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Herr Bergeret war dabei, in seiner neuen Wohnung Nägel in die Wände zu schlagen. Als er sich bewußt wurde, daß ihm das Vergnügen machte, sann er darüber nach, aus welchem Grunde ihm das Vergnügen machen könne und als er den Grund dafür gefunden hatte, machte es ihm kein Vergnügen mehr. Denn das Vergnügen hatte eben darin bestanden, daß man Nägel einschlug, ohne den Dingen auf den Grund zu gehen. Und während Herr Bergeret über die Widerwärtigkeiten allen philosophischen Geistes nachsann, hing er das Bild seines Vaters an den Platz, der ihm als der ehrenvollste erschien.
»Es hängt zu weit nach vorne über,« bemerkte Zoë.
»Meinst du?«
»Ja sicher, es sieht aus, als ob es herunterfallen wollte.« Herr Bergeret verkürzte die Schnüre, an welchen das Bild aufgehängt war.
»Jetzt hängt es schief.«
»Meinst du?«
»Das sieht man doch. Es neigt sich ganz nach links hinüber.« Herr Bergeret bemühte sich, es gerade zu hängen.
»Und jetzt?«
»Nun hängt es etwas zu weit nach rechts.«
Herr Bergeret tat sein möglichstes, um den Rand des Rahmens mit der Linie des Horizontes in Einklang zu bringen, dann trat er drei Schritte zurück, um sein Werk zu prüfen.
»Mir scheint, so ist es gut, sagte er.«
»Ja, nun geht es,« stimmte Zoë bei. »Wenn ein Bild schief hängt, so empfinde ich das als höchst unangenehm.«
»Das geht nicht allein dir so, Zoë. Vielen Leuten verursacht das sogar ein direktes Unbehagen. Unregelmäßigkeiten fallen uns am stärksten auf bei den einfachsten Dingen, weil man da sogleich sieht, wie es ist und wie es eigentlich sein sollte. Es gibt Menschen, die entschieden darunter leiden, wenn ein Tapetenmuster nicht genau aufeinander paßt. Ist es nicht fürchterlich zu denken, daß wir Menschen uns über ein schief hängendes Bild aufregen?«
»Was ist denn dabei so erstaunlich, Lucien? Die kleinen Dinge spielen im menschlichen Leben eine große Rolle. Du selbst interessierst dich jeden Augenblick für eine Menge Kleinigkeiten.«
»Nun sehe ich doch das Porträt unseres Vaters schon so viele Jahre, Zoë, und doch habe ich vorher nie bemerkt, was mir jetzt eben daran auffällt! Ich entdecke eben erst, daß es ja das Porträt eines noch jungen Mannes ist.«
»Aber Lucien, als der Maler Goselin nach seiner Rückkehr von Rom das Bild malte, war unser Vater nicht mehr als dreißig Jahre alt.«
»Du hast recht, aber als ich klein war, hatte ich von dem Bilde den Eindruck, daß es ein älterer Mann sei, und diese Auffassung ist bei mir haften geblieben. Plötzlich sehe ich es ganz anders. Die Malerei von Goselin ist stark nachgedunkelt, die Hautfarbe hat durch den Firnis einen bernsteinfarbenen Ton bekommen, und die grünlichen Schatten verwischen die Umrisse. Das Gesicht unseres Vaters scheint sich ganz in der Ferne zu verlieren. Aber diese glatte Stirn, die großen, leuchtenden Augen, die straffen, mageren Wangen, das schwarze, volle, glänzende Haar, das alles gehört zu einem Menschen, der in der Blüte seines Lebens steht.«
»Ja, so ist es,« stimmte Zoë bei.
»Frisur und Tracht sind aus der alten Zeit, wo unser Vater noch jung war. Er trägt das Haar ganz ungekünstelt, hat einen hohen flaschengrünen Kragen an seinem Rock, eine Nankingweste, und die schwarze Krawatte ist dreimal um den Hals geschlungen.«
»Vor zehn Jahren sah man noch manchen alten Herrn mit solcher Krawatte.«
»Ja, das mag sein, aber Herr Malorey trug stets solche Krawatten.«
»Ach, du meinst den Rektor von der Fakultät der Wissenschaften in St. Omer. Der ist ja schon seit dreißig Jahren tot, oder noch länger.«
»Ja, er war über sechzig Jahre alt, als ich noch nicht zwölf Jahre alt war, Zoë, und ich verübte damals ein unerhört kühnes Attentat auf seine Krawatte.«
»Ich glaube, ich kann mich noch an diesen nicht gerade sehr geistreichen Streich erinnern.«
»Sag das nicht, Zoë, denn wenn du dich noch auf dies Attentat besinnen könntest, so würdest du nicht so reden. Du weißt doch, daß Herr Malorey ein starkes Selbstbewußtsein hatte und daß er sich in allen Situationen stets sehr würdevoll benahm. Er beachtete peinlichst alles, was sich schickte. Er hatte eine so köstliche, altmodische Ausdrucksweise. Einmal, als er unsere Eltern zum Essen eingeladen hatte, reichte er selbst unserer Mutter die Schüssel mit Artischoken und sagte verbindlich: ›Noch einen kleinern Hintern, gnädige Frau.‹
Das war sehr zierlich und höflich gesprochen, denn unsere Urahnen sagten nicht: ›das Herz, oder der Boden der Artischoke.‹ Aber schon damals war der Ausdruck veraltet, und unsere Mutter verbiß sich nur mit Mühe das Lachen. Ich weiß nicht, Zoë, wie wir von der Geschichte erfahren haben.«
»Wie erfuhren sie,« sagte Zoë, die dabei war, Vorhänge umzusäumen, »weil unser Vater sie eines Tages erzählte und nicht bemerkte, daß wir zugegen waren.«
»Ja, Zoë, und seitdem konntest du Herrn Malorey nicht sehen, ohne einen Lachanfall zu bekommen.«
»Ach, du hast auch gelacht.«
»Nein, Zoë, darüber habe ich nicht gelacht. Worüber die andern lachen, das finde ich nicht lächerlich, und worüber ich lache, das bringt wieder andere nicht zum Lachen, das habe ich oft beobachtet. Ich habe so meinen Spaß bei Gelegenheiten, wo andere nicht daran denken. Ich bin so ganz gegen den Strich lustig und traurig und mache darum bisweilen einen etwas törichten Eindruck.«
Herr Bergeret stieg auf die Leiter und befestigte eine Aussicht vom Vesuv, ein Ausbruch bei Nacht, ein Aquarell, das er von einem Vorfahren väterlicherseits geerbt hatte.
»Aber von dem Unrecht, was ich Herrn Malorey angetan habe, erzählte ich dir noch nicht, Zoë.«
»Du, Lucien, da du gerade die Leiter hast, befestige doch auch bitte gleich die Gardinenstangen an den Fenstern.«
»Gern,« erwiderte Herr Bergeret. »Wir wohnten damals in einem kleinen Häuschen in der Vorstadt von St. Omer.«
»Die Halter für die Stangen liegen im Nagelkasten.«
»Ja, ich sehe sie schon, das Häuschen lag in einem Garten.«
»Ein reizender Garten,« fiel Zoë ein, »voll Flieder, und auf dem Rasen stand ein kleiner Gärtner aus Terrakotta, im Hintergrund war ein Labyrinth und eine Felsengrotte, und auf der Mauer standen zwei große blaue Töpfe.«
»Ja, Zoë, zwei große blaue Töpfe. Also eines Morgens, es war ein Sommermorgen, kam Herr Malorey, um etwas nachzuschlagen in Büchern, die in seiner und auch in der Stadtbibliothek fehlten. Unser Vater hatte Herrn Malorey sein Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt, der das Anerbieten dankbar annahm. Es war abgemacht, daß er, nachdem er die gewünschten Texte gefunden hatte, zum Essen bei uns bleiben sollte.«
»Ach, Lucien, sieh bitte mal nach, ob die Vorhänge nicht zu lang sind.«
»Gern. Es war erstickend heiß an jenem Morgen. Die Vögel saßen schweigend in den unbeweglichen Zweigen. Ich hockte unter einem Baum im Garten und sah im Schatten des Arbeitszimmers vom Rücken aus Herrn Malorey mit seinen langen weißen Haaren, die über den Kragen seines Rockes fielen. Er rührte sich nicht, nur seine Hand bewegte sich ein wenig über einem Blatt Papier. Darin lag nichts besonderes, denn er schrieb, aber was mir sehr merkwürdig vorkam . . .
»Nun, sind sie lang genug?«
»Nein, es fehlen etwa vier Finger breit daran, liebe Zoë.«
»Was, vier Finger breit? laß sehen, Lucien.«
»Ja, sieh nur. Was mir sehr merkwürdig vorkam, war, daß die Krawatte von Herr Malorey über die Fensterbrüstung hing. Der Rektor hatte, von der Sonne überwältigt, seinen Hals von der schwarzen Seide befreit, die ihn sonst dreimal umwickelte, und die lange Krawatte hing zu beiden Seiten des Fensters hernieder. Mich kam eine unwiderstehliche Lust an, die Krawatte zu packen. Leise schlich ich an der Hausmauer entlang und zog vorsichtig an der Krawatte. Im Zimmer rührte sich nichts, schnell zog ich sie ganz herab, rollte sie auf und versteckte sie in einem der großen blauen Töpfe auf der Gartenmauer.«
»Na, ein sehr geistreicher Streich war das nun gerade nicht.«
»Nein, das wohl nicht, ich versteckte sie in einem der großen blauen Töpfe und bedeckte sie noch sorgfältig mit Laub und Moos. Herr Malorey arbeitete noch lange, ich sah immer seinen gebeugten Rücken und die langen weißen Haare auf dem schwarzen Rock. Dann rief mich das Mädchen zum Essen. Als ich ins Zimmer trat, war ich ganz über alle Maßen überrascht. Da saß Herr Malorey zwischen meinem Vater und meiner Mutter sehr ernst und ruhig ohne seine Krawatte. Vornehm wie immer, ja fast feierlich, aber ohne seine Krawatte. Und das war es, was mich so sehr überraschte. Ich wußte wohl, er konnte sie nicht haben, weil sie in dem blauen Topf steckte, aber ich war dennoch erstaunt, daß er sie nicht hatte.
›Ich kann nicht begreifen,‹ gnädige Frau, sagte er mit sanfter Stimme zu meiner Mutter.
›Aber bitte,‹ unterbrach sie ihn, ›mein Mann wird Ihnen gern eine Krawatte leihen, verehrter Herr Rektor.‹
Und ich dachte bei mir, ich habe sie zum Spaß versteckt, und nun hat er sie allen Ernstes verloren. Und darüber war ich sehr erstaunt.«