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Es war nach dem Abendessen im Wirtshaus.
»Ich gebe zu,« sagte Laboullé zu mir, »alle diese Tatsachen, die sich auf einen noch sehr unklar bestimmten Zustand unseres Organismus beziehen, – Doppeltes Gesicht, Fernsuggestion, Ahnungen, – sind meistens nicht genügend einwandsfrei festgestellt, um den Erfordernissen wissenschaftlicher Kritik standhalten zu können. Sie beruhen fast immer auf Zeugenschaften, die, obwohl glaubwürdig, doch Ungewißheit über die Art des Phänomens bestehen lassen. Diese Tatsachen sind noch nicht genügend begründet, darin stimme ich zu. Aber die Möglichkeit solcher Dinge steht bei mir außer Zweifel, seitdem ich Gelegenheit hatte, einen Fall zu beobachten. Durch einen glücklichen Zufall gelang es mir, alle Grundbedingungen genauester Beobachtung vereinigen zu können. Glaub mir, ich bin ganz methodisch vorgegangen und habe alle Sorgfalt aufgewandt, um jeden Grund zum Zweifel auszuschließen.«
Während er dies sehr nachdrücklich sagte, schlug der junge Doktor Laboullé sich mit beiden Händen auf seine hohle Brust, die mit Broschüren überpolstert war, und näherte mir über den Tisch seinen scharfen Kahlkopf.
»Ja, mein Lieber,« fügte er hinzu, »durch einen einzigartigen Zufall hat sich eines dieser Phänomene, was von Myers und Podmore als ›Phantom der Lebenden‹ klassifiziert worden ist, in allen seinen Phasen unter den Augen eines Mannes der Wissenschaft abgespielt. Ich habe alles festgestellt, alles notiert.«
»Lassen Sie hören.«
»Die Daten gehen auf den Sommer 1891 zurück,« begann Laboullé wieder.
»Mein Freund Paul Buquet, von dem ich dir ja oft erzählt habe, bewohnte damals mit seiner Frau eine kleine Wohnung in der Rue de Grenelle, gegenüber dem Brunnen. Du hast Buquet nicht gekannt?«
»Ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen. – Ein starker Mensch mit einem Bart, der ihm bis in die Augen wächst. Die Frau brünett, blaß, mit großen Zügen und tief liegenden Augen.«
»Ja, ja, erregbares, nervöses Temperament, aber ziemlich ausgeglichen. Jedoch eine Frau, die in Paris lebt – da bekommen die Nerven die Oberhand . . . dann ist die Geschichte fertig . . . Hast du Adrienne gesehen?«
»Ja, ich traf sie eines Abends in der Rue de la Paix vor einem Juwelierladen, wie sie mit leuchtenden Blicken auf die Saphire schaute. Eine schöne Person und fabelhaft elegant für die Frau eines armen Teufels, der in einem der Kellergewölbe der industriellen Chemie arbeitet. Ich glaube, Buquet hat nicht viel erreicht, wie?«
»Buquet arbeitete seit fünf Jahren in dem Geschäft von Jacob, der am Boulevard Malherbes mit photographischen Erzeugnissen und Apparaten handelt.
Er hoffte von Tag zu Tag Teilhaber zu werden, ohne daß er grade Tausende verdiente, war seine Stellung doch nicht schlecht. Er hatte gute Aussichten, war geduldig, schlicht und arbeitsam. Und seine Frau machte ihm nicht viel zu schaffen. Als echte Pariserin verstand sie es meisterhaft, sich einzurichten, und machte alle Augenblicke günstige Gelegenheitseinkäufe ausfindig für Wasche, Kleider, Spitzen und Schmuck. Ihr Mann war erstaunt, wie sie es möglich machte, sich mit beinahe nichts so elegant zu kleiden, und es schmeichelte ihm, seine Frau stets so angezogen zu sehen und immer in seidenen Unterkleidern. Aber was ich da sage, hat eigentlich kein Interesse.«
»Ja, doch, das interessiert mich sehr, mein lieber Laboullé.«
»Nun jedenfalls kommen wir weit vom eigentlichen Zweck bei diesem Geschwätz. Ich war, wie du weißt, ein Schulkamerad von Buquet, und wir verkehrten noch miteinander, als er mit 25 Jahren ohne Anstellung Adrienne aus Liebe heiratete, die, wie man sagt, nichts besaß, als das Hemd auf dem Leibe.
Diese Heirat tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. Adrienne bezeigte mir viel Sympathie, und ich aß häufig in dem jungen Hausstand zu Abend. Wie du weißt, ist der Schauspieler Laroche einer meiner Patienten. Ich verkehre viel mit Künstlern und bekomme von Zeit zu Zeit Billette von ihnen geschenkt.
Adrienne und ihr Mann gingen sehr gern ins Theater. Wenn ich also abends eine Loge hatte, aß ich bei ihnen zu Abend und führte sie dann in die Vorstellung. Ich konnte sicher damit rechnen, daß ich Buquet, der um halb sieben Uhr aus seiner Werkstatt nach Hause kam, um die Essenszeit antraf, ihn, seine Frau und ihren gemeinsamen Freund Géraud.«
»Ist das Marcel Géraud, der in einer Bank angestellt war und der immer so schöne Krawatten zu tragen pflegte?«
»Jawohl, er war ein intimer Freund des Hauses. Da er Junggeselle war und ein angenehmer Mensch, so pflegte er stets dort zu Abend zu essen. Er brachte Hummer, Pasteten und allerhand andere Leckerbissen mit, war verbindlich und liebenswürdig und redete wenig. Buquet konnte gar nicht ohne ihn sein, so ging er regelmäßig mit uns ins Theater.«
»Wie alt war er?«
»Géraud? Ich weiß nicht. So zwischen dreißig und vierzig. Als Laroche mir eines Tages wieder eine Loge geschenkt hatte, ging ich wie immer zu meinen Freunden Buquets. Ich hatte mich etwas verspätet, so daß das Essen bereits aufgetragen war. Paul sagte, er käme um vor Hunger, aber Adrienne konnte sich nicht entschließen, ohne Géraud zu Tisch zu gehen.«
»Kinder,« rief ich, »ich habe eine Loge, man spielt Denise!«
»Dann laßt uns schnell essen,« sagte Buquet, »damit wir den Anfang nicht versäumen.«
Das Mädchen brachte die Suppe. Adrienne schien unruhig, und man merkte ihr bei jedem Löffel Suppe an, wie ihr Herz schlug. Buquet schlürfte mit Geräusch seine Suppe und schleckte mit der Zunge die einzelnen Fadennudeln auf, die in seinem Schnurrbart hängen geblieben waren.
»Die Frauen sind merkwürdig,« rief er. »Denke dir Laboullé, Adrienne ist beunruhigt, weil Géraud nicht zum Essen gekommen ist. Sie macht sich Gedanken darüber. Sag ihr mal, daß es unsinnig ist. Géraud kann verhindert sein, vielleicht geschäftlich, und da er Junggeselle ist, so ist er ja niemandem Rechenschaft schuldig. Mich wundert im Gegenteil, daß er uns eigentlich alle seine Abende opfert. Sehr nett von ihm, aber darum muß man ihm billigerweise auch etwas Freiheit gönnen. Ich habe das Prinzip, daß ich mich absolut nicht um das kümmere, was meine Freunde tun. Aber die Frauen sind anders.«
Frau Buquet erwiderte erregt:
»Ich beunruhige mich. Ich fürchte, es ist ihm etwas zugestoßen.«
Buquet hingegen suchte die Mahlzeit zu beschleunigen:
»Sophie,« rief er dem Mädchen zu: »Flink! den Braten, Salat! Sophie, den Käse und Kaffee!«
Ich bemerkte, daß Frau Buquet nichts gegessen hatte.
»Komm,« sagte ihr Mann, »zieh dich an, Kindchen. Geh! sonst versäumen wir den ersten Akt. Ein Stück von Dumas läßt sich nicht mit einer Operette vergleichen, wo es nicht darauf ankommt, ob man ein oder zwei Arien mehr oder weniger hört. So ein Stück hat seinen logischen Aufbau, von dem man nichts verlieren darf. Geh, mein Liebling. Ich selbst brauche bloß den Rock zu wechseln, dann bin ich fertig.«
Sie stand auf und ging mit langsamem Schritt und, sozusagen, willenlos in ihr Schlafzimmer.
Ihr Gatte und ich tranken inzwischen Kaffee und rauchten unsere Zigaretten.
»Es tut mir selbst leid, daß der gute Géraud heute abend nicht gekommen ist, es hätte ihm sicher Spaß gemacht ›Denise‹ zu sehen. Aber kannst du begreifen, daß Adrienne sich seinetwegen beunruhigt? Ich habe versucht ihr begreiflich zu machen, daß der gute Junge eine Abhaltung haben kann, von der er uns nichts gesagt hat, vielleicht irgendeine Frauengeschichte, was weiß ich. Aber sie will es nicht einsehen. Gib mir bitte eine Zigarette.«
Grade als ich ihm das Etui reichte, kam aus dem Nebenzimmer ein entsetzlicher Schrei, und gleich darauf hörten wir den dumpfen Fall eines Körpers.
»Adrienne,« rief Buquet und lief ins Schlafzimmer, wohin ich ihm folgte.
Wir fanden seine Frau unbeweglich am Boden liegend mit bleichem Gesicht und verstörtem Blick. Der Zustand wies keinerlei epileptische Symptome auf. Kein Schaum auf den Lippen, und die ausgestreckten Glieder waren schlaff und nicht verkrampft, der Puls schlug ungleich und kurz. Ich half ihrem Gatten, sie in einen Lehnstuhl zu setzen. Fast unmittelbar setzte die Blutzirkulation wieder ein. Ein rosiger Hauch färbte ihre für gewöhnlich blassen Wangen.
»Dort, dort, rief sie angstvoll und zeigte auf den Spiegel, dort habe ich ihn gesehen! Als ich mein Kleid zuknöpfte, sah ich ihn im Spiegel. Ich wandte mich um, weil ich glaubte, er stünde hinter mir. Erst als ich nichts sah, fing ich an zu begreifen, und da fiel ich zu Boden.«
Während ich untersuchte, ob sie sich beim Fall irgendwelche Verletzungen zugezogen hatte, gab Buquet ihr ein Glas Zuckerwasser mit Melissenessenz zu trinken.
»Komm, Liebling, erhole dich, was zum Teufel hast du gesehen, was sagst du da?«
»O!« sagte sie, indem sie von neuem erbleichte, »ich habe Marcel gesehen«.
»Merkwürdig! sie hat Géraud gesehen«, rief Buquet.
»Ja, ich habe ihn gesehen, fuhr sie in ernstem Ton fort, er sah mich an, ohne ein Wort zu sagen – so sah er mich an«, rief sie mit verstörtem Blick.
Buquet sah mich forschend an.
»Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte ich, »diese Störung hat nichts auf sich. Es kann sein, daß es aus dem Magen kommt. Wir werden das in aller Ruhe untersuchen. Für den Augenblick braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen. Ich habe im Krankenhaus einen gastrischen Patienten, der sieht unter allen Möbeln Katzen.«
Als Frau Buquet sich dann nach einigen Minuten ganz erholt hatte, sah ihr Gatte auf die Uhr und sagte zu mir gewandt:
»Wenn Sie meinen, Laboullé, daß ihr das Theater nicht schaden kann, so ist es Zeit aufzubrechen. Ich werde Sophie sagen, daß sie uns einen Wagen holt.«
Adrienne setzte hastig ihren Hut auf.
»Paul, Paul,« rief sie erregt, »Herr Doktor, hören Sie, lassen Sie uns zu Géraud fahren. Ich bin furchtbar unruhig, viel mehr, als ich euch sagen kann.«
»Ach, du bist verrückt,« rief Buquet. »Was willst du eigentlich, was soll ihm wohl passiert sein? Er war gestern doch noch ganz gesund!«
Sie warf mir einen jammervollen, flehenden Blick zu, der mich tief bewegte.
»Helfen Sie mir Laboullé!« bettelten ihre Augen.
Ich gab ihr das stumme Versprechen. Sie hatte mich so eindringlich gebeten.
Paul knurrte, er wollte den ersten Akt nicht versäumen.
Ich sagte:
»Lassen Sie uns erst zu Géraud fahren, der Umweg ist ja nicht groß.«
Der Wagen wartete schon. Ich rief dem Kutscher zu:
»Fahren Sie Rue du Louvre 5, und fahren Sie flott, hören Sie!«
Géraud bewohnte drei Zimmer in der Rue du Louvre 5, die immer ganz voll waren von den schönsten Krawatten. Das war der große Luxus, den der gute Junge sich leistete.
Wir hielten kaum vor dem Hause, als Buquet schon heraussprang, an die Pförtnerswohnung trat und fragte:
»Wie geht es Herrn Géraud?«
»Herr Geraud ist um fünf Uhr nach Hause gekommen,« antwortete die Pförtnersfrau »und hat seine Briefe mit hinaufgenommen. Wenn Sie ihn zu sprechen wünschen, er wohnt im vierten Stock rechts.«
Aber Buquet war schon wieder am Wagenschlag und rief:
»Siehst du, Kind, du bist nicht recht klug, Géraud ist zu Hause! Kutscher fahren Sie ins Komödienhaus.«
Aber Adrienne warf sich halb aus dem Wagen.
»Paul, ich beschwöre dich, geh hinauf, sieh nach ihm, du mußt es tun!«
»Die vier Stockwerke hinaufklettern«, sagte er achselzuckend, »Adrienne, es ist deine Schuld, wenn wir die Vorstellung versäumen, aber wenn die Frauen sich etwas in den Kopf gesetzt haben!«
Ich blieb allein mit Frau Buquet im Wagen zurück, ihre Augen funkelten in der Dämmerung, und unbeweglich starrte sie auf die Haustür.
Endlich kam Paul zurück.
»Weiß der Himmel, ich habe dreimal geklingelt, aber es meldet sich kein Mensch, Kindchen, er wird seine Gründe haben, warum er nicht gestört sein will, vielleicht hat er Damenbesuch. Das wäre doch nicht so merkwürdig.« In Adriennes Augen trat ein so tragischer Ausdruck, daß sich unwillkürlich auch in mir ein Gefühl von Unruhe zu regen begann.
»Warten Sie hier einen Augenblick auf mich!« sagte ich, »ich will mal mit der Pförtnerin reden.«
Die Frau schien auch erstaunt, daß Géraud nicht, wie er sonst zu tun pflegte, zum Abendessen ausgegangen sei. Da sie seine Zimmer rein zu machen hatte, besaß sie den Schlüssel zu seiner Wohnung. Sie nahm ihn vom Schlüsselbrett und erbot sich, mit mir hinaufzugehen. Als wir oben angekommen waren, schloß sie die Tür auf und rief vom Vorzimmer aus zwei-, dreimal: »Herr Géraud!«
Aber niemand antwortete. Es war völlig dunkel, und wir hatten keine Streichhölzer.
»Auf dem Nachttisch muß eine Schachtel mit Streichhölzern stehen,« sagte die Frau mit zitternder Stimme und wagte sich nicht von der Stelle. Ich tastete mich vorwärts. Auf dem Tisch griffen meine Finger in eine klebrige Masse.
»Das kenne ich,« dachte ich bei mir, »es ist Blut.«
Als wir endlich eine Kerze angezündet hatten, sahen wir Géraud mit zerschmettertem Schädel auf seinem Bett liegen. Sein Arm hing auf den Teppich herab, wohin der Revolver gefallen war. Ein blutbefleckter Brief lag unverschlossen auf dem Tisch. Er war an Herrn und Frau Buquet gerichtet und begann mit den Worten:
»Liebe Freunde, Ihr wart die Freude und das Glück meines Lebens . . .« Dann teilte er ihnen seinen Entschluß mit, daß er sterben wolle, ohne ihnen irgendeinen Grund dafür anzugeben. Aber er deutete an, daß Geldverlegenheiten ihn dazu getrieben hatten. Ich konstatierte, daß der Tod vor ungefähr einer Stunde eingetreten war. Er hatte sich also in demselben Augenblick das Leben genommen, als Frau Buquet ihn hinter sich im Spiegel erblickt hatte.
»Ist dies nicht,« wie ich dir sagte, »mein Lieber, ein absolut erwiesener Fall von doppeltem Gesicht, oder um es präziser auszudrücken: ein Beispiel von merkwürdigem physischem Synchronismus, den die Wissenschaft heute mit mehr Eifer als Erfolg zu erforschen bemüht ist?«
»Vielleicht hatte dies doch noch eine andere Ursache,« erwiderte ich. »Hast du niemals bemerkt, daß zwischen Géraud und der Frau Buquet etwas spielte?«
»Wieso? nein, ich habe nie etwas bemerkt, und wenn auch, was hätte das damit zu tun . . .«