hatte während der ganzen Zeit kein böses Wörtchen von ihm zu hören bekommen und hatte doch selber – besonders im ersten halben Jahr – nichts getan, als die Nase rümpfen über das Essen und die mangelhafte Einrichtung; und er gab es doch, so gut er's hatte! Da neigte sie sich über ihn und kraute ihn ein wenig hinter den Ohren, wozu er die Mundwinkel hochzog und ein Gesicht machte wie Wagnerianer, wenn das Lied von den Winterstürmen und dem Wonnemond losgeht, legte ihre Samtwange auf sein runzeliges Haupt und aus ihren schönen Augen rollte eine Träne. Und dann küsste sie ihn mitten auf sein grünpatiniertes Nasenbein.
Aber im selben Augenblick geschah ein furchtbarer Donnerstoß, die Erde schwankte, Bäume und Gestein drängten sich zusammen oder sanken auseinander, ihre Farben verwandelten sich, das Dach der Höhle hob und wölbte sich, und Bäume wurden zu Säulen; es war, als wirbelte ein Kaleidoskop um sie her, und wie sie wieder zur Besinnung kam, saß ein schöner, wohlerzogener Prinz in entzückender Uniform, mit Ordenskette und blitzendem Stern ihr zur Seite, in leuchtendem Saal, und alles war verwandelt, ihr Kuss hatte den Zauber gelöst, nur die Erdbeerkörbchen standen noch da, waren nun aber aus Goldgeflecht, und in jedem lagen, wie Ostereier, vier bunte, leuchtende Steine.
Schöne Damen kamen paarweis geschritten, mit demütigen Schwanenhälsen und hoffärtigen Schleppen, sie hielten ihre Kleider mit spitzen Fingern und versanken wie sterbende Springbrunnen, wenn sie vor Prinz und Prinzessin vorüberzogen. Da waren Herolde, angetan mit historischen Wappenröcken, mit Locken und spitzen Bärten, gerade wie Kartenkönige, nur dass sie Beine hatten; schöne kleine Pagen mit Krone und Zepter auf seidenen Kissen, süß lächelnde Kammerfrauen mit reizenden Hündchen, auch eine kleine Mohrin war dabei. Auf den Galerien aber hinter goldenen Gittern bliesen und fiedelten 96 die Musikanten, dass es eine Lust war, und das silberne Haar des Kapellmeisters wehte nach allen Seiten vor Begeisterung . . . Nun zogen die Köche vorbei, weißgekleidet, feist und glatt, mit Kochlöffeln und blanken Messern im Gurt, und hinter ihnen die Küchenjungen, wie ein Echo in kleinem Format, dann der Tross der Stallmeister, der Jäger und Hornisten, die Treiber und Hundejungen mit Peitschen und Netzen, und schließlich auch das Aschenweib, das nur dazu da war, die Asche aus den Kaminen fortzutragen, grau und zerzaust wie eine mauserige Krähe. Aber ganz zuletzt kam die Märchenerzählerin der fürstlichen Kinder, die war so uralt, dass sie die Leute in den Märchen persönlich gekannt hatte; klein und gebückt trippelte sie vorüber in spitzem Hut und grünem Mäntelchen.
Alle machten ihre Reverenz, die Prinzessin musste in einem fort lächeln und nicken, und nun kamen drei Hofprediger mit feierlichem Glockengeläut und begrüßten das fürstliche Paar im Namen des Höchsten mit überaus herzlichen Gebärden ihrer kleinen, weißen, wohlgenährten Hände, wie segnende Maulwürfe. Die Bäume rauschten, die Brunnen sprangen und tanzten und die Glockentöne waren rund und tief wie die Glocken selbst; aber die Sonne blies die Backen auf und posaunte auf ihre Weise mit langen, heißen Stößen. Und dann wurde die Hochzeit gefeiert. –
Aber als sie nun viele Jahre König und Königin gewesen waren, dachte die Königin manchmal zurück an ihre Höhle. Nun war sie bequem und dick geworden, und die schönste Stunde des Tages war die von drei bis vier, wenn sie ihr Korsett auszog und sich mit einem Roman auf den Diwan legte. Die Kammerfrau holte ihr die herrlichsten Schmöker aus der Leihbibliothek, denn der König ließ sie durch den Hofbibliothekar ausschließlich mit Memoirenliteratur versorgen; aus diesen Produkten des ancien regime hoffte er, dass sie den Geist feiner répartie, der ihr von der Natur versagt war, erlerne. Sie gestand es sich kaum ein, aber eigentlich hatte sie dies Leben gründlich satt mit seinen Denkmalsenthüllungen und Audienzen, wo die Menschen immer ganz kleine Mündchen machten, als könnten sie nur Tütü sagen. Die Tage waren so künstlich zugeschnitten, jede Stunde fügte sich in die andere ein wie bei einem Geduldspiel, da war keine Ritze, wo die kleinste Maus hätte durchschlüpfen können, und nun überkam sie oft ein Verlangen nach anderem, wie ein wohlerzogener Knabe aus guter 97 Familie, der in eine Hafenstadt kommt, voll neidischer Wonne nach den schmutzigen Schiffsjungen auf den Heringsbooten schielt. Der alte Drache – ja es war merkwürdig, wie bald er sich in alles gefügt hatte. Wenn sie an seine Filzpariser dachte! Nun, er hatte sich ja auch viel gründlicher als Drache ausgelebt. Nun war er ein kleiner, trockener, ältlicher Herr geworden, mit einer irritierenden Art sich zu räuspern, und all die Vorschriften der Etikette waren ihm unentbehrlich wie eine hygienische Unterbekleidung. Neuerdings konnte er sich ganz merkwürdig über die kleinsten Missgriffe aufregen, so neulich, als die Zuckerzange nicht gleich bei der Hand war. Da hatten seine Augen Drachengift geschossen, wie sie es damals, in der Höhle, nie getan. Der Lakai schlotterte und der Oberhofmarschall fühlte die Fundamente seines Daseins wanken. Aber die Königin konnte nicht an sich halten; sie lachte in ihrer unpassend explosiven Art und bekam einen ganz roten Kopf: »Lieber Mann«, sagte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen – denn sie musste beim Lachen immer weinen – »als wir noch in der Drachenhöhle lebten, hast du deinen Zucker abgebissen und den Kaffee trankst du aus der Untertasse wie eine Waschfrau.« Alles war wie versteinert, denn die unselige Drachenepisode wurde ja totgeschwiegen und jede Anspielung darauf als grobe Taktlosigkeit empfunden; eine Zeit eisiger Ungnade war die Folge dieser übelangebrachten Reminiszenzen. Seitdem versuchte die Königin ihre seelischen Aufwallungen zu unterdrücken, aber wenn sie im halbverdunkelten Boudoir der Ruhe pflegte, kam es über sie, und vor ihren geschlossenen Augen stand die Höhle wieder auf, braungrün und verräuchert, ach, und so traulich!
Heut gerade war ein schläferiger Sonntagsnachmittag, dessen freundliche Langeweile durch die Ritzen der Jalousien drang. Die Wache auf dem Rondellplatz vor dem Schloss war eben aufgezogen, die Kommandoworte, das Trommeln verhallte, und nun begannen die beiden Schildwachen ihr Auf und Ab, bis zur nächsten Ablösung. Nettgekleidete Bürgerfamilien wanderten auf den Kiespfaden und bewunderten die schönen Teppichbeete, die den Neid zugereister Hofgärtner erregten. Weiter ab, unter den Kastanienbäumen wandelten Landgerichtsräte und Gymnasiallehrer, und bleiche, schwärmerische Jünglinge saßen auf den Bänken und lasen in Reklambändchen. Die kleinen Knaben und Mädchen aber freuten sich ihrer roten Luftballons, 98 und alles strömte dem Schlossgarten zu, der sonntags dem Publikum offenstand. Die fürstliche Frau hatte es sich leicht gemacht. Das Korsett lag, gedemütigt wie ein verabschiedeter Zeremonienmeister, auf dem Teppich, ihre Füße dehnten sich in weiten, gelben Babuschen, und sie begann eben den zweiten Band vom Geheimnis der alten Mamsell. Aber sogar dieses ganz neue, ungemein fesselnde Werk konnte die Gedanken nicht bannen. Hatte sie nicht eben, in der Ferne, einen leisen Kuckucksruf gehört? Es war das freilich die Schwarzwälderuhr des Türhüters gewesen, die man in der sonntäglichen Stille schlagen hörte, aber auch die stammte aus dem Walde, darum war wohl ihr Ton so echt; mit einem Mal wuchs ihre Sehnsucht riesengroß; sie musste den Wald wiedersehen, ob sie gleich ahnte, dass es dort nicht mehr sein würde wie einst. Ohne Zaudern zog sie sich an und band einen grünen Schleier über den Hut, von der glänzenden Sorte, die sich Donna Maria nannte und damals Mode war. Das Glück war ihr hold, denn die Lakaien, die im Treppenhaus, bei schläferigem Fliegengesumm Dienst hatten, glaubten, sie ginge in den Privatgarten; als sie aber an die Tür kam, die zu ihm führte, saß da der alte Türhüter und war über dem Sonntagsblättchen eingenickt: So schlüpfte sie hinaus.
Niemand gab auf sie acht, als sie den Schlosspark durchquerte, denn sie ging nur selten zu Fuß; träge und fett, wie sie war, fuhr sie stets in der Karosse. Auch sah sie in ihrem Alter der Frau Hofkonditor Butterweck ähnlich, und in ihrem einfachen Anzug galt sie den Spaziergängern wohl für diese, wenn sie sich überhaupt nach ihr umsahen. So wanderte sie unerkannt, wie irgendeine behäbige Bürgersfrau, durch den Schlossgarten, zum äußeren Tore hinaus und eine lange Rüsterallee hinunter, an deren einer Seite Seildreher ihre Werkstatt hatten, wo man sie wochentags sehen konnte, die Schürze voller Werg, aus dem sie, rückwärtsschreitend, wie Kreuzspinnen, ihre langen Seile drehten. Nach längerem Gehen, das ihr manchen Seufzer entriss, denn es war ihren Füßen eine ungewohnte Fron, lenkte ein Weg seitab in den Wald, oder vielmehr dorthin, wo er früher gestanden hatte. Denn es war freilich alles anders geworden. Da waren Bänke und Wegweiser und kleine Buden, wo man Himbeerwasser und Sandtörtchen kaufen konnte, die reliquienhaft unter Glasstürzen schimmelten; ach und eine ganze Straße von blitzblanken Villas mit Erkern und Türmen und gotischen Fenstern war entstanden, wo pensionierte Generale ihren 99 Ruhestand verlebten, sich der Rosenkultur widmeten und die Blattläuse mit Ausdauer und Tabakslösung bekämpften. Ach, wo war das Dickicht von einst? Den Krötensumpf hatte man ausgetrocknet, Kinder in schottischkarierten Kleidern und schrecklichen Schürzen aus Wachstuch spielten dort im Sand, ja der Platz hieß sogar nach ihr, Karoline-Amalien-Platz, denn in ihrer Familie hatten die Frauen alle so schreckliche Namen, und die Männer hießen Adolf oder Emil oder Ferdinand, was auch nicht hübsch war. Auch ihr Drache hieß Ferdinand. Ach, wo waren die Drachen geblieben! Tot oder ausgewandert? Oder hatte sie alles nur geträumt? Dort, die alte Eiche, oh, sie erkannte sie wieder; wie oft hatte sie dort gesessen und den sich paarenden Eichkätzchen zugeschaut, wie sie sich haschten, immer um den Baum herum. Einmal noch wollte sie seine Rinde streicheln. Aber was hing dort an seinem Stamm? War's ein Muttergotteshäuschen? Dann würde dort auch eine Bank sein, oh, wie brannten ihre Füße, wie gut würde man sitzen unter dem breiten Geäst. Da ging sie näher, aber es war kein Muttergotteshäuschen, sondern ein lackierter Kasten war aufgehängt am Eichenstamm, und es stand daraufgeschrieben: Gegen Einwurf eines Fünfzigpfennigstücks eine Tafel echt deutsche Familienschokolade. Über dem Kasten aber war noch ein Blechschild mit deutender Hand: Restaurant Drachenhöhle, Kegelbahn, Kaffee und Bier. Zehn Minuten. Da fühlte sie Erbarmen mit dem Baum und mit sich und mit all den alten vertriebenen Drachen; und musste weinen. Aber wenn sie weinte, ging das nie ohne vielfaches Nasenputzen vor sich, dass sie ganz rot und verschwollen aussah, und das war ja auch nicht königlich.
Als sie sich ausgeweint hatte, ging sie langsam, denn die Füße taten ihr weh, in ihr kühles Königsschloss zurück, wo man sie bereits vermisst hatte und ihr Hofstaat im Begriff stand, den Schlosspark nach ihr abzusuchen. 100