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Der Posten der Frau


Es war am Spätnachmittag des dreißigsten Oktober Anno 1757, als ein schon bejahrtes, dünnleibiges, geistliches Herrlein in Schuhen und Strümpfen, das schmale Chormäntelchen von schwarzer Serge über dem spitzen Leibrock vom Rücken niederhängend, in weißgepuderter Lockenperücke und trotz des anhaltenden Regens den kleinen, flachen Hut unter dem Arm, vor der Tür des »Polnischen Hauses« stille hielt, das Wetterdach seines grauleinenen Regenschirmes zuklappte, die beiden französischen Ehrenposten höflich grüßte und durch das offene Portal seinen Eingang nahm.

Das »Polnische Haus« war ein von Gärten umgebenes stattliches Gebäude der kleinen Stadt Weißenfels im Leipziger Kreise, welche Stadt, seit vor mehr als einem Jahrzehnt ihr eigener Herzogszweig erloschen und sie dem kurfürstlichen Mutterstamme heimgefallen war, ein gar verödetes Ansehen trug. Das große Schloß, das auf der Höhe das Städtchen überschwebt wie eine Henne einen Haufen winziger Küchlein, stand unbewohnt, die einzeln hervorragenden herrschaftlichen Häuser, die sich zu seinen Füßen aufgerichtet, um die Hofumgebung zu beherbergen, hatten ihre adligen Insassen meistenteils an die neue, anmutigere Residenzstadt abgetreten, und nur in den Zeiten der Leipziger Meßpassage verbreitete sich noch ein lebhafter Verkehr, der Gastwirten, Fuhrleuten, Vorspännern und dahin einschlagenden Gewerben zeitweisen Ertrag gewährte.

Seit länger als einem Jahre freilich hat ein ununterbrochenes Treiben die friedlichen Bürger wenig zu Atem kommen lassen; – wahrlich kein segenbringendes für Stadt wie Land, dessen Oberhaupt vor den Siegen des großen Tageshelden geflüchtet ist. Das Städtchen teilt das Schicksal einer eroberten und doch herrenlosen Provinz, in welcher keiner mehr weiß, wer Koch oder Kellner sei. Der hochweise Rat macht seine Bücklinge bald nach rechts, bald nach links; die geängsteten Bürger leeren ihre Speicher und Keller heute für den Zieten und Katte, morgen für den Turpien und Lothringer. Glaubt man sich einen Augenblick in Ruhe: wie ein Wetter stehen die Preußen wieder vor den Toren, der Dessauer Moritz, der große König selber ziehen zwischen Erfurt und Torgau hin und wider, bis denn endlich vor ein paar Tagen ein französisches Korps seinen Einzug hält und der Chef der exequierenden Reichsarmee, Herzog von Hildburghausen, auf dem Schlosse seiner weiland Herren Vettern die zeitweise Residenz aufschlägt.

Das Städtchen, vor hundert Jahren noch dicht mit Laubbäumen umwaldet, ist freundlich, von Ost nach West lang gestreckt, am rechten Ufer der Saale gelegen, mit deren erhöhten Rändern und anmutigem Taleinschnitte der Thüringer Kreis, die Kornkammer des Landes, seinen Anfang nahm. Aber diese Kammer, wie kläglich ausgeleert! Die armen Bewohner wissen kaum mehr die Requisition von Feind und Freund zu befriedigen und doch steht man erst am Anfang der aussichtslosen, kriegerischen Verwirrung. Die Pferde genommen, Rinder und Schweine geschlachtet, die Preise zu beispielloser Höhe emporgetrieben, die Kassen entführt, die Felder unbestellt! Das spät und schwer überwundene Drangsal des Dreißigjährigen Krieges, Blut- und Hungerzeiten gleich jenen, da die Leiche des großen Schwedenkönigs im Amthause des Städtchens geruht hatte, da ein andrer Schwedenkönig in der Nachbarschaft einen dem vaterländischen Namen wenig ruhmreichen Frieden diktierte, sie leben wieder auf; man weiß seinem Leibe keinen Rat und blickt mit Zittern in die Zukunft.

Solchergestalt waren nun auch die Gedanken des geistlichen Herrn während des Wegstündchens von seinem jenseitigen Pfarrdorfe gewesen und mancher schwere Seufzer hatte sich seiner Brust entrungen, als er mit aufgespanntem Parapluie, die Zipfel seines Chormäntelchens mehrfach um den den Hut krampfhaft einklemmenden Arm geschlungen, in leichtem Schuhwerk hüpfend von Stein zu Stein, sich mühselig einen Pfad durch den fußhohen Morast der ungepflasterten Straße suchte. Jetzt aber, seit fast einer Viertelstunde sehen wir alle seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, auf Scharren, Decken und Bürsten seine Fußbekleidung zu säubern und in seiner Erscheinung der Ordnung und Nettigkeit des Polnischen Hauses zu entsprechen, das seinen in diesem Punkte etwas zweideutigen Namen aus früheren Zeiten beibehalten hatte, ehe es aus den Händen eines herzoglichen Kammerherrn und polnischen Grafen in die seines gegenwärtigen Besitzers, eines königlich polnischen Kammerherrn und sächsischen Grafen, überging, der, ein junger, flottlebiger Kavalier, für den reichsten Edelherrn des Kreises galt und auf seinem nahegelegenen Stammschlosse der geistliche Patron seines gegenwärtigen Besuchers war.

Eben hatte dieser sein Reinigungsgeschäft einigermaßen zur Zufriedenheit zu Ende gebracht, als er schon wieder in die Lage kam, das ehrwürdige, dünne Haupt freundlich zu neigen, und zwar gegen ein Individuum, das mit kauenden Backenknochen aus der räumlichen Küche im unteren Geschosse ihm entgegentrat. Eine martialische Figur, sechs Fuß drei Zoll, breitschulterig, straff in die Höhe gerichtet, mit kurzgerundetem, schnurrbärtigen Angesicht. Der steif im Nacken hängende, faustdicke Zopf schien so wenig als die Schmarre über der Stirn und der ausgestopfte linke Arm zu dem silberbetreßten Livreeanzuge zu passen, in welchen der stramme Körper eingepreßt war. Der Mann war ja aber auch vom invaliden preußischen Wachtmeister zum schmucken sächsischen Kammerdiener avanciert.

»Wünsche wohl gespeist zu haben, Lehmännchen!« sagte der geistliche Herr mit nachmaligem höflichen Gruß.

»Prosit, Herr Magister!« lautete der Gegengruß.

»Kann Er mir wohl sagen, Lehmännchen, ob ich alleweile unsrer Gnädigen mit meiner Aufwartung zupasse komme?«

»Die gnädige Gräfin sind just beim Putz. Verzeihen der Herr Magister ein paar Minuten, so werde ich rapportieren.«

»Keine Störung, lieber Lehmann; ich kann mich geduldigen. Komme auch lediglich von wegen des Berichtes über unser Junkerchen. Gänzlich zur Zufriedenheit, alter Freund. Sozusagen, quasi munter wie ein Fisch. Also beim Putz; will heißen bei der Toilette. Hm! hm! so spät noch am Tage! Schien mir ja sonsten keineswegs der Kasus bei unsrer Gnädigen. Beim Putz, beim Putz, will mir gar nicht in den Sinn!«

»Sonsten, ja sonsten, Herr Magister,« versetzte unwirsch der Veteran; »aber diese heillosen französischen Windbeutel stellen ja die Welt auf den Kopf! Heute abend ist Ball im ›Scheffel‹. Wie die Preußen da waren, hat sich keine Fiedel gerührt; aber diese vermaledeiten Zierbengel – hole sie alle der Teufel –«

»Sachtchen, sachtchen, Lehmännchen,« unterbrach den Zornigen warnend der fromme Besucher, »gedenke Er an das zweite Gebot. Will mir freilich auch nicht recht in den Kopf, respektive in das alte Herz, diese Festivität; sintemal rings um uns herum ein verwüstetes Land, alles kahl wie eine flache Hand, fort furagiert, fort requiriert, fort ravagiert in Scheune und Stall. Zu Tillys Zeiten kann es nicht grausamer ausgesehen haben. Der heillose Preuße, daß Gott erbarm!«

»Soldaten wollen leben, Herr Magister. Und wer ist dran schuld, als die Franzosenbrut und das pfäffische Reich, die unsern Herrn und König nicht in Frieden lassen?« entgegnete der kriegerische Preuße, indem er mit dieser Anklage den sächsischen Friedensmann nicht zum erstenmal zu einer gereizten Kontroverse herausforderte.

» Unsern Herrn, unsern König, Lehmann?« rief er aus. »Man besinne sich. Wer ist Seiner Kurfürstlichen Gnaden unversehens ins Gebiet gefallen? Wer hat seine geheiligte Person in die Flucht gescheucht, den Landfrieden gebrochen und die Brandfackel zuerst angezündet?«

» Wer hat dem König seine Provinzen rauben, sein Reich klein machen wollen, Herr Magister? Preußen klein machen, Preußen teilen, Herr Magister! Kreuzmohrenschockelement, da müßte ja gleich –«

»Nicht zetern und fluchen, Lehmann! Wie oft muß ich wiederholen: Beherzige Er das zweite Gebot, eventualiter auch das fünfte. Alles unschuldig vergossene Blut kommt über den König!«

»Über den König! Heiligeskreuzdonnerwetter – ich fluche ja nicht, Herr Magister – Schockschwerenot! über den König, unsern Herrn!«

» Unser Herr, Lehmann, unser Landesherr seufzen und beten im fernen Polenreiche, auf daß Recht und Gerechtigkeit wiederkehren.«

» Ihr König vielleicht, der seufzt, Herr Magister, Ihr Herr, der betet, meiner nicht. Ich bin meiner gnädigen Komtesse gefolgt in ihren Ehestand, wie ihr Herr Vater, mein braver Oberst, Gott erhalt' ihn! mir anbefohlen. Im übrigen aber und im Herzen bin und bleibe ich des großen Fridericus allzeit getreuer Soldat und Untertan, und geht die Heidenwirtschaft hier im Lande so fort – hole mich dieser und jener – alle Tage andre Gäste und für jedweden untertäniger Wirt und Knecht. Ziehen die Preußen aus dem Tore, haben wir die Welschen auf dem Halse; hui! wie ein Wetter sind meine Preußen wieder da und wieder fort, und nun kommen Panduren, Schwaben, Kroaten, und fehlen zu guter Letzt nur noch die Kosaken, so ist die Pulle zum Platzen voll. Was haben wir nicht alles hinunterfressen müssen, nur allein in den paar Wochen, die wir vom Lande wieder in die Studt gezogen sind. Kommt der Turpien mit seinem Korps. Zieht mein hochweiser Rat in corpore ihm vors Quartier und schwänzelt und bettelt um Verhaltungsbefehle vor dem bocksbeuteligen Französischen! Herr Magister, und unser Graf – –«

Der geistliche Herr ließ den Zornigen nicht zu Ende reden.

»Nun höre Er auf, Lehmann,« unterbrach er ihn mit Würde; »ich habe Seine Lästereien gelassen mit angehört, sintemal Er sozusagen nach Gelegenheit ein alter Preuße ist und ein jeglicher getreulich zu der Fahne halten soll, der er geschworen hat. Aber seinen Brotherrn verunglimpfen, dieweil er gleichermaßen seine Treue bewahrt –«

»'s kommt nur drauf an, wie er sie bewahrt, Herr Magister,« fiel ihm der unerschütterliche Wachtmeister ins Wort. »Aufrecht und ehrlich Freund wie Feind ins Angesicht, und wenn sie dem Leibhaftigen in Person geschworen wäre, unser Herrgott wird's zu ästimieren wissen. Aber Courage gehört zu der Treue, Herr Magister, Courage!«

»Wolle Er in Erwägung ziehen, Lehmann,« entgegnete ein wenig verlegen der geistliche Anwalt, »daß unser junger Herr Graf nicht vom Kriegshandwerke sind. Au contraire, im Gegenteil: Kammerherr Seiner kurfürstlichen Gnaden von Sachsen.«

Der alte Preuße lachte, zwischen Gift und Lust geteilt.

»Das soll wohl so viel heißen, Herr Magister,« fiel er ein, »daß einem Kammerherrn Seiner kurfürstlichen Gnaden von Sachsen das Herz auf einem andern Flecke gewachsen ist, als andern Christenmenschen, und daß er anstatt der Courage einen Katzenbuckel zeigen darf? Na, wenn's auf die Weise verstanden ist, Herr Magister, meinethalben. – Aber einen hübschen Jux hat's doch noch gegeben mit diesen Französischen, Herr Magister. Schickt mein Turpien, da wir ihn endlich vom Halse haben, ein Kommando von Merseburg und ordonniert, daß sämtliche Armatur und Effekten, so von der Kattschen Winterexpedition noch hiesigen Orts restieren, stante pede an selbiges ausgeliefert werden. Insonderheit drei schwere Coffres mit Geschmeide und kostbarem Silbergerät, so der Leutnant von Itzenplitz von den Leibkürassieren im gräflich von Fink'schen sobenamsten Polnischen Hause zurückgelassen habe. Bei Konfiskation von des Hehlers Vermögen. Ein preußischer Leutnant und drei Coffres voll Preziosa! Ein Maul hätt' ich dem Spaßvogel geben mögen, der den Schabernack ausgeheckt hat. Allein meinem Hochweisen ist kein Spaß allzu dumm. Eine Deputation, den Herrn Bürgermeister in persona an der Spitze, gefolgt von dem ganzen Kommando, macht sich ernsthaftiglich auf die Socken hinter den Rohrdamm ins Polnische Haus. Die Frau Gräfin schreien Zeter, 's war ein anvertrautes Pfand, und sie ist eine Preußin, Herr Magister.«

»Mein Herr Graf, liebes Kind wie allzeit, schleppt mit eignen Händen den Koffer – denn 's war nur einer, Herr Magister, und ein ganz kleiner obendrein – hier in den Saal. Ich rühre mich nicht und lache mir in die Faust. Ein ellenlanges Protokoll wird aufgesetzt, das große Amtssiegel druntergedruckt, das Köfferchen feierlichst aufgeschlossen, und was für Preziosa ziehen die Hochweisen an das Licht? Einen abgeschabten, alten Pelz, eine weiße Lederhose, ein paar zerrissene Reiterstiefel und sorgfältig eingewickelt, hahaha! ja nun kommt's, Herr Magister, sorgfältig eingewickelt – das Konterfei einer alten Frau. Hahaha, einer alten Frau!«

Der grimmige Franzosenfeind rieb sich vor Vergnügen in der Erinnerung den Bauch mit seiner einen Hand. Der geistliche Herr aber wiederholte gerührten Blickes: »Das Konterfei einer alten Frau! Vielleicht der Frau Großmutter des jungen Herrn Offiziers! Ich hoffe, daß es gebührentlich in Ehren gehalten worden ist, Lehmännchen, maßen es mir eine absonderliche Hochachtung zu dokumentieren scheint, wenn ein kriegerisches Blut eine alte Dame in effigie mit sich in die Kampagne führt.«

»Ja, eine junge in natura ist ihm gemeiniglich lieber,« versetzte der Invalid. »Insonderheit diesen Französischen. Da ließe sich was von Gottes Wort berichten, Herr Magister. Das greift um sich wie die Pest, Freund oder Feind. Haben wir da im Hause einen französischen Herzog. Ein Mann wie ein Bild, das muß man ihm lassen. Und auch anderweitig ein Kavalier, er könnte ein Preuße sein, Herr Magister. Warum er aber nicht lieber oben auf dem Schlosse bei dem Hildburghausen logiert –«

»Halte Er ein, Lehmann,« unterbrach ihn, sich in die Höhe richtend, der geistliche Herr mit großem Ernst. »Halte Er ein und hüte Er seine sträflichen Gedanken. Derlei Erörterungen gehen Ihn wie mich nichts an. – Wolle Er alleweile so gut sein, mich bei der Gnädigen anzumelden.«

Aber der alte Preuße machte keine Miene, die gute Gelegenheit, seine Galle einmal auszuschütten, leichten Kaufes fahren zu lassen.

»Gleich, gleich, Herr Magister!« versetzte er. »Aber einen hundsföttischen Zug muß ich Ihnen doch noch zu wissen tun. Von wegen der Federbetten und den Hildburghausenschen; ich meine von denen draußen aus dem Reich, da wir sie ins Quartier kriegen taten. Mit denenselbigen sind freilich weniger Sperenzien gemacht worden, als mit den feinen französischen Mosjös. Federbetten! Federbetten! Für die Mosjös, à la bonne heure! Keine Daune wäre unserm Grafen für die weich genug gewesen! Aber das Gezeter hätten Sie hören sollen, Herr Magister, vom Herrn Hausinspektor an bis zum Stubenmädchen hinab, das Gezeter, da nun auch die Deutschen aus dem Reich partoutmente Federbetten verabfolgt haben wollten. Federbetten! Federbetten! Das fremde Gesindel! – Na, natürlich blieben sie auf der Streu; denn mit gewissen kleinen Angelegenheiten, die sie mit sich führen – Sie verstehen mich schon, Herr Magister – da hat es seine Richtigkeit. – Die Galle ist mir aber doch bei der Geschichte geschwollen, Herr Magister. Denn warum? Die armen Teufel auf der Streu, die reden doch deutsch wie unsereiner, aber aus dem Mundwerk von denen, die sich in unsern Federbetten wälzen, da ist noch keine Christenseele klug geworden. Na, sehen Sie, Herr Magister, so gibt es alle Tage was Neues und niemalen was Gutes. Aber wartet nur, wartet! Das Blatt wird sich wenden und eure Herrlichkeit ehestens im Platzen sein. Er kommt! Er kommt.

Und wenn mein König Friedrich kommt,
Und klopft nur auf die Hosen,
Da läuft die ganze Reichsarmee,
Panduren und Franzosen!«

Der geistliche Herr drohte lächelnd mit seinem dünnen Zeigefinger. »Lehmännchen, Lehmännchen,« sagte er, »Er ist ein arger Versifex, aber Er könnte gar leicht ein schlechter Prophete sein. Sein König soll nur ein armselig abgehetztes Häuflein bei Leipzig zusammengetrieben haben nach seiner grausamen Niederlage bei Kollin. Die alliierten Armeen stehen ihm vierfältig gerüstet gegenüber; fast ganz Europa ist wider ihn, was dann, Lehmann, was dann?«

»Was dann, Herr Magister?« antwortete der Preuße auf einmal ganz ernsthaft, »was dann? Der im Himmel weiß es. Aber Preußen und sein König bleiben doch oben, das weiß ich. – Horch! da kommen der Herr Herzog in den Hof gesprengt. Ich will anjetzo gehen und Sie der Frau Gräfin melden, Herr Magister.« –

Wir haben zu berichten versäumt, daß dieses politische Wortgefecht keineswegs im untern Flur des Polnischen Hauses zu Ende geführt worden war, sondern sich Schritt für Schritt die Treppe hinauf bis in den großen Empfangssaal gezogen hatte. Der martialische Kammerdiener klopfte jetzt an die Tür eines Kabinetts, in welchem seine Gebieterin just mit dem Puderbeutel ihre Toilette vollenden ließ. Sie sprang hastig in die Höhe, und den Peignoir beiseite, einen Blick in den Spiegel werfend, fragte sie das die Tür öffnende Kammerkätzchen: »Der Herr Herzog, Lisette?«

Der Herr Magister stutzte bei dem gespannten Tone dieser Frage, die Zofe aber antwortete mit einem spöttischen Lächeln: »Nein, der Herr Magister, gnädige Gräfin.«

Gräfin Eleonore war eine anmutige, stattliche Dame von höchstens vierundzwanzig Jahren, deren schlanken Wuchs und vornehme Haltung der modisch reiche Anzug von weißem Silberbrokat, wie die Rosengarnierung im hochgetürmten Toupé gar vorteilhaft hoben. Sie hatte mit Recht für die schönste Frau an dem in Deutschland noch immer schönheitskundigsten Hofe von Sachsen gegolten, daher man ihrem Liebreiz sogar die offen an den Tag gelegte, aus der Heimat herübergebrachte Anhänglichkeit, sowie die gegen die sächsische Biegsamkeit verstoßende, kurz angebundene preußische Art und altväterische Sittenstrenge zugute hielt.

Sie betrat den Saal. Der geistliche Herr machte seine untertänige Reverenz, während seinem kleinen, grauen Auge kein Zeichen einer ungewohnten Zerstreuung und lauschenden Unruhe der schönen Hauswirtin entging.

»Sie bemühen sich selbst, Herr Prediger;« mit diesen Worten begrüßte sie ihn, »wie gütig von Ihnen bei dem üblen Weg und Wetter.«

»Ganz laulicht die Luft,« deprezierte der Angeredete, mit vorgehaltenen Händen und wiederholten Verbeugungen, »und es trippelt ja nur ein kleines winzchen, Gnädigste.«

Die Dame lächelte. »Sie freundlicher Sachse,« sagte sie, »selbst das Wetter möchten Sie entschuldigen!« Sie warf einen Blick nach dem Fenster, einen zweiten nach der Tür zurück und fügte darauf hinzu: »Aber Sie bringen mir Nachricht von meinem Knaben. Er war fröhlich, als Sie ihn verließen, Herr Prediger?«

»Munter und lustig, wie ein Schmerlchen im Bächelchen; Gott behüt' ihn, gnädige Gräfin!« berichtete der geistliche Herr.

»Gut, daß das Kind auf dem Lande geborgen ist,« versetzte die schöne Frau, »solange ich durch die Anwesenheit unsrer fremden Gäste –«

Sie stockte, denn der Herr Magister räusperte sich und senkte sein Auge zu Boden; nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Und durch den Wunsch des Grafen an unser unruhiges Treiben gebunden bin.«

Gräfin Eleonore, deren jugendfrische Wangen das modische Schönheitsmittel der Schminke nicht bedurften und die eine leise Verlegenheit, oder Scham, oder was sonst das Blut in ein Angesicht treiben mag, niemals verleugnen konnte, errötete bei diesen Worten unter einem Blicke, den ihr geistlicher Sorger einen Moment rasch zu ihr in die Höhe schlug und, selber errötend, ebenso rasch wieder fallen ließ. Ihre großen, blauen Augen ruhten eine Weile prüfend auf dem kleinen, faltigen Gesicht ihr gegenüber; beide schwiegen; dann strich sie mit der Hand über die Stirn, setzte sich und gab ihrem Besucher ein Zeichen, das gleiche zu tun, indem sie, mit ihren Gedanken offenbar weit anderwärts, eine Frage nach seinem Wohlbefinden an ihn richtete.

Magister Gutfreund ließ sich an, die Mutmaßung eines möglichen Wohlbefindens seiner- oder irgendwelcherseits unter dem Kreuze, das Gottes grausame Geißel über diese Gegend verhängt habe, des weitläufigsten von sich abzuwehren, sah sich aber gezwungen, den Ausfluß seiner Entrüstung wie seines Erbarmens vor der Zeit zu hemmen, denn die Dame, nach einigen ungeduldigen Blicken auf die Pendüle, erhob sich und fiel ihm mit einer lebhaften Erklärung in die Rede, die seinen politischen Antagonismus, wie vorhin in dem Gespräche mit dem Wachtmeister-Kammerdiener, in die zeitläufige Bahn führte.

»Sie sind im Begriffe,« sagte sie, »unsern alten Disput zu erneuern, Herr Prediger, wenn sich mit einem so frommen Herrn wie Sie überhaupt disputieren läßt. Sie sind ein alter Sachse. Ich bin eine Preußin. Auf Ihren Boden verpflanzt, kann ich von meiner heimischen Liebe, von dem Glauben an meinen Helden und König so wenig lassen, als Sie von Ihrer angestammten Treue. Sie trauern um einen schutzlosen Herrn, ich halte mich an den Anker eines emporstrebenden Vaterlandes. Sie in Ihrem beschränkten Kreise seufzen über die eingeäscherten Hütten, ich, die ich an dem Hofe Ihres Brühl, und leider nicht an diesem allein, eine ungeahnte Fäulnis wahrgenommen habe, ich preise den Sturmwind, welcher das reinigende Element über verrottete Stätten trägt, und ich danke dem Himmel, der dieses Feuer von einem Helden ausströmen läßt« –

»Von einem Tyrannen, Frau Gräfin!« unterbrach sie der Magister, an der Stelle berührt, an welcher auch er widerborstig wurde.

»Wer damit anhebt, sich selber zu beherrschen, Herr Prediger,« versetzte die Dame mit Würde, »der ist kein Tyrann und hat das Recht, strenge Maßregeln zum Heile einer großen Idee zu verhängen.«

»Ein Usurpator, ein Rebell auf dem Thron!« rief eifernd der Sachse, – »ein Zerstörer geheiligter –«

»Geheiligter Mißordnung, – sei es darum!« entgegnete Gräfin Eleonore. »Auch die Sonne rebelliert gegen nächtlichen Dunst. Aber wie gesagt: meiden wir einen Gegenstand, über welchen wir uns niemals einigen werden. Wir wollen schweigend respektieren, was uns aneinander unbegreiflich scheint. Ist das Edelste im Menschen doch die Treue gegen das, was er liebt und was er seiner Verehrung würdig hält.«

Sie war während der letzten Worte mit einer erwartungsvollen Miene an das Fenster getreten; die Blicke des geistlichen Freundes folgten ihren unruhigen Bewegungen; er schüttelte den Kopf, ein sorgenvolles »Hm, hm!« entglitt seinen Lippen, seine Gedanken hatten offenbar eine andre Richtung genommen.

»Sie sagten etwas, mein Herr?« fragte die Gräfin, auf ihren früheren Platz zurückkehrend.

»Um Vergebung, ich wollte etwas sagen, Frau Gräfin,« versetzte der Prediger, das Auge fest auf sie geheftet, »ich wollte sagen, die Treue nicht gegen das, was er verehrt und was er seiner Liebe für würdig hält – –«

»Nun doch wohl nicht gegen das, was er ihrer unwürdig hält?« wandte lächelnd die Dame ein.

»Das wollte ich just nicht sagen, gnädige Frau.«

»Und was sonst, Herr Prediger?«

»Ich wollte sagen,« erklärte der Magister mit Entschiedenheit, »die Treue schlechterdings, die Treue in unsrem von Gott verliehenen Amt.«

»Und wäre es nicht unsres Amtes, unsres innerlichsten, gottvertrauten Amtes, beharrlich bei dem Guten und Kräftigen zu stehen und das Schwache und Böse entschlossen von uns abzuwehren?«

»Unter Umständen nein, gnädige Frau. Denn wäre sonst die Treue eine Tugend und die Liebe ein Opfer? Unser Herr und Heiland hat sein teures Blut nicht vergossen für die Engel und reinen Geister des Himmels, sondern für uns arme Schwache und Sünder, denen sein göttlicher Vater ihn als Anwalt auf die Erde entsendet hatte.«

Gräfin Eleonore maß ihren Besucher mit einem langen verwunderten Blick. Was heißt das? – mochte sie denken. Er hat auf einmal den Tyrannen Friedrich samt allem sächsischen Kram seiner Umstandswörter vergessen und steuert direkt auf einen Zweck – aber auf welchen?

Der würdige Mann ließ sich indessen durch der Dame erstaunte Miene nicht irremachen, sondern fuhr eifrig und unerschrocken in seiner Rede fort: »Und desselbigengleichen sollen wir armen Schwachen und Sünder treulich erfunden werden nicht nur gegen die Guten und Starken, nicht nur nach Freiheit und Neigung, sondern auf jeglichem Posten, auf welchen der Herr uns gestellt, in erster Ordnung aber da, wo wir einen Schwächeren zu vertreten haben. Insonderheit, – nach Gelegenheit –«

Er stockte vor der Nutzanwendung, die nun folgen mußte.

»Weiter, weiter, mein Herr!« rief die Gräfin.

»Insonderheit,« nahm er zögernd wieder das Wort, »insonderheit die Frau Gräfin, – nämlich – eine Mutter, will sagen – das weibliche Geschlecht – –«

Die schöne Frau erhob sich rasch und zog die Klingel. »Ich bedaure, Sie unterbrechen zu müssen, mein Herr,« sagte sie mit einem Ton, den ihre sächsischen Freunde »preußisch« nannten. – »Es gilt ein Ballfest, das der Graf arrangiert hat. Schnell anspannen und den Herrn Prediger nach Hause fahren lassen!« setzte sie, gegen den eintretenden Lehmann gewendet, hinzu.

Der gute Magister hatte, mit einer Reihe untertänigster Bücklinge den Rückzug nehmend, seine aufdringliche Kühnheit zu entschuldigen gesucht. Jetzt, schon unter der Türe, galt es, noch eifrig gegen die beabsichtigte Heimführung zu protestieren.

»Beileibe nicht diese Umstände, Gnädigste,« sagte er, »das winzige Endchen legt sich ja weit kommoder zu Fuße zurück.« Und als seine Gönnerin bei ihrem Anerbieten beharrte, die einbrechende Nacht und den strömenden Regen in Erwägung ziehend, setzte er mit fast ängstlicher Entschuldigung hinzu: »Meine Gewohnheit, in der Dämmerung lustzuwandeln, Gnädigste, und draußen lehnt mein Parapluie. – Lasse Er das Fuhrwerk in Frieden, Lehmännchen. In Wahrheit, ich müßte mich ja schämen, so vielerlei Gliedmaßen an Menschheit und Vieh zu molestieren, lediglich um meinem alten Leichnam eine Güte zu tun. Insonderheit alleweile, wo der Beladenste sich nicht schonen darf und der gottlose Preuße selber die Gespanne geraubt hat, um notdürftig den Acker für die Wintersaat zu bestellen.«

Mit diesem letzten Worte gegen den grausamen Reichsfeind und mit nochmaliger Reverenz war er, gefolgt von dem Kammerdiener, aus dem Saale verschwunden. Die Gräfin blickte ihm mit einem Ausdrucke fast von Rührung nach. »Er ist mitunter ein wenig langweilig, der gute Magister,« sagte sie zu sich selbst, »unbescheiden aus überflüssiger Bescheidenheit, aber doch – wie wenige gibt es seinesgleichen!«

Sie ging einige Male mit hastigen Schritten im Zimmer auf und nieder, zog dann noch einmal die Klingel und fragte, ob der Graf zurück sei.

»Noch nicht retour, Frau Gräfin,« antwortete der Kammerdiener.

»Und der – Herr Herzog?«

»Sind retour, Frau Gräfin.«

Der Diener entfernte sich, sie blieb allein. Die Beredsamkeit ihres alten geistlichen Freundes kam ihr wieder in den Sinn. Daß ein Mensch so richtig handeln und so viel unnütze Worte machen kann! so hatte sie sonst gesagt, wenn ihr, der Kanzel oder seinem Privatgespräche gegenüber, wiederholentlich die Geduld gerissen war. Er ist zum Redner verdorben, der gute Magister, er sollte auf einem andern Platze stehen. Heute zum erstenmal wurde sie mit Herzklopfen inne, daß der Mann doch wohl auf geeignetem Platze stehen und daß er, ein scharf und fein blickender Seelsorger, im rechten Momente auch die rechten Worte finden möge. »O, er spürte die Lüge,« flüsterte sie, »er sah mein Erröten. Mein Mann, sagte ich, wünschte meine Nähe, mein Mann hielte mich fern von meinem Kinde und von meiner Pflicht? Und wenn er es täte, wenn er einen Willen zeigte, einmal einen Willen, und wäre es einen sträflichen Willen –«

Sie vollendete die Frage nicht und blieb sich die Antwort darauf schuldig, indem sie mit Gewalt eine peinliche Erörterung zu bannen suchte. Sie ging noch einige Zeit unruhig im Saal auf und nieder, setzte sich dann und versank, den Kopf in die Hand und den Fuß auf das glänzende Gitter vor dem Kaminfeuer gestützt, in rückschauendes Sinnen.

Die Bilder ihrer frühen Jugend zogen an ihrem Auge vorüber. Sie sah sich wieder fern am Ostseestrande, ein einziges, einsames, mutterloses Kind, unter den Augen des ernsten, strengfordernden Vaters, des Kameraden Leopolds von Dessau; unter dem ersten Schimmer der über ihrem Lande aufsteigenden Heldensonne. Alle Erinnerungen ihres Stammes, alle Sagen ihres heimischen geistlich-ritterlichen Bodens, alle monumentalen Reste der Größe, alle Träume und Wünsche des jungen Herzens knüpften sich an kühne Fahrten und Taten; die rege Phantasie verklärte den preußischen Zopf zu einer ritterlichen Lockenmähne, das Blut prickelte ungeduldig in den Pulsen über Zinzendorfs Schriften und der lateinischen Grammatik des steifen Informators; mit Gier wurden die spärlichen Märchen und Minnelieder verschlungen, welche die ungünstige Zeit zu Tage förderte, die Welt der Träume wimmelte von kühnen Recken und Reisigen, und den kühnsten von allen, den tapfersten Ritter erkor sich die verlangende Phantasie zum Herrn. Nur einem Helden wollte die Heldentochter angehören. Und doch wurde sie die Gattin dieses Mannes, wurde es aus freiwilliger Neigung, ja fast der väterlichen Mahnung zum Trotz. Hatte sie ihn geliebt? Glich er ihrem ritterlichen Ideale? Er stand vor ihr jung, schön, galant, ein froher Geselle, wie er ihrer Jugend gefehlt hatte, ein schmucker Kavalier, der ihrem Auge wohl gefallen durfte; ein Edelmann aus altem Stamm, das hieß ein Mann von Ehre und Adel nach ihrer Väter Glauben. Sie war zum erstenmal in der Hauptstadt, als er ihr huldigend gegenübertrat, hatte den ersten Blick getan in die wirkliche Welt und zu ahnen begonnen, daß sie bis heute geträumt. Sie wähnte sich im Erwachen. Und dieses Erwachen zog sich durch Jahre ungeahnten Genusses und neuer Herrlichkeiten, an dem glänzendsten Hofe von Deutschland, in einer reizvollen Gegend, unter Gebilden der Kunst, unter Festen und Huldigungen, tändelnden Männern und üppigen Frauen, unter den verlockenden Heroldsrufen eines Voltaire und Rousseau; ein goldener Morgen! wie hätte er ihre Sinne nicht blenden, nicht ihre Heldenbilder verdunkeln sollen in seinem grellen Kontraste gegen den kahlen heimischen Strand? – Doch jählings, der Griff eines Helden in diese gleißende Welt, und welche Kehrseite des anmutigen Bildes! Das, was so schön schien, wie verblichen, und die verblichenen Träume, ach, wie so schön! Und der, welcher ihr Hort und Führer sein sollte in dieser streitenden Welt, der, dessen Lächeln sie geweckt hatte aus ihren Kinderträumen, der froh lächelnde Mann auch heute noch, ihr Mann, der ihre – –

Sie fuhr in die Höhe und machte in heftiger Bewegung einen Gang durch das Zimmer. »O, daß er ein Mann wäre!« rief sie aus, »daß er aufbrauste in diesem Wettersturme, daß er ein Schwert ergriffe, und wäre es gegen mein eigen Blut! Armseliger Mann, er spottet meines Preußen, denn er liebt, nein, er kennt kein Vaterland! Gottlob! daß du mir leuchtest, glorreicher Stern über meinem Volk! Ja, ja, es gibt noch Helden und nur die Ritter meiner Träume, des Herzens Ritter, ihre Zeit lief ab! Alle, alle?« flüsterte sie, indem sie sich auf ihren früheren Platz zurücksetzte und eine neue Erscheinung sich dem inneren Blicke entgegendrängte. Der fremde Gast ihres Hauses, der Gegner ihres Königs, ihres Gatten Freund, – er, dessen Ahn der Schild der Ehre hieß –?

»Seine Durchlaucht, der Herr Herzog von Crillon!« – rief, die Flügeltüren auseinanderschlagend, der Wachtmeister-Kammerdiener.

Der Gemeldete, der noch junge, schöne Maréchal de camp, Herzog von Crillon, der Meldung auf dem Fuße folgend, trat mit raschen Schritten auf die Dame zu, deren Hand er an seine Lippen zog und die er mit schmeichelnder Entschuldigung begrüßte:

»Ich bin ein Egoist, Madame,« sagte er, »der mit den Augenblicken geizt, in welchen ihm die holdeste Nähe vergönnt ist. Aber ich störe. Sie waren in Gedanken, Frau Gräfin?«

»Ich träumte nur ein wenig, Herr Herzog,« entgegnete Eleonore lächelnd, indem sie auf einen Sessel an ihrer Seite deutete, »weil ich allein, zwischen Putz und Tanz, just nichts Besseres zu tun wußte.«

»Und von was, von wem träumten Sie, schöne Frau?« fragte Herr von Crillon, Platz nehmend.

»Ich träumte von einem Helden, Herr Herzog,« antwortete die Dame mit einem Anflug schelmischer Koketterie, der zu dem Stil ihres Wesens im Grunde wenig paßte.

»Von Ihrem Helden, Madame? Ihrem Einzigen! Immer nur ihm!« rief der galante Franzose. »Glückseliger Preußenkönig, beneidenswert, dem Hasse einer Welt zum Trotz.«

»Sie irren, mein Herr,« versetzte Eleonore. »Ein Traum hat nicht eine so präzise Gestalt und König Friedrich schickt sich gar wenig zu einer Erscheinung, welche einer Frau in der Dämmerstunde aufsteigt; er ist der Held des Tages, der Held des Lichtes und des Gedankens. Mein Träumen war mehr eine Grübelei. Was macht den Helden, Herr Herzog?«

»Der Mut und die Treue, Madame,« sagte Herr von Crillon.

»Die Treue?« wendete die Gräfin ein wenig verwundert ein, »die Treue gegen wen?«

»Wenn er ein König ist, die Treue gegen sich selbst, wenn er ein Edelmann ist, die Treue gegen den König.«

»Und wenn er von beiden keines sein sollte, mein Herr?«

»Dann weiß ich von keinem Helden, Madame.«

»Begnügen wir uns dann mit denen, von welchen Sie wissen, Herr Herzog,« versetzte Eleonore mit einem Anflug von Spott, »und setzen wir den Fall, daß der König eines Edelmanns ein Schwächling wäre, wie dann, mein Herr?«

»Dann bindet die Ehre die Treue auch an den Schwachen und macht ihn stark,« versetzte Herr von Crillon mit Würde. Darauf aber zu seinem leichteren, verbindlichen Ton zurückkehrend, fügte er hinzu: »Madame, Ihr König, schwach zur Stunde, ein Schwächling ist er nicht, dafür sei Gott; Sie aber sind eine Heldin, schöne Frau, um der Treue willen, mit welcher Sie zu ihm stehen, im eignen Haus, im eignen Land, wider eine feindliche Welt, und ich beklage es, ja, ich beklage es, in einem wenig ruhmvollen Kampfe auch Ihr Antagonist geworden zu sein.«

»Ei, ei, Herr Herzog, wie soll ich diese plötzliche Entmutigung deuten?« fragte die Gräfin mit neckendem Augenstrahl.

»Entmutigung? Sie lächeln selber, Frau Gräfin,« entgegnete der Herzog. »Mut ohne Widerstand hieße sein Gegenteil. Ihrem starken, siegreichen König halt zu gebieten, wäre uns eine Ehre gewesen. Den Geschlagenen, Bedrängten, Verzweifelnden übermächtig noch einmal anzugreifen, dünkt mich nahezu eine Schmach für den französischen Namen.«

»Hoffen Sie denn mit mir, daß Sie die Angegriffenen sein werden, Herr Herzog?« versetzte die Gräfin mit dem Tone eines ernstgemeinten Scherzes, daher ihr Gegenüber es denn auch an einer eifrigen Zurechtweisung nicht fehlen ließ.

»Es wäre Tollmut, – Desperation, schlimmer: es wäre Torheit, Madame. Diese ärmlichen, müdegehetzten Trümmer von Kollin gegenüber einer französischen Armee! Wir zögern, wir schonen ihn, – seinen deutschen Feinden zum Trotz, er sieht es; wir gönnen ihm Zeit zu unterhandeln, und ich ehre Ihren König, den Zögling französischer Weisheit, zu hoch, um zu wähnen, daß seine Bravour der einfachsten Logik Hohn sprechen und selbstmörderisch seinen tapfer begründeten Ruhm dem Gelächter Europas preisgeben sollte.«

»Oder auch ihn unsterblich machen!« entgegnete die Preußin stolz, setzte aber nach einer kleinen Pause lächelnd hinzu: »Ein Disput des Blinden um die Farbe, nicht so, Herr Herzog? Was versteht eine Frau von Helden und Heldentum?«

»Sie versteht sie zu ehren, sie versteht es zu lohnen, Madame,« erwiderte der ritterliche Franzose. »Was helfen Ihrem König seine Siege, wenn, wie man sagt, nicht die Hand einer schönen Frau den Kranz auf seine Stirn drückt?«

Er zog während dieser Rede die Hand der Dame an seine Lippen, just als der rechtmäßige Besitzer dieser Hand in das Zimmer trat. Die Huldigung seines Gastes in Wort und Bewegung konnte ihm so wenig als das Erröten der anmutigen Wirtin entgangen sein, auch preßte er einen Moment die schmalen, purpurroten Lippen ärgerlich übereinander. Schnell jedoch hatte er sich besonnen, daß sächsische Lebensart französischer Feinheit und Freiheit nichts nachgeben dürfe, und mit einer arglosen Kourtoisie, die man andrer Zeit und andern Orts vielleicht Frivolität genannt haben würde, verbeugte er sich nach beiden Seiten und rief: – »Glücklich retourniert, mon duc? Und Sie, teure Eleonore, Ihre Migräne zu rechter Zeit überwunden? Scharmant, ganz scharmant!«

»Migräne, Moritz?« fragte seine Gemahlin äußerst verwundert.

»O, diese böse, plötzliche Plage, Migräne!« entgegnete der gewandte Herr, die Achseln zuckend. »Hatte ich doch kaum noch gehofft, Sie auf dem Balle zu begrüßen, Teuerste. – Sie werden sehr nachsichtig sein müssen, Herr Herzog. Ein Impromptu, ein ärmliches Landstädtchen! Wahrhaftig, wir müßten uns schämen, wenn wir nicht hoffen dürften, bald an würdigerer Stätte Ihnen die Honneurs unseres Landes zu machen und zu zeigen, daß wir aufmerksame Zöglinge des Ihrigen gewesen sind.«

»Die Schönheit adelt die bescheidenste Stätte,« entgegnete Herr von Crillon mit ehrfurchtsvoller Reverenz gegen die Dame.

Sie machte lächelnd eine leichte, ihr Eheherr, gleichfalls lächelnd, eine tiefe Verbeugung gegen den Galanthomme, als der Kammerdiener eintrat und die bereithaltende Sänfte der Frau Gräfin ankündigte. Herr von Crillon verließ rasch das Zimmer, einen augenblicklichen Aufschub erbittend; der Graf aber nach einem scheuen Rundblick sagte, hastig auf seine Gemahlin zutretend, mit flüsternder Stimme: »Du wirst nicht auf den Ball gehen, Eleonore.«

»Nicht auf den Ball gehen, Moritz?« versetzte sie verwundert, indem sie den goldenen Fächer von dem kleinen, kunstvoll aus Schildkrot geschnitzten »Tresorchen« herunterlangte.

»Du wirst nicht gehen, sage ich.«

»Ich verstehe Sie nicht, Graf.«

»Nichts Verständlicheres, sollte ich meinen, Gräfin, als die Galanterien, den Affront dieses Franzosen, sich nicht unter den Augen aller Welt gefallen lassen zu wollen.«

»Nichts Verständlicheres, sollte ich meinen, Graf, als einen galanten Affront – gesetzt, daß es sich um einen solchen handelt, sich am wenigsten unter seinem eignen Dach gefallen zu lassen, und den, welcher ihn uns zufügt, mit allen Zeichen der Ergebenheit zu überhäufen.«

»Er ist ein Franzose, ein Freund, ein Gast.«

»Und Sie sind sächsisch-polnischer Kammerherr, allerdings. Indessen, Sie haben mich nun einmal in Gegenwart dieses Ihres Gastfreundes zu diesem Feste ihm zu Ehren eingeladen –«

» Façon de parler, Scherz – –«

»Schade, daß ich Ihren Ernst so wenig habe kennen lernen, um diesen Scherz nicht für Ernst zu nehmen, und daß ich nun keinen Grund sehe, der eine so späte Korrektur der Auffassung rechtfertigen würde.«

»Eine Frau braucht keine Gründe für einen veränderten Entschluß. Einfälle, Zufälle, Launen, Vapeurs, – eine Migräne sind ihre Räson.«

»Nicht die meine, Graf; und bei der meinen werde ich beharren, bis Sie mir in Ihres Freundes Gegenwart durch Ihren ausgesprochenen Willen eine triftigere aufnötigen.«

»Und mich ridicule mache, als deutscher Lustspiel hobéreau! Ich danke Ihnen, Frau Gräfin, ich danke viel tausendmal!«

»Nun, auch ich habe keine Lust, mich lächerlich zu machen, und darum auf Wiedersehen in der Menuett, Herr Graf.«

Mit dieser Schlußerklärung und einer spöttischen Verbeugung wendete die stolze Dame sich nach der Tür; der gereizte Eheherr aber schien nicht geneigt, als Überwundener auf dem Kampfplatze sich mit dem Nachsehen zu begnügen. »Lore, du bleibst!« rief er aufgebracht, sie bei der Hand zurückhaltend. Da aber just der Urheber seines Unwillens in den Saal zurückkehrte, führte er diese Hand mit bewundernswerter Fassung in tändelnder, ehemännischer Laune an seine Lippen. Seine Gemahlin entzog sie ihm rasch mit verächtlicher Miene; unwillkürlich strich sie mit den Kanten ihres Taschentuches darüber hin, als ob sie die Spuren heuchlerischer Feigheit von ihrem Körper löschen wollte.

Herr von Crillon war unterdessen näher getreten, der schönen Frau mit einer schmeichelhaften Apostrophe, würdig eines Voltaire, leider aber unsrer Kenntnis verbaliter nicht aufbewahrt, ein Bukett feinster, den natürlichen gleich duftender Pariser Blumen darbietend. Stumm, geteilt zwischen Verlangen und Verlegenheit, zögerte sie, es entgegenzunehmen, bis der Gemahl lächelnd mit der glücklichsten Unbefangenheit die Mittlerrolle ergriff und, nicht ohne obligate Verbeugung gegen den Geber, es aus seiner Hand in die ihre legte. »Mit dem Schwert in der Hand, oder mit dem Minnezeichen,« rief er aus, » preux chevalier und seines Sieges gewiß.«

Noch war der allseitige Dank und Gegendank für dieses kavaliere Impromptu in tiefen Reverenzen nicht erledigt, als der Kammerdiener von neuem auftrat, die harrende Equipage des Herrn Grafen anzumelden. Der Herzog faßte die Fingerspitzen der Dame, sie ihrem Vehikel zuzuführen, der Eheherr blieb einen Moment im Saale zurück, den sich Entfernenden einen Blick nachschleudernd, so grimmig als es seinem im Grunde ziemlich harmlosen Augenpaare möglich schien.

»Sie trotzt mir,« murmelte er. »Nun denn Trotz gegen Trotz, Madame. Noch ist es Zeit! Glücklicher Zufall, daß ich die Kundschaft oben bei dem Hildburghausen attrapiert habe. – Die Garnison rückt in der Frühe über den Fluß. Zurück, immer wieder zurück, dieser Soubise. Aber diesmal mir erwünscht. – Am Nachmittag brechen wir auf nach Dresden, nach Warschau, wenn es sein muß, sie darf, sie soll diesen Franzosen nicht wiedersehen.«

Befriedigt lächelnd folgte er den Vorangegangenen und langte im Hausflur an, als eben die vergoldete Portechaise seiner Gemahlin aus derselben getragen ward. Gast und Wirt bestiegen alsobald die bereitstehende Karosse und fuhren einmütig selbander zu dem Feste, das zu Ehren der fremden Freunde und Erretter gefeiert werden sollte. In kaum einer Minute standen sie, des überholten Tragsessels harrend, in der Torfahrt zum »goldenen Scheffel«.

Die Kultur in unserm Städtchen war vor mehr als hundert Jahren keineswegs so weit gediehen, um auch die Propyläen einer Ergötzlichkeit einer Dekoration bedürftig zu erachten. Der unverdeckte Rinnstein floß inmitten eines halsbrechenden Pflasters, der Blick in einen morastigen, mit Schuppen und Karren gefüllten Hof lag frei geöffnet, die Düfte nachbarlicher Ställe mischten sich mit denen des Wildbratens und polnischen Karpfens, mit dem Bier und Tabaksqualm, die aus Küche wie Schenkstube drangen. Der kurfürstliche Kammerherr bemerkte und erwiderte achselzuckend das epigrammatische Lächeln seines hohen Gastes von der Seine, dabei aber verneigte er sich höflich grüßend nach allen Seiten, reichte den eintretenden Huldinnen des Kreises seinen Arm zum Geleit bis an die Treppe, welche nach dem Tanzsaal im oberen Stockwerke führte, erinnerte die stattliche Gemahlin des Herrn Amtshauptmanns an ihre Zusage des ersten Menuetts, küßte mehr als einer Schönen zum Willkomm die zarte Hand, er lächelte, er lispelte, er witzelte, er schwebte auf und nieder, mit einem Worte: er war ein würdiger Epigone der großen Epoche des galanten Sachsens, der kurfürstliche Kammerherr Moritz Graf von Fink; nicht das seelenkundigste Auge hätte auf dieser wolkenlosen Stirn gelesen, daß ein gewaltiger Entschluß in ihrem Innern reif geworden war.

Wir wollen mit dieser Andeutung keineswegs eine bängliche Apprehension in dem Gemüte einer holden Leserin erwecken und beileibe nicht behaupten, daß das Blut eines Othello in den Adern unsres kursächsischen Kavaliers gekocht habe; ja, wir tragen billiges Bedenken, daß die Missetat des schwarzen Afrikaners, wäre sie jener Zeit schon über den Kanal in die Musentempel der Elbe und Pleiße vorgedrungen, den zürnenden Eheherrn zur Bewunderung oder gar zu verbrecherischer Nachahmung hingerissen haben würde.

Immerhin jedoch entbehrte er der Dosis Eitelkeit nicht, welche zu dem Mixtum der Eifersucht auch in einem weißen Männerherzen erforderlich ist und welche unter Umständen, nicht minder als die Leidenschaft, eine unberechnete Katastrophe zum Ausbruch bringen kann.

Die Sänfte der Dame, geleitet von zwei, Windfackeln tragenden Heiducken, ließ nicht lange Zeit auf sich warten und der artige Franzose eilte herbei, statt des nebenherschreitenden Kammerdieners ihren Schlag zu öffnen und seiner schönen Wirtin den Arm zum Geleit in das Festlokal zu bieten.

»Einen Augenblick, mon duc,« rief indessen der herbeispringende Eheherr lächelnd, »die Damen lieben es, einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen, bevor sie den Ballsaal betreten. – Ein Zimmer für die Gräfin, Herr Wirt!«

Unter den devotesten Bücklingen und Entschuldigungen, daß nur ein einziges, wenig standesgemäßes Kämmerlein noch disponibel sei, öffnete der eilfertige Scheffelwirt, dem bei seinen heutigen, unerhörten Obliegenheiten der Kopf unter der weißen Zipfelmütze im buchstäblichen Sinne wirbelte und wackelte, die Tür eines langen, schmalen Korridors, auf eine zweite am entgegengesetzten Ende desselben deutend, und sprang darauf in die Torfahrt zurück, wo seine Gegenwart von den verschiedensten Stimmen aus Küche und Keller gefordert ward.

Gräfin Eleonore hatte ihren Gemahl bei seiner unvermuteten, ihr völlig überflüssig dünkenden, fürsorglichen Forderung erstaunt angeblickt; um sich jedoch in keine auffällige Erörterung einzulassen, nahm sie rasch dem Wirt den Leuchter aus der Hand, schritt unmutig, beide Wände des Ganges mit der steifen, glänzenden Robe streifend, ihrem Gemahl voran und öffnete, seine nochmalige dringende Frage, »ob sie darauf bestehe, den Ball zu besuchen,« keiner Antwort würdigend, die Tür des angewiesenen Zimmers.

Der Herr Herzog von Crillon hielt es für angemessen, nicht länger im Torweg des »goldnen Scheffels« des rückkehrenden Ehepaares zu warten und statt dessen oben am Eingange des Tanzsaales den Posten als harrender Ritter einzunehmen. Zehn lange Minuten mochten auf diese Weise vergangen sein, als sein gräflicher Wirt erschien – ohne seine Frau Gemahlin.

»Die Damen sind incalculable, incommensurable, mon duc,« sagt er, gewohnter Weise lächelnd, »eine verschobene Schleife, eine in der Nachtluft aufgelöste Locke – machen ihnen Migräne. Die Gräfin« – –

Die Klänge der eröffnenden Polonaise unterbrachen die Erklärung; der Graf reichte der Gemahlin des Landesstallmeisters, Freiherrn von Tettenborn, die Fingerspitzen und verschwand mit ihr im Gedränge des Saales. Über des Herzogs Mienen aber lagerte sich eine verdrießliche Wolke. Mas sollte er auf diesem deutschen Kirmesfest ohne sie? Er nahm im Nebenzimmer Platz unter einer Gruppe französischer Herren, welche so wenig wie er Lust bezeigten, die des Pariser Parkettes gewohnten choreographischen Künste auf den rauhen Dielen, unter den Staubwolken des »goldnen Scheffels« zu riskieren. Der Champagner floß, es wurde hoch pointiert; voran der Herzog, der seine Kühnheit wie seinen Reichtum in den gewagtesten Sätzen dokumentierte. Er siegte und ließ sich besiegen mit gleichmütiger Noblesse. Unser Graf dahingegen, als der vornehmste der maîtres de plaisir, wetteiferte in kunstfertigen Pas mit den jüngsten französischen Helden. Die unerwartete Nachricht, daß die Besatzung in der Frühe des nächsten Morgens die Stadt zu verlassen und sich über den Fluß zu ziehen habe, schien ihn wenig zu überraschen. Er hatte ja früher als selbst sein kriegerischer Gast diese Nachricht attrapiert, als er dem Commandeur en chef, Herzog von Hildburghausen, seine Aufwartung machte, wenige Minuten bevor im Polnischen Hause seine ehemännische Galle so bedenklich aufgeregt werden sollte.

* * *

Und wo war Gräfin Eleonore während der Zeit, daß Gemahl und Kavalier sich dergestalt mit ritterlichen Spielen unterhielten? Ach, es wird schwer fallen, dieses unglückliche Opfer der Eifersucht in einer Situation darzustellen, die ihre Heldenrolle gefährlich zu beeinträchtigen vermöchte.

Wir sahen die Dame zuletzt mit hastigem Unmut, den Leuchter in der Hand und ein gütliches Nachgeben stolz verschmähend, die Schwelle des improvisierten Toilettenzimmers überschreiten. Der Gemahl hielt sich bescheidentlich vor der offen gebliebenen Türe, während sie rings an den Wänden umherleuchtete und endlich den Spiegel in Form und Größe einer Schiefertafel entdeckte. Ein rascher Blick widerlegte ihre unbestimmte Erwartung einer der Redressur bedürfenden Unordnung; sie sah, daß alles gut und daß sie schön genug sei, um auch die schönste Nebenbuhlerin nicht zu furchten. So eilig als sie gekommen, wendete sie sich daher dem Ausgange wieder zu und war eben im Begriff, durch die Tür zu treten, als dieselbe, – der unfeine Ausdruck läßt sich nicht vermeiden, – als dieselbe ihr recht eigentlich vor der Nase zugeschlagen, der Schlüssel von außen umgedreht und hörbar abgezogen wurde.

Die schöne Frau prallte einige Schritte zurück und steht einen Augenblick wie in den Boden gewurzelt. Im nächsten aber ist sie mit einem Sprunge schon wieder an der Türe. Sie rüttelt am Drücker, – das Schloß gibt nicht nach; sie ruft laut und immer lauter den Namen ihres Gemahls, ihres Dieners, des Wirtes selber, – keine Antwort; sie lugt durch das Schlüsselloch – alles finster; jetzt stürzt sie nach dem Fenster und reißt es auf – aber auch hier schweigende, unenthüllbare Nacht. Keine menschliche Spur zu erkennen, keine menschliche Hilfe zu errufen – die schöne Frau ist eine Gefangene!

Bei dieser Entdeckung fiel unsre Heldin in einen Zustand, ja, er läßt sich nicht glimpflicher bezeichnen, in einen Zustand von Wut. Zornesröte wechselte mit einer tödlichen Blässe auf ihrem Gesicht, ihre Glieder zitterten, die Brust rang nach Atem und Luft. Von oben herab vernahm sie die einladende Weise der Polonaise. Sie schleuderte das Pariser Bukett an den Boden, riß die Rosen aus ihrem Haar und trat sie mit Füßen, sie rannte im Zimmer auf und nieder, die Hände krampfhaft gegen ihre Stirn geballt.

»O diese Feigheit, diese Gemeinheit!« stöhnte sie mit einem konvulsivischen Lachen, das zu ihrer Erleichterung nach und nach in einen Tränenstrom überging.

Sie warf sich auf den niedrigen Tritt am Fenster, vergrub ihr Gesicht in die Hände, und während die heißen Tropfen auf das silberglänzende Stoffkleid niederrieselten, wechselte in ihrem Herzen ein Kreislauf qualvoller Empfindungen vom bittersten Hohn und Haß bis zu dem ihrer stolzen, mutigen Seele so ungewohnten Mitleiden mit sich selbst. Die Tränen versiegten allmählich, sie versank in dumpfes Brüten, saß mit geschlossenen Augen gleich einer Schlafenden, während holde Erinnerungen, Träume der Vergangenheit, wechselnd mit bedrohlichen Zukunftsbildern, vor ihrem Geiste kamen und schwanden. Vom Saale herunter drang die Musik der verschiedenen Tänze, von der Straße herauf wirbelte der Zapfenstreich, sie hörte es nicht, sie saß wie erstarrt.

Endlich aber sprang sie auf mit einem jähen Entschluß. »Niemals, niemals,« rief sie laut und leidenschaftlich, »nein, niemals werde ich in dieses Haus zurückkehren, niemals diesem Elenden wieder angehören. Pflicht um Pflicht, Treue bis in den Tod! Aber ausharren, wo man verachten muß, macht uns verachtenswert!« Unwillkürlich fielen ihr bei diesen Worten die Forderungen ihrer beiden abendlichen Besucher wieder ein: »Treue schlechterdings«, und »auch an die Schwachheit bindet die Treue« hatten sie gesagt, ein jeder in seinem Sinn. Seltsam, daß sie es just heute sagen, daß ihre Gedanken heute just diese Richtung nehmen mußten. Aber nein, nein. Die also sprachen, es waren ein Priester und ein Soldat. Was wußte der eine von den Kämpfen eines weiblichen Herzens in den überfeinerten Zuständen der großen Welt? Was wußte der andre von den Leiden des Menschenherzens überhaupt? Gelte, was sie behaupten, für die Masse des stumpf in Arbeit und Notdurft ringenden Volks; sei es ein Gesetz für Männer unter irgend welchem Panier, – eine Frau verliert ihren Adel, wenn sie sich an einen Unwürdigen heftet, die Gemeinheit überwältigt sie, wenn sie sich seiner Gemeinschaft nicht entringt.

Der Herzog, der Herzog? was war ihr dieser Mann? konnte sie sich einer Schuld bewußt werden? fühlte sie den Vorwurf auch nur eines sträflichen Gedankens, auch nur eines sträflichen Empfindens? Hatte ihr Gemahl auch nur einen Schatten von Recht, Schmach und Erniedrigung über sie zu verhängen?

Sie preßte die Hand gegen das Herz, sie suchte gleichsam seine Schläge zu zählen. Aber, »nein, nein!« – rief sie auch jetzt, »ich tastete nach einem Ideal, um meinen wankenden Glauben zu stützen, ich tändelte mit einem Traum, um meine leer gewordenen Stunden zu füllen, aber selber meine Träume waren nicht meiner Treue feind. O, wohl der Frau,« fuhr sie nach einer Pause fort, »wohl der Frau, welche einem ungeliebten Manne ihre Treue verpfändet hat, aber einem Manne, der sie ehrt und dem sie vertraut. Doch einem in Neigung sich zugesellen und von Stunde zu Stunde, Schritt für Schritt seine Hohlheit inne zu werden, zu sehen, wie er jede Größe lächelnd bezweifelt und das Gemeine sich lächelnd gefallen läßt, wie er feige vor dem Mächtigen kriecht und ehrlos den Schwachen, ein Weib gar, mit Füßen tritt, das heißt elend, das heißt elend sein wie ich. Zur Stunde erst ist dieses Elend mir klar geworden in seiner vollen, vernichtenden Bedeutung und zur Stunde noch werde ich ihm entfl–, nein, nicht heimlich entfliehen, offen ihm ins Angesicht zerbreche ich die schmähliche Fessel.«

Wieder saß sie eine Weile unbeweglich. Aber sie blieb nicht lange allein; eine zarte, liebliche Gestalt schmiegte sich an ihre Brust und eine Kinderstimme stammelte: »Mutter, Mutter, was wird aus mir, wenn du mich verlässest?« – »Mein Leo!« – rief sie – »mein Knabe, dich soll ich lassen, ihm lassen, dich, mein einziges Kind?« – Ihre Tränen strömten von neuem, sie rang verzweifelnd die Hände. Aber auch jetzt faßte sie sich bald. »Nimmermehr!« – rief sie entschlossen, »mir gehörst du, mir zuerst, mir allein; auch dich muß ich ja retten, retten von dem Fluche, eines Tages deinen Vater verachten zu müssen. Dich mir zu sichern, fliehe ich, entführe dich zu meinem Vater, zu meinem alten, herrlichen Vater. Er wird dich schützen, vor ihm wollen wir uns beugen. Unter seinen Augen sollst du ein Mann werden, ein Edelmann wie er selber, würdig des Helden, der seinen Szepter über dich halten wird. Ein Kind, ein Weib, jeder Mensch vermag zu bestehen ohne das Glück, ja ohne die Liebe selbst. Aber Ehre und Ehrfurcht sind wie der Atem in unsrer Brust, entflieht er uns, steht das Leben still.«

Schnell entschlossen überdenkt sie den Weg und die Mittel zur Flucht; in heftiger Bewegung schreitet sie das Zimmer auf und nieder. Ein Duft von Blumen strömt ihr entgegen, ihr Fuß hat den Strauß berührt, den sie vor Stunden im Zorn von sich geworfen. Sie hebt ihn auf und blickt eine Weile sinnend in die künstlichen Kelche. »Er,« flüsterte sie, »auch er würde uns schützen, würde mich frei machen und rächen. Aber schützen gegen wen? rächen an wem? Gegen deinen Vater, an deinem Vater, mein Kind, nein, nein! Auch er darf meine Flucht nicht ahnen. – Kein buhlerischer Schein auf ein bis heute makelloses Leben – auf das Andenken deiner Mutter, mein Sohn, deiner Tochter, mein Vater, auf das Andenken einer Preußin in fremdem, verderbtem Land.«

Es mußte schon tief in der Nacht sein, als ihr Plan fix und fertig war. Von der Straße, vom Hofe herauf kein Laut. Nur über ihr fast ohne Unterbrechung die Musik der wechselnden Tänze.

Sie öffnete leise das Fenster und spähte hinaus in den düsteren Raum. Ein Lichtstrahl von einem Seitengebäude streifend, ließ sie allmählich einen engen, kleinen Seitenhof, nach der Landessprache einen »Schlüfter«, unterscheiden, auf welchen das Fenster mündete. Ein Haufen von Schutt und Scherben unter demselben mußte das Entkommen erleichtern.

Sie nestelte nun hastig die Zitternadeln aus ihrem Haar, die Diamantgehänge von Brust und Ohr, nahm Kollier und Armspangen ab und verbarg sie in ihrer Poche. Wenn der Brokat ihres Gewandes nur ebenso leicht zu verhüllen gewesen wäre! Aber Lehmann mußte ja die dunkle, warme Saloppe bei sich haben und ihrer längst in Begleitung der Sänfte im Hause harren. Auf diesen treuen Mann konnte sie bauen. Er war ihr aus der Heimat mitgegeben als zuverlässiger Diener, ja fast als Freund. Hatte sie ihn aufgefunden, war sie geborgen. Nun herzhaft auf die Brüstung des Fensters und mit einem mutigen Sprunge in die Freiheit!

Der Kopf, die schlanken Schultern waren glücklich durch die schmalen Fensterflügel geschlüpft, aber, o weh! jetzt ist sie gebannt, der standfeste Reifrock hindert das Entkommen. Sie muß noch einmal zurück, sich der modischen Fessel zu entledigen. Da steht das eherne Gerüste gleich einem Haus, das erste Hindernis auf neuer Bahn, ein Symbol des Herkommens, mit dem sie bricht. Nun mit frischem Mute noch einmal auf die Brüstung – ein rascher Sprung und die Gefangene ist frei!

Tastend gleitet sie längs der Mauer dahin und hat bald den Ausgang nach dem großen Hofe erreicht, den ein Schimmer der einzigen, dunkelglimmenden Lampe der Torfahrt notdürftig erhellt. Hinter einem Karren geborgen rekognosziert sie das Terrain. Der Flur steht gefüllt von Sänften, der rückkehrenden Tänzerinnen harrend, aber die Träger und Diener haben sie verlassen. Man hört ihre klappenden Krüge und lärmenden Stimmen aus der Wirtsstube dringen. Nur eine einsame Gestalt hat Platz auf einer Bank dicht an der Hoftür genommen. Der Flüchtigen Herz schlägt freudig auf; der glücklichste Zufall erleichtert ihren Entschluß: es ist Lehmann, der Getreue!

Sie schleicht auf ihn zu, faßt seinen Arm und flüstert: »Folge mir, Lehmann!«

»Alle Teufel, Frau Gräfin!« ruft der Diener erschreckt, als sähe er eine Spukgestalt.

»Still, still, verrate mich nicht, folge mir.«

Er ging ihr nach. Sie traten in eine Scheune, die heute abend als Remise aushelfen mußte.

»Sind wir hier sicher, Lehmann? kann uns niemand hören?«

»Höchstens eine Maus, gnädige Gräfin. Sie sitzen alle in der Kneipe und kauderwelschen sächsisch mit den Französischen. Mir wurde der Spuk zu toll, ich –«

»Still, still, Lehmann, wir haben Eile, höre mich. Du bist meiner Familie von jeher ein treuer Diener, ja ein Freund gewesen. Du folgst mir gern, nicht wahr?«

»Gnädige Gräfin, bis in den Tod.«

»Ich danke dir, Alter; und nun merke auf. Mein Gemahl hat mich gröblich beleidigt. Ich werde nicht mehr in sein Haus zurückkehren.«

»Die gnädige Gräfin haben sächsische Lunte gerochen, juchhe!«

»Still, Lehmann, still, ich fliehe!«

»Wir fliehen!« rief der Alte, vor Freude in die Höhe springend. Plötzlich aber schien ihm ein Bedenken aufzustoßen. Er kratzte sich am Kopfe und murmelte einige unverständliche Laute.

»Was hast du, rede!« rief die Dame beunruhigt.

»Ich meine nur, Frau Gräfin, – nicht wahr –«

»Was meinst du? rasch, rasch!«

»Na, ich meine – – Wir fliehen, wir zwei beide, gut! Aber – na – na, was Französisches ist doch nicht zu dritt?«

»Schäme dich, Lehmann!« sagte Eleonore, dunkel errötend. Dieser Argwohn selber in dem ergebensten Herzen war der erste Stein des Anstoßes auf ihrer Bahn. »Schäme dich! wir gehen nach Preußen zu meinem Vater.«

»Nach Preußen, hurra! nach Preußen!« jubelte der Veteran. »Soll ich die Sänfte bestellen, Komtesse?«

»Behüte, Lehmann. Ich sage dir ja, daß ich nicht in des Grafen Haus zurückkehren werde.«

»Oder unsern Wagen?«

»Der würde mich verraten. Ich muß unbemerkt auf preußisches Gebiet zu gelangen suchen. Wir gehen zu Fuß aus der Stadt.«

»Zu Fuß in diesen Flitterschuhen? Aber nur zu! Ich weiß schon Rat. Unter der Treppe hat die Hanneliese ihre Holzpantoffeln stehen lassen.«

»Das wird sich finden, Lehmann. Aber gib mir meine Sachen, mich friert.«

Sie hüllte sich in Saloppe und Abendschleier, welche der Kammerdiener bisher sorgfältig auf seinem Arm gehalten, und fuhr dann fort: »Wir müssen nun so rasch als möglich hinüber, meinen Leo zu holen.«

»Versteht sich, unser Leochen! Das Leochen muß mit nach Preußen!«

»Aber der Weg über die Brücke wäre zu weit und unsicher; wir würden entdeckt und verfolgt werden.«

»Gnädige Komtesse, wir schlagen uns durch.«

»Wir sind nicht im Feldlager, Lehmann, wir sind auf einer Reise und auf einer heimlichen Reise. Wir müssen einen nähern Weg nehmen. Der Fährmann Adam ist dein Freund, du kannst dich auf ihn verlassen?«

»Wie auf mich selber, Komtesse, eine ehrliche Haut bis auf die Knochen und zum Ausplaudern viel zu faul.«

»Nun gut, Lehmann. Wir gehen nach dem Fährhause; der Weg ist nicht weit und wenig belebt. Wir setzen über; ich warte im Dorfe bei der blinden Mutter Veit, bis du vom Gute den ersten besten Wagen besorgt und Leo mit seiner Bonne zu mir gebracht haben wirst. Du sagst, daß wir in der Frühe nach Dresden aufzubrechen gedenken, erregst so wenig als möglich Aufsehen. Du fährst natürlich selbst. Vor Tagesanbruch müssen wir aber schon über die Grenze sein. Hast du mich verstanden, Lehmann?«

»Bin nicht von Stroh, Komtesse.«

»So sieh dich in der Torfahrt um, ob ich unbemerkt hindurch kann.«

Der Alte ging und kehrte nach wenigen Minuten zurück, ein Paar schwere Klappantoffeln triumphierend in die Höhe haltend.

»Glücklich erwischt!« rief er, »und keine Katze zu spüren. Nur dreist zu, Komtesse!«

»Warum Komtesse?« fragte die Gräfin, wehmütig die Pantoffeln betrachtend, die sie, das Geräusch zu vermeiden, noch nicht überzuziehen wagte.

»Na, nach Preußen, Komtesse,« antwortete der Alte vergnügt; »und unsern Grafen, den wären wir ja los.«

»Noch nicht so ganz, Freund,« entgegnete die Dame. »Bei der Gräfin Fink mag es sein Bewenden haben. Für diese Schuhe soll dein Fährmann die Magd entschädigen.«

Der Veteran ging voran, die Dame schlich hinter ihm drein über den Hof. Am Eingang zur Torfahrt blieb sie stehen und fragte leise: »Ist der Graf noch oben, Lehmann?«

»Zu Befehl, gnädige Gräfin.«

»Und der – Herr Herzog?«

»Auch noch, gnädige Gräfin.«

»Desto besser,« murmelte sie mit bitterem Lächeln. »Sie tanzen und ich – ich werde sie niemals wiedersehen.«

Sie traten in das Tor und wandten sich durch das Gewirre der Sänften. Noch aber hatten sie den Ausgang nicht erreicht, als eine Stimme von der Treppe die Gräfin erbeben machte. Es war ihr Gemahl, der nach den Sänftenträgern der Frau Amtshauptmännin rief.

Die Gräfin stürzte nach der Tür. Der Riegel war vorgeschoben, und ehe sie zu öffnen vermochte, war der Graf, seine Dame am Arm, am Fuße der Treppe angelangt.

»Steh' still, Lehmann,« flüsterte die Gräfin zitternd und hinter eine Sänfte schlüpfend, »hier, dicht vor mich. Rühre dich nicht, weiche nicht von der Stelle.«

Die Träger der Frau Amtshauptmännin erschienen auf den nochmaligen Ruf des Grafen. Er hob die stattliche Schöne in ihr Vehikel, ihren vollen Arm küssend und einige galante Redensarten flüsternd. Eleonorens Herz klopfte zum Zerspringen – vor Unwillen in diesem Augenblicke mehr als vor Furcht. Das Tor wurde geöffnet. Die Sänfte verschwand. Der Graf sah sich ziemlich scheu im Flure um. »Die arme Eleonore,« murmelte er, »die Zeit wird ihr lang geworden sein.«

Er bemerkte den Diener und befahl ein wenig kleinlaut: »Gehe Er hinein, Lehmann, und hole Er die Träger der Frau Gräfin.«

»Rühre dich nicht, Lehmann,« flüsterte die Gräfin.

Lehmann rührte sich nicht. Sein Gebieter wandte sich gegen den Korridor, der zu dem verhängnisvollen Toilettenzimmer führte. Ein rascher Schritt auf der Treppe ließ ihn aber stocken. Hinter der Tür verborgen, sah er seinen herzoglichen Gast herunter kommen und den Torweg durchschreiten, hörte ihn, als er stutzend den Kammerdiener der Gräfin gewahr wurde, nach seiner Dame Befinden sich erkundigen. Ehe Ehren Lehmann die schwierige Antwort gefunden hatte, stürzte der verlegene Eheherr aus seinem Versteck. Gewiß, er sah bleicher aus, als das Opfer seiner Rache; zitternd, mit einer Armensündermiene, machte er einen schwachen Versuch zu lächeln, indem er den Herzog bat, seine Equipage zu benützen und allein vorauszufahren, da er selber noch für eine Viertelstunde gefesselt sei.

Der Herzog ging aus dem Tor, der Wagen rollte von dannen.

Der Graf wischte sich den Angstschweiß von der Stirn.

»Rasch, die Träger!« stammelte er, an Lehmann vorüber und in den Korridor schlüpfend.

»Rasch, rasch, Lehmann, hinaus!« rief die Gräfin, stürzte hinter der Sänfte hervor und aus dem Tore. Lehmann folgte ihr. Das Haus bildete eine Ecke. Als die Flüchtigen kaum in die schmale Seitengasse eingebogen waren, hörten sie den wiederholten, angstvollen Ruf nach dem Diener aus des Grafen Munde. So war denn ihre Flucht ruchbar schon in dem Momente der Ausführung; eine Entdeckung, Ergreifung nur allzumöglich, jede Minute kostbar!

Eleonore flog durch die nächtlich einsamen Straßen gleich einem gescheuchten Reh. Der alte Diener vermochte kaum ihr zu folgen. Sie nahm sich nicht die Zeit, die unbehilflichen Überschuhe anzuziehen, ohne Umsehen durch dick und dünn, nur voran, nur fort, hinaus, hinüber, nur frei!

Vor dem Tore hielt ein französischer Posten die Wache.

»Diener und Kammerjungfer der Gräfin Fink,« repetierte vernehmlich der alte Preuße.

Der Posten ließ das verdächtige Paar passieren. Eleonore mußte einen Augenblick innehalten, dann ging sie in etwas gemäßigterem Schritt durch die Vorstadt, die sich lang und schmal zwischen dem Flusse und seinem erhöhten Uferrande hinzieht. Die große Straße nach Leipzig führt durch diese Vorstadt, von deren letzten Häusern etwa tausend Schritte entfernt das Fährhaus am Eingange einer auf die Höhen führenden Schlucht gelegen ist. Etwas weiter talab sieht man auf dem entgegengesetzten Ufer das gräflich Fink'sche Dorf und Stammschloß, anmutig zwischen Wiesen, Weinbergen und Gärten gruppiert, die Aue überragen.

* * *

Gräfin Eleonore war bis jetzt in so leidenschaftlicher Aufregung gewesen, daß sie das Abenteuerliche ihres Unternehmens nur wenig in Betracht gezogen hatte; es schien ihr leicht, weil das Verlangen danach sie beherrschte. Jetzt, da für den Moment die dringendste Gefahr der Entdeckung beseitigt schien, in der feuchten, finsteren Nacht, längs des stillrauschenden Flusses an der Seite ihres stummen Begleiters dahinschreitend, tauchten nach und nach die Bedenken und Fährnisse deutlich vor ihrem inneren Auge auf. Eine junge Frau, ein zartes Kind in herbstlicher Jahreszeit, in kriegerischer Aufregung, ohne Geld und Gepäck, ohne jegliche Vorkehrung auf der Flucht weit über hundert Meilen nach einem unwirtlichen Lande! Denn eine Reise aus dem Leipziger Kreise nach der Ostsee war vor hundert Jahren beileibe kein Katzensprung, wie heute, und würde auch in friedlichen Zeiten von einem besonnenen Manne nicht ohne rechtsgültiges Testament, auf dem heimischen Amte niedergelegt, unternommen worden sein.

Aber die Tochter des alten preußischen Soldaten war so leicht keineswegs von einem gefaßten Entschlusse abzuschrecken. Sie besaß einen stolzen, energischen Willen, dessen Feuer sieben Jahre verweichlichenden Genusses nicht abgedämpft hatten und, was selten der Fall bei raschen, phantasiereichen Naturen, sie besaß dabei eine kluge, umsichtige Art, die, ging Not an den Mann, die Mittel zu ihren Zwecken zu finden wußte. Mit einem Worte: unsere Heldin hatte Charakter. Sie konnte Böses und Gutes tun, was just nicht vielen, auch Männern nicht, gegeben ist, und in diesen Stunden, so schien es, stand sie auf dem Scheidewege zwischen beiden.

»Komme es, wie es wolle,« sagte sie endlich abschließend zu sich selbst, »zurück kann und will ich nicht mehr. Nur mein Kind – und über die Grenze! Das übrige wird sich finden. Und wenn ich mich an den König selber wenden sollte. – Hast du Geld bei dir, Lehmann?« fragte sie nach einer Weile, zu dem Diener gewendet.

»Dreißig Spezies! einen Gulden und zwei Zwanziger, Frau Gräfin,« antwortete Lehmann.

»Welcher Mammon, alter Freund!«

»Meine gesamte Barschaft, gnädige Gräfin. Seitdem die fremden Raben im Lande hausen, hat einer ja nur noch, was er auf seinem Leibe bei sich trägt.«

»So wirst du mir vorschießen müssen, bis wir etwa in Halle meine Juwelen verkaufen und in Berlin den Kredit meines Vaters geltend machen können.«

Sie versank wieder in nachdenkliches Schweigen, bis sie nach etlichen Minuten vor dem kleinen, einsamen Fährhause standen. Es dauerte eine Weile, ehe Lehmann durch Klopfen und Rufen ein menschliches Wesen ermunterte. Das Fensterchen wurde endlich geöffnet und eine weibliche Stimme brummte verdrießlich: »Der Fährmann ist nicht heim, 's kann nicht übergesetzt werden.«

»So lasse Sie uns ein, wir wollen auf ihn warten,« sagte der Alte.

»Zum Kuckuck, warten!« versetzte die Frau Fährmännin und wollte das Schlößchen zuschlagen.

Aber Freund Lehmann streckte seinen einen langen Arm nach dem Fenster und packte ihre Hand.

»Sie ist noch im Traume, Hanne,« sagte er, »so sperr' Sie doch Ihre alten dummen Gucklöcher auf. Wir sind ja die gnädige Herrschaft von drüben.«

»Schöne Herrschaft, in stockpechrabenschwarzer Nacht auf den Beinen und so'n Gebrüll wie'n preußischer Kanonier!«

»Kennt Sie denn den Lehmann nicht, Hanne? Steck' Sie die Lampe an und riegle Sie auf, sonst trete ich ihr die Tür in Stücke.«

Schon machte er Anstalt, seine Drohung auszuführen, als Mutter Hanne in der Tür erschien und, das Lämpchen vorhaltend, mit weit aufgerissenen Augen die seltsamen Gäste anstarrte.

»Weiß der Herr, die Gnädige,« sagte sie verblüfft.

»Ich muß auf der Stelle hinüber,« nahm jetzt die Gräfin das Wort. »Ruft den Adam, Mutter, rasch, rasch!«

»Nun eben, Gnädige, den Adam,« versetzte Mutter Hanne gelassen, »aber der Adam ist ja eben nicht da.«

»Wo ist er?«

»Zum Fischen ist er.«

»Und wann kommt er zurück?«

»Wenn er was gefangen hat, kommt er möglich zurück.«

»So mag mich Lehmann hinüberrudern. Leuchtet zum Kahn, Mutter.«

»Nu eben, zum Kahn! Aber der Kahn ist ja eben nicht da.«

»Wo ist der Kahn?«

»Der Adam sitzt drinnen und fischt.«

Ein Donnerschlag für die vor Ungeduld zitternde Dame. Sollte sie die unschätzbare Zeit mit Warten verbringen? Ein andrer Fischer hätte sie hinüberrudern können. Die lange Vorstadt, welche sie eben durchwandert hatte, war Haus bei Haus von Holzhändlern und Fischern bewohnt, deren Innung sich seit Jahrhunderten den Fluß entlang ansehnlicher Privilegien von seiten weiland Landgraf Ludwigs von Thüringen erfreute, zum Dank dafür, daß ein Bootsmann des Städtchens ihn nach seinem kühnen Sprunge aus dem Turme von Siebichenstein in den rettenden Kahn aufgenommen hatte. Sollte sie sich die Straße zurück nach der Vorstadt wagen, den großen Umweg nach ihrem Gute machen? Das nächtliche Wachklopfen mußte Aufsehen erregen, ein Erkennen war unvermeidlich, ein Entdecken von seiten ihres Gemahls nur allzu wahrscheinlich. Der Fährmann konnte jeden Augenblick zurückkommen. So schwer es war, stillhaltend zu warten, es schien rätlicher, als jenes Wagnis.

Sie folgte daher Mutter Hannen in deren Unterstübchen und bat sie, sich in ihrer nächtlichen Ruhe nicht weiter stören zu lassen.

Die brave Alte deprezierte: »Zu Bette gehen, derweile die Herrschaft im Hause auf der Lauer ist! Na, wenn der Adam heimkäme, da kriegt' ich was Hübsches auf die Mütze!«

Ehren-Lehmann, als Hausfreund, gab lachend eine erläuternde Pantomime zu diesem Satze, die Dame aber fragte unwillig: »Er mißhandelt Euch, arme Mutter?« Mutter Hanne schüttelte ihr ehrwürdiges graues Haupt.

»Was zur Sache gehört, bewahre, Gnädige, sonsten nicht,« antwortete sie.

»Was zur Sache gehört? Wie versteht Ihr das, Frau?«

»Herr Jechens, Gnädige, wenn eine einem zugeschworen ist, vor Gottes Altar!«

»Barbarische Ehestandslogik! – und Volkes Stimme Gottes Stimme, heißt es,« murmelte die Gräfin.

Sie beschwichtigte indessen die Bedenklichkeiten ihrer Wirtin, indem sie versprach, die Verantwortung vor dem rückkehrenden Hausherrn zu übernehmen, und so zog sich denn Mutter Hanne zurück mit den Worten: »Nu eben, Gnädige, man wird eben alt und sein bißchen Nachtruhe ist einem zu gönnen. Um sein Stündchen Kirchenruhe ist man so schon gekommen, seitdem der Fritze so grausam auf dem Tapete ist.«

Die Gräfin setzte sich an das Fenster, die geschlossene Zimmerluft, Ofenrauch und Lampenqualm beklemmten ihren Atem.

»Wie diese Armen leben,« sagte sie zu sich selbst. »Schätzt man es auch, was man vor ihnen voraus hat? Ich hätte weit mehr Gutes tun können. Der Graf ließ mir freie Hand. Mein Leben würde reicher gewesen sein, hätte ich mehr auf andrer Mangel geachtet.«

Doch weilten ihre Gedanken nicht lange in dieser philanthropischen Richtung; sie öffnete das Fenster, zog die Zobelsaloppe dichter um ihre Schultern und starrte durch die nur von einzelnen den Nebel durchbrechenden Sternen erhellte Nacht hinüber nach ihrem nahen und doch so unerreichbaren Schlosse. Der alte Diener hatte als Schildwache auf der Bank vor der Hütte Posto gefaßt. Mutter Hanne's schnarchende Atemzüge in der Kammer, das Unisono der plätschernden Wellen waren die einzigen Töne, welche die Stille unterbrachen, und allmählich auch die aufgeregte Frau am Fenster in einen halben Schlummer lullten.

Wirre Bilder von Helden und Ungetümen, von Tänzern und Kämpfern, von Flucht und Verfolgung scheuchten sich beängstigend vor ihrem Sinn. Von Zeit zu Zeit sprang sie in die Höhe, machte einen Gang durch das Zimmer, störte das schwachglühende Lampenlicht auf und sah an der alten Schwarzwälder Uhr das erschreckende Vorschreiten der Stunden. Dann setzte sie sich wieder, um sich von neuen Halluzinationen beklemmen zu lassen.

Schwankend treibt sie auf heimischem Meere, ihren Leo fest an die Brust gedrückt; der Nordwind braust, hoch schlagende Wellen drohen das Boot zu verschlingen. Vor ihr die rettende Düne, dort drüben das Vaterhaus. O, nur noch einen einzigen kräftigen Ruderschlag, alter Adam, und sie ist heim, sie ist frei! Da, da plötzlich am Strande lauernd ein Punkt, eine Gestalt, ein elender Zwerg, aber immer wachsend und wachsend, von schattenhaften Gebilden gehoben, von dämonischen Sklavenhänden getragen, jetzt ist es ein Riese mit weit ausgreifenden Armen, Heiland der Welt, es ist ihr Gemahl – eine Spanne – und er faßt ihr Kind! – hinter ihm das Haus, es ist nicht ihres Vaters Haus, es ist sein eignes lichterstrahlendes Schloß, seines, des Verfolgers! Entsetzt fährt sie in die Höhe, kalte Tropfen stehen auf ihrer Stirne, die Uhr schlägt vier. Wie fern hatte sie gehofft um diese Stunde zu sein, und nun noch immer harrend am Ufer! Aber was ist das? Das Schloß da drüben, vorhin in tiefem Dunkel, jetzt ist es erhellt, so wie sie es im Traume gesehen; flackernde Lichter blinken durch die Scheiben, als ob hastige Schritte von Zimmer zu Zimmer stürmten.

Tödlich erschreckt eilt sie hinaus vor die Tür.

»Hinüber, Lehmann, hinüber!« ruft sie, »siehst du die Unruhe da drüben, mein Leo ist krank.«

»Behüte, Frau Gräfin, behüte,« beruhigte der Diener, »der Herr Graf werden gekommen sein, uns zu suchen. Ein Glück, daß sie alles in Ruhe finden; hier hüben werden sie uns nicht vermuten.«

»Du kannst recht haben, Freund,« versetzte die Gräfin einigermaßen beschwichtigt, »indessen wir müssen jetzt eilen, ihn zu kreuzen. Der Graf wird sich drüben nicht aufhalten und mich weiter verfolgen. Komme es, wie es wolle, geh', schaffe einen Kahn. Im äußersten Falle suchen und finden wir Schutz bei dem König.«

Im Begriff, diesem Befehle zu folgen, hielt der alte Diener aufhorchend still.

»Was ist das, Lehmann?« fragte die Gräfin gleichfalls stutzend.

Man hörte Pferdegetrappel und flüsternde Laute auf der Straße hinter dem Hause.

»Hurtig hinein!« rief Lehmann, die Gräfin in das Haus drängend. Kaum hatte sie das Zimmer erreicht, als dicht vor dem Fenster Tritte und Stimmen vernehmbar wurden. Sie verbarg die Lampe im Ofenloch und sich selber hinter dem geöffneten Fensterflügel. Im flüchtigen Sternenlicht erkannte sie einen Trupp berittener Gestalten.

»Holla!« rief eine Stimme, »das ist das Haus, wo wir das Licht schimmern sahen, holla!«

»Das sind preußische Leute,« sagte die Gräfin zu sich selbst.

»Preußen! Preußen!« rief Lehmann zu dem Fenster hinein.

»Wer spricht hier?« fragte der Führer der Truppe vom Pferde herab.

»Ein Preuße!« antwortete der alte Soldat, militärisch salutierend.

»Ist dies das Fährhaus vor dem Leipziger Tor?«

»Das Fährhaus, zu Befehl.«

»Ist Er der Fährmann?«

»Halten zu Gnaden, der bin ich nicht.«

»Wer ist Er?«

»Wachtmeister Lehmann, vormals von Belling-Husaren.«

»Der bei Molwitz den Arm verlor?«

»Der nämliche, zu Befehl.«

»Ein braver Soldat. Wie kommt Er hierher?«

»In Diensten meiner Herrschaft, der gnädigen Komtesse von Looß, verehelichten Gräfin von Fink.«

»Der Frau des Kammerherrn drüben?«

»Seine gewesene, zu Befehl.«

»Sind noch Franzosen in der Stadt?«

»Marschall Soubise mit seinem Korps rückten vorgestern ab, eine Besatzung ist zurückgeblieben.«

»Wie stark?«

»Zirka dreitausend Mann inklusive derer vom Reich.«

»Der Herzog von Hildburghausen?«

»Logieren oben aus dem Schlosse.«

»Die Garnison zieht sich diesen Morgen zurück?«

»Diesen Morgen über den Fluß, zu Befehl.«

»Weiß Er in hiesiger Gegend Bescheid?«

»Zwei Meilen in der Runde jedweden Weg und Steg.«

»So folge Er dem Piket und weise Er uns den Weg auf die Höhen.«

»Zu Befehl, alsobald ich meine gnädige Komtesse sicher an Ort und Stelle expediert.«

»An Ort und Stelle, wohin?«

»Nach Sanditten zu ihres Herrn Vaters Exzellenz.«

»Da würden unsre Kanonen ein Weilchen warten müssen, Freund. Ich denke, die Frau Gräfin wird ihre Reise verschieben können, bis Er uns den Weg gezeigt.«

»Halten zu Gnaden, sie kann sie nicht verschieben. Wir lauern nur auf den Kahn, um unsern Junker drüben zu holen, danach geht's fort.«

»Wo ist die Gräfin?«

»Drinnen in der Hütte.«

»So laß Er sie drinnen, bis Er wiederkommt. Vor Tag ist Er wieder da. Allons! Marsch!«

Der alte Preuße stand einen Augenblick verlegen, was zu lassen, oder was zu tun. Seine Gebieterin kam ihm zu Hilfe. Sie hatte das Zwiegespräch am Fenster mit angehört. Die Ankunft der Preußen war ein Zwischenfall, von dem sie nicht wußte, ob sie ihn für unheilvoll oder ermutigend halten sollte. Doch war sie zu einer glücklichen Auffassung gestimmt und sah ein, daß Widerstand unmöglich sei. Schnell entschlossen nahm sie daher die Lampe aus dem Ofen und trat unter die Tür.

»Tue, was der Herr dir befiehlt, Lehmann. Wir können nicht widerstreben,« sagte sie, und sich würdevoll gegen den Führer wendend, setzte sie hinzu: »ich stelle mich unter den Schutz der Ehre eines preußischen Offiziers.«

» Serviteur, Madame,« versetzte trockenen Tons der Preuße.

Die junge, schöne Frau im silberglänzenden Gewande, bei nächtlicher Weile, in der einsamen Fischerhütte war wohl eine wundernehmende Erscheinung selber für die just nicht zur Romantik geneigten preußischen Helden. Auch lief ein überraschtes Geflüster durch die Truppe, deren Führer einen Augenblick schweigend verharrte, sich dann zu einigen Zurückstehenden wendete und leise Worte mit ihnen wechselte. Nach einer Weile kehrte er, ohne der Dame zu achten, zu dem vormaligen Wachtmeister zurück. »Liegt die Garnison auf dem Schlosse?« fragte er.

»Auf dem Schlosse und bei den Bürgern in der Stadt.«

»Und hier in der Vorstadt?«

»Keine.«

»Wo steht die übrige Armee?«

»Kantoniert in den jenseitigen Dörfern stromauf und ab.«

»Wie weit ist es von der Rippach bis zu den Höhen über der Stadt?«

»Kaum eine Stunde, zu Befehl.«

»Weiß Er einen sicheren Übergang für schweres Geschütz?«

»Zu Befehl.«

»So folge Er dem Piket, wir werden bei Seiner Dame Wache halten, bis Er wiederkommt.«

Ehren-Lehmann machte kehrt mit einem ermutigenden Blicke auf die Gräfin, die er ja sicher in preußischem Schutze zurückließ. In wenigen Minuten waren die Tritte des Detachements in der Schlucht verhallt. Der Rest der Preußen, ihre Zahl ließ sich nicht im entferntesten bestimmen, schien sich rings um das Haus zwischen Berg und Fluß zu postieren. Alles schwieg; man hörte nur das Wiehern und Stampfen der Pferde, das zufällige Rasseln einer Waffe.

Der Reiter, der bisher das Wort geführt hatte, war abgestiegen und allein auf das Haus zugeschritten, unter dessen Tür Gräfin Eleonore noch immer in zweifelhafter Erwartung stand. In dem Augenblicke, als sie, ihrem unbekannten Schutzherrn voran, zurück in das Zimmer treten wollte, erschallte von dem jenseitigen Ufer der Ruf: »Hol über!«

Der Preuße stutzte. Die Gräfin rief erschreckt:

»Der Graf, der Graf!«

»Welcher Graf?« fragte der Preuße.

»Mein Gemahl, mein Verfolger!«

»Er wird seine Ungeduld zähmen oder durch den Fluß schwimmen müssen. Kahn und Fährmann, wie ich höre, sind nicht da,« sagte der Unbekannte, indem er gelassen die Tür schloß.

Eleonore atmete erleichtert auf und trat in das Zimmer. Mutter Hanne, durch den preußischen Überfall nicht im mindesten in ihrem Morgenschlummer gestört, schnarchte gleichtönig in der Kammer fort. Die Gräfin nahm ihren früheren Platz am Fenster wieder ein und lauschte auf den vom jenseitigen Ufer noch öfter wiederholten Ruf nach dem Fährmann, bis endlich der Rufer, keine Erwiderung findend, sich zu entfernen schien.

Der Preuße hatte sich währenddessen auf der Bank im Ofenwinkel niedergelassen und die Dame schielte forschend nach ihm hinüber, in der Hoffnung, ein früher bekanntes Gesicht zu entdecken. Aber er saß dicht in seinen dunklen Mantel gehüllt, den Hut tief in die Stirn gedrückt, den Kopf vorwärts gebeugt und das Kinn auf den Säbelgriff gestützt, den er mit beiden Händen umklammerte. Diese Stellung und das Dämmerlicht des schwachen Ölflämmchens gestatteten keine weitere Untersuchung.

Jung und gefährlich schien der preußische Held indessen nicht zu sein, denn er machte keine Miene, sein tête à tête mit der schönen Frau auch nur zu einem Gespräch zu benutzen. Dahingegen ließ sich, nach der Haltung der Truppe ihm gegenüber, seine höhere Stellung in der Armee kaum bezweifeln, und so faßte sich denn die Gräfin das Herz, ihn noch einmal um seinen Schutz anzusprechen und sich einen wichtigen Rat von ihm zu erholen.

»Eine glückliche Fügung,« begann sie nach einigem Besinnen, »scheint mir die Hilfe entgegengeführt zu haben, welche ich aufzusuchen im Begriff stand. Sie würden mich verbinden, mein Herr, wollten Sie mir die erforderlichen Schritte bezeichnen, um von Sr. Majestät dem König einen Geleitsbrief durch preußisches Gebiet zu erlangen.«

»Die Straßen in Preußen sind sicher, Madame,« entgegnete der Unbekannte, »ein gehöriger Paß ist hinreichend Schutz und Geleit.«

»Ich weiß es, mein Herr. Aber eben diesen mir mangelnden Paß zu ersetzen, rechne ich auf ein königliches Wort, um es diesseitigen Reklamationen gegenüberzustellen.«

»Wessen Reklamationen, Madame?«

»Mit einem Worte, mein Herr, den Ansprüchen des Grafen Fink an mich oder meinen Sohn – –«

» Seinen Sohn, Madame?«

»Allerdings.«

Der Preuße schwieg.

»Nun, mein Herr?« fragte die Dame nach einer Pause.

»Sparen Sie sich die Mühe, Frau Gräfin,« antwortete das unerschütterliche Gegenüber, »die preußischen Gesetze schützen keine Frau, die ihrem Manne davonläuft.«

»Mein Herr!« fuhr die Gräfin beleidigt auf.

»Ist es nicht so, Madame?« versetzte der Preuße gleichmütig, »desto besser, wenn ich falsch verstanden habe.«

»Ich bin eine Preußin, mein Herr –«

»Gewesen, Gräfin Fink, gegenwärtig sind Sie eine Sachsin. Sie müßten uns denn die Ehre erweisen, das Kurfürstentum als eine eroberte Provinz zu betrachten. Aber Preußin oder Sachsin, in diesem Falle gleichviel.«

»Ich bitte um Schutz auf dem Wege zum Hause meines Vaters, eines preußischen Edelmanns, und um Sicherheit unter seinem Dache für mich und meinen Sohn, einerlei aus welchen Gründen.«

» Nicht einerlei, Madame. Ein Kind gehört seinem Vater und eine Frau unter das Dach ihres Ehemanns.«

»Und wenn ihr die Ehre verbietet, unter diesem Dache zu weilen?«

»Die Ehre? Eine Frau hat keine Ehre, die ihr etwas verbietet, Madame.«

»Unverschämt!« rief die Gräfin in höchster Entrüstung.

Der Preuße versetzte desto gelassener:

»Beruhigen Sie sich, Frau Gräfin; was Ehre ist, wissen nur Männer, denn sie allein wissen für sie einzustehen. Bei den Weibern heißt das Ding anders.«

»Und wie heißt es, wenn ich fragen darf?«

»Es heißt Keuschheit und Treue, Madame.«

»Und welche Genugtuung soll aus diesem Quiproquo für eine beleidigte Frau deduziert werden?«

»Die Genugtuung einer übereinstimmenden Pflicht. Denn gleichwie der Mann von Ehre seinen Posten nicht verlassen darf, – wie, zum Exempel, ich den meinigen nicht verlassen dürfte, bis der Wachtmeister Lehmann mich ablöst, – gleicherweise verpflichtet die Treue auch die Frau, auf dem ihrigen standzuhalten.«

»Und was nennen Sie den Posten der Frau, mein Herr?«

»Allemal das Haus, in welchem ihre Kinder erzogen werden müssen.«

»Und wenn sie auf diesem Posten beleidigt worden ist?«

»Mag sie Hand über Herz legen und kein Geschrei erheben. Ein jeder Wachedienst hat seine Last.«

»Eine bequeme Moral für die hohen Herren, die ihre Beleidigungen rächen dürfen.«

» Au contraire, Madame, eine bequeme Moral für die schönen Damen, die sie nicht rächen, eventualiter sich auf einen Verteidiger berufen dürfen.«

»Ganz gut, mein Herr, insofern der berufene Verteidiger nicht zugleich der Beleidiger ist.«

»Madame, ein Mann, der seine Frau beleidigt, ist ein Poltron, und hat alle Chancen, ein Pantoffelheld zu werden. Zu seinem Nutz und Frommen, versteht sich, und durch eine räsonable Frau. Möge sie denn in Gottes Namen die Hosen anziehen an seiner Statt und weder er noch sie und ihre Schutzbefohlenen werden sich zu beklagen haben.«

Die Gräfin drückte ihr errötendes Gesicht gegen die Scheiben; ihr Herz hämmerte vor Unwillen. Wer war dieser Mann, der eine solche Sprache gegen sie zu führen wagte und der so unbeweglich in sich gekrümmt in jenem Winkel saß? Sie hätte dem höhnenden Grobian die Tür weisen mögen und fühlte sich doch in eigentümlicher Weise durch ihn imponiert.

»Ich sehe,« nahm sie nach einer Pause noch einmal das Wort, »daß ich die gewünschte Auskunft von Ihnen nicht zu gewärtigen habe.«

»Wenn Sie eine andre gewärtigen als die ich gegeben: nein, Madame.«

»So werde ich mich ohne dieselbe an einen Höheren wenden.«

»Versuchen Sie Ihr Heil, Madame.«

Die bitterlich enttäuschte Frau versank in die beängstigendsten Grübeleien. Sonnenaufgang war nahe. Was sollte sie beginnen, wenn der ungeschliffene Soldat im Ofenwinkel recht hatte, der König sie nicht schützte, den Grund einer Scheidung, einer Trennung mindestens, nicht anerkannte, den Sohn dem Vater zusprach, die Gattin den Reklamationen des Gatten überlieferte?

Unter so qualvollen Erörterungen mochten Stunden vergangen sein; der seltsame Wächter hatte keine Muskel geregt, in unverändert gebeugter Haltung schien er in Schlummer gesunken. Kaum aber dämmerte der erste Morgenschimmer, so erwachte er oder belebte sich. Er ließ seine Uhr repetieren. Sechs Schläge. Ohne Gruß und Blick ging er aus dem Zimmer. Die Gräfin sah ihn der Mannschaft entgegenschreiten, die gleich einer Mauer zum Schutz um die arme Hütte gereiht stand und vor ihm in schweigender Ehrfurcht salutierte.

»Wer ist dieser Mann?« fragte sich Eleonore von neuem. Ein jäher Blitz durchzuckte ihr Hirn. »Herr der Welt!« rief sie aufspringend, »sollte es – –? Aber nein; – unmöglich!« – Seine Züge konnte sie auch jetzt nicht unterscheiden in dem grauen Oktobernebel, unter dem eingedrückten Hut, dem in die Höhe gezogenen Kragen des Mantels. Aber diese kleine, fast dürftige Gestalt, diese nachlässige Kleidung und Haltung, dieser unelastische Gang, der kurze, ungewählte Ton, – nein nein, so täuscht kein Ideal: so sah, so schritt, so sprach nicht der Held, der Dichter, der geistreichste Mann des Jahrhunderts.

Sie öffnete das Fenster, bog sich hinaus und folgte mit immer lauter klopfendem Herzen seinen Bewegungen, als er den Berg bis zur halben Höhe hinanstieg und durch ein Fernrohr die Gegend nach allen Seiten überblickte. Der Nebel senkte sich nach und nach, ein Piket sprengte die Schlucht hinab an ihn heran. Eine kurze Meldung des führenden Offiziers, und der Unbekannte wendete sich rasch beweglich, ein veränderter Mann, nach dem Hause zurück. Ist er gewachsen in den wenigen Minuten? Welches Federwerk hat Nerv und Muskel gespannt? – Wer ist dieser Mann? – fragte Eleonore schier entsetzt, und sah ihn plötzlich Auge in Auge sich gegenüber.

»Die Ablösung naht, Madame,« redete er sie an. »Sie werden mir das Zeugnis geben, daß ich meinen Posten treulich gehütet habe. Tun Sie desgleichen, Gräfin Fink. Sie sollen in der Kürze auf demselben visitiert werden.«

Er reichte ihr nach diesen Worten mit einem gewinnenden Lächeln und mit einer Bewegung von so unnachahmlich einfacher Hoheit die Hand, daß unsre Heldin unwillkürlich erzitterte und sich bis zur Erde verneigte.

»Darf ich nicht wissen, mein Herr,« stammelte sie schüchtern, » wem ich die Ehre dieser Aussicht, wem ich so ritterlichen Rat und Schutz zu danken habe?«

»Einem Preußen, Madame, und einem Freunde Ihres braven Vaters,« antwortete der Offizier. »Es war ein kräftiges Mark in dem alten Stamme der Looß. Sorgen Sie dafür, daß das letzte Reis, auf fremden Stamm gepfropft, unentartet Wurzel schlage. Auch die Treue hat ihr Heldentum wie die Ehre, junge Frau, und vielleicht sind es nicht die schwersten Kämpfe, die mit dem Schwert in der Hand zum Austrag kommen. ›Zum Ehestand gehört mehr Herz, als in die Schlacht zu ziehen‹, hat eine Königin gesagt, die freilich nur bewiesen, daß sie keins besaß.«

Er wendete sich nach dieser Rede der Türe zu, Eleonore folgte ihm in unaussprechlicher Bewegung.

»O Gott, Sie gehen!« rief sie unter hervorbrechenden Tränen, »Alles verläßt mich, was soll ich tun?«

»Standhalten, haushalten, Ihr Haus halten, Gräfin Fink,« versetzte zurückkehrend der Preuße. »Einst lautete der Ehrenspruch einer Frau: › Casta vixit, lanem fecit, domum servavit‹, das heißt auf deutsch – –«

»Ich weiß, was es heißt,« fiel die Dame unter Tränen lächelnd ein, »aber wir sind keine Römerinnen.«

»Schlimm genug, Madame, denn wir brauchen wieder Römer,« sagte der Preuße, indem er die Hütte verließ.

Er bestieg das bereit gehaltene Pferd und ritt die Anhöhe hinauf, gefolgt von der wachthabenden Truppe. Die aufsteigende Sonne vergoldete die klirrenden Waffen; der Berg, die Schlucht, die ganze Gegend schienen wie mit Zauberschlag lebendig geworden. Eleonore sah mit Staunen, daß sie die Nacht an der Spitze einer Armee zugebracht hatte.

In demselben Augenblick bog der alte Diener, von der Wasserseite kommend, um die Ecke des Hauses.

»Kennst du diesen Preußen, Lehmann?« rief ihm die Gräfin in atemloser Spannung entgegen.

»Welchen Preußen, Frau Gräfin? Sie sind alle da, alle!« entgegnete der Veteran trunken, ja taumelnd in einem Freudenrausch.

»Den, der da oben reitet, Lehmann.«

»Die Sonne blendet mich, Frau Gräfin, aber sie sind alle da, alle!«

»Alle? – – auch der König?«

»Seine Majestät kommandieren die Vorhut, wie man sagt.«

»Lehmann, – sahst du ihn?«

»Und ob! Im Feuer von Molwitz zum letztenmal.«

»Ich meine heute.«

»Ich mußte ja die Batterien da oben auf die Berge führen. Links über uns, da stehen sie. Hurra, Hurra! Nun pfeift der Wind aus preußischem Loche!«

»Aber dieser Mann, Lehmann –«

»Welcher Mann, Frau Gräfin?«

»Der diese Nacht hier vor der Hütte mit dir sprach.«

»Die Nacht war schwarz wie ein Bärenfell, nicht die Hand vor den Augen –«

»Lehmann – Lehmann, – ich glaube – dieser Mann war« – Ehe sie den großen Namen genannt, machte eine Salve von der Höhe Haus und Tal erbeben.

Die Gräfin stand starr vor Schreck, der Veteran aber jubilierte:

»Das sind die Preußen, das ist der König! Nun fahre hin, Hildburghausen und Franzosenbrut: König Friedrich ist da, Fridericus Rex, hurra!«

»Einen Kahn, Lehmann, schaffe einen Kahn!« unterbrach ihn seine Herrin, in unsäglicher Angst, »hinüber, auf der Stelle hinüber!«

»Na, was sollen wir denn drüben, wenn die Preußen hüben sind?« fragte Lehmann verwundert.

»Und drüben mein Kind, mein Kind!«

»Aber wie sollen wir denn hinüberkommen, wenn die Kugeln so mir nichts, dir nichts über das Wasser pfeifen?«

»Ich muß hinüber, ich muß! Mein Leo ist in Gefahr, mein Leo ohne Schutz! Komm, Lehmann, wir gehen durch die Stadt.«

»Unserm Grafen rectamente ins Garn? Na, warum sind wir denn da erst echappiert? Die Preußen haben sich zwischen uns geschoben, von einer Verfolgung – –«

»Was frage ich nach dem Grafen, was frage ich nach Verfolgung und Ehre; mein Kind, mein Kind!«

»Und hören Sie denn nicht diese Flintensalven, gnädige Gräfin? Wir nehmen die Stadt mit stürmender Hand. Nur erst die Windbeutel proper hinausgefegt, dann 'nüber und fort nach Ganditten! Sehn Sie doch, wie die Kugeln alle links nach der Brückenseite fliegen! Unser Leochen sitzt drüben wie in Abrahams Schoß, und wir desgleichen unter dem vorspringenden Berge.«

Die Dame mußte sich überzeugen, daß ihr alter Diener im Rechte, und daß Geduld haben und warten der einzige Rat sei, den sie sich selber zu geben vermöge. Aber was waren das für Stunden der Spannung und der Todesqual, die sie zu durchleben hatte! Händeringend ging sie aus der Hütte ins Freie und aus dem Freien in die Hütte. Das Geschützfeuer von oben, Flintensalven vom Tore her drängten sich von Sekunde zu Sekunde.

Das Getös erweckte auch endlich Mutter Hannen aus ihrem Morgenschlummer; doch nahm sie es kaltblütiger als ihre unfreiwilligen Gäste, so gewohnt war sie bereits der »preußischen Jachtereien« geworden. Sie schäffterte unbekümmert im Hause hin und her. »Wo nur der Adam steckt?« war der einzige Ausdruck ihrer Gemütsbewegung.

Die Gräfin hatte ihren alten Platz am Fenster wieder eingenommen mit jener Ruhe, welche das eiserne Wörtchen »Not« auch dem Bedrängtesten schließlich einzuflößen versteht. Aber das Abenteuer, dessen sie sich so kühn unterfangen, das sie so leicht ausführbar gewähnt hatte, in welchem zweifelhaften Lichte erschien es ihr jetzt! Die Mahnung vor der Gefahr hatte sie überhört, jetzt in der Gefahr mußte sie fühlen, was es heißt, seinen Posten zu verlassen. Stolz und Vorwurf rangen in ihrer Brust, Ratlosigkeit lehrte sie Unterwerfung. Was konnte, was durfte sie tun? Der ewige Zuchtmeister da oben, was war sein Wille, sein Gebot? Sie faltete ihre Hände und flehte inbrünstig: »Anwalt der Schwachen, lehre mich wollen, was stark macht; Herr und Vater, schütze, behüte mein Kind.«

Stimmen vor dem Hause unterbrachen ihre fromme Erhebung. Ehren-Adam war von der Stadtseite her zurückgekehrt und der alte Wachtmeister, welchem unter dem Donner der Kanonen von der Höhe, dem Trommelwirbel und Gewehrfeuer von dem Tore her das Herz im Leibe vor Ungeduld kaum weniger zitterte als seiner schwer beängstigten Gebieterin, quästionierte ihn in so polternder Hast, daß der gleichmütige Fischer, das glückliche Vor- und Ebenbild seiner Ehehälfte, kaum zu Worte gelangen konnte, auf die sich überstürzende Neugier Bescheid zu geben.

Jetzt aber schnitt die Gräfin alle Fragen und Erkundigungen mit einem Zuge ab, indem sie hastig auf die Gruppe zutrat und unter allen Umständen an das jenseitige Ufer gerudert zu werden verlangte. Sie stellte die großmütigste Belohnung in Aussicht. Der Alte antwortete indes nur mit einem gelassenen Kopfschütteln.

»Es ist ja keine Gefahr, lieber Adam,« bat die Dame, »Ihr seht, die Geschütze sind nach der Brückenseite gerichtet.«

»Geht nicht, Gnädige,« antwortete der Alte, »geht nicht! der Kahn – –«

»Herr Jemine, Adam, wo hast du denn deinen Kahn?« fiel ihm Mutter Hanne in die Rede.

»Am Brückentore angebunden, Hanne.«

»Aber warum denn, Adam?«

»Weil die Kugeln wie Hagel ins Wasser schmeißen, Hanne!«

»Aber wie hast du denn runter kommen können ohne Kahn, Adam?«

»Füßlings am Berge, zwischen den Häusern hingeduckt, Hanne.«

»So schafft einen andern Kahn,« flehte die Gräfin, »habt Erbarmen, lieber Adam, – drüben mein Kind, mein liebes Kind.«

»Geht nicht, Gnädige, wahr und wahrhaftig, geht nicht, so lange das Feuern über der Vorstadt anhält.«

Noch einmal mußte sich die unglückliche Gräfin in Geduld fassen, an das Fensterchen setzen und den Blick nach ihrem Schlosse richten, oder dem Laufe der Kugeln folgen, die über die Häuser der Vorstadt hinwegsausten. Auch ihr Haus war dort bedroht, ihre Dienerschaft, ihr Gemahl waren es, und die junge Frau spürte an dem ängstlichen Klopfen ihres Herzens, daß ein siebenjähriges Band doch nicht so gleichgültig gelöst werde, wie sie noch vor wenigen Stunden gewähnt hatte. In dieser vielseitigen Aufregung hörte sie nur mit halbem Ohr auf des alten Fischers knappe Mitteilungen über den Zustand in der Stadt. »Die Garnison ist schon zum Ausrücken auf dem Marktplatze versammelt, als die feindlichen Kanonen so unerwartet über ihren Häuptern erdröhnen. Die Preußen suchen durch das östliche und südliche Tor in die Stadt zu dringen, die Besatzung will den Eintritt wehren, bis sie selber sich über die Brücke zurückgezogen und mit der jenseitigen Armee vereinigt hat. Aber schon sind die Tore genommen, eine Schar Österreicher ist zu Gefangenen gemacht, nur an der Brücke halten französische Grenadiere noch tapfere Gegenwehr.«

»Wer kommandiert die Franzosen am Brückentor?« fragt die Gräfin, in banger Ahnung von ihrem Sitze auffahrend.

»Mög' der Herzog aus dem pol'schen Hause, Gnädige,« antwortete der Fischer.

Leichenblässe auf dem Gesichte, sank Eleonore auf ihren Stuhl zurück. Auch er, ihr Ritter, auch er in Todesgefahr! Und sie allein, losgerissen von Freund und Feind, von Haus und Kind!

»Die Brücke brennt!« riefen jetzt die drei Stimmen draußen wie aus einem Munde, und in demselben Moment erdröhnte Kanonendonner von den jenseitigen Höhen. Die Besatzung mußte demnach glücklich hinübergekommen sein, die Brücke angezündet haben und durch das Feuern die Preußen von der Verfolgung des Feindes und dem Löschen des Brandes abzuhalten suchen.

Eleonore stieg die Leiter hinan, welche auf den Boden des Hauses führte, und beobachtete aus einer Dachluke das jähe Umsichgreifen der Flammen. Das Feuern ließ nach, die Feinde hatten sich gesammelt und zogen weiter. Sie konnten sich stromab nach der Seite des Gutes wenden, vielleicht waren sie schon drüben; drüben bei ihrem vielbedrohten, verlassenen Kinde. Verlassen, verlassen von seiner Mutter. Jetzt mußte sie hinüber um jeden Preis. Sie flehte von neuem händeringend, unter heftigem Schluchzen.

»O, nur einen Kahn!« rief sie. »Adam, nur einen Kahn. Lehmann rudert mich hinüber. Es bringt Euch keine Gefahr, Adam, nur einen Kahn!«

Der Alte kratzte sich eine Weile nachgrübelnd am Kopfe. Die trostlose Dame dauerte ihn. Endlich hatte er einen Ausweg gefunden. Sein Kahn lag zu nahe dem Brückentore, den konnte er nicht schaffen. Aber beim letzten Hause der Vorstadt hatte ein andrer Meister sein Fahrzeug angebunden. Wenn die Gräfin sich traute, die Strecke dahin zurückzugehen, wollte er sie wohl hinübersetzen. Die Straße, man konnte sie aus der Dachluke überblicken, war menschenleer, der Fluß an jener Stelle schmal, da eine kleine Insel – bei dem niedrigen Wasserstande jedoch mit dem jenseitigen Ufer durch eine Sanddüne verbunden – das Bett verengte. Freilich, der Weg von der Insel nach dem Schlosse schlug einen gewaltigen Bogen, die Fährnisse auf demselben ließen sich nicht im voraus berechnen.

»Ich wage den Weg!« rief die Gräfin entschlossen, und in wenigen Augenblicken waren alle drei auf der Straße nach der Vorstadt; die Gräfin voran mit beflügelten Schritten, die beiden Alten vermochten nur keuchend zu folgen.

Unbehindert erreichten sie das letzte Haus der kleinen Insel gegenüber, deren dichte Baumgruppen noch nicht völlig ihres herbstlichen Blätterschmuckes beraubt waren. Die Vorstadt ließ nichts von dem Tumulte ahnen, der die innere Stadt erfüllte. Die Bewohner hielten sich ängstlich in ihren Häusern verborgen, froh genug, daß die Kugeln vom Berge, ohne zu zünden, über denselben hinweggeflogen waren und daß die Preußen sämtlich nach der Brückenseite drängten.

Der Kahn wurde ohne Umstände losgebunden; Meister Adam saß am Ruder, die Dame und ihr Diener stiegen ein. Im Augenblicke des Abstoßes bemerkte Eleonore auf einem Felsenvorsprunge, halb von der den Berg hinankletternden Häuserreihe verdeckt, unmittelbar sich gegenüber und deutlich erkennbar, ein preußisches Detachement in gemessener Entfernung von einem Führer, der durch ein Fernglas den Brand der Brücke beobachtete.

Dieser Führer, sie täuschte sich nicht – es war der kleine Mann im blauen Reitermantel und dreikrempigen Hut, ihr geheimnisvoller Rater und Wächter von dieser Nacht! Jetzt, im vollen Tageslichte, den Kopf zum Gebrauche des Glases ein wenig gehoben, konnte sie seine Züge unterscheiden; sie unterdrückte einen Schrei, um den der Gruppe den Rücken zukehrenden Schiffer nicht stutzig zu machen; die Hände über der Brust gefaltet, neigte sie mit einer demütigen Gebärde nur leise den Kopf und bebte freudig zusammen, als sie zum Gegengruß eine freundliche Handbewegung gewahrte, ähnlich der, welche sie heute morgen mit einer elektrischen Ahnung durchzuckt hatte.

In einiger Entfernung loderte die Brücke und sprühte Funken über das ruhig dahingleitende Wasser. Hin und wieder tönte noch ein Kanonenschlag, ohne Fährnis aber landete man an der kleinen, buschigen Insel. Der Kahn lenkte zurück. Eleonore bahnte sich mit der Hast des gescheuchten Wildes einen Weg durch das dichte Weidengestrüpp, gefolgt von dem Diener gleich ihrem Schatten.

Plötzlich, etwa in der Mitte der Insel, bleibt sie stehen, regungslos, wie in den Boden gewurzelt. Welche Begegnung! Kaum zehn Schritte entfernt lagert unter einem Erlenbusche, gleichfalls den Brand der Brücke beobachtend, ein französisches Piket und sein Führer ist – der Herzog von Crillon!

Das Ufergebüsch hat vor den spähenden Blicken die Überfahrt, das Getöse aus der Stadt den leisen Ruderschlag gedeckt, und so sieht die Eilende ihren Helden und ihren Ritter einander auf Schussesweite als Feinde gegenüberstehend, und sich selbst wie durch ein Wunder zwischen beide gedrängt, um, starr vor Entsetzen, Zeugin einer Gefahr zu werden, die, o wie viel Höheres! als ihr eignes Leben bedroht.

»Ich komme, den Herrn Marschall zu fragen,« diese Worte hört sie einen jungen französischen Scharfschützen an den Herzog richten, »ob ich den preußischen General niederschießen darf, der hinter den gegenüberliegenden Häusern den Brand der Brücke rekognosziert. Er ist in unsrer Gewalt und nach seiner Erscheinung, wie nach der Ehrerbietung, welche seine Umgebungen ihm erweisen, kein Geringerer als –«

»Der König!« ruft Eleonore in tödlicher Angst aus dem Gebüsche hervor, und zu des Herzogs Füßen niederstürzend, »schonen Sie, retten Sie den König!«

Herr von Crillon war vom Boden aufgesprungen und hatte einen raschen Blick nach dem jenseitigen Ufer hinübergeworfen. »Beruhigen Sie sich, Madame,« sagte er jetzt, indem er sie vom Boden in die Höhe zog, »Ihr König ist nicht in Gefahr.«

Und sich mit strengem Ansehen gegen den meldenden Offizier zurückwendend, setzte er hinzu:

»Leutnant Brünet, Sie sind auf diesen Posten gestellt, um die Bewegungen des Feindes gegen den Brückenübergang zu beobachten, nicht aber, um einen rekognoszierenden General meuchelmörderisch zu erschießen. Am wenigsten, wenn Sie in demselben die geheiligte Person eines Monarchen vermuten sollten, der selber als Feind noch Anspruch auf unsre Ehrfurcht hat. Tun Sie Ihre Schuldigkeit, Leutnant Brünet.«

Er nahm nach diesen Worten den Arm der tief erschütterten Frau, welche mit schlagendem Herzen und begeistertem Blicke dieser ritterlichen Entscheidung gelauscht hatte. »Eleonore,« sagte er, nachdem er einige Schritte schweigend an ihrer Seite gegangen und vor den Blicken seiner Begleiter durch das Gebüsch gedeckt war, »Eleonore, ich ahne, was Sie in dieser Nacht gelitten, und ich weiß, warum Sie es gelitten. Aber Ihr Leid wird gesühnt, die Beleidigung gerächt werden.«

»O, nicht diese Erinnerungen, Herr Herzog,« rief die Gräfin rasch und bewegt. – »Ein großer Moment hat Leid und Beleidigung getilgt. Hochherziger Mann, was Sie in diesem Augenblicke getan, wiegt schwerer als zehn gewonnene Schlachten.«

»Madame,« begnügte der Herzog sich zu entgegnen, »mein Ahnherr hieß Louis Berton von Crillon!«

»Der Schild der Ehre, – im Enkel ungebrochen!« sagte die Gräfin. »Er schirmt ein Heldenleben und in dem Herzen eines irrenden Weibes hat er den Mut der Tugend, den Glauben an Menschenhoheit wieder wach gezündet. Das Kleine schwindet im Schatten großer Seelen.«

Sie zog ihren Arm aus dem seinen und wollte vorwärts eilen. Er hielt ihre Hand zurück. »Sie fliehen, Eleonore?« fragte er, »wohin gehen Sie?«

»In mein Haus,« antwortete sie, »zu meinem Sohne, ihn nach dem Vorbild edler Männer zu erziehen.«

»Schönes, angebetetes Weib!« rief Herr von Crillon mit strahlendem Blick, indem er ihre Hände an sein Herz drückte. »Der Dienst des Soldaten bindet mich in dieser Stunde. Ja, kehren Sie zurück in Ihr Haus, aber erinnern Sie sich – und ich bürge Ihnen dafür, daß Sie es unbehelligt von verwirkten Ansprüchen werden tun dürfen – erinnern Sie sich an einen Freund, dessen teuerstes Glück es sein wird, Sie zu verehren und zu schützen. Wir werden uns wiedersehen, Eleonore.«

»Niemals, niemals, Herr Herzog!« entgegnete die Gräfin. »Die Erinnerung an dieses Begegnen wird meine Sterbestunde freudig machen, – aber lassen Sie uns niemals, niemals wiedersehen.«

Sie riß sich los und floh mit bebenden Schritten über die Düne. Am jenseitigen Ufer hielt sie an und blickte noch einmal zurück nach der Stätte einer geheiligten Erfahrung. Der Felsenvorsprung ihr gegenüber war von den Preußen verlassen, der Herzog stand noch unbeweglich an der Stelle, wo sie von ihm geschieden war.

Vogelleicht, mit hochgeröteten Wangen und strahlenden Auges schwebte sie nun über die Wiesen, den nachkeuchenden Diener weit hinter sich zurücklassend. Kein Menschenschritt störte sie, so nahe dem wildesten Getümmel; ein Strom freudiger Begeisterung wogte durch ihre Brust; sie hätte es in die Lüfte hinausjubeln mögen: »Die Ahnungen meiner Jugend sind wahr geworden, ich habe einem Helden und einem Ritter Auge in Auge geblickt!«

In der Nähe des Dorfes bog sie von der Fahrstraße ab und gelangte durch wüstliegende Gärten zu den Terrassen, die vom Flusse nach ihrem Schlosse hinaufführen. Ohne Atem zu schöpfen, eilte sie die Treppen hinan, drängte sonder Gruß noch Laut durch die in banger Unruhe versammelten Leute ihres Hofes und Hauses bis zu dem Zimmer, aus welchem ihr Knabe ihr fröhlich entgegensprang. Sie stürzte vor ihm nieder, preßte ihn in ihre Arme und hielt ihn lange unter strömenden Tränen an ihrem Herzen.

»Mein Kind, mein Leo!« rief sie endlich, »vor dir will ich Wache halten und meinen Posten nicht verlassen, so wahr mir Gott helfe!«

* * *

Sollen wir hier schließen, die Versuchung von uns weisen, als Nachtrag zu erzählen, ob, wann und von wem unsre Heldin auf ihrem Posten visitiert worden ist? Wir bitten noch um eine kleine Geduld, auf den Vorwurf hin, gegen eine gute Regel zu verstoßen und in den Fehler unsres würdigen Pfarrherrn zu verfallen, der sich gleicherweise schwer entschließen konnte, das Buch im rechten Augenblicke zuzuklappen.

Dieser vortreffliche Mann war es, dessen Räuspern die junge Frau aus ihrer Ekstase erweckte. Er war der Dame in ihr Zimmer gefolgt, sein Herz brannte nach der Lösung des Rätsels, das ihn seit dieser Nacht, wo der Graf seine Gemahlin vergeblich auf dem Schlosse und selbst im Pfarrhause gesucht hatte, so unaussprechlich, ja mehr noch als die preußischen Kanonen beängstigte. Er hatte schon lange unbemerkt hinter der Dame gestanden, als diese sich endlich von ihren Knien erhob und, ihm beide Hände entgegenreichend, zwischen ihren Tränen lächelnd sagte:

»Es ist Reformationstag heute, mein Freund, und ich gelobe Ihnen, eine treue Mutter zu werden.«

Sie hatte darauf eine Unterredung mit ihm, oder eigentlich eine Beichte vor ihm, in welcher keine Falte ihres Herzens verborgen blieb. Er hörte sie an ohne Erwiderung, aber mit beredsamen Tränen, und kam zum Schlusse mit ihr überein, noch heute der Friedensunterhändler zwischen ihr und ihrem Gemahl zu werden.

»O, wenn Sie diese Nacht seine Angst gesehen hätten, Gnädigste,« sagte er, nach seiner Weise zur Sühne redend, »seine Reue und Qual, einen Stein in der Erde hätte es erbarmen mögen.«

Die junge Frau zuckte die Achseln. Sie zweifelte ja nicht daran, daß er ihretwegen in Sorge gewesen, sie wußte ja wohl, er hatte kein Kieselherz, ihr heiterer, flottlebiger Gemahl. O, wenn er doch etwas von einem Kiesel in sich getragen, wenn er doch Funken hatte sprühen können, sobald ein Stahl ihn berührt!

Am selbigen Nachmittage sehen wir den guten Herrn Magister in dem nämlichen Aufzuge, in dem wir gestern seine Bekanntschaft gemacht haben, in Schuhen und Sergemäntelchen, Hut und Parapluie unter dem Arm, in Ehren Adams glücklich wieder an seinem gewohnten Ankerplatze ruhenden Kahne nach der Stadt hinüberrudern, in welcher die Preußen seit morgens unbehelligt hausten. Seinen Herrn Patron fand er im Polnischen Hause inzwischen nicht, er war im Gefolge der Franzosen von dannen gezogen.

Am andern Morgen stand der alte Herr schon wieder zu einer Fußtour gerüstet. Direkt im Lager der verbündeten Armeen, das kaum zwei Wegstündchen fern vom Gute aufgeschlagen war, gedachte er Erkundigungen über den Verbleib seines gnädigen Patrons einzuziehen und nebenbei eine delikate, seelsorgerische Mission auf eigne Verantwortung bei dem ritterlichen, französischen Herzog zu erfüllen. Indessen, noch ehe er das Dorf überschritten hatte, stellte zum Schutze des Schlosses auf höheren Befehl eine französische Sauvegarde sich ein und wurde er durch ein Billet seines Herrn Patrons unterrichtet, daß selbiger von der glücklichen Heimkehr seiner Frau Gemahlin avertiert, eine Geschäftsreise nach seinen thüringischen Gütern unternommen habe. Schweigend wechselte der geistliche Herr einen Blick des Einverständnisses mit der errötenden Gräfin und legte die Ansprache zu den Akten, die er in der Stille der Nacht in französischen Lettern aufgebaut und memoriert hatte. Ach, er ahnte nicht, der brave Sachse, daß der fremde Herr ihn allenfalls noch leichter in seinem heimischen Deutsch verstanden haben würde.

Die Sauvegarde tat not; denn die nächstfolgenden Tage waren sturm- und drangvoll für die unglückliche Gegend. Franzosen und Reichsvölker hausten und plünderten in ihr um die Wette, die Verlegenheit der entblößten Bauern war unaussprechlich.

Gräfin Eleonore hatte keine Ruhe, sich mit ihrem eignen Schicksal zu beschäftigen. Ihrer selbstauferlegten Ordre getreu, stand sie Tag und Nacht auf ihrem Posten: anordnend, aushelfend, Rat und Beistand spendend, die Hungernden speisend, die Nackten kleidend, die Obdachlosen beherbergend, den Übermut bändigend, entschlossen wie ein Mann. Mehr als einmal hörte man stundenlangen Kanonendonner gegen die noch immer von den Preußen besetzte Stadt, man fühlte sich mitten im Kriegsgetümmel und ahnte einen nahen, entscheidenden Zusammenstoß. Nach einigen Tagen sahen sich die ausgeplünderten Dörfer eine kurze Weile befreit, indem die verbündeten Lager einige Stunden weiter nach Westen vorgeschoben wurden. Die Preußen dahingegen schlugen eine Brücke über den Fluß und sammelten sich auf dem jenseitigen Ufer. Eleonore beobachtete von dem Turme ihres Schlosses den Übergang des Königs unfern dem Platze, an welchen sich eine so denkwürdige Erinnerung für sie knüpfte; sie erwartete mit Spannung die Ankunft heimischer Gäste. Aber der König wendete sich, die Uferhöhe zwischen den Weinbergen durchschneidend, – ein Punkt der lange Zeit den Namen des Preußengäßchens geführt hat, – der Richtung des Guts entgegengesetzt, westlich den feindlichen Lagern zu und so folgten denn nach der außerordentlichen Aufregung zwei Tage verhältnismäßiger Stille, welche der Gräfin einen prüfenden Blick in ihre innere, wie äußere Lage gestatteten.

Sie hatte die erste Probe ihrer Tüchtigkeit abgelegt und fühlte ihre Kräfte einer Aufgabe gewachsen, die ihr nicht nur not, sondern auch wohl tat; ein freudiger Mut durchleuchtete ihr ganzes Wesen.

Sechs Tage waren seit ihrer Rückkehr verflossen, als man in der Mittagsstunde des fünften November anhaltendes Feuern in abendlicher Richtung vernahm und sich die Kunde eines Entscheidungskampfes verbreitete, wie seltsamerweise häufig in verhängnisvollen Krisen, noch ehe ein solcher zum Austrag kam. Der alte preußische Wachtmeister, der in den Tagen zögernder Ungewißheit stumm und kopfhängerisch einhergeschlichen war, vermochte nicht länger seiner Unruhe zu widerstehen; die Knechte des Hofes folgten ihm zu Pferde in der Richtung des Schalles, die Bauern strömten zu Fuß über die wüstliegenden Felder.

Gräfin Eleonore harrte ihrer Heimkehr in einem Fieber innerlichster Widersprüche. Ihr König und Held, ihr Ritter und Freund standen sich gegenüber zwischen Sieg und Gefahr. Daneben ihr Kind, Haus und Hof, ihr Gatte – wohin sollte sie sich wenden mit ihrem Hoffen und Sorgen? Wohl uns, daß das arme gebrechliche Menschenhirn kritische Momente selten nach eigner Wahl zu entscheiden hat, daß eine unberechenbare Macht den Ausschlag gibt und wir uns schließlich, bei gutem Willen auch meist mit gutem Glück, in das Unvorhergesehene, ja in das Widerstrebendste fügen lernen.

Der Nachmittag war schon vorgerückt, als plötzlich der verschwundene Gemahl mit triumphierender Miene in den Hof sprengte. »In diesem Augenblick ist alles entschieden!« rief er im Eintreten, der Gräfin die Hand küssend, so unbefangen, als ob zwischen ihnen beiden eine Störung nicht zu erwähnen wäre. Eleonoren versagte die Stimme, sie klammerte sich bebend an die Lehne ihres Sessels und ihr unzertrennlicher Begleiter, der gute Magister, mußte die Frage von ihren Lippen nehmen, zu welcher ihre Brust nach Atem rang.

»Eine Bataille, gnädiger Herr?« forschte er, selber in zitternder Spannung, »und welche Partei hat obtiniert?«

»Welcher Zweifel, mein Bester?« antwortete achselzuckend der sächsische Kavalier. »Diese elende Handvoll Preußen! in meinem Angesicht brachen sie ihr Lager ab; wie eine Theaterdekoration, parole d'honneur! Das versteht sie, die Potsdamer Wachtparade! Für diesen Winter, für immer, will's Gott, wird er uns in Ruhe lassen der großhänsige Störenfried!«

Die Preußin stand wie vernichtet, kaum hatte sie Kraft, des siegestrunkenen Eheherrn zärtlich schmeichelnde Annäherung abzuwehren. Der geistliche Freund kam ihrer Pein erbarmend mit einer bedenklichen Einschaltung zu Hilfe. »Der Herr Graf,« fragte er, sich zwischen beide schiebend, »der Herr Graf, trügte mein Ohr mich nicht, waren Augenzeuge der Schlacht?«

»Augenzeuge? nicht so eigentlich, Verehrtester,« versetzte der Graf. »Und eine Schlacht? Nun? wenn Sie es so nennen wollen, ich nenne es Schach und Matt. Über Freiburg von unsern thüringischen Gütern kommend, – eine Geschäftsreise unaufschieblich, liebes Lorchen. Indessen freue ich mich des Zufalls, der mir diese artige Kleinigkeit in die Hände spielte.«

Eleonore setzte das Schmuckkästchen, das er ihr mit diesen Worten überreichte, uneröffnet beiseite und erwiderte durch einen Dankesblick die gefällige Neugier ihres Freundes, mit welcher er noch einmal ihr eine Frist zur Sammlung bereitete.

»Von Ihren thüringischen Gütern kommend, Gnädigster – –?«

»Sah ich des Hildburgshausen Disposition gen Nord und Süd. Endlich zur Tat entschlossen, dieser Soubise! In drei Kolonnen, auf vier Meilen Distanz den Feind den Fluß passieren lassen, wahrhaftig, es klänge unerhört, säße er jetzt nicht dafür wie die Maus in der Falle. Revanche für Pirna, hahaha!«

»Indessen, mein Herr Graf, dieses anhaltende Feuern –«

»Das Feuern begann erst, nachdem mir beide Lager außer Sicht waren. Der Garaus, den man ihnen macht; tant pis, wenn sie sich zur Wehr gesetzt. Aber, liebste Eleonore –«

»Eine Mutmaßung demnach, lediglich, hochzuverehrender Herr Graf, ein Schluß a priori, sozusagen, von wegen des Schach und Matt!«

»Eine Notwendigkeit, mein Bester, eine Naturnotwendigkeit geradezu. Eine französische Armee, eine vierfältige Übermacht und diese miserablen Trümmer! Hätten Sie ihre Klemme gesehen zwischen Geisel und Janusrücken! – – Aber Sie haben böse Tage zu überstehen gehabt, Teuerste, – gottlob! daß sie hinter uns liegen; nach der heutigen Affäre wird unser vielgeliebter Herr nicht zögern, aus Warschau zurückzukehren und morgen schon, denke ich, daß auch wir zu einem fröhlichen Winter nach Dresden aufbrechen können.«

Gräfin Eleonore hatte allmählich Spannung und leidige Erinnerungen zu bannen und sich zu einem Entschluß zu fassen gewußt. »Nach Dresden aufbrechen?« wendete sie mit äußerer Ruhe mindestens ein; »nicht ich, Graf, ich bleibe hier.«

»In dieser Jahreszeit, dieser Wüstenei, beileibe nicht, liebes Herz.« gegenredete schmeichelnd der Herr Gemahl.

»Zu jeder Zeit und in jeder Lage, Graf. Unter dem Drucke schwerer, gegenwärtiger Pflichten zumeist. Ich bitte, hören Sie mich an. Noch ist diese Stunde unser, Gott weiß, was die nächstfolgende bringen kann. Darum gleich jetzt möge es klar werden zwischen Ihnen und mir.«

»Wozu diese Erörterungen, Liebchen! Vergessen wir beide, was hinter uns liegt und suchen uns in Zukunft weniger verdrießlich einzurichten.«

»Eben weil ich suchen will, das Vergangene zu vergessen und unsre Zukunft leidlicher einzurichten, muß ich auf diese Erörterungen dringen, Graf,« erklärte die Dame unerschütterlich – und gegen den Prediger gewendet, der unbemerkt zu entschlüpfen beabsichtigte, setzte sie hinzu:

»Bleiben Sie, mein Freund, ich wünsche, daß diese Unterredung einen Zeugen habe.«

»Himmel, welcher feierliche Eingang!« rief der junge Herr im voraus ungeduldig! seine Gattin aber, indem sie Platz nahm und den verlegen zu Boden blickenden frommen Freund an ihre Seite winkte, versetzte mit einem bittern Anklang: »Ich verspreche, Ihre Geduld zu schonen und das, was ich vergessen will, so wenig als möglich zu berühren.«

Der Graf warf sich auf einen Sessel ihr gegenüber. »Der Sache ein Ende zu machen, was wünschen Sie?« fragte er seufzend.

»Einfach: Ihre Vollmacht für meine Pflicht,« antwortete die junge Frau. »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß ein unstetes, zerstreuendes Leben, wie ich es bis heute geführt habe, mir selbst, unsrem Sohne, Ihrem Besitzstande, unsrem gegenseitigen Verhältnisse, Graf, unerträglich ist, und nur mit dem unwandelbaren Vorsatze, hinfort lediglich dem Dienste meines Hauses zu leben, habe ich nach einer schweren Erfahrung den Fuß über seine Schwelle zurückgesetzt.«

»O, der ernsthaften Kindereien, liebes Herz!« unterbrach sie der Gemahl. »Nennen Sie das die Vergangenheit nicht berühren?«

»Nicht mehr als unerläßlich ist. Hören Sie mich zu Ende, Graf. Ihre Neigungen, Ihre Verhältnisse vielleicht, fesseln Sie zurzeit an den Wechsel eines weitläufigen Verkehrs. Ich dürfte Sie daran erinnern, daß, wie die Erziehung unsres Sohnes einen stetigen Platz, so die Verwaltung Ihrer Güter in hartbedrängter Zeit, der Notstand unsrer Eingesessenen die ununterbrochene tätige Gegenwart eines Herrn erheischen. Indessen, so lange Sie nicht selbst geneigt sein werden, ein so ernstes Amt zu übernehmen, beschränke ich mich auf die Forderung, dasselbe mit unbedingter Vollmacht in meine Hand gelegt zu sehen. Ich werde treu und wachsam an der Pforte Ihres Hauses stehen, unsern Leo sorgfältig und kräftig bilden, keine Mühe des Erlernens und Ausübens scheuen, mit einem Worte, gewissenhaft als Ihre Statthalterin schalten und da, wo das Vertrauen des Herzens wankend geworden ist, die Treue der Pflicht unerschütterlich wahren. Verlangen Sie dahingegen niemals wieder, daß ich in einen Kreis zurückkehre, vor welchem Sie mir, wie sich selber erst ein Brandmal aufdrücken mußten, ehe ich zu der Erkenntnis gelangte, daß ich in demselben ein verlorner Posten sei.«

»Gut, sehr gut, ganz vortrefflich!« murmelte der geistliche Herr, indem er sich vor Bewunderung die Hände rieb. Der aber, dem diese lange Rede gegolten hatte, erwiderte sie zunächst mit einem unterdrückten Gähnen, dann aber sagte er halb lächelnd, halb verstimmt:

»Wie hartnäckig Sie sind, Eleonore! Wer weiß um jene flüchtige Übereilung, wer denkt noch daran?«

» Ich weiß darum, Graf, – ich denke daran, denn vergeben wollen heißt nicht vergessen können. Ich fordere daher in Gegenwart unsres Freundes Ihr Wort und ich werde es standhaft zu –«

» Quel bruit pour une omelette!« rief Graf Moritz aufspringend. »In der Tat, Gräfin, Sie treiben es zu arg mit dieser salbungsreichen Exhortation. Sie haben meine Frau angesteckt, Herr Magister. Wollten wir Rechnung miteinander halten, liebes Kind, so würde ich wohl nicht minder mit einem kleinen Sündenregister aufwarten dürfen. Aber ich meine, wir schließen ab. Im übrigen könnte ich mir Ihr Paktum wohl gefallen lassen, sicher genug, daß Sie bald gelangweilt von der Tugend des Butter- und Käsemachens kommen würden, den Hausschlüssel in meine Hand zurückzulegen und den Ballfächer dagegen einzutauschen. O, ich kenne meine Weiberchen!«

Wirre Stimmen vom Hofe herauf unterbrachen den ehemännischen, lächelnden Verdruß. »Was ist das? Schon die Sieger?« rief er, nach dem Fenster und dann schnell auf die Rampe eilend, die aus dem Parterresaal in den Hof herunter führte.

»Lehmann, – das halbe Dorf! Sie schreien Sieg!«

Der Prediger drückte der schmerzlich bewegten Freundin tröstend die Hand. »Der Übermut der Jugend und des Glücks,« sagte er. »Aber nur standhaft, standhaft, edle Frau. Ihrer harren zwei unwiderstehliche Verbündete: Not und Zeit, der Sieg bleibt Ihnen!«

»Sieg, Sieg!« jubelte vom Hofe herauf die Stimme des preußischen Veteranen.

Auch die Gräfin sprang auf und eilte in den Hof, der sich im Umsehen mit einem Troß um die rückkehrenden Späher gefüllt hatte.

»Sieg, Sieg!« wiederholte aller Devotion vor seiner sächsischen Herrschaft vergessend, der alte Preuße in einem Freudenrausch. – »Gloria, Viktoria! Eine Hasenhatz! König Friedrich, hurra!«

Der Graf war im Begriff, dem unverschämten Prahler mit seiner Reitgerte eine Lektion zu geben.

Eleonore fiel ihm in den Arm, Mienen und Reden der gleichzeitig Heimgekehrten bestätigten das Unerhörte. Ein in den Hof sprengendes, preußisches Piket ließ den letzten Zweifel schwinden. Was für ein Märchen unglaublich, für ein Lustspiel übertrieben geschienen haben würde, es wurde wahr. Ein Triumph der Schwachen, wie nie ein zweiter mit geringeren Opfern erkauft: Geist und Gewandtheit feierten ihn; eine Niederlage der Starken, wie nie eine zweite mit geringeren Wunden gesühnt: nur die Ehre der Feinde blieb als Leiche auf der Wahlstatt. Kunde auf Kunde drängte sich, Masse auf Masse. Ein verwundeter Held wird preußischerseits im Schlosse angemeldet, für den königlichen Sieger selber zur Nacht Quartier bestellt; die allgemeine Verwirrung, des Grafen Bestürzung sind unbeschreiblich.

»Schnell gesattelt!« rief er, aus seiner Erstarrung auffahrend, seinem Reitknechte zu, und die Gräfin hastig in den Saal zurückführend, flüsterte er mit scheuem Blick: »Ich muß fort auf der Stelle. Der König hält mich für seinen Feind.«

»Ich bezweifle es, Graf,« versetzte Eleonore mit verächtlichem Achselzucken, »der König von Preußen wird nicht auf Sie achten.«

»Doch, doch, ich bin verdächtig, unschuldig, Gott weiß es, aber ich bin's! Und wenn selbst – – mein König, mein armer Herr – geschlagen – –«

»Fern genug vom Schlag!«

»Ohne Land – –«

»Zur Vorsicht außer Lands!«

»Zu ihm nach Warschau! Was bleibt ihm, als die Treue seiner Diener?«

»Wo der Herr, da sein – – – – Sie haben recht.«

Graf Moritz wischte sich die Augen. »Werden Sie mir folgen, Eleonore?« schluchzte er.

»Nein, – ich bleibe.«

»Ich darf Ihnen nicht zureden, armes Weib. Eine Reise, eine Flucht – unter diesen Verhältnissen, – in dieser Jahreszeit – unser Kleiner – Sie sind eine Preußin, man kennt Ihre Sympathien – man wird Rücksicht auf Sie nehmen, Ihnen eine Sauvegarde bewilligen – –«

»Ohne Sorge, Graf, ich fürchte mich nicht,« unterbrach ihn Eleonore mit schnödem Ton und schnöderer Miene.

Ein langsam in den Hof rollender Wagen unterbrach das peinliche Zwiegespräch. Der Graf schlüpfte hinter die Tür, vor deren Aufgang die Gräfin ruhig stehen blieb. Ein preußisches Piket eskortierte das Gefährt, in dessen Innern der Leibarzt des Königs und ein Diener in preußischer Livree den angemeldeten »verwundeten Helden« unterstützten. Der Schlag wird geöffnet, der Leidende sorgfältig herausgehoben. Totenbleich und schwankend klammert sich die Gräfin an die Brüstung der Rampe, der Graf stürzt, sich selber vergessend, aus seinem Lauschwinkel hervor: – der besinnungslose, blutende Gast seines Hauses, der Gefangene Preußens – es ist der Herzog von Crillon!

»Tot?« fragte Graf Moritz in aufrichtiger Angst.

»Nur schwer blessiert mein Herr,« antwortete der Arzt mit bedenklicher Miene schnell einen Ruheplatz für den seiner Sorgfalt Anvertrauten fordernd.

Graf Moritz drückte die schlaffhängende Hand des Verwundeten an sein Herz und entfernte sich hastig unter hervorbrechenden Tränen. Eleonore, mit gewaltsamer Anstrengung sich zusammenraffend, geleitete den traurigen Zug durch den Saal des Erdgeschosses in ein anstoßendes Zimmer, auf ihr eignes Ruhebett. Während man die Anstalten zu dem erforderlichen Verbande vorbereitete, blieb sie einige Minuten mit dem Ohnmächtigen allein, zu seinen Füßen kniend, sein blutendes Haupt an ihrem Herzen. Er schlägt die Augen auf, sein Blick trifft den ihren mit dem Ausdruck verzweifelnden Erkennens. »Daß wir uns niemals, niemals wiedergesehen hätten, Eleonore!« flüsterte er mit schmerzbeklommener Stimme.

Der Arzt, gefolgt von Lehmann, dem preußischen Diener und dem hilfreichen Magister, trat wieder ein. Die Gräfin mußte sich entfernen. Noch lauschte sie an der Tür des Kabinetts, als ihr Gemahl in der Livree seines Reitknechts, den kleinen Leo auf dem Arm, in den Saal geschlichen kam. Jede Spur einer eifersüchtigen Anwandlung schien in seinem Herzen erloschen, er umarmte seine Frau, herzte das Kind und stammelte unter Tränen: »Gott weiß, es bricht mir das Herz, mein liebes Lorchen, dich zu verlassen in dieser Qual und Not.«

Eleonore faßte seine Hand, der Schmerz hatte ihre höhnende Bitterkeit gebrochen. Auch sie hatte eine Schuld zu bereuen und zu büßen. »Bleibe, Moritz,« sagte sie. »Laß uns gegenseitig vergeben und uns einander das Schicksal kommender Tage tragen helfen. Bleibe in der Heimat, bei deinem Sohn – –«

Der junge Mann schwankte, sein Knabe schmiegte sich an ihn; seit Jahren hatte sein Weib nicht ein so herzliches Wort zu ihm gesprochen. »Lorchen, mein Lorchen,« schluchzte er. »Was soll ich tun? Ich hasse ja keinen, ich fürchte auch keinen, aber ich liebe meinen Herrn, meinen armen, guten Herrn. Was, ach, was soll ich tun?«

»Deine Pflicht, Moritz!« sagte die Gräfin.

»Meine Pflicht!« wiederholte er mechanisch, während sein Ohr nach dem Fenster spannte.

Rascher Hufschlag, ein einstimmiger Ruf: »Der König!« schallte vom Hofe herauf. Dann alles totenstill.

»Der König!« rief Graf Moritz zusammenfahrend. »Mein König, mein armer Herr, zu ihm, fort, fort!«

Der Magister, der Inspektor, der Haushofmeister drängten in den Saal und Rat fordernd an ihn heran.

»Dort mein alter ego!« rief er zurück und mit einem Satze war er aus ihren Augen verschwunden.

»Den Grafen ruft die Pflicht zu seinem Landesherrn,« sagte die Gräfin, den fliehenden Gebieter vor seinen Bediensteten rechtfertigend. Dann aber auch ihn vor sich selber rechtfertigend, fügte sie hinzu, ihren Knaben an die Brust drückend: »Er liebt einen Herrn. Du aber, mein Sohn, daß du ein Mann werdest, kenne, liebe ein Vaterland.«

Darauf nahm sie den Knaben an die Hand und eilte nach der Tür, ihren hohen Gast zu begrüßen.

Der König war vom Pferde gestiegen, während sein Gefolge im Hofe zurückblieb; mit rascher Bewegung schritt er die Stufen der Freitreppe hinan in den Saal, der kleine Mann im blauen Mantel, den Hut tief in die Stirn gedrückt, ihr Wächter und Rater in jener Vornacht verhängnisvollen Kampfes und Sieges. Sein Anblick gab ihr die volle Fassung zurück, sie neigte sich bis zur Erde mit jenem vornehmen Anstand, der ihrer höfischen Zeit und Zone eigen war. Ohne sie zu bemerken, oder zu beachten, ging er an ihr vorüber und rasch dem aus des Verwundeten Zimmer tretenden Diener entgegen.

»Der Herzog, Deesen?«

»Sind einpassiert, Majestät.«

»Rufe Er den Doktor.«

Der Arzt erschien in der nächsten Minute.

»Wie steht es um den Herzog, Doktor?«

»Wir haben ihm den Verband erneuert, Majestät.«

»Sind die Wunden gefährlich?«

»Ich hoffe es nicht, Majestät.«

»Werden wir die Reise wagen können?«

»Mit Vorsicht, ja, Majestät.«

»Darf ich ihn sehen, Doktor?«

»Ich werde Seine Durchlaucht auf diese Gnade vorbereiten, Majestät.«

Der Arzt ging in das Kabinett zurück, der König stand unbeweglich in der Mitte des Saales, die Gräfin lauschte unter der Eingangstür in zitternder Erwartung.

»Was sinnt er? was hat er vor?« flüsterte der Magister, der sich lugend hinter der Portiere verborgen hielt: – »ahnt er, weiß er?«

»Ja, er weiß es,« antwortete die Gräfin zuversichtlich. »Er hat das Ahnen großer Seelen und den Scharfblick, der dem Helden ziemt.«

»Der Herr Herzog bitten um die Gnade, vor Seiner Majestät erscheinen zu dürfen,« meldete der zurückkehrende Arzt.

»Daß er sich nicht rühre, Doktor! ich komme zu ihm,« befahl der Monarch, rasch und leise in des Verwundeten Zimmer tretend. Die Gräfin folgte ihm bis an die offenbleibende Tür, der Herr Magister schlüpfte hinter ihr drein und noch einmal zwischen die Falten der Portiere.

Der Gefangene stand vor seinem Ruhebett mit verbundenem Haupt, den Arm in der Binde, totenbleich, den Blick zu Boden geschlagen; der preußische Diener und der preußische Exwachtmeister stützten ihn zu beiden Seiten, der letztere, indem er durch seine martialische Miene sich dafür entschädigte, an dem gebührlichen Salut vor seinem König verhindert zu sein.

Herr von Crillon versuchte es, seinem hohen Besucher einige Schritte entgegen zu gehen, der König kam ihm durch eine gebietend abwehrende Bewegung zuvor. Rasch und dicht an ihn herantretend, zog er den Hut und begrüßte ihn mit jener eigentümlichen, schlichten Hoheit, die ihm die widerstrebendsten Gemüter zu unterwerfen pflegte. »Herr Herzog,« sagte er, »ich beklage das Mißgeschick eines Helden, dessen Bravour ich bewundert habe.«

»Sire,« stammelte der Gefangene, sich tief verbeugend, und eine dunkle Röte überflammte sein Gesicht, »Sire, – so viel Gnade, – nach so viel Schma –«

»Keine Aufregung, mein Herr!« fiel ihm der König lächelnd ins Wort. »Ich habe Ihre Landsleute niemals für meine ernsthaften Feinde halten mögen; meine gelungene Überraschung hat mir heute bewiesen, daß dies Vertrauen gegenseitig war. – Aber wie fühlen Sie sich, lieber Herzog?« fuhr er mit herzlichem Tone fort, indem er dem Verwundeten die Hand reichte. »Ich bin gekommen, Sie als werten Gast in meine Hauptstadt einzuladen, um Sie heil und neu gekräftigt Ihrem Vaterlande zurückzugeben.«

Der Franzose beugte sich auf die Hand des Könige nieder und führte sie an seine Lippen, während sichtbarlich ein Schauer seinen Körper überrieselte. »Sire,« sagte er zitternd, »Sie sind größer – als Turenne, – denn er verhöhnte – seine Feinde, und – Ihro Majestät – gießen Öl in ihre Wunden.«

Er schwankte; der König gab hastig ein Zeichen, ihm Ruhe zu gewähren, und verließ das Krankenzimmer.

»Tu' Er sein Bestes, Doktor,« damit verabschiedete er den ihn in den Saal begleitenden Arzt, »das Mögliche, hört Er, mir den Herzog bei Kräften nach Berlin zu bringen. Monsieur de Voltaire soll sich nicht rühmen dürfen, daß Roßbach Frankreich einen Mann gekostet habe, der seine Schuldigkeit getan.«

Der Arzt zog sich unter ehrerbietiger Verbeugung in das Kabinett zurück, Gräfin Eleonore trocknete ihre Tränen, ein Blick hinter den Vorhang offenbarte ihr, daß der Sieger des Tages einen Gegner mehr überwunden habe.

Mit einer raschen Bewegung wendete sich der König zu ihr, die er erst jetzt zu bemerken schien.

»Graf Fink, Madame?« fragte er.

Die Gräfin bewältigte ihre Rührung und versetzte mit ruhiger Würde: »Majestät, mein Gemahl ist auf dem Wege nach Warschau, an der Seite seines Königs die Folgen dieses großen Tages zu erwarten.« – Der König blickte der Dame mit gutmütigem Spotte ins Gesicht.

»Und die Frau Gräfin scheuten ein improvisiertes Itineraire sonder Schutz und Geleite?«

»Allerdings, Majestät. Denn man hatte sie belehrt: der Posten einer Frau sei das Haus, in welchem sie ihrem Sohne,« sie deutete auf den Knaben an ihrer Hand, »den Vater zu vertreten habe.«

»Eine heilsame Lehre, Madame, und am rechten Orte appliziert.«

»Sie dankt sie auch einem großen Zuchtmeister, Majestät, und der Gnade, auf ihrem bescheidenen Posten von dem ruhmreichsten Helden visitiert zu werden.«

Der ruhmreiche Held nahm eine Prise. Dann mit freundlichem Lächeln seine Wirtin auf die Schulter leise klopfend, sagte er leise: »Kompliment für Kompliment: die Hosen passen Ihnen gut, Madame.«

Unsere Heldin lachte unverhohlen. Ihr König und Herr reichte ihr eine Hand, indem er die andre auf des Knaben Haupt legte:

»Nun, halten Sie mutig stand auf Ihrem Posten, brave Frau,« so schloß er seine huldvolle Visitation; »das verheißt dem Stamme meines alten Looß noch einen kräftigen Zweig, und der Herr Graf von Fink wird seiner schönen Hausehre die Ehre seines Hauses danken lernen.«

* * *


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