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Der Herr Abbé Coignard hätte es verdient, vom dankbaren Vaterland im Prytaneum gespeist zu werden. Trotzdem verdiente er sich sein tägliches Brot als Briefschreiber für Dienstmägde in einer Bude am Kirchhof Saint-Innocent. Einst geschah es, daß er für eine portugiesische Dame schrieb, die mit ihrem Negerboy durch Frankreich reiste. Für jeden Brief an ihren Gatten zahlte sie einen Heller und einen Doppeltaler für jeden an ihren Liebhaber. Das war der erste Taler, den mein guter Lehrer seit Johanni verdient hatte. Da er freigebig und großmütig war, so lud er mich unverzüglich in den »Goldenen Apfel« am GrèvekaiDer Grèveplatz war der Richtplatz in Paris. ein, wo der Wein ungefälscht und die Würstchen vorzüglich sind, weshalb denn auch die Großhändler, die auf der Promenade Äpfel kaufen, hier um Mittag einzukehren pflegen. Es war im Frühling, und die Luft war lind zu atmen. Mein guter Lehrer ließ uns das Essen im Freien am Seineufer auftragen, und während der Mahlzeit hörten wir das frische Schlickern der Ruderschläge im Wasser. Ein leichtes, heiteres Lüftchen umspielte uns mit sanften Wellen, und wir saßen glückselig unter dem sonnigen Himmelszelt. Während wir gebackene Gründlinge aßen, erhob sich in unsrer Nähe plötzlich Hufschall und Stimmengewirr, und wir drehten uns um.
Ein kleiner schwarzhaariger alter Mann, der am Nebentisch speiste, erriet den Anlaß unsrer Neugier und sagte mit verbindlichem Lächeln: »Es ist weiter nichts, meine Herren; man fährt eine Dienstmagd zum Galgen, weil sie ihrer Herrin Spitzen gestohlen hat.«
Während er so sprach, sahen wir in der Tat ein recht hübsches Mädchen hinten auf einem Karren sitzend und von berittenen Polizeidienern umgeben. Sie blickte verstört drein, und ihre auf dem Rücken zusammengebundenen Arme spannten ihr die Brust. Der Zug kam rasch vorbei, und doch werde ich das Bild nie vergessen: dieses bleiche Gesicht und diesen Blick, der schon nichts mehr sah.
»Jawohl, meine Herren,« fuhr der kleine Schwarzhaarige fort, »das ist die Dienstmagd der Frau Rätin Josse, die ihrer Herrin ein Häubchen aus Alençonspitzen stahl, um bei Ramponneau schöngeputzt neben ihrem Liebsten zu sitzen, und die nach diesem Diebstahl das Weite suchte. Sie wurde in einer Wohnung am Pont-au-Change gefaßt und gestand ihr Verbrechen sofort ein, weshalb sie denn auch nur ein bis zwei Stunden gefoltert wurde. Was ich Ihnen da sage, meine Herren, weiß ich bestimmt, denn ich bin Gerichtsdiener am Parlamentsgericht, von dem sie verurteilt wurde.«
Der kleine Schwarzhaarige aß ein Würstchen auf, um es nicht kalt werden zu lassen; dann fuhr er fort: »Jetzt eben muß sie auf der Leiter stehen, und in fünf Minuten, vielleicht etwas länger, vielleicht etwas kürzer, wird die Diebin tot sein. Manche Galgenvögel machen dem Henker gar keine Umstände. Sobald sie den Strick um den Hals haben, sterben sie ganz ruhig. Andre dagegen führen, wenn man so sagen soll, das Leben von Gehenkten und zappeln ganz fürchterlich. Am meisten vom Teufel besessen war ein Priester, den man verwichenes Jahr hinrichtete, weil er den Namen des Königs auf Lotterielosen gefälscht hatte. Er tanzte über zwanzig Minuten wie ein Karpfen am Ende des Strickes. Ha, ha!« setzte der kleine Mann hohnlachend hinzu, »der Herr Abbé war bescheiden. Er begehrte durchaus nicht danach, zum Bischof auf freier Flur erhöht zu werden. Ich sah zu, wie man ihn aus dem Henkerkarren holte. Er weinte und sträubte sich dermaßen, daß der Henker sagte: ›Herr Abbé, benehmen Sie sich doch nicht wie ein Kind!‹ Das Merkwürdigste aber war, daß er, mit einem andren Verbrecher zum Tode geführt, vom Henker zuerst für den Beichtvater gehalten worden war und daß der Gefreite alle Mühe hatte, ihn eines Besseren zu belehren. Ist das nicht spaßhaft, mein Herr?«
»Nein, mein Herr,« erwiderte mein guter Lehrer und ließ dabei ein Fischlein, das er zum Munde geführt hatte, auf seinen Teller zurückfallen. »Nein, das ist nicht spaßhaft; und der Gedanke, daß das hübsche Mädchen da in diesem Momente den Geist aufgibt, verdirbt mir das Vergnügen, Gründlinge zu essen und den schönen Himmel anzuschauen, der mir noch eben zulachte.«
»Na, Herr Abbé, wenn Sie so zartfühlend sind,« sagte der kleine Gerichtsdiener, »dann wären Sie in Ohnmacht gefallen bei dem, was mein Vater als Junge in seiner Vaterstadt Dijon gesehen hat. Haben Sie mal von Helene Gillet gehört?«
»Nein,« erwiderte mein guter Lehrer.
»Dann will ich Ihnen ihre Geschichte erzählen, so wie mein Vater sie mir manches Mal erzählt hat.«
Er trank einen Schluck Wein, wischte sich mit einem Zipfel des Tischtuches den Mund und erzählte folgende Geschichte:
Helene Gillet, Tochter des Königlichen Kastellans von Bourg in Bresse, zweiundzwanzig Jahre alt, die mit ihren minderjährigen Brüdern im Elternhause lebte, verriet im Monat Oktober des Jahres 1624 so deutliche Spuren ihres gesegneten Zustandes, daß sie zum Gespött der Stadt wurde und die Frauenzimmer von Bourg den Verkehr mit ihr abbrachen. Später bemerkte man, daß ihre Lenden wieder eingefallen waren; und es wurde darüber so viel geredet, daß der Strafrichter ihre Untersuchung durch ehrbare Frauen anordnete. Diese stellten fest, daß sie in gesegnetem Zustande gewesen und vor noch nicht vierzehn Tagen niedergekommen war. Helene Gillet wurde verhaftet und von den Parlamentsrichtern verhört. Sie sagte folgendes aus:
»Vor einigen Monaten kam ein junger Mann aus der Nachbarschaft, der bei meinem Oheim wohnte, zu meinem Vater, um die Knaben im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Er vergewaltigte mich mit Beihilfe einer Magd, die mich in ein Zimmer mit ihm einschloß.«
Als man ihr vorhielt, warum sie nicht um Hilfe gerufen, antwortete sie, daß sie vor Schrecken die Stimme verloren hätte. Von den Richtern in die Enge getrieben, gestand sie, daß sie infolge dieser Gewalttat schwanger geworden und vor der Zeit niedergekommen sei. Zu dieser Frühgeburt hätte sie durchaus nichts beigetragen; sie hätte nicht einmal gewußt, was ihr bevorstand, wenn ihr nicht eine Magd die Augen geöffnet hätte.
Die Richter waren von dieser Antwort wenig befriedigt, wußten jedoch nicht, was sie ihr entgegenhalten sollten, – als ein unverhofftes Zeugnis bestimmte Belastungsmomente lieferte. Ein Soldat war am Garten des Königlichen Kastellans, Herrn Peter Gillet, vorbeigegangen und hatte in einem Graben am Fuße der Mauer einen Raben bemerkt, der mit seinem Schnabel an einem in Leinen gewickelten Päckchen zupfte. Er trat näher, um zu sehen, was es war, und fand die Leiche eines kleinen Kindes. Er machte der Justiz sofort Anzeige. Das Kind war in ein Hemd eingewickelt, das am Halse die Buchstaben H. G. trug. Man stellte fest, daß es keine Frühgeburt war; und Helene Gillet, des Kindsmords überführt, wurde nach dem Brauche zum Tode verurteilt. In Ansehung der ehrenvollen Stellung ihres Vaters ward ihr das Vorrecht des Adels zugebilligt, und der Spruch lautete, statt auf den Strang, auf Enthauptung.
Sie legte beim Parlament in Dijon Berufung ein und ward unter Bedeckung von zwei Hartschieren in die Hauptstadt von Burgund gebracht, wo sie in der Conciergerie des Justizpalastes eingekerkert ward. Ihre Mutter, die sie begleitet hatte, zog sich zu den Bernhardinerinnen zurück. Die Sache kam am Montag, den 12. Mai, vor dem Parlament zur Verhandlung; es war die letzte Sitzung vor dem Pfingstfeste. Auf den Bericht des Gerichtsrats Jakob ward der Spruch des Landgerichtes von Bourg bestätigt, mit dem Zusatz, daß die Verurteilte mit dem Strick um den Hals zum Tode geführt werden sollte. Die öffentliche Meinung tadelte diese entehrende Zusatzstrafe, die in merkwürdigem und ungewohntem Gegensatz zu der adligen Hinrichtung stand; man fand, daß diese Härte gegen die Formen verstieß. Doch das Urteil war unwiderruflich und mußte sofort vollstreckt werden.
In der Tat führte man Helene Gillet noch am selben Nachmittag um drei Uhr zum Schafott, während die Glocken läuteten. Der Zug wurde von Trompetern eröffnet, die so schmetterten, daß alle guten Bürgersleute es in ihren Häusern vernahmen und auf die Knie sanken, um für das Seelenheil der Verurteilten zu beten. Dann kam der Vertreter des Staatsanwaltes hoch zu Roß, von Gerichtsdienern gefolgt, hinterdrein die Verurteilte im Henkerkarren, den Strick um den Hals, wie das Urteil besagte. Das Geleit gaben ihr zwei Jesuitenpatres und zwei Kapuziner, die ihr das Kruzifix vorhielten. Dann folgte der Scharfrichter mit seinem Stutzsäbel und sein Weib mit einer großen Schere. Eine Kompanie Hartschiere umgab den Karren. Hinterdrein drängte sich die Menge der Schaulustigen, darunter viele Gewerbetreibende, Bäcker, Schlächter und Maurer, mit großem Geschrei.
Auf der Place Morimont machte der Zug Halt, nicht, wie es scheint, weil hier die Verbrecher gerichtet werden, sondern zur Erinnerung an die Äbte mit Krummstab und Mitra von Morimont, die dort einst ihre Behausung hatten. Allda war das hölzerne Blutgerüst auf steinernen Stufen errichtet, welche zu einer niedrigen Kapelle führten, in der die Mönche für das Seelenheil der Gerichteten zu beten pflegten.
Helene Gillet erstieg die vier Stufen mit den vier Mönchen, dem Scharfrichter und dessen Frau. Diese nahm der Verurteilten den Strick vom Halse, schnitt ihr mit ihrer langen Schere die Haare ab und verband ihr die Augen, während die Mönche Gebete hersagten. Da begann der Scharfrichter zu erbleichen und zu zittern. Er hieß Simon Grandjean und war ein Männlein von schmächtigem Aussehen, ebenso sanft und ängstlich, wie sein Weib wild und hart erschien. Am Morgen hatte er im Kerker kommuniziert, und dennoch fühlte er sich verwirrt und mutlos, dieses junge Mädchen zu töten.
»Vergebt mir alle,« sprach er, sich zum Volke herabneigend, »wenn ich schlecht verrichte, was ich soll. Ich habe seit drei Monaten das Fieber.«
Er wankte, rang die Arme, blickte gen Himmel; dann warf er sich vor Helene Gillet nieder und bat sie zweimal um Verzeihung. Hiernach bat er die Mönche, ihn zu segnen; und nachdem sein Weib das Haupt der Verurteilten auf den Block gelegt hatte, zückte er seinen Stutzsäbel.
Die Jesuiten und Kapuziner riefen »Jesus Maria!«, und ein tiefer Seufzer entrang sich der Menge. Doch der Schlag, der das Haupt vom Rumpf trennen sollte, verursachte nur eine tiefe Wunde an der linken Schulter, und die Unglückliche fiel auf die rechte Seite.
Da wandte sich Simon Grandjean wieder zur Menge und rief: »Laßt mich sterben!«
Hohnrufe erklangen, und etliche Steine flogen auf das Schafott, während die Scharfrichtersfrau ihr Opfer abermals auf den Block legte.
Ihr Gatte zückte von neuem seinen Stutzsäbel und schlug jetzt tief in den Hals der Ärmsten, die auf das seinen Händen entfallende Richtschwert sank.
Diesmal erhob sich ein furchtbarer Tumult in der Menge, und die Steine hagelten so dicht auf das Schafott, daß Simon Grandjean, die beiden Jesuiten und die Kapuziner herabsprangen, sich in die niedrige Kapelle flüchteten und sich darin einschlossen. Nur die Scharfrichtersfrau blieb mit der Verurteilten auf dem Schafott und suchte nach dem Richtschwert. Da sie es nicht fand, so ergriff sie den Strick, den Helene auf dem Gange zur Richtstatt trug, schlang ihn ihr um den Hals und versuchte sie zu erdrosseln, indem sie ihr den Fuß auf die Brust setzte. Helene griff mit beiden Händen nach dem Strick und wehrte sich blutüberströmt; da schleifte Simon Grandjeans Weib sie an dem Strick, mit dem Kopfe nach unten, bis an den Fuß des Schafotts und suchte ihr mit der Schere die Kehle durchzuschneiden.
Indessen hatten die Schlächter und Maurer die Gerichtsdiener und Hartschiere über den Haufen gerannt und waren bis an das Schafott und die Kapelle gedrungen. Ein Dutzend kräftiger Arme ergriffen Helene und trugen sie ohnmächtig in die Barbierstube von Meister Jacquin, welcher Wundarzt und Bader war.
Die Volksmenge, die sich gegen die Tür der Kapelle drängte, war so groß, daß sie diese fast eingedrückt hätte. Doch die beiden Jesuiten und Kapuziner öffneten sie voller Schrecken und bahnten sich mit großer Mühe einen Weg durch die aufrührerische Menge, indem sie ihre Kruzifixe mit erhobenen Armen emporhielten.
Der Scharfrichter und sein Weib wurden mit Stein- und Hammerwürfen getötet, und ihre Leichen durch die Straßen geschleift. Inzwischen kam Helene Gillet bei dem Bader wieder zu sich und verlangte zu trinken. Dann fragte sie, während Meister Jacquin sie verband: »Wird mir weiter nichts geschehen?«
Sie hatte nicht weniger als zwei Säbelhiebe, sechs Scherenschnitte, die ihr Lippen und Busen zerrissen hatten, und tiefe Wunden in den Hüften infolge des Liegens auf dem Stutzsäbel, als die Scharfrichtersfrau sie über das Schafott geschleift hatte, um sie zu erdrosseln. Endlich war ihr ganzer Körper voller Beulen von den Steinwürfen, welche das Volk gegen das Schafott gerichtet hatte.
Trotz all dieser Verletzungen genas sie. Man ließ sie bei dem Bader Jacquin unter Bewachung eines Gerichtsdieners. Sie fragte immerfort: »Ist es noch nicht zu Ende? Werde ich noch hingerichtet?«
Der Bader und einige barmherzige Seelen, die sie pflegten, bemühten sich, sie zu beschwichtigen. Doch die Begnadigung konnte nur der König gewähren. Der Advokat Févret verfaßte eine Bittschrift, die von mehreren Notabein Dijons befürwortet und Seiner Majestät unterbreitet ward. Man feierte damals bei Hofe große Feste zu Ehren der Heirat Marie Henriettes von Frankreich mit dem König von England. Zugunsten dieser Heirat gewährte Ludwig der Gerechte die erbetene Gnade und erließ dem armen Mädchen alle Strafe, dieweil sie, wie der Gnadenbrief besagte, Qualen erduldet habe, welche der Strafe der Hinrichtung gleichkämen, wo nicht sie überträfen.
Nach ihrer Begnadigung zog Helene Gillet sich in ein Kloster von Bresse zurück, wo sie bis zu ihrem Tode in größter Frömmigkeit lebte.
»Das ist«, schloß der kleine Gerichtsdiener, »die wahre Geschichte von Helene Gillet, die in Dijon stadtbekannt ist. Finden Sie sie nicht amüsant, Herr Abbé?«
»Ach!« seufzte mein guter Lehrer, »mein Frühstück wird nie ein Ende finden. Mir dreht sich das Herz um, sowohl von der furchtbaren Geschichte, mein Herr, die Sie mir so kalt erzählt haben, wie vom Anblick jener Magd der Frau Rätin Josse, die man soeben zum Galgen fuhr und die man doch zu etwas Besserem hätte brauchen können.«
»Aber, Herr Abbé,« wandte der Gerichtsdiener ein, »hab' ich Ihnen denn nicht gesagt, daß dieses Mädchen seine Herrin bestohlen hat; und sollen die Diebe nicht gehenkt werden?«
»Das ist freilich so Brauch,« entgegnete mein guter Lehrer. »Und da das Beharrungsvermögen unüberwindbar ist, so achte ich in meinem Leben zumeist nicht darauf. Schrieb doch schon Seneca, der Philosoph, dessen Herz zur Milde neigte, elegante Abhandlungen in Rom, dieweil man vor seinen Augen Sklaven wegen geringer Vergehen ans Kreuz schlug, wie zum Beispiel den Sklaven Mithridates, der mit angenagelten Händen starb, nur weil er die Gottheit seines Herrn, des ruchlosen Trimalchio, gelästert hatte. Unser Geist ist so beschaffen, daß nichts, was alltäglich und gewöhnlich ist, ihn verwirrt, noch verletzt. Und der Brauch verbraucht sozusagen unsere Empörung und nicht minder unsre Verwunderung. Wache ich doch allmorgendlich auf, ohne, wie ich gestehen muß, an die Unglücklichen zu denken, die am Tage gehenkt oder gerädert werden. Aber wenn der Gedanke der Hinrichtung mir vor die Sinne tritt, so wacht mein Herz auf; und weil ich das schöne Mädchen sah, das zum Galgen geführt ward, schnürt sich meine Kehle derart zusammen, daß dieser kleine Fisch nicht hindurch kann.«
»Was liegt an einem schönen Mädchen?« sagte der Gerichtsdiener. »Es gibt in Paris keine Straße, wo sie nicht allnächtlich zu Dutzenden geboren werden. Warum hat dieses Mädchen seine Herrin, die Frau Rätin Josse, bestohlen?«
»Ich weiß es nicht, mein Herr,« antwortete mein guter Lehrer ernst. »Sie wissen es ebensowenig, und die Richter, die es verurteilt haben, wissen es auch nicht. Denn die Gründe unsrer Taten sind dunkel, und die Triebfedern unsres Handels bleiben tief verborgen. Ich halte den Menschen für frei in seinen Handlungen, denn mein Glaube lehrt es so; aber abgesehen von der Kirchenlehre, die feststeht, hat man wenig Grund, an die Willensfreiheit zu glauben, und ich schaudre bei dem Gedanken an die Urteilssprüche über Handlungen, deren Ursachen, Folgen und Gründe uns gleichermaßen verhüllt sind. Denn der Wille spricht dabei oft wenig mit; ja sie geschehen bisweilen gänzlich unbewußt. Aber wenn wir auch schließlich die Verantwortung für unsre Handlungen auf uns nehmen müssen, dieweil unser heiliger Glaube auf der geheimnisvollen Übereinstimmung zwischen Willensfreiheit und göttlicher Gnade beruht, so wäre es doch ein Mißbrauch, aus dieser dunklen und heiklen Freiheit all den Zwang, all die Martern und Leibesstrafen folgern zu wollen, an denen unsre Gesetzbücher reich sind.«
»Ich sehe mit Bedauern, Herr Abbé,« sprach der kleine Schwarzhaarige, »daß Sie es mit den Spitzbuben halten.«
»Ach, mein Herr,« seufzte mein guter Lehrer, »auch sie gehören zur leidenden Menschheit und sind gleich uns Glieder Jesu Christi, der zwischen zwei Schächern starb. Ich glaube, in unsren Gesetzen Grausamkeiten zu sehen, die erst später deutlich als solche erkannt werden und über die unsre Nachkommen empört sein werden.«
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Abbé,« sprach der andere, einen Schluck Wein trinkend. »Aus unsren Sitten und Gesetzen ist alle gotische Barbarei verbannt; und die Justiz ist heutzutage von übertriebener Milde und Menschlichkeit. Die Strafen entsprechen genau den Verbrechen; Sie sehen, daß die Diebe gehenkt, die Mörder gerädert, die Majestätsbeleidiger von vier Pferden zerrissen, die Gottesleugner, Zauberer und Sodomiten verbrannt und die Falschmünzer gesotten werden, – worin die Strafjustiz außerordentliche Mäßigung und größtmögliche Milde bezeigt.«
»Mein Herr, die Richter haben sich zu jeder Zeit für wohlwollend, gerecht und mild gehalten. In den gotischen Zeiten des heiligen Ludwig, ja Karls des Großen bewunderten sie ihre eigene Güte, die uns heute als Härte erscheint; und ich sehe voraus, daß unsre Enkel uns ebenso hart finden und gleichfalls etwas von den Martern und Leibesstrafen, die wir anwenden, ausmerzen werden.«
»Herr Abbé, Sie reden nicht wie ein Richter. Die Tortur ist nötig, um Geständnisse zu erpressen, die man in Güte nie erlangte. Die Strafen selbst sind auf das Notwendigste beschränkt, um Gut und Leben der Bürger zu sichern.«
»So geben Sie also zu, mein Herr, daß die Rechtspflege nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Nützlichkeit hinausläuft und daß sie lediglich von den Interessen und Vorurteilen der Völker abhängt. Nichts ist wahrer; und die Vergehen werden nicht nach Maßgabe ihrer Ruchlosigkeit bestraft, sondern im Hinblick auf den Schaden, den sie den wahren oder vermeintlichen Interessen der Gesellschaft antun. So werden die Falschmünzer in einen Kessel siedenden Wassers gesteckt, obwohl es keine große Ruchlosigkeit ist, Taler zu prägen. Aber das Publikum und besonders die Finanzleute erleiden dadurch eine empfindliche Einbuße. Für diese rächen sie sich mit unerhörter Grausamkeit. Die Diebe werden gehenkt, weniger wegen der Verworfenheit, die darin liegt, Brot oder Kleider zu stehlen – denn die ist gering, – als weil die Menschen von Natur an ihrer Habe hängen. Man muß die menschliche Gerechtigkeit auf ihren wahren Ursprung zurückführen, welcher das materielle Interesse der Staatsbürger ist, und sie all der hohen Philosophie entkleiden, mit der sie sich in prunkhafter, eitler Heuchelei umgibt.«
»Herr Abbé,« erwiderte der kleine Gerichtsdiener, »ich verstehe Sie nicht. Mich dünkt, die Gerechtigkeit ist um so gerechter, je nützlicher sie ist; und just die Nützlichkeit, derentwegen Sie sie verachten, sollte sie in Ihren Augen hehr und heilig machen.«
»Ja, Sie verstehen mich nicht,« wiederholte mein guter Lehrer.
»Herr Abbé,« fuhr der kleine Gerichtsdiener fort, »ich sehe, daß Sie gar nichts trinken. Ihr Wein ist nach der Farbe zu schließen gut. Darf ich ihn vielleicht kosten?«
In der Tat ließ mein teurer Lehrer zum erstenmal in seinem Leben eine Neige Wein in der Flasche zurück. Er goß sie in das Glas des Gerichtsdieners.
»Auf Ihr Wohl, Herr Abbé,« sagte dieser. »Ihr Wein ist gut, aber Ihre Gründe sind schlecht. Die Gerechtigkeit – ich wiederhole es – ist um so gerechter, je nützlicher sie ist; und just diese Nützlichkeit, die, wie Sie sagen, ihr Urgrund und ihr Prinzip ist, sollte sie Ihnen hehr und heilig machen. Aber Sie müssen doch ebenso zugeben, daß das Wesen der Gerechtigkeit das Recht ist, wie das Wort es besagt.«
»Mein Herr,« entgegnete mein guter Lehrer, »wenn wir sagen, daß die Schönheit schön, die Wahrheit wahr und die Gerechtigkeit das Recht ist, so haben wir nichts gesagt. Ihr Ulpian, der sich klar und deutlich ausdrückte, hat gesagt, die Gerechtigkeit sei der feste und beständige Wille, jedem das Seine zu geben, und die Gesetze seien gerecht, wenn sie diesen Willen heiligten. Leider aber besitzen die Menschen gar nichts, und infolgedessen zielt die Gerechtigkeit der Gesetze nur darauf ab, ihnen die Früchte ihres ererbten oder selbst gemachten Raubes zu sichern. Sie gleichen darin jenen Vereinbarungen von Kindern, die mit Murmeln spielen und zu denen, die ihnen die gewonnenen wieder abnehmen wollen, sagen: ›Das ist gegen das Spiel‹. Der Scharfsinn der Richter beschränkt sich auf die Unterscheidung zwischen den Aneignungen, die nach den ausgemachten Spielregeln stattfinden, und denen, die gegen das Spiel sind, und diese Unterscheidung ist ebenso schwierig wie kindisch. Vor allem ist sie willkürlich. Das Mädchen, das gegenwärtig an einem Hanfstrick hängt, hat, wie Sie sagten, der Rätin Josse ein Spitzenhäubchen gestohlen. Aber womit begründen Sie es, daß dieses Häubchen der Rätin Josse gehörte? Sie werden mir antworten, sie habe es entweder von ihrem Gelde gekauft oder in ihrer Aussteuer vorgefunden oder von einem Liebhaber geschenkt bekommen – lauter ehrliche Mittel, zu Spitzen zu kommen. Doch einerlei, wie; ich sehe nur, daß sie sie wie eins jener Glücksgüter, benutzt hat, die der Zufall einem zuträgt und wieder entführt und auf die man kein natürliches Recht hat. Ich gebe selbstredend zu: die Spitzen gehörten ihr nach den Regeln des Eigentumspieles, das die Menschen in Gesellschaft spielen, wie die armen Kinder mit Murmeln spielen. Sie hing an diesen Spitzen und hatte tatsächlich nicht weniger Anspruch darauf als ein anderer. Es wäre gerecht gewesen, sie ihr wiederzugeben, aber nicht, sie so hoch zu schätzen, daß man wegen ein paar elender Alençonspitzen ein Menschenleben vernichtet.«
»Herr Abbé,« sagte der kleine Gerichtsdiener, »Sie sehen nur die eine Seite der Gerechtigkeit. Es genügte nicht, der Frau Rätin Josse ihr Recht werden zu lassen, indem man ihr die Spitzen zurückgab; man mußte auch der Magd ihr Recht werden lassen, indem man sie aufknüpfte. Denn die Gerechtigkeit besteht darin, daß man jedem das Seine gibt. Und insofern ist sie erhaben.«
»In diesem Falle,« entgegnete mein guter Lehrer, »ist sie noch schlechter als ich dachte. Der Gedanke, daß sie dem Schuldigen Strafe schulde, ist von äußerster Roheit. Er ist eine gotische Barbarei.«
»Herr Abbé,« sagte der kleine Gerichtsdiener, »Sie verstehen nichts von der Gerechtigkeit. Sie schlägt ohne Zorn; sie hegt keinen Haß gegen das Mädchen, das sie zum Galgen schickt.«
»Vorzüglich!« rief mein guter Lehrer aus. »Doch ich sähe es lieber, wenn die Richter zugäben, daß sie die Schuldigen bloß aus Notwendigkeit und wegen des abschreckenden Beispiels strafen. Denn dann begnügten sie sich mit dem Notwendigen. Bilden sie sich jedoch ein, daß sie dem Schuldigen, den sie strafen, das Seine geben, so ist leicht einzusehen, wie weit diese Gewissenhaftigkeit führen kann. Ja, es ist just ihre Redlichkeit, die sie unerbittlich macht; denn man darf den Leuten nichts versagen, was man ihnen wissentlich schuldet. Dieser Grundsatz, mein Herr, flößt mir Entsetzen ein. Er wurde mit äußerster Schroffheit von einem geschickten Philosophen namens Medardus aufgestellt, welcher behauptete, einen Schuldigen nicht zu strafen, hieße ihm unrecht tun und ihn schnöde des Rechts berauben, seine Schuld zu sühnen. Er behauptete, daß die athenischen Richter, welche den Sokrates zum Giftbecher verurteilten, an der Läuterung der Seele dieses Weisen trefflich mitgearbeitet hätten. Das sind entsetzliche Hirngespinste.
Ich wünsche der Strafjustiz weniger Erhabenheit. Der Gedanke der bloßen Rache, den man insgemein mit der Bestrafung der Missetäter verbindet, ist zwar an sich schlecht und niedrig, doch in seinen Konsequenzen nicht so furchtbar wie diese wütende Tugend der quälerischen Philosophen. Ich lernte einst in Séez einen jovialen und biedren Bürgersmann kennen, der seine kleinen Kinder allabendlich auf den Schoß nahm und ihnen Märchen erzählte. Er führte einen strengen Wandel, ging zum Tische des Herrn und hielt sehr auf peinliche Redlichkeit in dem Kornhandel, den er seit sechzig und mehr Jahren betrieb. Da geschah es, daß seine Magd ihm etliche Dublonen, Dukaten, Rosenobel und andre schöne Goldstücke stahl, die er merkwürdigerweise in einer Schachtel in der Tiefe einer Schublade bewahrte. Sobald er den Diebstahl bemerkt hatte, erstattete er beim Gericht Anzeige, woraufhin die Magd gefoltert, vor Gericht gestellt, verurteilt und hingerichtet wurde. Der Biedermann, der sein Recht kannte, verlangte die Haut der Diebin heraus und ließ sich davon eine Hose machen. Und oft geschah es, daß er sich auf den Schenkel schlug und rief: ›Die Schurkin! Die Schurkin!‹ Das Mädchen hatte ihm seine Goldstücke genommen, er nahm ihr die Haut. So rächte er sich wenigstens unphilosophisch in seiner offenherzigen bäuerischen Wildheit. Er dachte nicht daran, eine hehre Pflicht zu erfüllen, indem er fröhlich auf seine Hose aus Menschenhaut schlug. Und so wäre es auch besser, wenn man einen Dieb aufknüpft, zuzugeben, daß dies aus kluger Vorsicht und zur Abschreckung andrer geschieht, als um jedem das Seine zu geben, wie jener wollte. Denn philosophisch gesprochen, gehört keinem etwas, außer das Leben selbst. Behaupten, man schulde den Verbrechern Strafe, heißt in einen wilden Mystizismus herabsinken, der schlimmer ist als die nackte Gewalttat und der bloße Zorn. Die Strafe für Diebstahl aber ist ein Gesetz der Gewalt und nicht der Philosophie. Diese lehrt uns im Gegenteil, daß alles, was wir erworben haben, durch Gewalt oder List unser wurde. Und Sie sehen ja auch, daß die Richter es billigen, wenn wir ausgeplündert werden, wofern der Räuber nur mächtig ist. So gestattet man dem König, uns unser Silbergeschirr fortzunehmen, um seine Kriege zu führen, wie es unter Ludwig XIV. geschah, wo die Eintreibungen so streng gehandhabt wurden, daß man sogar die Fransen an den Betten abschnitt, um das eingewebte Gold aus der Seide zu entfernen. Dieser König legte Hand an vielen Privatbesitz, ja an Kirchenschätze; und als ich vor zwanzig Jahren in Notre-Dame-en-Liesse in der Picardie meine Andacht verrichtete, hörte ich einen alten Sakristan klagen, daß der König den ganzen Kirchenschatz eingezogen habe, um ihn einschmelzen zu lassen – sogar die goldne Brust mit Schmelzflüssen, welche die Frau Pfalzgräfin dereinst mit großem Pompe dort niedergelegt hatte, nachdem sie auf wunderbare Weise vom Krebs genesen. Die Justiz stand dem König bei seinen Eintreibungen bei und verhängte strenge Strafen über alle, die irgend etwas zurückbehielten. Sie war also nicht der Meinung, daß diese Güter von ihren Besitzern untrennbar wären.«
»Herr Abbé,« sagte der kleine Gerichtsdiener, »diese Einziehungen geschahen im Namen des Königs, der über allen Besitz seiner Untertanen nach Gutdünken verfügt, sei es zu Kriegszwecken oder zu Bauten oder zu sonst etwas.«
»Das stimmt,« sagte mein guter Lehrer, »und es ist ausdrücklich in die Spielregeln aufgenommen. Die Rechte des Fürsten, durch Schweizer und allerlei Kriegsvolk verbürgt, stehen obenan. Und die arme Gehenkte hatte keine Schweizer, um auf die Spieltafel schreiben zu lassen, daß sie ein Recht hätte, die Spitzen der Frau Rätin Josse zu tragen. Das ist völlig richtig.«
»Herr Abbé,« erwiderte der kleine Gerichtsdiener, »ich hoffe, Sie vergleichen den Sonnenkönig, der das Geschirr seiner Untertanen beschlagnahmte, um seine Soldaten zu besolden, nicht mit jener Kreatur, die eine Spitze stahl, um sich damit zu schmücken.«
»Mein Herr,« erwiderte mein guter Lehrer, »es ist weniger harmlos, Krieg zu führen, als mit einem Spitzenhäubchen zu Ramponneau zu gehen. Doch die Justiz sichert jedem das Seine nach den Regeln des Gesellschaftsspiels, welches das ungerechteste, widersinnigste und am wenigsten unterhaltsame ist, das es gibt. Leider müssen alle Staatsbürger dabei mittun.«
»Das ist notwendig,« sagte der kleine Gerichtsdiener.
»Deshalb,« erwiderte mein teurer Lehrer, »sind die Gesetze auch nützlich. Aber sie sind nicht gerecht und können es nicht sein, denn der Richter sichert den Bürgern den Genuß dessen, was ihnen gehört, ohne Unterschied zwischen wahren und falschen Gütern. Dieser Unterschied fehlt in den Spielregeln; er steht nur im Buche der göttlichen Gerechtigkeit, in dem niemand zu lesen vermag. Kennen Sie die Geschichte von dem Engel und dem Einsiedler?
Ein Engel stieg mit Menschenantlitz und Pilgerkleid auf die Erde hernieder, wanderte durch Ägyptenland und pochte des Abends an die Tür eines guten Einsiedlers; der hielt ihn für einen Reisenden, setzte ihm Abendbrot vor und kredenzte ihm Wein in einem güldnen Becher. Dann bereitete er ihm sein Lager und schlief selbst am Boden auf einer Schütte Maisstroh. Dieweil er schlief, stand sein himmlischer Gast auf, nahm den Becher, aus dem er getrunken, verbarg ihn in seinem Mantel und entschwand. Solches tat er nicht, um den guten Einsiedler zu schädigen, sondern im Gegenteil zum Heil seines Wirtes, der ihn so barmherzig aufgenommen. Denn er wußte, daß der heilige Mann sich durch diesen Becher, an den er sein Herz gehängt hatte, die Seligkeit verscherzte; denn Gott will, daß man nur ihn liebe, und duldet nicht, daß ein Mönch an den Gütern dieser Welt hängt.
Dieser Engel, der ein Ausfluß der göttlichen Weisheit war, unterschied die wahren und die falschen Güter. Die Richter kennen diesen Unterschied nicht. Wer weiß, ob die Frau Rätin Josse ihre Seligkeit nicht durch die Spitzen verliert, die ihre Magd ihr gestohlen und die ihr die Richter zurückerstattet haben?«
»Einstweilen«, sagte der kleine Gerichtsdiener, sich die Hände reibend, »ist jetzt eine Diebin weniger am Leben.«
Dann klopfte er sich die Brotkrumen vom Rocke, grüßte und ging fröhlich von dannen.
Mein teurer Lehrer wandte sich zu mir und fuhr dieserart fort: »Ich habe die Geschichte von dem Engel und dem Einsiedler nur erzählt, um den Abgrund aufzuzeigen, der zwischen Gott und Welt klafft. Nun aber erstreckt sich die menschliche Gerechtigkeit nur auf die Welt, welche eine niedrige Stätte ist, wo die großen Prinzipien keinen Raum haben. Die grausamste Kränkung, die man unserm Herrn Jesus Christus antun konnte, war die, sein Bild in den Gerichtssälen aufzuhängen, wo Richter die Pharisäer freisprechen, die ihn gekreuzigt haben, und die Magdalene verurteilen, die er mit seinen göttlichen Händen emporhob. Was tut er, der Gerechte, unter diesen Menschen, die nicht gerecht sein könnten, auch wenn sie es wollten, dieweil es ihre traurige Pflicht ist, die Handlungen ihrer Nächsten nicht an sich und in ihrer Wesenheit zu betrachten, sondern lediglich unter dem Gesichtspunkt des sozialen Nutzens, d. h. auf Grund jener Fülle von Selbstsucht, Geiz, Irrtümern und Mißbräuchen, welche die Staaten schuf, deren blinde Erhalter sie sind? Beim Abwägen der Schuld fügen sie die Furcht oder den Zorn hinzu, welche ihnen die feige Menge einflößte. Und das alles steht in ihrem Buche geschrieben, also daß ihnen der alte Text und der tote Buchstabe als Geist, Herz und lebendige Seele dienen. Und alle ihre Vorschriften, deren etliche bis auf die verruchten Zeiten von Byzanz und auf die Kaiserin Theodora hinabreichen, stimmen nur darin überein, eine Welt, die sich nicht ändern will, mit allem, Tugenden wie Lastern, zu erhalten. In den Augen des Gesetzes gilt die Übertretung an sich so wenig und die äußeren Umstände so viel, daß ein und dieselbe Handlung unter solchen Umständen rechtmäßig, unter andren unverzeihlich wird; wie man es z. B. an einer Maulschelle sehen kann, die ein Mann dem andern austeilt. Unter Bürgersleuten erscheint sie bloß als Ausfluß zornwütiger Laune, wogegen sie beim Soldaten zum todeswürdigen Verbrechen wird. Diese Barbarei, die noch besteht, wird uns zur Schmach späterer Jahrhunderte dienen. Wir achten nicht darauf; doch man wird sich dereinst fragen, welche Wilden wir waren, um den Tod auf die hochherzige Wallung des Blutes zu setzen, wofern sie aus dem Herzen eines Jünglings kommt, den die Gesetze den Gefahren des Krieges und dem Elend des Kasernenlebens aussetzen. Und das ist klar: wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, so hätten wir nicht zwei Gesetzbücher, ein bürgerliches und ein militärisches. Die Militärjustiz, deren Ergebnisse wir täglich sehen, ist von unerhörter Grausamkeit, und wenn die Menschen dereinst gesitteter sind, so werden sie es nicht glauben wollen, daß es einmal mitten im Frieden Kriegsgerichte gegeben hat, welche die Majestät der Korporale und Sergeanten durch den Tod eines Menschen rächten. Sie werden es nicht glauben wollen, daß Unglückliche wegen Fahnenflucht vor dem Feinde Spießruten laufen mußten, und dies bei Unternehmungen, wo die französische Regierung nicht einmal kriegführende Parteien anerkannte. Das Wunderbarste aber ist, daß derartige Greuel sich bei christlichen Völkern ereignen, welche den heiligen Sebastian, einen aufrührerischen Krieger, ehren, und die Märtyrer der thebäischen Legion, deren ganzer Ruhm darin besteht, daß sie dereinst die Härte des Kriegsgerichtes verspüren mußten, als sie sich weigerten, gegen die BagaudenGallische Landleute, die sich 286 n. Chr. unter Diokletian empörten. – Der Übersetzer zu kämpfen. Aber lassen wir das; reden wir nicht mehr von der Justiz der Kriegsleute, welche dereinst verschwinden werden, wie Gottes Sohn es prophezeit hat, und kehren wir zu den bürgerlichen Gerichten zurück.
Die Richter prüfen nicht die Nieren und lesen nicht in den Herzen, und so ist denn auch ihre gerechteste Justiz hart und oberflächlich. Aber es fehlt zumeist noch viel daran, daß sie sich an diese rauhe Rinde der Gerechtigkeit halten, auf der die Gesetze verbucht sind. Sie sind Menschen, d. h. schwach und bestechlich, nachsichtig gegen die Starken und unbarmherzig gegen die Schwachen. Sie heiligen durch ihre Rechtssprüche die grausamsten sozialen Ungerechtigkeiten, und es ist bei dieser Parteilichkeit schwer zu unterscheiden, was von ihrer persönlichen Niedrigkeit stammt und was ihnen durch ihre Berufspflicht auferlegt wird, welche darin besteht, den Staat im guten wie im schlimmen zu erhalten, über die Erhaltung der öffentlichen Sitten, ob sie rein oder verächtlich seien, zu wachen und neben den Rechten der Bürger die tyrannischen Gelüste des Fürsten zu schirmen, gar nicht zu reden von den lächerlichen und grausamen Vorurteilen, die unter dem Lilienbanner ein unverletzliches Asyl finden.
Der strengste Richter kann just wegen seiner Unbestechlichkeit Rechtssprüche fällen, die ebenso empörend, ja vielleicht noch unmenschlicher sind als die eines pflichtvergessenen Richters; und ich für mein Teil weiß nicht, wen von beiden ich mehr fürchten würde, den, dessen Seele nur aus Gesetzesvorschriften besteht, oder den, der diese Vorschriften mit einem Rest von menschlichem Empfinden dehnt. Der letztere wird mich seinem Vorteil oder seinen Leidenschaften opfern, wogegen der erstere mich kaltherzig dem Buchstaben opfert.
Auch muß man bedenken, daß die Richter von Amts wegen nicht sowohl die neuen Vorurteile beschirmen, denen wir alle mehr oder minder unterworfen sind, als vielmehr veraltete Vorurteile, die im Gesetzbuch Unterstatt finden, sobald sie aus unsren Seelen und Sitten verschwunden sind. Und während jeder etwas nachdenkliche und freie Geist sogleich all die gotische Barbarei im Gesetze spürt, darf der Richter sie nicht einmal merken.
Doch ich rede, als ob die Gesetze, so barbarisch und roh sie sein mögen, wenigstens klar und deutlich wären. Aber daran fehlt viel. Das Zauberbuch eines Hexenmeisters scheint leicht faßlich neben manchem Paragraphen unsrer Gesetzbücher und Weistümer. Diese Schwierigkeiten der Auslegung haben viel dazu beigetragen, daß wir mehrere Instanzen der Rechtsprechung besitzen; und man nimmt insgemein an, daß das, was der Amtsrichter nicht verstanden hat, von den Herren Parlamentsrichtern aufgeklärt werden wird. Das heißt fünf Männern in roter Robe und eckigem Barett viel zutrauen; denn sie bleiben, selbst nachdem sie das Veni creator spiritus gebetet haben, dem Irrtum unterworfen; und man täte gut, einzugestehen, daß die Urteile des höchsten Gerichtshofes lediglich deshalb unwiderruflich sind, weil man sein Recht schon in allen andren Instanzen gesucht hat, bevor man sich an ihn wandte.«
Mein guter Lehrer sah traurigen Blicks das Wasser vorüberfließen, als das Abbild dieser Welt, in der alles vergeht und nichts sich ändert. Eine Weile blieb er in Sinnen versunken; dann fuhr er mit leiserer Stimme fort:
»Schon das eine, mein Sohn, bereitet mir unüberwindliche Verlegenheit: daß es Richter geben muß, die Recht sprechen. Es ist klar, daß ihnen daran liegt, den Verdächtigen für schuldig zu erklären. Der Korpsgeist, der bei ihnen so stark ist, treibt sie dazu; und so sieht man sie denn auch während des ganzen Verfahrens bestrebt, die Verteidigung als etwas Lästiges auszuschalten und ihr erst dann Bewegungsfreiheit zu geben, wenn die Anklage gerüstet und fertig dasteht und infolge von mancherlei Kunstgriffen die Miene einer schönen Minerva angenommen hat. Just ihr Berufssinn macht sie geneigt, in jedem Angeschuldigten einen Schuldigen zu sehen, ja manchen Völkern Europas dünkt dieser Eifer so furchtbar, daß sie ihnen bei großen Prozessen ein Dutzend Bürgersleute, nach dem Los gezogen, zu Beisitzern geben. Woraus sich ergibt, daß der blinde Zufall das Leben und die Freiheit der Angeschuldigten immer noch besser beschirmt, als das aufgeklärte Gewissen der Richter. Allerdings werden diese bürgerlichen Richter, die vom Los bestimmt sind, dem Verfahren selbst ferngehalten, so daß sie nur seinen äußeren Prunk sehen. Auch sind sie in Unkenntnis der Gesetze nicht dazu berufen, sie anzuwenden, sondern bloß mit einem Worte zu entscheiden, ob sie anzuwenden seien oder nicht. Wie man sagt, geben diese Schwurgerichte oft wunderliche Sprüche ab; trotzdem hängen die Völker, die sie besitzen, an ihnen wie an einer kostbaren Bürgschaft. Ich will es glauben. Und ich begreife, warum man Rechtssprüche, die derart zustande kommen, gutheißt. Sie mögen grausam oder einfältig sein; aber ihr Widersinn und ihre Barbarei sind doch sozusagen niemandes Schuld. Die Ungerechtigkeit scheint erträglicher, wenn sie so unlogisch ist, daß sie als unfreiwillig erscheint.
Der kleine Gerichtsdiener von vorhin, der einen so ausgeprägten Rechtssinn hatte, argwöhnte, daß ich es mit den Dieben und Mördern halte. Ich verabscheue im Gegenteil Mord und Diebstahl derart, daß ich nicht mal ihr gesetzlich geregeltes Abbild ertragen kann, und es ist mir schmerzlich zu sehen, daß die Richter zur Bestrafung der Diebe und Mörder nichts Besseres gefunden haben, als sie nachzuahmen; denn Hand aufs Herz, Tournebroche, was sind Geld- und Todesstrafe anders als Diebstahl und Mord, mit peinlicher Genauigkeit verbrochen? Und siehst du nicht, wie unsre Justiz in all ihrer Hoffart nur nach der Schmach trachtet, Böses mit Bösem, Unbill mit Unbill zu vergelten und die Vergehen und Verbrechen aus Liebe zu Symmetrie und Gleichgewicht zu verdoppeln? Man kann hierbei wohl eine Menge von Redlichkeit und Selbstlosigkeit verausgaben. Man kann ebensogut ein L'HospitalMichel de L'Hospital (1507–1573), berühmter französischer Staatsmann und Jurist, 1560–68 Kanzler von Frankreich, suchte die Religionskriege zu dämpfen und Blutvergießen zu verhindern. Kurz nach der Bartholomäusnacht starb er aus Gram. wie ein JeffryesJeffryes, Großkanzler von England unter Karl II. und Jakob II., wegen seiner Grausamkeit und Ungerechtigkeit verabscheut, starb 1689 im Tower zu London. – Der Übersetzer sein, und ich für mein Teil kenne einen sehr rechtschaffnen Richter. Nur wollte ich auf die Grundlagen der Justiz zurückgehen, um den wahren Charakter dieser Einrichtung aufzudecken, welche der Hochmut der Richter und der Schrecken der Völker mit einem falschen Nimbus umkleidet haben. Ich wollte die ursprüngliche Niedrigkeit der Gesetzbücher dartun, die durchaus erhaben sein sollen und die in Wahrheit nur ein wunderliches Gemisch von Notstandsgesetzen sind.
Ach, die Gesetze sind Menschenwerk; das ist eine dunkle und elende Herkunft! Sie verdanken ihre Entstehung zumeist dem Zufall. Unwissenheit, Aberglaube, Fürstenhochmut, Selbstsucht des Gesetzgebers, Launen und Phantastereien – das sind die Quellen: jener großen Gesetzbücher, welche ehrwürdig werden, sobald man sie nicht mehr versteht. Die Dunkelheit, die sie umgibt, von den Kommentatoren vermehrt, verleiht ihnen die Majestät der antiken Orakel. Ich höre immerfort sagen und lese es tagtäglich in den Zeitungen, daß wir jetzt Gelegenheitsgesetze machen. Das ist eine kurzsichtige Anschauung von Leuten, die nicht sehen, daß wir darin dem urältesten Brauche folgen und daß die Gesetze zu allen Zeiten Zufallsschöpfungen waren. Auch klagt man oft über die Unklarheit und die Widersprüche, in die unsre jetzigen Gesetzgeber fortwährend verfallen. Und man merkt nicht, daß ihre Vorgänger ebenso unklar und widerspruchsvoll waren.
Alles in allem, Tournebroche, mein Sohn, sind die Gesetze gut oder schlecht, nicht sowohl um ihrer selbst willen, als vielmehr durch die Art ihrer Anwendung; und manche ungerechte Verordnung tut keinen Schaden, wenn der Richter sie nicht in Kraft treten läßt. Die Sitten sind stärker als die Gesetze. Die Gesittung der Lebensgewohnheiten und die Sanftmut der Geister sind die einzige vernünftige Abwehr gegen die Barbarei der Gesetze. Denn Gesetze durch Gesetze verbessern, heißt einen langsamen und ungewissen Weg einschlagen. Nur in Jahrhunderten wird das Werk von Jahrhunderten aufgehoben. Und es ist wenig wahrscheinlich, daß einst ein neuer Numa im Walde von Compiègne oder in den Felsschluchten von Fontainebleau eine neue Egeria findet, die ihm weise Gesetze diktiert.«
Lange blickte er nach den blauen Höhenzügen am Horizont. Er sah ernst und traurig drein. Dann legte er sanft seine Hand auf meine Schulter und sprach mit so tiefem Ausdruck, daß es mir bis auf den Grund der Seele ging.
»Tournebroche, mein Sohn,« sagte er, »du siehst mich auf einmal ungewiß und verwirrt, stammelnd und blöde bei dem bloßen Gedanken, das zu verbessern, was ich verabscheuenswert finde. Glaube nicht, dies sei Zagheit des Geistes; die Verwegenheit meines Denkens schrickt vor nichts zurück. Aber achte wohl auf das, was ich dir jetzt sagen will, mein Sohn. Die Wahrheiten, die der Verstand entdeckt, bleiben unfruchtbar. Nur das Herz vermag seine Träume zu befruchten. Es gießt Leben in alles, was es liebt. Durch das Gefühl ward die Saat des Guten in die Welt gestreut. Der Verstand besitzt solche Tugend nicht. Und ich gestehe dir, ich war bisher in der Kritik der Gesetze und Sitten zu verstandesmäßig. Darum wird diese Kritik auch fruchtlos niederfallen und verdorren, wie ein Baum im Lenzfrost. Wer den Menschen dienen will, der muß alle Vernunft als lästigen Ballast über Bord werfen und auf den Schwingen der Begeisterung emporfliegen. Wer denkt, wird nie fliegen lernen.«