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Solange unser ehrwürdiger Dom gestanden – und das ist Jahrhunderte länger als irgendein heutigentages noch solides Gottes- oder Menschenhaus im Lande weit und breit –, hatte er keine Feierlichkeit erlebt gleich der, welche in der Mittagsstunde des ersten Junius (an dessen Abend ich diese Darstellung zu Papier bringe) in seinen Mauern begangen werden sollte.
Goldene Hochzeiten freilich sind nicht selten in der Gemeinde gefeiert worden; denn die Luft streift heilsam vom Gebirge herüber, die Landschaft ist fruchtbar, der Volksstamm wohlhabend und kräftig, war letzteres zumal in der guten alten Zeit, wo man mit seinen Genüssen noch mehr auf den Magen als auf den Kragen Rücksicht nahm, – daher es denn nicht als etwas Außerordentliches erscheinen kann, einen oder den anderen das Alter des Psalmisten erreichen, wohl gar um ein Jahrzehnt überschreiten zu sehn.
Vielleicht mag es auch schon vorgekommen sein, daß ein derartiger Jubelbund vor dem Altare unseres Gotteshauses für die Ewigkeit erneuert worden ist; wenngleich Seine Hochwürden der Herr Oberdomprediger und Propst, Doktor Renatus Henrici, trotz gründlichster Forschung in schriftlicher wie mündlicher Überlieferung, keine solche Begebenheit in seiner Domchronik hat verzeichnen können. Der Fall aber ist erweislich hier nicht dagewesen und wird mutmaßlich auch andernorts so leicht nicht dagewesen sein, der Fall sage ich: zum ersten: daß die goldene Hochzeit, wie die grüne, von dem nämlichen Diener Gottes und an dem nämlichen Altare, will sagen an dem unseres Domes eingesegnet worden ist. Zum zweiten: daß beide, der Jubelbräutigam und sein Seelenhirt, heute wie damals in dem nämlichen Amte fungieren, will sagen, jener als zweiter, dieser als erster Pfarrherr am Dom. Zum dritten: daß auch die Brautjungfer noch am Leben ist und in keiner anderweitigen Stellung als vor fünfzig Jahren, will sagen: als Jungfrau und Wirtschaftsführerin ihres unbeweibten Herrn Bruders, des Herrn Oberdompredigers, Doktor Renatus Henrici. Und endlich zum vierten: daß sogar Schreiber dieses, nämlich meine Wenigkeit, Zebedäus Gutedel, als Küster und Kirchner am Dom, die hohen Altarkerzen anzuzünden und das erste wie das letzte Trauungszeugnis seines Vorgesetzten in das Kirchenregister einzutragen berufen ist.
Rechnet man zu diesen vier Punkten noch das Ansehn, in welchem die beiden Domfamilien Henrici und Borsdorf über die Gemeinde hinaus, im ganzen Lande, ja bis zum Thron in die Höhe gestanden sind; rechnet man dazu, daß das Amt am Dom in diesen beiden Familien gleichsam erblich gewesen ist, indem schon der Großvater und Vater unseres Herrn Propstes – – –
Notabene: Ich werde, wohllautenden Wechsels halber, den Herrn Oberdomprediger Henrici einmal Herr Propst und ein anderes Mal Herr Doktor titulieren, indem selbiger die letztere Würde, beiläufig schon seit vierzig Jahren, auf Grund eines Ehrendiploms der hohen Universität Wittenberg bekleidet. Ich meine aber die eines Doctor theologiae, wie weiland der große Martinus Luther; beileibe nicht philosophiae, die ja jeder bedeutungslose Skribent um ein Dudeldei von Gelehrsamkeit und sogar gegen Geldspesen zu erlangen vermag. Des Herrn Doktors Amtsbruder, der Jubelbräutigam, passiert umschichtig als Domprediger oder Herr Magister.
Ich wollte also sagen, daß bereits der Großvater und Vater unseres Herrn Propstes desselbigen Stellung am Dome innegehabt haben, wie auch daß bereite der Vater der Jubelbraut, Magister David Adami, in dem zeitweiligen Amte ihres Ehegatten fungierte; daß aber besagter Ehegatte hinwiederum dem alten Oberdomprediger und Propst Henrici, Vater des jezeitigen, als Substitut zur Seite gestanden, bis nach des ersteren Verscheiden, der letztere – –
Aber mich bedünkt, als ob ich mich bei Aufzeichnung dieser geistlichen Erbfolge einigermaßen ins Unklare zu verwickeln im Begriffe sei, und ziehe zu richtigem Verständnis daher vor, einfach und sachgemäß die Stammtafel unseres ehrwürdigen Domchronisten zu kopieren, insoweit nämlich solche Stammtafel die beabsichtigte Darstellung berührt oder, korrekter ausgedrückt, von selbiger Darstellung berühret wird. Demzufolge:
A. Oberdomprediger und Propste am Dome zu +:
a. D. Renatus Henrici von 1760 bis 1805.
b. D. Renatus Henrici, des Obigen Sohn, von 1805 bis dato.
B. Domprediger, das heißt zweite Prediger, am Dome von +:
a. Magister David Adami, von 1770 bis 1800.
b. Magister Renatus Henrici, nachheriger Oberdomprediger und Propst, von 1800 bis 1805.
c. Magister Christian Borsdorf von 1805 bis dato.
Alle diese Umstände in Betracht gezogen, wird nun die Behauptung keineswegs ungereimt erscheinen, daß das Greisengeschlecht in der alten Propstei am Dom – – –
Notabene: Erst unter dem gegenwärtigen Regiment ist die Propstei in zwei getrennte Behausungen abgeteilt, der innere Zusammenhang vermauert, eine besondere Eingangstür von der Straßenseite für eine jede von ihnen angelegt, auch der ursprünglich gemeinsame Hof und südlich nach der Niederstadt sich absenkende Garten durch eine mannshohe Mauer separiert worden.
Aber, beiläufig: ich werde mich dieser erläuternden Randbemerkungen, Parenthesen und Notabenes in Zukunft zu entraten suchen, da sie den zierlichen Fluß der Rede doch bemerkbarlich stören. Bin ich nur erst über die unerläßliche Einleitung hinweg, so spüre ich zum voraus, welch unhemmbarer Zug aus dem bewegten Gemüt in meine Feder strömen wird.
Was ich also sagen wollte, war, daß männiglich das Patriarchengeschlecht in der grauen Propstei am Dom, inklusive des bescheidenen Anhängsels in der Küsterei, als leibhaftig mit dem hehren Tempel verwachsen betrachtet ward; vergleichbar dem Efeu, der im Laufe der Jahrhunderte zum Baume erstarkt und, unlöslich in seine Fugen eingerankt, seinen Lebenssaft aus dem feuchten Gemäuer saugt. Was ich fernerhin sagen wollte, war: daß das heutige Jubelfest nicht nur als eine seltene, erfreuliche Familienfeier, sondern wie eine wunderbar erbauliche Begebenheit zur Gloria unseres weitberühmten Domes von Stadt und Landschaft verhandelt und mitgefeiert ward. In sämtlichen Korporationen hatten sich glückwünschende Sendungen, in allen Familien der Gemeinde Spenden der Liebe und Hochschätzung vorbereitet. Die Kränze und Kronen, zum Schmucke des Altarplatzes gewunden, hatten zwar eiligst beseitigt werden müssen, da der gottselige Eifer des Herrn Propstes dieselbigen als eine weltliche, ja heidnische Zierat, welche bereits die erste Christenheit aus ihren Erbauungsstätten verbannt hat, bezeichnete: sie waren jedoch, die Kränze und Kronen nämlich, bei stiller Nacht in sinniger Anordnung vor der Propstei befestigt worden. Der Herr Domrektor hatte eine Kantate gedichtet und der Herr Domkantor sie kunstvoll in Musik gesetzt, die Damen und Herren der Stadt, bis zum hohen Adel hinauf, beteiligten sich an ihrer Aufführung. Eine Deputation des geistlichen Konsistoriums war aus der Provinzialhauptstadt eingetroffen; durch alle Tore zogen die Herren Amtsbrüder der Ephorie, in feierlichem Ornate, dem gemeinschaftlichen Sammelplatze in der Domaula zu; alle Leute trugen Sonntagskleider; aus allen Türen strömte ein Würzeduft festlicher Kuchen und Braten, denn da war wohl kaum ein Haus, das nicht einen Gast aus der Umgegend beherbergte. Vom frühesten Morgen ab wogte auf dem Domplatze ein froh-erwartungsvolles Treiben, und netto zwei Stunden, bevor der Domvogt das große Portal auf der Westseite öffnete, lauerte vor demselben die liebe Menschheit Kopf bei Kopf gleich einer Mauer, um im ersehnten Augenblicke auf die gelegensten Schau- und Hörplätze vorzudringen.
Über dieses Portal, das von Kennern als ein Musterwerk fälschlich »altdeutsch« benamseten Baustiles gepriesen wird, wie auch von dem Dom in seiner Gesamtheit muß befürwortet werden, daß lange vor dem heutigen Jubeltage der Zahn der Zeit bedenklich an ihnen zu nagen begonnen hatte. Seit Jahren war von einer gründlichen Renovation die Rede gewesen. An Mitteln fehlte es bei dem beträchtlichen Kirchenvermögen nicht.
Die städtischen Behörden wie das geistliche Konsistorium der Provinz hatten das Unternehmen wiederholentlich in Anregung gebracht; ein hoher Landtag sich damit beschäftigt. Seine Majestät der König, auch im Kunstgebiet, wie männiglich bekannt, der Erste seines Reichs, hatte diese Restauration »eine Herzenssache« für Allerhöchstdieselben genannt. Weltberühmte Künstler vom Baufach waren entsendet, Gutachten, Pläne, Anschläge eingereicht worden, – dennoch aber die dringliche Angelegenheit seit einem vollen Jahrzehnt schlechthin gescheitert, gescheitert an dem Widerspruche und Widerstande des gewaltigen Henrici, der, ich weiß mich nicht faßlicher auszudrücken, in seinem Regiment ein Autokrat war und den Dom gleichsam als ein seiner Treue anvertrautes Dominium betrachtete.
Herstellung der Baufälligkeiten genehmigte, ja heischte, jedwede Neuerung verweigerte er. Jedweder neue Stein sollte genau in die alte Fuge passen, jedweder Schnörkel, jedwedes Ornament genau nach dem alten Muster gemeißelt, kein Chorstuhl verrückt, kein Nebenaltar beseitigt werden. Nicht eine der Privatkapellen auf und unter den Emporen durfte fallen, noch viel weniger diese Emporen selber. Die kleinen Betkäfige und Andachtslauben, die sich trennend zwischen der vorderen Tauf- und mittleren Predigtkirche eingenistet hatten, galten, als Denkmale protestantischer Versenkung, ihm höchlichst erhaltenswert; eher aber würde der außerordentliche Mann sein Regiment, ja sein Leben geopfert haben, als die durchbrochene Steinwand, – obschon mahnend an die katholische Vorzeit –, die gleich einem kunstvoll gewebten Vorhang das Heilige von dem Allerheiligsten scheidet. Alles sollte erhalten oder wiederhergestellt werden, wie es gewesen oder geworden war. »Zutaten, nicht Zerstörungen!« herrschte der Propst. Man munkelte von gar eifermütigen Auftritten zwischen Kunstjüngern und Behörden einerseits und dem Domrepräsentanten andrerseits; man wußte von hemmenden Gewalteingriffen, die zuverlässig keinem anderen als diesem allerhöchstbegünstigten Greise zugute gehalten worden wären, bis dann schließlich ein königlicher Kabinettsbefehl die heikle Angelegenheit vorderhand in den Ruhestand versetzte.
Lieber Himmel! Wir kleinen Leute sehen und hören gewisse Dinge in einem weit schärferen Lichte als die Hauptpersonen, vor welchen bemäntelnd hinter dem Berge gehalten wird. Mir, dem Küster, ist die Allerhöchste Absicht so wenig wie die allgemeine Ansicht von der Sache entgangen: der Aufschub erfolgte nicht als Bewilligung, sondern aus Schonung für unseren alten Herrn.
Wie lange konnte er es denn noch treiben in seinem Regiment? Der Bau erforderte Jahre. Sollte man den Greis per fas et nefas aus seinem urväterlichen Heiligtum in ein bescheidenes Interimskirchlein der Vorstadt verweisen? Ihn wohl gar aus der Propstei vertreiben, in welcher seine und seiner Ahnen Wiege gestanden hatte und welche nach dem in der Stille von obenher angenommenen Plane samt der anklebenden Umgebung – auch der Küsterei! – der Erde gleichgemacht werden mußte, um dem Gotteshause eine freie Anschau und Umschau zu gewähren? Nein. Wir Alten sollten von der Bühne erst abtreten, bevor das Neue ins Leben gerufen ward.
Aber wir Alten treten ab weit, weit später, als man vorausgesehen. In dem feuchtkalten, selten durch einen Sonnenstrahl erquickten Dunstkreise unseres Gottesschreines umfängt uns eine wunderbarliche Lebensluft, die uns ein Geschlecht nach dem anderen überdauern läßt. Die heimliche Erwartung, daß der Propst, nachdem er schon vor Jahren sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum gefeiert, sich freiwillig in den Ruhestand begeben werde, ward zuschanden: der eiserne Greis dachte nicht daran, seinen Posten zu verlassen, ehe Gott ihn rief. Unermüdet forscht er vom Morgen bis zur Nacht in seiner Zelle; ungebeugt steht er jeden Festtag auf der Kanzel. Nicht auf eine Stunde überläßt er, selber zu Händen seines Amtsbruders, des Herrn Magisters, die Schlüssel der Kleinodienkammer in seinem Heiligtum, und mancher Fremdling hat in den letzten Jahren, da die Eisenbahn einen lebhaften Verkehr für unsere Stadt hervorgerufen, der alte Herr aber haushälterischer mit seiner Zeit und Kraft geworden ist und seine Führerschaft nur noch, als einen Akt gnädiger Herablassung, absonderlich hohen und gelehrten Häuptern zugute kommen läßt, mancher Fremdling, sage ich, hat vor der geschlossenen Reliquienkapelle unseres Domes abziehen müssen, ohne die kostbaren Meßgewänder, die kunstvollen Altargefäße und andere Raritäten aus alter, allein kirchlicher Zeit in Augenschein genommen zu haben. Insonderheit aber ist mancher vergebliche Seufzer gefallen um den Anblick der seltsamen Rose von Jericho, die ein Kreuzritter aus dem heiligen Lande zu uns gebracht haben soll und die in geographischen Handbüchern als die höchste Merkwürdigkeit, ja geradezu als das Wahrzeichen unserer Domstadt aufgeführt wird, wiewohl sie dem Auge doch nur als ein vertrocknetes Möslein erscheint, an dem noch nicht einmal ein Mensch die Probe gemacht, ob es, mit Wasser besprengt, in Wahrheit zu einem frischen Gewächse in die Höhe quillt oder gar zu einer farbigen Blume erblüht.
Es würde für den dereinstigen Leser dieser Historie vielleicht nicht ohne Interesse sein, an dieser Stelle eine Schilderung der Seltsam- und Kostbarkeiten aus dem Kronschatze unseres Oberhirten eingeschaltet zu finden. Aber ein unredliches Geschäft für den Schreiber würde solche Einschaltung sein, da jener gelehrte und gründliche Forscher längst schon auch das geringfügigste Stücklein in seiner Domchronik niedergelegt hat und aus dem Grabe heraus seinen demütigen Handlanger und Diener eines geistlichen Diebstahls bezichtigen könnte. Das sei ferne von mir! Hat gegenwärtiges Skriptum doch wesentlich auch nichts mit dem Dome als solchem zu schaffen, nur mit seinen In- und Beisassen am Tage der heutigen Jubelfeier. Ja, sammle ich im Grunde doch nur das Material zu einem erbaulichen Lebensbilde für eine würdigere Hand, wenn eines Tages die meine in Staub zerfallen wird, und verzeichne ich doch nur sonder Kunst und Studium die Umstände, welche dieser Jubelfeier erst ihre wahre Bedeutung gegeben haben; Umstände, die in meiner vertraulichen Stellung mir ganz allein zu Auge und Ohr gekommen sind und die in der Henricischen Chronik dereinst nicht nachzulesen sein werden.
* * *
Nach musterwürdiger Historienschreiber-Sitte beginne ich demzufolge mit dem Allgemeinsten: will sagen mit Himmel und Wetter, die sich der jubilierenden Menschheit zu einer Festgenossenschaft verbündet hatten.
Denn nachdem ein kühler, regnerischer Maimonat in der Tat weniger Wonne verbreitet hatte, als gemäß der alten guten Bauernregel Segen für Scheuer und Faß in Aussicht stellte, lagerte sich heute, am ersten Junius, ein wolkenloses Blau über die erquickte Erde, blinkte die liebe Sonne warm und goldig hernieder und hatte das Gebirge über Nacht all die grauen, dicken Nebelkappen abgeworfen, in die es sich seit Wochen gehüllt. Deutlich, wie mit dem Griffel gezeichnet, begrenzten seine Felsspitzen und Waldrücken den westlichen Horizont.
»Wie diese Heiterkeit gleich beim Erwachen das teuere Hochzeitspaar ergötzen wird!« sagte ich zu mir selber, nachdem ich gerührten Herzens im ersten Dämmerungsschimmer mein Morgendanklied gesungen hatte.
Denn der Magister Borsdorf war ein Freund und sozusagen Liebhaber der sichtbarlichen Natur. Sein erster Blick galt den Morgen- und sein letzter den Abendsternen; Wind und Wolken wußte er zu berechnen wie ein Schäfer oder Jägersmann; solange seine anjetzo leider schwach werdenden Füße ihn trugen, schweifte er mit Botanisiertrommel und Schmetterlingsschere in Wald und Flur umher. Daheim aber wartete er in Schachteln und Gläsern des gesammelten Gewürms, wartete des Bienenhauses in seinem Garten mit der Sorgfalt eines Familienvaters. Seine Insektensammlung wurde von Kennern als eine Sehenswürdigkeit gepriesen, in ihrer Art kaum geringer als selber die Kleinodienkammer unseres Doms; seines Aurikelflors im Lenz, der Pracht seiner wiederholt bis in den Herbst hinein blühenden Rosen würden sich herrschaftliche Anlagen nicht zu schämen haben. Mit offenem Auge sucht, findet und unterscheidet er das unscheinbarste Gebilde, mit gedeihlicher Hand pflanzt, pflegt, fördert, veredelt er den schwächsten Keim, und wer, wie ich in jüngeren Jahren, ihn auf einer sommerlichen Wanderung durch das Gebirge begleitet hat, der darf sagen, daß er gleichzeitig Lust und Belehrung eines Reisenden gekostet.
Wie aber der himmlische Vater Sinn und Trieb der Menschen verschiedentlich geschärft, wie er sie gerichtet hat, daß, Rücken an Rücken gelehnt, dem einen die sichtbare, dem anderen die unsichtbare Natur zur Offenbarung wird, davon hatte man wie an keinem zweiten, an des Magisters Amtsbruder und Nachbar ein lehrreiches Exempel.
Seitdem Renatus Henrici den Oberposten am Dome angetreten, hatte er das Weichbild unserer Stadt keinen Fußbreit überschritten; der Gottesacker der Gemeinde, der in sein Amtsbereich gehört, war seine äußerste Grenze. Ja, in der langen Zeit, wo kaum einer seiner Schritte mir verborgen geblieben ist, habe ich ihn nur ein einziges Mal sich, was man so lustwandeln nennt, außerhalb seines Gartens bewegen sehen. Das geschah aber in jenem Frühling, fünfzig Jahre vor dem heurigen, da er just in die Oberdomwürde aufgerückt war und die liebliche Magdalene Adami, die Mündel und Pflegetochter seines weiland Herrn Vaters, als arme Domwaise, neben seiner Schwester Debora, unter seinem Dache und Schutze verweilte.
Ach, damals lag freilich die Zukunft weit reicher, als sie sich nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse gestaltet hat, vor meinen hoffnungstrunkenen Blicken. Die vier Domkinder, Christian Borsdorf (sein Vater war Rektor der Domschule) und Debora Henrici, Renatus Henrici und Magdalene Adami, versprachen, zwei Paare am Dome zu werden; die geistliche Erbfolge schien in doppelter Weise und in den kräftigsten Geschlechtern gesichert. So vor fünfzig Jahren. Und heute? Renatus und Debora Henrici sind ledigen Standes und solchergestalt ohne Leibeserben verblieben; dem Christian Borsdorf und seiner Ehegattin Magdalene Adami sind von einer zahlreichen Nachkommenschaft nur zwei Großkinder erhalten worden: von einem Sohne eine Tochter, Debora Borsdorf, und von einer Tochter ein Sohn, Renatus Friedheim; beide als Augen- und Herzenstrost ihrer alten Tage, in ihrem Hause lebend; die Enkelin, eine holdselige Jungfrau, just so alt wie ihre Großmutter heute vor fünfzig Jahren, nämlich achtzehn; der Enkel, als Substitut seines Großvaters, wie dieser damals bei dem weiland Oberdomprediger Henrici. So heute! Und gesetzt den denkbar glücklichsten Fall, daß der königliche Patron unseres Doms keinen anderen als den Friedheim zum Nachfolger seines Großvaters, eventualiter auch noch auf einen höheren Posten, berufen sollte, ein Fall, der – man berechne die Scharen älterer Bewerber bei solcher Aussicht! – der also gar nicht in Betracht kommen dürfte, ohne die Verwendung des einflußreichen Henrici zugunsten des Erbherkommens und die löblichen Eigenschaften des jungen Kandidaten, – gesetzt also diesen glücklichen, aber, ach! nur allzu unwahrscheinlichen Fall, so hieß er Friedheim, nicht Henrici, nicht einmal Borsdorf; die alten Namen, die alten Erinnerungen löschen aus; alles wird anders; auch gut, will's Gott! besser in manchen Stücken vielleicht; aber anders, unergründlich anders, und dieses Anders tut einem achtzigjährigen Herzen weh.
Endlich aber ich selber, Zebedäus Gutedel, der ich in der Jugend meine Freiheit aufgegeben und die Leibeigenschaft des Ehestandes auf mich geladen hatte, nicht ohne zärtliche Neigung, es ist wahr, aber zum ersten doch in der Hoffnung, dem Dome einen Erbküster zu erzielen, auch ich fahre in die Grube. – Aber wohin schweift mein Geist! Ach, die Folgerichtigkeit ist eine schwere Kunst, wenn eine Idee, sozusagen eine Hauptidee, unablässig in unserem Hirn und Herzen wühlt! Da bin ich schon wieder bei dem A und O meiner schlaflosen Nächte und sollte doch eigentlich bei jenem hoffnungsvollen Frühlingstage sein, an welchem ich Renatus Henrici mit einem Strauße gelber Butterblumen aus dem Poetengange hinter unserer Kuhwiese zurückkehren sah.
Aber diese Maienanwandlung war entschwunden, flüchtig wie sie aufgestiegen; Renatus Henrici war damals schon ein allzu tiefsinniger Gelehrter, ein viel zu weit schallender Redner und Schriftsteller, gleichsam ein protestantischer Kirchenvater geworden, um sich auf die Dauer eine weichherzige Stimmung für die vergängliche Natur zu gestatten. Hatte er nicht Bücher und Handschriften? hatte er nicht Amt und Regiment, hatte er nicht seinen Dom? Alles das für den forschenden Geist! für das Leibliche aber, zur wohltätigen Erschütterung von Lunge und Zwerchfell – wennschon er bei seinem gesegneten Appetit und bis zur Stunde ungestörten Kreislauf sämtlicher Körperfunktionen dieser Nachhilfe kaum zu bedürfen schien –, hatte er da nicht seinen Garten? Konnte er nicht – und tat er es nicht regelmäßig bei Wind und Wetter, in Regen und Schnee –, konnte er nicht jeden Nachmittag in der Zeit, wo das Sonnenlicht schwach und das Lampenlicht blendend wird, fünfunddreißig Minuten nach der Uhr in dem alten Ulmengange auf und nieder spazieren und seinen Gedanken dabei Audienz geben, ohne von einem fremden Menschengesicht oder gar einem schwatzhaften Mundwerk gestört zu werden? Schützte ihn nicht die mannshohe Mauer vor der Begegnung der Nachbarfamilie und das dichte Gestrüpp selber vor deren belästigenden Blicken? Hätte ein anderer Mensch außer seiner Schwester Debora die pflichtschuldige Rücksicht gezeigt, gleichsam als ein Schatten oder Schutzengel, in tiefem Schweigen, zehn Schritt hinter ihm drein zu wandeln?
Was aber den Horizont betrifft, Wolken, Sonne, Mond und Sterne, welche die hohen Bäume des Gartens verdeckten: kannte dieser Forscher in Gott nicht einen weiteren Himmel und eine höhere Unendlichkeit als die, welche schwache, wenn auch mitunter recht fromme Menschenkinder hinter derlei Luftgebilden und leuchtenden Himmelskörpern erträumen?
»Alles Vergängliche ist nur Schein und Widerschein«, sagte Renatus Henrici, und Renatus Henrici, der sein ganzes Wesen in das Sein versenkte, hätte er nach einem Widerschein fragen sollen?
* * *
Nein, der Mann war zu groß, um nach dem Maße gewöhnlicher Menschen gemessen zu werden. Er wußte das auch, und darum wollte es mich schier bänglich wie ein Zeichen heranschleichender Altersschwäche bedünken, daß ich ihn heute morgen, als er aus der engen dunklen Schlafzelle zwischen den beiden von ihm bewohnten Zimmern trat, nicht wie alle Tage in die nach dem Dome gelegene Studierstube und alsobald auf das mächtige, mit Büchern und Skripturen beladene Pult, sondern auf das nach dem Garten führende Fenster des Frühstücksgemachs zuschreiten und in die aufsteigende Sonne blicken sah.
Ich sah ihn, sage ich; denn ich saß schon eine gute Weile in dem sogenannten Küsterzimmer, nach welchem beide Türen der pröpstlichen Gemächer Tag und Nacht geöffnet stehen, und harrte der Anweisungen, die er mir in der Frühe entgegenzunehmen geboten hatte. Keine seiner ungewohnten Bewegungen entging mir daher. Er öffnete ein Schößchen, sog mit einem tiefen Atemzuge – wenns nicht etwa ein Seufzer gewesen ist – die würzigen Düfte ein, die aus dem Magistergarten herüberdrangen, und stand darauf wohl zehn Minuten lang regungslos in den goldenen Morgenhimmel versunken, so als ob er ein seltenes, zwiefältig zu enträtselndes Palimpsestos vor Augen habe, dergleichen Pergamente er höher als alle anderen Handschriften in Ehren hält.
Solchergestalt in Betrachtungen vertieft, stand er noch am Fenster, als seine Schwester, »das Domfräulein«, wie sie von aller Welt genannt wird, nachdem sie dreimal leise an die Tür geklopft hatte, in das Zimmer trat.
Sie neigte tief, aber schweigend zum Gruße das Haupt, ließ einen verwunderten Blick auf den Bruder am Fenster streifen, setzte das Kaffeegeschirr, das sie im Arme trug, auf den Tisch, schenkte eine Tasse ein und stellte den Rest, welcher, in langsamen Zügen geschlürft, den ganzen Vormittag vorzuhalten pflegte, auf der Kohlenpfanne warm. Sie war im Begriff, sich leise, wie sie gekommen, wieder zu entfernen, als der Propst, ohne seinen Platz zu verlassen, sich mit der bedeutsamen Frage an sie wendete:
»Träumst du zuzeiten, Debora?«
»Zuzeiten, Renatus,« antwortete das Fräulein mit großen befremdeten Augen.
»Ich niemals, – aber diese Nacht,« sagte er und blickte wieder hinaus in die Sonne.
Sie wollte sich zum zweiten Male entfernen; zum zweiten Male hielt ein Laut aus seinem Munde sie fest.
»Fünfzig Jahre, Debora!« murmelte er, in Erinnerungen verloren.
»Fünfzig Jahre, Renatus!« wiederholte das Fräulein, indem sie mit langsamen Schritten sich seinem Platze näherte.
»Mir ist, als wäre es gestern gewesen, Debora.«
»Mir ist es alle Tage seitdem wie gestern gewesen, Renatus.«
»Die Sonne scheint klar wie damals, der Himmel ist blau und die Koppe unverhüllt.«
»Der Flieder blüht spät wie damals, da die Rosen bereits im Aufbrechen sind.«
»Ein halbes Jahrhundert, Debora!«
»Ein halbes Jahrhundert, Renatus!«
Es folgte eine Pause. Die beiden hohen Gestalten standen nebeneinander, regungslos, als wären sie von Stein.
»Debora!« hob endlich der Bruder wieder an, »Debora, die Zeit ist unmerklich gekommen, und Ordnung nütze auch in geringfügigen Dingen. Debora, morgen mache ich mein Testament.«
»Ich mache es mit dir, Renatus.«
»Genau weiß ich es nicht, aber – fünfzig Jahre! – es summt sich zusammen; dreißigtausend müssen es sein.«
»Bei mir ist es mehr. Und außerdem: fünfzig Jahre! es spinnt und webt sich zusammen: jeden Jahrgang ein Gedeck und ebensoviel Stück Leinwand sind es, Renatus.«
»Wir haben keine Kinder, Debora.«
Das Fräulein senkte die Augen zu Boden.
»Keine Blutsverwandten, keine Freunde, Debora.«
Das Fräulein seufzte.
»Sterbe ich vor dir, Debora – –«
»Gott verhüt es, Renatus.«
»So genießest du bis an dein Ende, was ich verlasse. Aber unser Erbe – –«
»Unser Erbe –«
»Ist der Dom.«
»Der Dom!«
Du lieber Himmel, dachte ich in meinen Gedanken, was soll der Dom mit dem schönen Leinen und Drell? Und selber, was soll der Dom mit den Henricischen Erbtalern, er, der schon so viele ungenutzt in seinem Gotteskasten liegen hat? Mit diesen Gedanken aber jagte der alte, immer neue Aufruhr mir durch Kopf und Herz.
In den ungezählten Lebensstunden, die ich harrend auf dem Küsterstuhle in stiller Betrachtung des gottseligen Fleißes dieses Mannes hingebracht und mich in die Zellen der gelehrten Benediktiner, die einstmals in diesen Räumen geheimst, zurückversetzt, da hatte sich in meinem inwendigen Menschen die Überzeugung ausgebildet, wenngleich ich schwarz auf weiß sie leider nicht darzutun vermag, die Überzeugung, daß das Domgeschlecht der Henrici von einem jener Mönche seinen Ursprung leite, einem Pater Henricus etwa, den der große Doktor Luther mit dem Exempel der Ehelichkeit das klösterliche Gelübde sprengen ließ. Und nun nagte es an meiner Seele wie ein Wurm, dieses gesegnete Exempel an einem Henrici zuschanden werden und den letzten seines Namens der Grube entgegenfahren zu sehen, gleichsam wieder als einen Mönch.
Ehe ich nun aber zu beschreiben versuche, was mich bei seinen Worten heute morgen stärker als jemals erschütterte, möge es mir, ohne Unbescheidenheit, vergönnt sein, in die Schilderung meiner hohen Vorgesetzten ein Wörtchen über meine eigene Wenigkeit einzuweben, insofern selbige nämlich das Verhältnis zu jenen hochverehrten Personen berührt.
Keine schreiendere Ungerechtigkeit und keine empörendere Zügellosigkeit der Presse als die Schablone, nach welcher in spaßhaften Historien, in schnurrigen Märlein und selber in gereimten Versen – die ich aber als ungereimte traktiere – das Amt meiner Kollegen, der Kirchner und Küster, gleich einem Schmarotzerdienst, die Zunft in ihrer Gesamtheit – Ausnahmen lasse ich gelten – als eine von Schlemmern und Hansnarren verspottet wird; in ihrer geistlichen Art etwa den Barbieren und Schneidern an die Seite zu stellen, die unter den bürgerlichen Hantierungen samt und sonders wie Hasenfüße und windbeutelige Possenreißer abkonterfeit werden, da ich doch manchen beherzten und gesetzten Mann unter denen ihres Zeichens kennen gelernt habe. Wahrlich, es ist kein Kunststück von diesen Herren Historienschreibern, derlei abgedroschene Allotria immer von neuem wieder aufzuwärmen, und gedenke ich vor meinem Abscheiden zur Rechtfertigung meiner Standeswürde mit einem Schriftstück vor das Publikum zu treten, auf welches ich mir zum voraus erlaube, die Blicke aller Wahrheitsfreunde hinzulenken; ein Schriftstück, dem ich die kraftvollsten Stunden meines Lebens zugewendet und das, ich hoffe es, das Gedächtnis der alten Domküsterei, nachdem diese längst dem Erdboden gleich sein wird, frisch und lebendig erhalten, den erloschenen Namen »Gutedel«, wenn auch in bescheidener Entfernung von dem der Henrici, – aber nicht ohne Ehre für unsern Dom dessen Schriftstellern beigesellen wird.
An dieser Stelle nur eine Frage im allgemeinen:
»Man gönnt einem Fürsten viele Kammerherren, einem Feldherrn viele Adjutanten, und einem Kirchenoberhaupte will man einen einzigen Küster verkümmern?«
Und eine zweite im besonderen:
»Ein Parasit und Faulenzer, ein Hansnarr nach der skribentischen Schablone, würde ein solcher sich eines Verhältnisses rühmen dürfen, wie Zebedäus Gutedel sich des seinen zu einem Borsdorf und Henrici?«
Denn das zu dem heutigen Jubilar und seiner werten Familie kann ich, ohne Schmeichelei, schlechthin ein gemütliches nennen. Gehöre ich nicht zu ihnen wie der letzte Ring einer Kette? Bin ich um ein Haarbreit weniger als Hausfreund? Werde ich nicht in Freud und Leid zu Rate gezogen? Erhalte ich nicht mein Teil von allen Wünschen und Sorgen, wie von allen Leckerbissen, die der Haushalt mit sich bringt: im November von der Schlachtschüssel, zum heiligen Christ meinen Wecken, am grünen Donnerstag eine Honigscheibe aus dem Bienenhause? Wann klingen im Magisteranteil der alten Propstei die Gläser zu einem Prosit oder Memento aneinander, daß Zebedäus Gutedels Freuden- und Tränenkelch sich nicht mit dem ihren mischt?
Weit verschieden dahingegen der Standpunkt des Henricischen Geschwisterpaares gegenüber meiner bescheidenen Person. Ich kann ihn nicht anders als einen erhabenen bezeichnen, und nicht ein einziges Mal in soundso viel Jahren bin ich vor das Angesicht meines höchsten Oberhauptes mit einer anderen Empfindung getreten als der, die mir in den hohen, grauen Hallen unseres Domes wie ein Schauer der Feierlichkeit vom Wirbel zur Zehe rieselt.
Gleichwohl habe ich mich just von diesem außerordentlichen Herrn der ehrendsten Beweise der Gewogenheit zu rühmen gehabt. Erst durch seine Verwendung ist die Domküsterei zu den Erträgen gelangt, welche sie heute zu einem beneidenswerten Posten macht. Aus seinem eignen Säckel hat er dereinst meine Mutter, als Küsterwitwe, meinen blindgeborenen Bruder und manchen aus meiner Frauen Sippschaft reichlich unterstützt; und das ohne vorausgegangene Bitte, ohne Frage nach der Verwendung, mit sichtbarlicher Scheu vor dem Habdank. Renatus Henrici ist großartig im Geldpunkte, wie in jeglichem anderen; wie hätte ohne das sein Vermögen auch nicht weit die dreißigtausend übersteigen sollen, deren er vorhin erwähnte? Denn, mit Ausnahme seiner Bibliothek, bedarf er für die eigne Person so wenig als ein Klosterbruder; er war ein Erbsohn von Mutterseite, und die Oberdomstelle trägt, schlecht gerechnet, an die dreitausend im Jahre; die sogenannten Stolagebühren noch gar nicht einbegriffen, die er jederzeit in die Domkasse fließen läßt.
Desselbigengleichen hat der Propst Henrici mit eigner Hand meinen Ehebund eingesegnet, meine Kindlein getauft und sie zu Grabe geleitet, als Gott der Herr sie mir wieder nahm. Der Fall ist nicht vorgekommen, daß ich mich erinnere, aber hätte ich Rat gesucht für meinen Geist, ich würde mich an den Doktor gewendet haben; suchte ich Trost für mein Gemüt, und es geschah des öfteren, ging ich hinüber in das Magisterhaus. Über alle und jede Wohltat jedoch muß ich mich rühmen der stillschweigenden Zeugenschaft an allen Arbeiten und Handlungen des ehrwürdigen Mannes, des stolzen Bewußtseins, niemals durch ein Zeichen der Verheimlichung oder des Mißtrauens von ihm gekränkt worden zu sein. Und wäre es mitten in der Nacht gewesen, ich durfte unangemeldet bei ihm eintreten; ich trug seinen Hausschlüssel in meiner Tasche und wartete im bequemen Küsterstuhle des allezeit für mich offenen Vorgemachs den Augenblick seiner Muße für mein Anliegen ab. Ich gehörte eben zum Dom; ich war ein Erbe von Väterseite an selbigem so gut als er selbst; wer den Diener beleidigte, hätte den Herrn beleidigt; gleichwie einer, der etwa die Sakristei verunreinigt oder den Klingelbeutel bestohlen, das Heiligtum der Kirche selber geschändet hat. Und so kann ich denn dreist behaupten, daß ich nie mit einem Menschen wie mit diesem mich gleicherweise in Fleisch und Bein verwachsen, sozusagen eines Leibes und eines Geistes empfunden habe, wenn ich mich auch unter keinen Umständen unterfangen haben würde, meine Stimme zu einem Einspruche zu erheben, Rat oder Widerrat aufkommen zu lassen, selbst wenn ich dann und wann nicht gleichen Sinnes mit dem gestrengen Herrn des Domes zu sein vermochte.
Wie ich ihn aber anjetzo vor dem Fenster stehen und ungeblendet, gleich dem Aar, in die glänzende Morgensonne schauen sah, wie ich ihn seines letzten Willens und des fühllosen Erben von Stein erwähnen hörte, da trat von neuem und ätzender denn je die Zukunft vor meine jammervolle Seele, wo dieser uralte, kräftige Stamm, im Schatten des Domes aufgewachsen, verdorren und spurlos verschwinden, wo diese Wohnstätten, Zeugen so langbewährter geistlicher Tugend, der Erde gleich sein sollten. Und nicht ein Name übrig, der aus dem neuen Regiment in das alte zurückdeutete; kein Faden, kein Klang, der das Werdende mit dem Abgeschiedenen verband! Sei es um die Gutedel und um die Küsterei; es kann Kletterpflanzen verschiedentlichen Namens geben. Sei es um die Borsdorf: sie waren ein neues Reis, nur durch Ehelichkeit der alten Eiche aufgepfropft; aber die Henrici, die Pröpste! die Wurzel und die Krone dieser Eiche zu gleicher Zeit, auch sie, auch sie! Unwillkürlich faltete ich meine Hände und flehte, – flehte um ein Wunder!
Die heißen Tropfen schwammen in meinen Augen, und als ich sie hinunterpressen wollte, um nicht mit den Spuren unliebsamer Weichlichkeit vor meinem Herrn zu erscheinen, da schnürte sich mir die Gurgel zusammen, ein Schlucken ergriff mich, ein Hüsteln, und dieses Geräusch weckte den Doktor aus seiner Kontemplation.
»Der Küster!« sagte er sich besinnend.
Das Wort war mir ein Befehl; ich trat in das Frühstückszimmer und unter die Augen des gewaltigen Mannes.
Hätte ich seit den mehr als siebenzig Jahren, daß ich in unserer Domschule neben Renatus Henrici mensa deklinieren gelernt oder auf dem Domhofe Ball und Kreisel mit ihm gespielt, – wiewohl letzteres häufiger mit Christian Borsdorf, dem dritten im Bunde der Domknaben, denn jener war allezeit mehr ein Schul- als Spielkamerad – hätte seit diesen mehr als siebenzig Jahren ich Renatus Henrici heute zum ersten Male wiedergesehen, wahrlich! auf den ersten Blick würde ich in dem Greise den Knaben wiedererkannt haben, so wenig, oder so naturmäßig hatte er sich verändert, und so unauslöschlich prägte seine Erscheinung sich dem menschlichen Gedächtnisse ein.
Er war schon damals um Kopfeshöhe größer als wir anderen seines Alters; Fleisch besaß er so wenig als heute an seinem Körper, aber wie heute noch eine eherne Muskulatur und eine steilrechte Haltung, welche die Last der Jahre nicht um eine Linie gekrümmt hat. Seine mächtig geschwungene Nase gleicht der des Königs der Lüfte, und der Herrscherglanz in dem weitgeöffneten, dunklen Auge, die hochgewölbte, über der Nasenwurzel dicht verwachsene Braue, die gemahnen mich jedesmal an das Bildnis von Gott dem Herrn im jüngsten Gericht über dem Hauptaltar in unserem Dom. (Wer möchte denn auch beweisen, daß nicht ein Henrici dem alten Maler als Modell zu diesem Meisterstück gesessen hat?!) Sein rabenschwarzes Haar, nur mit wenigen hellen Fäden untermischt, strebt über der breiten, gewaltigen Stirn in die Höhe, gleich einem Wald, und setzt seinem Längenmaße noch ein beträchtliches zu. Selten rötete auch im Knabenalter ein Blutstropfen die gelbbleichen Wangen, und das blendende Gebiß zeigt sich dieses Tages noch unerschüttert zwischen dem schmalen, schwachgefärbten Lippensaum. Eine Fürsten- und Heldengestalt, dieser Mann!
Und wahrlich! wie ein Fürst und Held nimmt er sich auch aus drüben in der Bilderreihe der Pröpste zwischen den Spitzbogen des hohen Chors. Alle überragt er, der schwarze Talar und die Bäffchen dünken einem nur zur Verhüllung über eine Ritterrüstung geworfen: die leiseste Bewegung, und Schwert wie Harnisch leuchten hervor.
Und ein Held, ein Fürst, das scheint er nicht nur, nein, das ist dieser Mann. Ein Fürst und Held im Geist! Denn einer, der seit Menschengedenken kein Zeichen von Schwachheit, von Sehnsucht oder Verlangen kundgetan; einer, der niemals sichtbarlich Freude oder Leid von einem andern Menschen empfangen; der niemals zeitliche Not und Sorge getragen; der niemals zagend an einem Kranken- oder Sterbebette gesessen, ja, nicht einen einzigen Tag selber auf dem Krankenbette gelegen; einer, der keines Menschen Hand gedrückt und geflehet hat: »sei mein Freund!«; der niemals vor einem Menschenauge gezittert, geseufzt, geklagt oder eine Träne geweint; der von jeglichem Gottes- und Menschenwerk nur einen Andachtstempel und die Geistesfrüchte der Vor- und Mitwelt in sein Leben aufgenommen, – ist der nicht ein anderer als die unruhigen Tausende rings um ihn her? Ist er nicht geboren, über sie zu herrschen? Ist er nicht ein Held und Überwinder? Er hätte auf einem Throne stehen sollen! Und wahrlich! wie auf einem Throne steht er auch: einsam, unerreichbar über der niederen Welt; sei es vor dem Pult in seiner stillen Klause; sei es auf der Kanzel mit dem markerschütternden Wort, oder am Altar mit dem erhobenen Kelch des Sakraments; sei es am Rande des Grabes, wenn er das Vergängliche verschütten sieht und den Segen über das Unvergängliche spendet.
»Küster, du schwärmst!« höre ich kopfschüttelnd den Nachgeborenen sagen, dem diese Blätter in die Hände fallen werden. »Dein Held und Herr ist eine Ausgeburt deiner müßigen Stunden drüben im Küsterstuhle der grauen Propstei. Hat Renatus Henrici denn nicht Vater und Mutter gehabt wie andere Erdensöhne? Hat er nicht dieses Tages noch eine Schwester? Hat er nicht einen Amtsbruder, der sein Jugendfreund gewesen und dessen Ehefrau unter seinem Dache herangewachsen ist?«
Auf diese Fragen antworte ich wie folgt: Ja, natürlich hat er eine Mutter gehabt, aber sie verloren, ehe ein Kind diesen Verlust vermißt; er hat einen Vater gehabt, aber ihn hinscheiden sehen als müden Greis. Ja, er hat noch heute eine Schwester, die sein Ebenbild ist und gleichsam sein Widerhall: lang, hager, kühn von Nase, schwarz von Haar, gelb von Farbe, gesund und ungebeugt wie er; einsam und karg von Worten wie er; strickend und spinnend, wenn er liest und schreibt; lebend für seine Ehre, wie er für des Domes Ehre; Geist von seinem Geist und Bein von seinem Bein. Er hat auch einen Jugendfreund und eine Jugendfreundin gehabt, – aber dennoch, oder eben darum ist Renatus Henrici das geworden, was er ist und was ich von ihm behauptet.
* * *
»Zebedäus!« rief der Propst, als ich in die Studierstube trat; und weil er nicht wie gewöhnlich vor seinem Pulte saß, sondern, sich vom Fenster abwendend, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer hin und wider schritt, traf mich ein Strahl aus seinem Feuerauge.
»Was ist Ihm, Zebedäus?« fragte er. »Hat Er geweint?«
»Zu Befehl, Hochwürden, ich habe geweint,« stammelte ich, verwirrt ob einer Aufmerksamkeit, die weder mir noch wohl einem anderen je im Leben von ihm zuteil geworden war.
»Warum hat Er geweint, Zebedäus?«
»Hochwürden, – dieser Tag, – und was ich eben vernommen –«
»Daß ich von meinem Tode gesprochen habe? Hat Er mich für unsterblich gehalten, alter Mann?«
»Beileibe nicht darum. Wer wäre reifer als Hochwürden für das ewige Freudenreich!«
»So ist es wohl gar mein Testament, das Ihn kleinmütig macht?«
»Auch das nicht, Hochwürden. Selber ein Jüngling tut wohl, sein Haus zu bestellen.«
»Nun, warum weint Er denn, Zebedäus?«
»Ich weine von wegen des Erben, Hochwürden.«
»Wüßte Er einen würdigeren Erben als unseren Dom?«
Eine nie gekannte Mutigkeit überkam mich. Sanz gewiß die Wirkung meines inbrünstigen Gebetes von vorhin. »Aber der Dom ist von Stein,« so wagte ich mich heraus. »Er fühlt die Wohltat nicht, und er bedarf sie nicht, Hochwürden. Der Dank ihrer Erben erquickt die Wohltäter im Jenseits.«
Er runzelte die Stirn und beschleunigte seine Schritte. Eine lange Weile sprach er kein Wort. Endlich aber begann er von neuem und, wie mir schien, mit einem weichmütigen Klang. »Er hat auch keine Kinder, Zebedäus.«
»Ich bin nur ein geringer Mann, Hochwürden,« versetzte ich. »Ich heiße Gutedel, nicht Henrici. Sie starben bald nach der Geburt. Es waren ihrer acht; aber ein Wiegenkind gleicht dem anderen; ihr Bild ist mir entschwunden. Beschleicht mich zuzeiten die Wehmut, tröste ich mich mit denen, die niemals einen Leibessegen empfunden haben.«
»Nun, sieht Er, Zebedäus,« entgegnete milde der Propst, »ich tröste mich mit denen, die ihn wieder verloren. Alles Fleisch ist wie Gras und verweht wie die Blumen des Feldes. Aber ein Bau wie dieser predigt vielen Geschlechtern. Noch in Trümmern wird er dereinst, wie selber die Tempel der Heidenwelt es tun, an die Ewigkeit mahnen. Unser Erbe, Alter, sei der Dom!«
Ich meinte, einen schwachen Seufzer zu vernehmen, einen Seufzer aus dieser Brust! Ein Geist alter Stunden schien aus einem Winkel hervorzuschleichen und an seine Seele zu klopfen. Mein Mut wuchs.
»Das sei ferne!« so fuhr ich kühnlich heraus, »Jehova hat dem frommen Patriarchen einen Samen erweckt, da er höher betagt war als Hochwürden.«
Renatus Henrici lächelte; ja, er lachte beinahe laut.
»Er faselt!« sagte er, gegen das Domfräulein gewendet, das beistimmend mit dem Kopfe nickte. »Er faselt, Debora!«
Aber über mich war eine Verwegenheit gekommen, die mich pflichtschuldigen Respekt und lange Gewohnheit vergessen hieß. »Hochwürden!« rief ich aus, »Hochwürden, Gott der Herr zeugt in dem Menschen nicht nur durch das Blut! Er zeugt auch durch das Herz!«
»Was will Er damit sagen?« fragte der große Mann, der alles wußte, die Augen verwundert auf mich Unwissenden gerichtet.
»Ich will damit sagen,« antwortete ich unerschrocken, »ich will damit sagen, Hochwürden, daß es auch Kinder gibt durch Wahl; Namen, die man überträgt; Erben, nicht nach weltlichem Gesetz, aber nach freier Neigung des Gemütes. Und wenn ein Fremder gefunden würde, wert, der Sohn eines Henrici zu sein, an seinem Beispiele sich emporzuranken, seines Geistes in seinem Heiligtume weiterzuwirken, und der leiblich kinderlose Greis wollte zu ihm sagen: ›Trage du meinen Namen, sei du mein Sohn und Erbe!‹ so wäre es schier so gut, als wenn er seinem eigenen Stamme entsprossen, und dem Dome wäre ein Henrici neugeboren, wie dem Abraham ein Israel!«
Der Doktor war während meiner Rede noch bleicher geworden, seine Augen bohrten gleich einem Stahl in die meinigen. »Spricht Er von einer Person oder setzt Er nur einen Fall?« fragte er scharf, aber ruhig.
Ich muß es Tollkühnheit nennen; aber: »Ich sprach von einer Person,« sagte ich zuversichtlich und nannte darauf einen Namen, – einen Namen – –
Ich kann einen heiligen Eid darauf ablegen, daß ich niemals vor gegenwärtiger Stunde diesen Anschlag gehegt; daß ich lediglich wie durch höhere Eingebung diese Rede gehalten, diesen Namen aufgerufen habe. Und kaum war er meinen Lippen entschlüpft, so überfiel mich auch ein Zittern und Zagen, als ob ich auf die Knie sinken und um Vergebung für meinen Frevel hätte flehen müssen. Denn, wiewohl ich aus mancher Erfahrung das Eiferartige in meines Herrn Gemüte hatte kennen lernen: diese Wirkung hatte ich nicht erwartet.
»Schweige Er!« herrschte er mit einer Donnerstimme, und der Blitz seiner Augen traf mich wie ein Strahl der Vernichtung.
Seine Wangen waren aschfarben geworden, die Brust keuchte nach Atem; ich sah einen Schlagfluß heranziehen mit der Empfindung eines Vatermörders. Debora stand wie eine Säule starr und steif. Die furchtbarste Pause meines Lebens!
Aber nur wenige Minuten, und er hatte sich gefaßt. Er schritt in die Studierstube; wir hinter ihm drein. Er setzte sich auf den alten Lederstuhl vor dem Pult, blätterte in den aufgeschlagenen Skripturen und sagte darauf gelassen wie alle Tage:
»Er kommt wegen der Lieder, Zebedäus.«
Ich neigte bejahend das Haupt, denn meine Zunge war noch starr.
»Hat Er sich besonnen?«
Ich schüttelte.
Er wendete sich an das Fräulein. »Erinnerst du dich der Lieder, Debora, die wir heute vor fünfzig Jahren während der Trauung gesungen haben?«
Das Fräulein blickte beschämt ob ihrer Vergeßlichkeit zu Boden. »Der Lieder? der Lieder, Renatus?« stammelte sie, »des Textes wohl, es war –«
»Ich weiß ihn,« unterbrach er sie. »Auch gibt es nur einen für einen Diener am Amt. Er muß es heute wieder sein.«
»Kurioser Text für die goldene Trauung!« rumorte es heimlich in mir, meiner Bestürzung zum Trotz. »Wer heiratet, tut gut; wer nicht heiratet, besser.« Bei der grünen Hochzeit hatte ich das nämliche gedacht.
»Die Lieder, Debora?« fragte der Propst von neuem.
Sie schüttelte händeringend den Kopf.
»Es ist gut, ich weiß sie zu finden. Sie werden bei der Rede verzeichnet stehen.«
Damit öffnete er ein verborgenes Fach in seinem Pult und zog ein versiegeltes Kuvert hervor, das er einen Augenblick zögernd zwischen seinen Fingern hielt. Mir war, als sähe ich es wie einen Schatten über seine Züge laufen, ehe er hastig und heftig das Siegel erbrach, einen kleinen, rostigen Schlüssel hervorzog und ihn in einen zweiten heimlichen Kasten steckte. Eine herrische Handbewegung hieß uns das Zimmer verlassen. Wir flohen.
»Die Türe zu!« schrie er mir nach.
Ich schloß sie leise und tief beschämt. Seit sechzig Jahren die erste Kränkung des Mißtrauens! Das Fräulein schleuderte einen durchbohrenden Blick auf mich herab, indem sie mit großen Schritten den Raum bis zu ihrem eigenen Zimmer zurücklegte. Die Ähnlichkeit mit ihrem brüderlichen Vorbilde war mir noch keinerzeit so aufgefallen.
Ich stand atemlos vor der geschlossenen Tür; ratlos, was mit mir selber zu beginnen. Ich kam mir vor wie Adam, den der Engel aus dem Paradiese vertrieben hat. Drinnen hörte ich das Klappern und Rasseln des Schlüssels im Pultfach, dann des Herrn heftige Schritte im Zimmer auf und ab. Von neuem Drehen und Rütteln. Endlich, endlich – den Ruf: »Zebedäus!«
Eilenden, bebenden Fußes trat ich ein. Der Propst stand in vergeblicher Bemühung vor dem Kasten, der, in fünfzig Jahren ungeöffnet, verquollen und dessen Schloß eingerostet war. »Vermag Er's?« fragte er ungeduldig.
»Versuchen – Hochwürden,« stotterte ich; flog in des Fräuleins Gemach; erbat mir ein wenig Öl und Seife und huschte, mit beiden versehen, in das Studierzimmer zurück, gefolgt von der Dame, die gewöhnt war, ihrem Bruder jede häusliche Dienstleistung eigenhändig zu gewähren.
Meine Versuche währten eine Weile. Ich fürchtete, den Bart abzubrechen und den gereizten Herrn noch mehr aufzubringen. Seine Unruhe verwirrte mich, die Hände zitterten immer heftiger.
»Laß Er's!« rief der Propst zu wiederholten Malen; aber sooft ich innehielt, erwachte die Begierde von neuem, und er befahl: »Fahr Er fort!« Endlich bewegte sich der Schlüssel. Ein Ruck aus Leibeskräften – der Kasten fuhr heraus und polterte auf die Platte des Pultes. Ich selber war auf den Herrenstuhl zurückgetaumelt. Indem ich mich hastig erhob, offenbarte ein einziger Blick mir den ausgestreuten Inhalt: vergilbte Papiere, einen goldenen Fingerreif, eine rote verblaßte Busenschleife und ein kleines weibliches Porträt, – ach, ich erinnerte mich seiner nur allzuwohl!
In diesem Augenblicke drangen aus dem Nachbargarten die Töne einer feierlichen Morgenmusik. Posaunen und Menschenstimmen schallten zu uns herauf: »Herr Gott, dich loben wir!«
Der Doktor winkte wie vorhin, aber sanfter, mit der Hand. Das Fräulein und ich verließen das Zimmer. Diesmal schloß ich ohne Geheiß die Tür.
Ich trat an das Fenster des Vorgemachs, öffnete ein Schößchen und schaute über die gemauerte Scheidewand hinweg auf die Erholungsstätten der beiden Domfamilien. Ein gewaltiger Unterschied auch hier!
Zu meinen Füßen ein Streifen Land, so etwa, wie ich mir einen Urwald vorgestellt habe. Nächtiger Schatten, wildwuchernde Pflanzung zu beiden Seiten des einzigen geebneten Pfads zwischen den riesigen Ulmen, die sich am Ende zu einer Laube erweitern. Nie hat seit einem halben Jahrhundert ein Mensch in dieser Laube geruht; die steinernen Tische und Bänke sind dunkel bemoost; schmarotzender Teufelszwirn, das verrottete Pfahlwerk überwuchernd, hat fast den Eingang versperrt. Der Rasen neben dem Ulmengange ist niemals von einer Sichel berührt worden; mannshoch schießt er empor, verwelkt in Winterszeit und schießt von neuem mit frischem Trieb. Hin und wieder hat sich eine Malve oder Königskerze aus alter Zeit zwischen den unbeschnittenen, struppigen Hecken von Buchs und Taxus neu bestockt; dunkler Efeu umrankt das Gemäuer; Spatzen, Dohlen, Fledermäuse, Käuzlein sogar, nisten in seinen Ritzen und scheuchen die fröhlichen Singvögel hinüber in den blühenden Magistergarten, wo liebreiche Hände ihnen Körner und Brosamen streuen.
Dieser Nachbargarten, im Gegensatz, wie emsig und sauber gepflegt! Zu beiden Seiten des Fruchtbaumganges die Gemüsebeete mit Blumenstreifen eingesäumt; Narzissen und Goldlack ihre Düfte streuend, künftighin von dem Flore des Sommers und Herbstes abgelöst; die mittägige Flucht des Hauses mit Rebgeländen, die schattigen Seitenmauern mit Beersträuchen bezogen, und die Laube am Schluß, von blühendem Flieder und Geißblatt überrankt, nach der Gartenseite luftig geöffnet, mit reinlichen Sitzplätzen gefüllt; die Bienen schwärmend aus ihrem Stock, die Tauben flatternd aus ihrem Schlag; Meise und Goldammer zwitschernd in Baum und Zaun.
Die Musikanten hatten auf der Straße hinter der Laube Posto gefaßt, vor derselben, vom Hause her, regte sich frohe Geschäftigkeit. Die Magd, im Sonntagsputz, kam klappernd mit dem Kaffeegeschirr; die Enkelin und selber der junge, geistliche Enkel brachten blumengeschmückte Kuchenkörbe. Und als ich die kleine Debora – so will ich sie zur Unterscheidung von dem großen Domfräulein heißen – so flink und zierlich daherschweben sah, im weißen Kleid und grünen Taftschürzchen, einen frischen Maiblumenstrauß vor der Brust, so schlank und doch rundlich, so freudenhell, da stand mir jene andere leibhaftig wieder vorgezaubert, deren Bildnis vorhin im alten Pult – – aber halt!
Das waren die nämlichen hellgelben Haarzöpfe, das eirunde, blütenreine Angesicht umrahmend, das nämliche Erdbeermündchen, dieselben sanften und doch klugen, goldbraunen Aurikelaugen. Hurtig breitete sie das weiße Tuch über den Gartentisch, ordnete Tassen und Kannen, schmückte die Plätze des Jubelpaares mit festlichen Gewinden, und nachdem alles bereit, legte sie mit einem herzinnigen Aufblick ihre Hand in die ihres Vetters Renatus, dessen Züge und Habitus mich gleicherweise, wie niemals zuvor, an die des Großvaters in seiner Jugendzeit gemahnten.
So, Hand in Hand, flogen sie nun dem Jubelpaare entgegen, das vom Hause her langsam auf die Laube zugeschritten kam. Der Choral verstummte; die Posaunen schwiegen; wohltönende Männerstimmen hoben, ohne Begleitung, eine weltliche, aber nicht minder bewegliche Weise an. In diesem Augenblicke standen die Jungen den Alten gegenüber, beugten sich über ihre Hände und zogen sie an ihre Lippen; die Alten aber drückten die Kinder wechselseitig an ihre Herzen unter strömenden Tränen. Die Kluft eines halben Jahrhunderts schien ausgefüllt, ihre eigne Jugend wieder aufgewacht in dem lieblichen Paare.
Ich zog mein Sacktuch hervor, um meine überlaufenden Augen zu trocknen, und erst bei dieser Bewegung wurde ich gewahr, daß das Domfräulein hinter mir gestanden und, so gut wie ich selbst, Zeuge des rührenden Auftritts gewesen war. Sie sah weiß aus wie eine Wand. Ich entfernte mich eilfertig, unter tiefer Verbeugung; in meinem Herzen brannte die Frage, ob am Nebenfenster wohl auch der Bruder, und mit welchen Gefühlen, das Bild im Magistergarten überschaut habe?
Ich hatte in meinem Hause ein festliches Karmen, gebunden in Goldpapier, zur Feier dieses Tages bereitliegen; mit wenigen Strichen war die Ode, in der ich vor fünfzig Jahren, wo ich ein geläufigerer Dichterling als heute war, die grüne Liebeshochzeit besungen, schicklich für die goldne Jubelhochzeit umgewandelt worden. Desgleichen harrte ein Paar Mundtassen der Überreichung, von ähnlicher Form wie die meines ersten Hochzeitsangebindes; nur daß an Stelle der blühenden Rosen und Vergißmeinnicht ein goldnes Gewinde das feine Meißener Porzellan überrankte.
Aber selber der Katzensprung nach der Küsterei währte mir zu lange für mein bewegtes Gemüt. Sonder Karmen und Tassen stürzte ich hinüber zu den Glücklichen in dem Magistergarten.
Die Musikanten hatten sich zurückgezogen; die Familie saß um den Frühstückstisch in der blühenden Laube. Der Morgentau glitzerte gleich Freudentränen auf Blume und Blatt; es duftete wie Weihrauch in dem kleinen Gehege. Meine Zähren rannen unaufhaltsam, meine Füße schwankten.
Und jetzt werden die gütigen Menschen meiner gewahr; das Jubelpaar schreitet mir entgegen. »Alter, treuer Freund!« sagt die Matrone und faßt meine beiden Hände. Der Greis sinkt an mein Herz: »Alter, braver Gutedel!« ruft er aus.
Ach, wie soll ich es denn nur beschreiben, was noch in der Erinnerung meine Brust zu zerspringen schwellt?
Ja, wohl ist es groß, an seinem Oberherrn in schweigender Ehrfurcht in die Höhe zu blicken; aber weinend seinen Vorgesetzten am Busen zu halten als einen Freund – diese, diese Wonne! – – Und ich, der ich fünfzig Jahre lang, in erquickendem Wechsel, beide dieser Seligkeiten gekostet habe, – – wahrlich, wahrlich, es hat niemals einen Glücklicheren meines Amtes gegeben.
Und wie nun auch das jugendliche Enkelpaar mir entgegenflatterte, nicht nur geschwisterliche, nein, – ich ahnete es ja längst! – nein, bräutliche Liebe in Wort und Blick; wie sie mich Zitternden unter die Arme faßten, mich zum Kaffeetisch führten und mich bedienten, als wäre ich einer der Ihren; wie die holdselige Debora mir die Wangen streichelte, mich ihr Gutedelchen nannte und mir die braunen, knusperigen Randstückchen des selbstgebackenen Rosinenkuchens zuschob, die ich so vorzugsweise liebe; wie sie dazwischen immer ihrem Renatus so seelenvergnügt in die treuen, blauen Augen blickte, dann wieder den Großeltern Hand und Lippen küßte und es aus jedem an sich unbedeutenden Worte herausklang: »Sind wir nicht die allerglücklichsten Kinder? und hättet ihr Alten an eurem Ehren- und Jubeltage wohl größere Freude erleben können als durch uns?« da, da schwoll mir das Herz immer höher und weiter, und ich fühlte, daß ich meine leiblichen Kindlein, wenn Gott der Herr sie mir gnädig erhalten, nicht zärtlicher darin hätte bergen können als dieses gesegnete Liebespaar.
Nachdem wir uns hinlänglich an Speise und Trank gelabt hatten, wurde die Stimmung gelassener und nunmehr die Verlobung der Enkel, wie deren Aussicht für die Zukunft, gründlich hin und wieder besprochen. Ich erfuhr auf diese Weise, daß der junge Hilfsprediger am gestrigen Tage von einem adligen Kirchenpatron, der sein Universitätsfreund gewesen war, den Antrag der Pfarrstelle in einer abgelegenen Provinz erhalten habe und daß die Sicherheit eines heimatlichen Nestes, verbunden mit der Jubelstimmung der Vorfeier, die langgehegten Herzenswünsche zur Aussprache gebracht.
Die Stelle war bescheiden, würde jedoch unter anderen Verhältnissen für einen jungen Anfänger immerhin ein Treffer zu nennen gewesen sein. Hatte der Großvater denn aber nicht den Plan, sich emeritieren zu lassen, und die langgehegte heimliche Hoffnung, den Enkel in seine Stelle rücken zu sehen? Hieß es nicht den letzten erwärmenden Sonnenstrahl aus dem Leben des alten Paares verweisen, wenn sie sich in weite Ferne und berechenbar auf Nimmerwiedersehen von den geliebten Kindern trennen mußten? Annehmen und scheiden, oder ablehnen und aufs Ungewisse hoffen, die Frage war ein bitterer Tropfen in unserem Freudenkelche.
»Ach!« so dachte ich wehmütig in meinen Gedanken, »ach, wenn ich doch nur auf eine einzige Stunde der Propst, Doktor Renatus Henrici wäre! Denn was kostete es mich dann mehr als ein Schreiben an meinen allergnädigsten Landesherrn, der sich mir, – nämlich dem Propst, – von Jugend ab huldreich, ja schier unterwürfig erzeigt hat, gleichwie ein Sohn und Lehrling im Geist; was, sage ich, kostete es mich weiter als eine bittende Darstellung, und das Amt am Dom hätte keinen anderen Erben als den würdigen Großsohn meines alten Freundes und Konfraters Borsdorf.«
Meine Gedanken hatten sich in der Stille mit denen des guten Magisters begegnet.
– »Ja, wenn – Er – zu einer Fürsprache zu bewegen wäre!« – sagte er, mit der Hand auf das Nachbarhaus deutend, nach einem tiefen Seufzer.
Ich antwortete mit einem noch tieferen. Der Auftritt, dessen Zeuge ich vor kaum einer Stunde gewesen war, benahm mir jegliche Hoffnung.
»Wir haben kein Recht, mein Christian, eine Bitte zu wagen,« sagte die Matrone leise, mit gesenktem Blick.
»Nein, wir haben kein Recht!« seufzte der Greis. Und auch ich schüttelte den Kopf.
Der junge Herr Renatus aber erhob sich und sprach aus warmer Seele: »Und warum hätten wir kein Recht, liebe Großeltern, eine Bitte, eine Frage mindestens an den strengen alten Mann zu wagen? Was könnte mich abhalten, noch in dieser Stunde vor ihn zu treten und zu sagen: Sie waren der Jugendfreund meines Großvaters, der Bruder und Wohltäter seiner Gattin – –«
»Um des Heilands willen, nicht diese Erinnerung, mein Sohn!« riefen beide Alten aus einem Munde.
»Nicht diese Erinnerung!« wiederholte ich.
Doch der feurige Jüngling ließ sich nicht irremachen. »Sie kennen mich,« fuhr er lebhaft fort; »Sie haben meine selige Mutter und mich selbst mit beiden gnadenreichen Sakramenten in den Bund der Christenheit eingeführt; Ihnen zu Ehren trage ich den Namen Renatus. Ich bin unter Ihren Augen aufgewachsen; Sie haben meine Zeugnisse geprüft, meinen Wandel beobachtet. Sie wissen, in welchem Sinne ich seit Jahresfrist meinem Großvater ein Gehilfe gewesen bin, Gottes Wort von der Kanzel verkündet, die Pflichten christlicher Seelsorge in der Gemeinde geübt habe. Achten Sie mich fähig und würdig, an meines Großvaters Statt, unter Ihnen, neben Ihnen das Amt an diesem hehren Gotteshause dauernd zu verwalten? mich an Ihrem Beispiele weiterzubilden und mit meinen Gaben vor Gott wie Menschen zu bestehen? Wenn Sie aber dieser Aufgabe mich fähig und würdig achten, wollen Sie dieses Anerkenntnis laut werden lassen, daß ich mein inneres wie mein äußeres Lebenslos auf Ihr Zeugnis zu gründen imstande sei?«
* * *
Wir drei Alten saßen schweigend, die Augen zu Boden gesenkt. Es ist ja so schwer, einem vertrauenden Menschen Mut und Glauben durch unsere Zweifel abzukühlen. Die jugendliche Braut dahingegen schaute mit siegesfreudigem Blick und hochroten Wangen zu ihrem Verlobten in die Höh; die Vergangenheit nicht ahnend, deren Mahnen uns Greise so bänglich bewegte.
»Und ich, ich gehe mit dir Renatus!« rief sie, indem sie ihre Hand in die seine legte. – »Tritt du vor den alten Herrn; ich trete vor die alte Dame.«
»Fräulein Debora! will ich sagen und recht demütig ihre Hand küssen; Fräulein Debora, Sie haben mich niemals freundlich angesehen, sooft ich Ihnen im Kirchstuhl gegenübersaß; Sie haben mir niemals ein Wort gegönnt, kaum meinen Gruß erwidert. Und doch sind Sie meine Patin; doch trage ich Ihren Namen, der jeden Morgen und jeden Abend in unseren Gebeten widerklingt. Und doch hat man von Kind auf mich Sie lieben gelehrt wie meine Mutter im Himmel, und ich sehne mich nach Ihrem Segen zu dem Bunde, den ich mit meinem Renatus geschlossen habe. Denn ich liebe meinen Renatus; und seit ich die Seine geworden, dünken mich alle Menschen näher, ja so nahe gerückt, daß ich sie an mein Herz ziehen und sie so froh und glücklich sehen mochte, wie ich selber es bin. Aber meine Großmutter blickt traurig an dem Tage, mit welchem der liebe Gott so wenige begnadigt. Ihr Auge sucht eines, das ihrer Jugend schwesterlich zugelächelt hat und jetzt sein Begegnen vermeidet; – warum? ich weiß es nicht. Ihre Hand streckt sie nach einer, die sie mit Wohltaten beladen und jetzt ihren Druck verweigert; – warum? ich weiß es nicht. Fräulein Debora, lösen Sie den Stachel aus dem Herzen der alten Frau; blicken Sie freundlich zu ihr hinüber; führen Sie heute die Elternmutter, wie Sie vor fünfzig Jahren die bräutliche Jungfrau zum Altare geführt; kehren Sie ein in unser Haus, ein teurer, langersehnter, ein vielgesegneter Gast!« –
»Geh, meine Tochter, geht, meine Kinder!« rief die Matrone hastig und mit bebenden Lippen.
»Geht gleich jetzt; euer Herz ist warm, euer Vorsatz von Gott. Er geleit euch!«
»Ja, geht, lieben Kinder,« sagte gelassener der Greis, der nicht die Rührigkeit seiner Gattin in das Alter hinübergerettet hatte.
»Ja, gehen Sie, Herr Renatus, Fräulein Debora,« sagte auch ich. »Gottes Wege sind wunderbar; auch die zu den Herzen der Menschen.«
Frohen Mutes, Arm in Arm, schwebte das Paar den Gartenweg entlang. Wir blickten ihm nach, stumm, mit gefalteten Händen.
»Und wir, Christian?« hob nach einer langen Pause die Matrone an; »sollen wir sie allein gehen lassen? Nicht ihnen folgen, an diesem Tage, vielleicht in der letzten Stunde? Nicht danken, wenn ihnen gelang, was uns nimmer gelingen sollte? Bitten, wenn sie vergeblich gebeten haben; noch einmal bitten um den Frieden dieses Erinnerungstages, um die Ruhe unseres Sterbebettes?«
»Lenchen, Herzenslenchen!« wendete der alte Mann bedenklich ein. Aber sie schlang, sanft errötend gleich einer Braut, die Arme um sein weißes Haupt; ihre heißen Tränen perlten darauf nieder, – und sie gingen.
Ich hinter ihnen drein, Schritt für Schritt, wie ihr Schatten. Wir redeten kein Wort. In wenigen Minuten standen wir auf der Schwelle des Nachbarhauses. »Zum ersten Male seit fünfzig Jahren!« flüsterte die Matrone.
Im Vorgemach hörten wir die bewegte Stimme des Enkels aus dem Studierzimmer, die der Enkelin aus dem Fräuleinzimmer dringen. Die Großmutter hielt plötzlich inne.
»Nicht vor dem Ohre des Kindes,« sprach sie errötend. »Du, Christian, erwarte Renatus hier oben, ich gehe in den Garten, bis Debora entlassen ist. Sie, lieber Freund, geben mir einen Wink zu rechter Zeit.«
Damit ging sie leise die Treppe wieder hinunter und in den Garten; ich sah vom Fenster sie in der großen nächtigen Laube des Hintergrundes verschwinden. Ihr Eheherr schlich mit eingepreßtem Atem im Zimmer auf und ab; um mir Mut einzuflößen, nahm ich die große Postille zur Hand, die auf dem Tische vor dem Küsterstuhle ihren Platz und mir manche Stunde des Harrens erbaulich verkürzt hat. Ich las das dreizehnte Kapitel des ersten Korintherbriefs; das heiligste Kapitel, das, nach meinem Dafürhalten, die Hand eines Menschen aufgezeichnet hat. Ich wußte es auswendig, Wort für Wort, seit länger als siebenzig Jahren. Jedesmal aber, daß ich es von neuem las, klang es mir wie eine neue Botschaft; und mit dem Schlußsatz: »die Liebe ist die größte unter ihnen!« – den Gaben des Geistes nämlich, – da fühlte ich heute eine köstliche Gewißheit in mein Herz einziehen; die Gewißheit: daß auch der starke, eifrige Mann dieses Hauses, der in seinem Glauben und Hoffen nicht erst aus einem Saulus ein Paulus zu werden brauchte, für die höchste unter den Gaben doch noch eine Stunde von Damaskus erleben werde; das Wunder, um welches ich am Morgen schon einmal an dieser Stelle gefleht hatte.
Kaum aber, daß diese Freudigkeit in mir warm geworden war, wurde ich übergossen wie von einer eisigen Traufe. Die Rede des Supplikanten in der Studierstube war verstummt: Renatus Henrici gab seinen Bescheid. Den Wortlaut unterschied ich nicht, aber der Ton der Stimme klang wie kurzes, scharfes »Nein!« Und einen Augenblick später stürzte auch Renatus, der Enkel, aus der Tür, und der Riegel wurde hastig von innen vorgeschoben.
»Alles vergebens!« rief der junge Mann mit verstörten Mienen und einer abwehrenden Handbewegung, indem er sich eilig entfernte.
»Ich wußte es!« flüsterte kleinlaut sein Großvater und wollte dem Enkel folgen. Ich aber hielt ihn zurück.
»Das Fräulein!« bat ich, auf der Dame Zimmer deutend.
Er schüttelte den Kopf; allein ich drängte ihn nach der Tür. Er legte die Hand auf die Klinke, kehrte aber wieder um und blickte mir ängstlich in das Gesicht. Ich öffnete beherzt und schob ihn über die Schwelle in dem Augenblicke, als die kleine Debora wie ein verscheuchtes Vögelchen über sie heraus flüchtete. Hinter ihr stand das Domfräulein, steif wie eine Statue vor der neuen behelligenden Erscheinung.
Die Tür fiel in das Schloß. Die Kleine floh ohne Aufenthalt der Treppe zu; Tränenspuren feuchteten ihre Augen, sie schüttelte den Kopf über dieses starre, unverständliche Menschenrätsel. Ich folgte ihr, um der in der Laube harrenden Matrone das Scheitern des kindlichen Angriffsplans mitzuteilen.
Jählings stockte mein Fuß. Ich hörte des Propstes Tür sich schließen und seinen heftigen Tritt der Treppe nahen. In diesem Augenblicke fürchtete ich mich schier vor ihm. Ich schlüpfte behende hinter die Tür, die aus dem Hausflur in den Garten führt, und lugte durch die Lücke der Angel, wohin er sich wenden werde.
Die kleine Debora war überrascht am Fuße der Treppe stehen geblieben, des Mannes Aufregung aber so gewaltig, daß er sie erst bemerkte, als er Auge in Auge ihr gegenüber innehielt. Sie, die er jeden Tag in ihrem Garten hätte beobachten können, der er jeden Sonntag auf dem Kirchwege begegnet war, – er sah sie heute zum ersten Male. Er sah sie; – aber es war, als ob eine Sinnentäuschung ihn überflöge, vielleicht durch den Anblick des alten kleinen Bildnisses hervorgerufen. Fünfzig Jahre waren plötzlich verschwunden; nicht Debora, Magdalena Adami in ihrer Jugendschöne stand vor Renatus Henrici hingezaubert, und Renatus Henrici, der Greis, erzitterte unter einem Jünglingsschauer.
Sie beugte sich bis zur Erde vor der hohen Gestalt, griff mit Lebhaftigkeit nach seiner Hand und führte sie an ihre Lippen. Bei dieser Bewegung löste sich der kleine Maiblumenstrauß von ihrem Busen; er fiel in seine Hand. Er riß sich hastig von ihr los, indem er sich nach der Gartenseite wendete. Die kleine Debora floh wie ein Reh der Straßentür zu.
In den Garten ging er, zu dieser Stunde! Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Von ihm unbemerkt schlüpfte ich aus meinem Versteck und hinter den dichten Taxushecken der Laube zu. Dabei lauschte und lugte ich durch die Lücken nach dem alten Herrn.
Er ging auf dem gewohnten Wege zwischen den uralten Rüsterriesen; aber nicht in dem gleichmäßigen Tempo seines Dämmerungsganges, nicht Tritt für Tritt, die Hände auf dem Rücken und die Augen am Boden. Er machte etliche Schritte, hielt dann inne; setzte sich von neuem in Bewegung, fuhr mit der Hand über die Stirn. Ein Zug von Kampf oder Krampf bewegte die schmalen, farblosen Lippen; die tiefe Furche zwischen den Brauen glättete sich und grub sich stärker wieder ein in jähem Wechsel. Ein Etwas arbeitete heimlich, aber mächtig in seiner Brust. Noch einmal hielt er still. Mechanisch führte er den kleinen Strauß an sein Gesicht; schaute lange in die weißen Glockenkelche und sog, wie befremdet, ihren Balsam in sich hinein. Ein tiefer Seufzer, ein Atemzug der Erquickung rang sich empor. Hatte er zum ersten Male einen Blumenduft gespürt?
Bei unserm letzten Spaziergange hatte mir Christian Borsdorf die gar sinnige Legende erzählt, wie ein frommer Christenapostel mit der eindringlichsten Rede vergeblich versucht hatte, das im freien Feld um ihn gescharte Heidenvolk von dem Wunder der dreieinigen Gottheit zu überzeugen. Verzweifelnd blickt er zu Boden, gewahrt ein bescheidenes Kleeblatt, pflückt es, hält es in die Höhe und ruft: »Die ihr nicht glauben wollt, schaut! wie dieses kleine Blatt, so der große Gott: drei und doch eins!« Das Heidenvolk aber schaut, glaubt und ehrt noch heute das Kleeblatt als sein heiligstes Symbol.
Seltsam! diese Erzählung fiel mir wieder ein, als ich Renatus Henrici die erquickende Maienwürze einatmen sah. »Alles Natürliche ist Sinnbild des Übernatürlichen!« hatte mein Freund gesagt, und ich dachte bei mir selbst: »Der Duft, der geheimnisvoll labend in den Busen dringt, sollte der nicht das wahrhaftige Sinnbild der Liebe sein? sollte nicht Gott der Herr, wie durch die Gestalt eines Blatts, so durch den Weihrauch einer Blüte seine ewigen Wunder einem Menschenherzen offenbaren können?«
Renatus Henrici hatte die Laube erreicht; ich stand verborgen kaum fünf Schritte von ihm entfernt. »Sobald er sich wendet,« dachte ich, »gebe ich der armen Frau einen Wink.«
Aber er wendet sich nicht. Er steht unschlüssig; was hält ihn? Hebt dann hastig den Arm; er zittert; – was treibt ihn? Er schlägt das wuchernde Gestrüpp zurück und tritt in das düstere Laubgemach. Ein jäher Aufschrei! – Sich gegenüber sieht er das Weib, das er fünfzig Jahre lang in der Stille, sei es der Tugend, sei es des Hasses oder – der Liebe? gemieden hat, gleich einer Verbrecherin.
Sie war von ihrem Sitze aufgesprungen bei seinem Nahen.
»Renatus!« stammelte sie freudenvoll durchzuckt.
Aber schon hatte er sich gesammelt und wollte entfliehen. Sie griff nach seiner widerstrebenden Hand. »Du kommst zu mir,« sagte sie; »Renatus, du suchst mich hier, hier an dieser, dieser Erinnerungsstätte?«
»Ich suchte niemand. Ich kam aus Zufall dieses Wegs,« versetzte er herbe, indem er sich zur Rückkehr wendete. Sie aber stellte sich ihm am Ausgang entgegen, faßte von neuem nach seiner Hand und sprach:
»Nicht aus Zufall, Renatus! Das Begegnen an dieser Stätte, Wand an Wand neben Ihnen, Tür an Tür, fünfzig Jahre lang vergeblich ersehnt, erfleht, erstrebt, nennen Sie es Führung, Renatus, und gehen Sie heute nicht von mir ohne Wort, wie an jenem Tage, und so oft seitdem; heute nicht, wo das Grab mir näher ist als damals der Altar; heute hören Sie mich und entsühnen mich.«
»Entsühnen?« fragte er kalt. »Sind Sie verklagt worden, Frau?«
Sie neigte schweigend das Haupt bis auf die Brust.
»Niemals, niemals!« rief er heftig.
Sie aber entgegnete mit dem beweglichen Stimmenklang, den ihr das Alter nicht geraubt hatte: »Ja, ich bin verklagt worden; ich bin es worden, Renatus. Nicht laut, nicht öffentlich, nicht mit Worten und Zeichen; aber im Herzen und Gedanken; aber im Schweigen und Meiden; aber durch Ihr einsames Leben; aber durch Ihre Großmut, unerforschlicher Mann.«
Sie machte eine Pause; vielleicht in der Hoffnung eines Wortes von ihm. Er sprach es nicht; aber er blieb. »Renatus,« hob sie endlich wieder an; noch leiser, noch bebender als zuvor, »einst liebten Sie ein Kind, eine Waise – –«
»Lassen wir, was so lange vergangen ist,« unterbrach er sie. »Sie und ich, wir würden es nicht mehr verstehen.«
»Ja, wir verstehen es noch,« entgegnete sie. »Auch Sie, Renatus, verstehen es. Und ich? O, wohl verstehe ich es, was fünfzig Jahre an meiner Seele gezehrt wie ein Wurm und auf meinem Haupte gebrannt wie eine glühende Kohle. Hören Sie mich, daß ich Ihnen sage, in dieser äußersten Stunde, wie ich es verstand.«
Wieder machte sie eine Pause. Er regte sich nicht. Nachdem sie sich gesammelt hatte, fuhr sie fort:
»Sie liebten ein Kind, eine Waise, deren Bruder Sie gewesen, deren Schützer und Wohltäter Sie geworden waren; liebten sie und gedachten sie zu Ihrem Eigentum zu machen für das Leben. Widerstandslos hatte sie ihr Wort verpfändet, ohne zu ahnen, was es bedeute. Und die Sie liebten – verriet Sie. Hier unter diesen Bäumen, die den Treuspruch vernommen, wurden Sie Zeuge eines zwiefältigen Treubruchs, – nein, eines zehnfältigen. Denn der andere, dem sich das Herz der Geliebten zugewendet, war ein Diener Gottes, wie Sie, war der Freund Ihrer Jugend, Renatus, und hatte seine Treue Ihrer Schwester verlobt, der Schwester und Wohltäterin auch des treulosen Kindes.
»Wie es geschehen konnte, daß zwei von einander strebten, die so Heiliges verbinden, zwei zu einander, die das Heiligste scheiden sollte? Renatus, klagen Sie den Trieb an, der so schwach macht und zugleich so stark macht, so stark, daß er heute, nach fünfzig Jahren, noch ungebrochen des Weibes und des Mannes Herz regiert. Nicht, daß sie sich liebten, war ihre Schuld; daß sie dieser Liebe keinen Damm zu setzen wußten – auch das nicht einmal. Aber daß sie kleinmütig zagten, zögerten, täuschten, die zufällige Überraschung sprechen ließen, statt eines redlichen Vertrauens; daß sie Betrüger, Verräter zu werden verdienten.
»Aber die Betrogenen, Verratenen, sie schalten nicht; – sie schwiegen; – sie schmähten nicht: sie deckten zu; sie halfen, förderten, spendeten mit reichlichen Händen, geleiteten die Treulosen zum Altar, und an der Schwelle ihres Hauses schieden sie von ihnen, – für immer.
»Seit dieser Stunde wandeln sie ihren Pfad, einsam zu zweien; meiden sie ein Geschlecht, dessen Nächste ihrem Glauben Hohn gesprochen. Sie forschen, sie schaffen, sie spenden und üben strenge Tugend. Ihr Haus ist ein Tempel, und ein Tempel ist ihr Haus; aber sie wehren dem Danke und der Bewunderung, und niemals hat Gottes Liebe wieder zu ihnen geredet durch eines geliebten Menschen Mund.
»Jene anderen aber, jene treulosen Liebenden; ach, auch sie waren nicht glücklich. Glauben Sie mir, Renatus, sie waren es nicht, trotz ihrer Liebe; trotz äußeren Gedeihens, bei allem Segen der Familie und eines heimatlichen Herds; die Öde der Verratenen breitete sich über den Frieden und die Fülle ihrer Herzen. Renatus, wenn ich Sie und die Schwester, die Ihnen treu geblieben ist, im Schatten dieser Bäume auf und nieder wandeln sah, so schweigend, so wechsellos, so ohne Regung einen Tag und alle, diese fünfzig Jahre, da hätte ich mich aus meinem Fenster und zu Ihren Füßen stürzen mögen mit dem Flehen: vergib mir und lebe auf! Wenn Sie die priesterliche Hand auf meine Kinder und Enkel legten im ersten Sakrament, wenn Sie mir das heilige Versöhnungsmahl spendeten, da zitterte meine Hand, die Ihre zu fassen, und meine Seele schrie: Sprich dich selber los als Mensch, nachdem du mich als Priester losgesprochen. Und endlich in jenen schmerzensreichsten Stunden, als Sie den letzten Segen über die Gruft der Kinder spendeten, da flehte das Herz der Mutter: ›Nimm sie, mein Gott, und den Reichtum, den du uns geraubt, lege ihn denen zu, die wir arm gemacht haben.‹ Heute aber, Renatus, heute, wo dein priesterliches Wort unseren Bund, wie einst für das Leben, so für die Ewigkeit weihen, deine Hand zum letzten Male auf meinem Haupte ruhen soll, – denn bald, morgen vielleicht, in meinem Sarge, da fühl ich's ja nicht mehr; lege sie heute auf mich, daß ich's fühle mit einem erneuerten Herzen. Der uns erhalten, wie durch ein Wunder, so nahe einander, so ferne einander; hat er uns erhalten zu ewigem Entfremden? O, reiße die Mauer nieder, die du um dich und zwischen uns gezogen; sei noch einmal mein Wohltäter, mein Bruder, liebe meine Kinder, Renatus, mache meine Sterbestunde froh!«
Sie konnte nicht weiter. Sie schluchzte wie in Krämpfen, sank zu seinen Füßen, umklammerte seine Knie. Und er?
Ich hatte alle Scheu vergessen; ich war hervorgetreten, stand dicht an seiner Seite und weinte laut. Aber er sah und hörte mich nicht.
»Magdalene!« rief er und stürzte neben sie zu Boden und schlug mit der geballten Faust an seine Brust; »Magdalene, Schwester, Geliebte! – Ich habe meines Herrn Botschaft bis heute verkündet, ein unnützer Knecht!«
Dann aber richtete er sich auf, zog sie in die Höhe, breitete die Arme aus und hielt sie an seinem Herzen, lange schweigend, bis alles Zittern sich gelegt. Ich schlich mich ungesehen von dannen. Ehe ich die Gartentür erreicht hatte, sah ich das alte Fräulein hereintreten, Hand in Hand mit dem Jugendfreunde. Auch ihre Augen waren gerötet. So schritten sie nach der Laube der Schuld und der Versöhnung; ich aber floh in mein Kämmerlein und lobpreisete Gott.
* * *
Vier Stunden waren verflossen seit dieser. Der Doktor hatte mich nicht einmal angeredet, sooft er an dem Küsterstuhle vorübergegangen war. Er pflog lange Unterredungen mit der Schwester. »Heute, gleich heute; wir haben Eile, Debora!« hatte ich ihn sagen hören. Er schrieb, siegelte! nahm ein frisches Blatt. Die Tür hatte er nicht wieder abgeschlossen; ich durfte ihn beobachten wie sonst. Er schien um fünfzig Jahre verjüngt, ging wie auf Federn mit leichten, elastischen Schritten. Auf seinen Wangen brannte ein Purpurflecken, der fremden Blüte gleich, die erst in hundert Jahren jählings zum Aufbruch kommt. O, du Kleinod unseres Domes, du Wundermoos aus dem Gelobten Land! – alles Sinnliche ist nur Gleichnis des Übersinnlichen, – ein Morgentau hat das dürre Moos zur Rose angeschwellt!
Aber auch das Fräulein war in Eifer geraten. Sie flog treppauf, treppab, klapperte mit dem Schlüsselbund, öffnete Kisten und Truhen und schleppte, mit der Magd um die Wette, die schweren Linnenbündel, die sie samt ihren Domarmen in einem halben Jahrhundert zusammengesponnen hatte, vom Boden in das erste Stock. Das gab eine Bescherung, daß man ein halbes Dutzend Bräute hätte ausstatten können, oben in dem großen Zönakel, der, je nachdem, die beiden Domwohnungen schied oder verband und dessen Hallen nicht wieder zu einer Festlichkeit geöffnet worden waren, seitdem Propst Henrici, der Vater, die Verlobung der beiden Dompaare in ihnen gefeiert hatte. Das war ein Leben in der alten, stillen Propstei, als ob ein Sturmwind sich jählings erhoben habe, aber einer, der die schweren Wolken verjagt, die Lüfte rein und die liebe Sonne heiter macht.
Erst eine Stunde vor der Trauung kam die alte Dame zur Ruhe, und bald darauf trat sie aus ihrem Zimmer in dem kostbaren Anzuge, den sie sich vor etlichen Jahren hatte anfertigen lassen, als Ihre Majestät die Königin unserer Stadt und Kathedrale Hochdero Besuch in Aussicht gestellt hatten. Ihro Majestät haben bis dato diese Verheißung nicht zu erfüllen geruht, aber wie gut war es doch, daß der festliche Anzug fix und fertig lag!
Der schwere schwarze Seidenmoiré floß in einer Schleppe an der stattlichen Gestalt hinab; über dem dunkeln Haare breitete sich das feinste Spitzengewebe; am Halse, und fast bis zum Gürtel niederhangend, prangte das unschätzbare Erbteil der reichen, seligen Frau Mutter, eine morgenländische, mattweiße Perlenschnur; über dem Herzen aber ruhte das Ordenskreuz, das der Dame für bewiesene vaterländische Tugenden während der Kriegsdrangsale verliehen worden war. Wie sie in diesem Staate mit majestätischen Schritten an mir vorüberrauschte, erschien sie mir erst recht als das »Domfräulein«, ich erhob und verbeugte mich in ehrfurchtsvoller Bewunderung. Sie aber nickte mir lächelnd zu, als ob sie an sich selber ein Gefallen trüge. In meinem Leben hatte ich die große Debora nicht so guter Laune gesehen.
»Es ist Zeit, Renatus!« sagte sie, bei ihrem Bruder eintretend.
»Ich bin bereit, Debora!« antwortete er, indem er sich ohne Säumen von seinem Pulte erhob.
Sie half ihm den langen, seidenen Talar anlegen, den er nur ein einziges Mal getragen hatte, als er vor seinem königlichen Herrn jene denkwürdige Rede hielt, von welcher Höchstderselbe öffentlich bekannte: sie habe ihn erweckt wie eine Prophetenstimme; sie heftete die feinen Beffchen an seinen Hals und an seine Brust den Ordensstern, der auch nur an jenem Ehrentage an das Licht gezogen worden war. Sie hatte ihm diese Hilfsleistungen beim Ankleiden gelassen und pünktlich jedweden Sonn- und Festtag in fünfzig Jahren erwiesen; heute aber flogen ihre Blicke und Hände, und wie er sie so schmuck und strahlend sich gegenüberstehen sah, da sagte er lächelnd: »Du siehst ja aus wie eine Prinzessin, liebe Schwester!«
»Ich bin auch stolz und froh wie eine Prinzessin, lieber Bruder,« versetzte sie.
Er erwiderte nichts; aber er nickte ihr zu, und – ja, ich kann beschwören, daß ich es gesehen mit diesen meinen leiblichen Augen, Renatus Henrici küßte seine Schwester Debora auf die Stirn!
Eilig, als hätte sie es versäumt, rauschte sie nun die Treppe hinab und hinüber in das Magisterhaus, in das sie seit fünfzig Jahren keinen Fuß gesetzt hatte.
Der Propst trat in das Küstergemach. Er sagte auch jetzt noch kein Wort zu mir; aber im Vorüberstreifen fielen seine Augen auf das noch aufgeschlagene dreizehnte Kapitel des ersten Korintherbriefs und dann hinüber auf mich mit einem Blick – einem Blick, der mich in meinem letzten Stündlein beseligen wird.
Er schritt voran; ich in gebührender Entfernung hinter ihm drein. Die dichtdrängende Menge machte mit ehrerbietigem Neigen vor uns Platz, wie vor einem König und seinem Hof. In der Sakristei senkte er seine Knie auf den Betschemel nieder, wie jedesmal vor der Predigt oder einem feierlichen Akt. Aber er betete länger als ein Vaterunser, und er betete auch anders als sonst: mit erhobenem Blick, über der Brust gefalteten Händen und bebenden Lippen.
Die große Domglocke, Maria gloriosa, hob aus; er richtete sich auf und schritt, von mir gefolgt, zum Altare des hohen Chors.
Die drei Pforten des Lettners standen geöffnet; im Mittelschiffe und auf den Emporen drängte sich Kopf bei Kopf. Weißgekleidete Jungfrauen, Rosenkronen im Haar und in der Hand, bildeten eine Kette, den Hauptgang entlang. Rings um den Altarplatz hatten die Würdenträger der Stadt und Umgegend Posto gefaßt; die Behörden, das Offizierkorps in seiner Paradeuniform; selber, – und das schreibe ich nieder als ein Dokument gar beherzigenswerter Eintracht und Ehrerbietung vor unserem Gotteshause und seinem Oberherrn, – selber die Geistlichkeit der katholischen Konfession und der Rabbiner der Judengemeinde. Aber Renatus Henrici schien von all dieser Fest- und Herrlichkeit nichts gewahr zu werden. Seine Augen blickten unverwendet nach oben, als ob er eine himmlische Eingebung empfange.
Nun aber öffnete sich das große Portal; die Glocken schwiegen; die ersten Klänge der Kantate hoben an. Feierlich langsam, von blumenstreuenden Kindern eingeleitet, bewegte sich der Hochzeitszug das Schiff entlang. Voran und alle überragend das Fräulein Debora Henrici, dem großen Mittelturme auf unserem Dome vergleichbar, in seiner majestätischen Erhabenheit. Zu ihrer Rechten die bleiche, schmächtige, noch im Alter schöne Jubelbraut, im silberfarbigen Gewande, den goldenen Kranz über der schneeweißen Haube und dem nicht minder weißen, welligen Haar. Auf den linken Arm des Fräuleins gestützt, der Jubelbräutigam: mehr gebeugt vom Alter als wir anderen, seine Zeitgenossen, aber noch immer einen Schimmer der Jugend auf den rosigen Wangen und einen freundlichen Strahl in dem blauen, schwimmenden Auge. Ein goldener Hochzeitsstrauß glänzte an dem schwarzen Talar. Den drei Greisen folgte das bräutliche Enkelpaar, und diesem, je zwei und zwei, die lange Reihe der Amtsbrüder der Ephorie.
Der Zug hatte sich um den Altarplatz geordnet, bis der Gesang verstummte. Nun trat das Jubelpaar vor den priesterlichen Freund; das Fräulein dicht hinter den beiden, den Blick durchdringend auf den Bruder gegenüber geheftet. Renatus Henrici aber, der Achtzigjährige, hob mit mächtiger Jünglingsstimme jene wunderbare Rede an, die man eines Tages nicht in seinen Sammlungen lesen wird, weil sie, ohne Ausarbeitung, frei aus seiner Seele strömte, mit deren vollständigem Text ich aber meine Schilderung krönen würde, wenn ich mich des Gedächtnisses meiner jungen Jahre noch rühmen dürfte, und wenn der Aufruhr in meinem Gemüt nicht noch den Rest desselben gefangengenommen hätte.
»Gib mir die Liebe, mein Gott,« so betete er zum Eingang, – und ich wußte nun schon, welches Register er aufgezogen; – »gib mir die Liebe und lege deinen heiligen Geist auf meine Lippen. Denn wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.«
Darauf der Bibeltext. Nichts von Heiraten und Nichtheiraten; nichts von Gut- oder Bessertun. Kein Wort von damals; ein neuer Text, ein frischer Spruch, ein heutiger Morgensegen! »Bis hierher und nicht weiter; hier sollen sich brechen deine stolzen Wellen!«
Und diesen Wall und Damm, den der Herr gegen die Wogen des Menschenlebens gesetzt hat, den nannte er das Herz.
»Reißt diesen Fels aus seinem Grunde,« so rief er, »und ihr habt die Flut, die alles Göttliche zerstört, und euch bleibt die Wüste, in welcher alle Pflanzung erstirbt. Dann werdet ihr sehen, wie das Verwandte auseinanderstrebt, das, was in einander wirken sollte, die Gemeinschaft flieht; sehen, wie die natürliche Ordnung sich löst, der Diener zum Herrscher, der Herrscher zum Dränger wird, Maß und Einklang im Toben der Willkür untergehn. Denkt euch die Menschheit ohne Liebe, – aber wer denket das Chaos? Und wer schaudert nicht bei der Vorstellung, oder vor der Erinnerung, wie ein größeres der menschlichen Gebilde sich für einen Zeitmoment aus der ewigen Ordnung löst und erst nach blutigen Kämpfen durch eine eiserne Faust in ein Gesetz zurückgebannet wird?
Sehet aber, und sehet mit Schaudern auch den einzelnen Menschen, wenn er sich lieblos aus dem Zusammenhange seiner Brüder löst. Denn der vereinzelte Selbstling, der sich stark dünket, und so schwach, frei und in Wahrheit ein Sklave ist, der lieblose Selbstling, und hätte er niemals erweislich eine Sünde begangen, er ist ärger als der erwiesene Sünder, der mit Inbrunst ein einziges Menschenherz an dem seinen gehegt; und der Selbstling frevelt, wenn er sagt, er sei ein Christ. ›Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie will er Gott lieben, den er nicht sieht?‹ spricht der Herr; und Er entsühnt das sündige Weib mit den Worten: ›Du hast viel geliebt, dir wird viel vergeben werden.‹ Gott gab sich einen Sohn, und er gab ihn uns: die Liebe, die höchste unter den dreieinigen Gotteskräften, – das ist die Summa des Christentums.
Der Mensch aber, der sich lieblos vereinzelt, er liebt nicht Gott, sondern einen Götzen. Und er stellt den Götzen hoch auf einen Altar; und der Götze ist er selbst. Der Quell seiner Offenbarung ist afterweiser Stolz, und das Feld seiner Arbeit hat eine felsige Rinde und eine Decke von Asche, in welcher die zarten Keime des Gemütes ersterben.
Meine Brüder, die ihr hierhergekommen seid, um mit uns, den Greisen, den Ratschluß langmütig erhaltender Barmherzigkeit zu einem heiligenden Zwecke zu verehren; meine Brüder, wäre einer unter uns, welchen diese meine Rede trifft, der seinen Mitmenschen den Rücken kehrt oder sich hoffärtig über seinesgleichen erhebt; der nach keinem Freunde begehrt und dem Feinde die Hand der Versöhnung verweigert, – wäre ein solcher unter uns, der fühle in dieser Stunde seine Zwietracht mit Gott; er schlage an seine Brust und sage: ›Herr, sei mir Sünder gnädig!‹ dann aber, und wäre es in der letzten Stunde, dann öffne er seine Arme und wende das Antlitz nach den Hütten seiner Brüder.«
Der Redner machte eine Pause. Er hatte getan nach seinen Worten: an seine Brust geschlagen wie der Zöllner; und dann die Arme ausgebreitet, als ob er ein lange versäumtes Geschlecht an sein Herz zu drücken begehre. Durch die Gemeinde ging kein Atemzug. Renatus Henrici aber fuhr fort, den Blick voll strahlender Heiterkeit auf das Jubelpaar gerichtet.
»Sehet dahingegen Jenen anderen, der liebend in der ewigen Ordnung verharrt. Unmerklich lösen sich alle natürliche und göttliche Rätsel vor seinem Gemüt. Der tötende Winterfrost entweicht, ein milder Dunstkreis breitet sich über die schaffende Erde; gierig saugt der Boden des Himmels Erquickungen in sich; Pflanzungen erblühen, süße Düfte steigen in die Höhe; seine Werkstatt wird ein Garten, sein Haus eine Heimat; Hand an Hand reiht sich zur Kette, die aus der vergangenen in die zukünftige Ewigkeit leitet.
Und so habt ihr euch geliebt, meine Freunde! so liebet euch weiter von Kind auf Kindeskind. Duldet euch, traget euch, helfet euch untereinander; bauet weiter an dem Walle, vor welchem die stolzen Gewässer sich brechen, bis er hinauf in den Himmel ragt. Mischt ein Staubkorn der Erde sich in den reinen Mörtel, scheidet es nicht aus, daß es einzeln, die Lüfte trübend, verfliege; es bindet sich dennoch zum Kitt, bildet sich zur Schicht, auf welcher die Saaten der Zukunft treiben. Denn nur die Liebe bringt Frucht und Fülle und Frieden und ewige Seligkeit.
Diese Liebe aber, die trägt und duldet, die das Ungleiche ebnet und das Gleiche verbindet; die Liebe, die nicht eifert und sich nicht bläht, an der die Wogen des Menschenstolzes sich brechen, die Liebe, die stärker als der Tod und des Gesetzes Erfüllung ist, diese Liebe bewähre sich für und für auch an diesem hehren Gotteshause. Sein verfallendes Gewand wird neu werden. Sei es einträchtig gewirkt in dem Geiste, den eine neue Zeit aus sich herausgeboren hat. Auch die Zeit fließt aus Gott. Jüngere Diener, Männer dieser Zeit, werden nach uns, den Greisen, das ewige Evangelium in seinen Hallen predigen, die heiligenden Gnadenmittel spenden, bald, vielleicht morgen schon. Lenke dann die Liebe ihre Zungen, öffne ihre Arme, regiere ihre Geister zu dessen Herrlichkeit, der die Liebe schuf; das heißt, der sie ausströmte aus sich, einströmte in uns, daß wir seine Kinder heißen sollten. Amen.«
Er schwieg. Durch die Tausende, die seine Rede gehört hatten, ging es wie Waldesbeben im Abendhauch. Da war wohl keiner, der nicht ahnte, was ihre Bedeutung war. Drei aber unter ihnen: die Schwester, die Jubelbraut und ich, der Diener, wir wußten, daß wir nicht nur einen erweckenden Aufruf vernommen, nicht nur das Zeugnis einer späten letzten Erfahrung der Seele, sondern eine öffentliche Beichte und Buße zur Sühne eines achtzigjährigen, verfehlten Lebens.
Aber noch einmal öffnete er seinen Mund und sprach:
»Und wie ich diesen Ehebund eingesegnet habe vor einem halben Jahrhundert für das zeitliche Leben und heute zum zweiten Male segne für die Ewigkeit, nach der kurzen Brautnacht des Todes; und weil ich nicht weiß, ob die Hand des Greises priesterlich das Band wird knüpfen dürfen, das die Enkel verbinden soll, wie es die Ahnen verbunden hat, so tritt vor mich in dieser Stunde, du junges Paar, daß ich den Segen über dein Verlöbnis spreche, als ein Vater und Freund.«
Tiefbewegt traten Renatus und Debora, die Enkel, vor den Altarplatz und beugten ihre Knie; die Jubeleltern hinter ihnen. Renatus Henrici aber legte seine Hände auf beider Paare Haupt und sagte nichts weiter als: »Liebet euch, meine Kinder, so wird Gott euch lieben.«
Er schritt uns voran in die Sakristei. Einer um das andere, die alte wie die junge Braut, der alte wie der junge Bräutigam, lagen sie dort an den Herzen des greisen Geschwisterpaares. Wie er aber seinen Paten Renatus in den Armen hielt, da fragte er feierlich: »Renatus, willst du fortan meinen ganzen Namen tragen? Willst du auch mein Gehilfe im Amt, willst du mein Sohn und dereinst mein Erbe sein?«
Erschüttert sank der Jüngling zu seinen Füßen; er aber hob ihn auf, legte seine Hand in die der weinenden Braut und wankte leise nach der Tür.
»Hab ich es recht gemacht, Freund Zebedäus?« flüsterte er mir zu mit einem Händedruck und dem freundlichsten Lächeln, das ich jemals auf seinen Lippen wahrgenommen habe.
Ich aber faltete die Hände und betete: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Sohn in seinem ewigen Erbe gesehen.«
* * *