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Trauerkondukte durchquerten Spanien, vom Norden zur Mitte, vom Westen zur Mitte, vom Süden zur Mitte. König Philipp erwartete sie.
Wie lange schon sehnt er sich, vereint mit dem Tode zu wohnen. Allzu langsam ersteht dieser Klosterpalast für die Abgeschiedenen seines Hauses. Finster und einsam ist der Ort, rauhes Felsengebirge umstarrt ihn, ohne Erbarmen wütet der Sturm. Seit zwölf Jahren wird hier gebaut. Seit zwölf Jahren überwacht König Philipp den Bau. Madrid sieht ihn selten. Er wartet.
In dem Weiler zuerst, der ganz nahe liegt. In einer der Hütten dort, eng beieinander, hausen die Mönche. Ein Gelaß haben sie zur Kapelle gemacht, auf die Kalkwand ein Kreuz aufgemalt, über den Altar eine Bettdecke gespannt, denn es regnet durch das schadhafte Dach. So schmal ist der Raum, daß bei der Messe der Ministrant mit den Füßen an den knienden König stößt.
Nicht besser wohnt er selbst, der erste Fürst dieser Erde. Das Pfarrhaus hat keine Fenster und keinen Kamin. Eine einzige Holzbank mit drei Beinen ist vorhanden als Sitz.
Nach acht Jahren ziehen die Mönche hinüber in das unfertige Schloß, König Philipp mit ihnen. Verderblich ist der feuchte Neubau für seinen gichtigen Leib. Die Granden, die um ihn sein müssen, sind völlig verzweifelt, die Mönche selber stöhnen geheim. Mönche lieben es, unter sich zu sein.
In ein paar dürftig möblierten Zimmern, nahe 125 der vorläufigen Kirche, ordnet er aus seinen Papieren die Geschäfte zweier Hemisphären. Ringsum Getriebe und Baulärm. Wüst liegt noch alles. Um die aufsteigenden Quadern, dicht, wuchert die Jara, ein struppiges, zähes, kaum zu rodendes Unkraut. Gestein liegt umher. Schwere Karren, mit zwanzig, mit vierzig Ochsen bespannt, schleifen es aus den Brüchen herbei. Das Kreischen der zweirädrigen Krane, das Pochen auf dem Gerüst, das Zischen der Sägen, das Hämmern der Schmiede, der Schlag der Steinmetzen, die Axt der Holzfäller im nahen Wald – nichts stört den wartenden König.
Aber es dauert zu lang. Noch sind von dem ungeheuren Viereck nur die Flügel im Osten und Süden vollendet. Von der Grabkirche, die sich über den Toten wölben soll, ist wenig vorhanden. Da befiehlt er, alles zu lassen und in Eile die Gruft auszumauern. Übermächtig ist sein Verlangen. Er kann nicht mehr warten.
Viele Stunden sitzt er an seinem Tisch, studiert Karten und Meilentabellen und entwirft methodisch die Pläne zur Einholung. Weit verstreut wohnen die Toten seines Hauses. So und so viel Tage dürfen die Züge brauchen, da und da wird gewartet, dort übernachtet, an jenem Kreuzweg vereinigt sich Kondukt mit Kondukt, hier ist die Stelle, wo alle zu Einem verschmelzen, dies wird der Tag sein, an dem er selber – endlich – die Ankunft der Toten erlebt. Mit Sorgfalt wählt er die Großen aus, die bestimmt sind, sie zu geleiten. Herzog von Alcala, schreibt er auf, Herzog von Escalona, 126 Bischöfe von Salamanca, Jaen, Zamora. Sie müssen zahlen für die unermeßliche Ehre, auf Kosten des auserkorenen Führers geht jeder Zug. Mystische Sehnsucht und Ökonomie verbinden sich seltsam.
Er hat Ursache, zu rechnen. Spaniens Blut stockt. Inmitten der Weltherrschaft vertrocknet das Stammland. Für Gott geschieht es.
Der König fragt nicht, ob die Welt ihn versteht. Es gibt keine Welt außer Habsburg. Keinem fremden Souverän gesteht er den Majestätsnamen zu. Majestät hat nur sein eigenes Haus. Nur die Toten, die er erwartet, sind Majestäten.
Sie kommen aus Kathedralen und Klöstern, darin sie geschlafen haben, aus Andalusien, aus Estremadura, aus Altkastilien und aus Madrid. Kein ehedem Glücklicher ist darunter. Einem jenseitigen Auftrag, nicht irdischem Leben und irdischer Freude, gehört dieses Haus. Es kommt Johanna, Mutter des Kaisers, die Schwermut und Wahnsinn in sein Geschlecht trug, es kommt die Kaiserin, Philipps Mutter. Es kommen die Königinnen von Ungarn und Frankreich, des Kaisers Schwestern, die draußen bauten an seiner Herrschaft. Die jungen Königinnen kommen, Philipps Frauen, hingeopfert allzu früher Mutterschaft. Es kommen die Kinder des Hauses, unkräftig zu leben. Es kommt Don Carlos, das Halbtier, entsühnt durch das Sterben, willkommen jetzt seinem Vater, der ihm zu leben verbot. Es kommt aus dem Kloster Yuste Kaiser Karl selbst.
Lang sind die Fahrten, die Straßen sind schlecht. Der Wartende im Escorial kennt jeden 127 Meilenstein, an dem jeder Zug jede Stunde vorüberschleicht. Jeden Kondukt hat er selbst aufs Genaueste geordnet, hat die Zahl der Edelleute bestimmt, die voranreiten müssen, der Bettelmönche und der Kapläne. Auf den Mann genau, nach zeremoniöser Abstufung, ist den Leichen die Gardeeskorte zugemessen. Achtzehn Pagen hat jener Infant, vierundzwanzig hat jene Königin. Er hat berechnet, wieviel Ellen Flor die Pferde tragen. Auf dem Goldbrokat, der die Särge deckt, haben Kronreifen zu ruhen von unterschiedener Form, nach Rang und Gesetz.
Dürr, vom Sommer verbrannt, streckt sich das Hochland. Das Volk feiert und liegt an den Straßen im Staub. Alle Städte sind finster geputzt, das ärmste Dorf, ein Steinhaufen nur, zeigt die umflorte rotgelbe Flagge. In Kirchen, bei Sterbegesang und Gebet, wird übernachtet. Auf den Steinfliesen liegt die Begleitung im Mantel und findet nicht Schlaf.
Dann ist das Warten zu Ende. Die Botschaft ist da: sie sind vereinigt, sie kommen. Es ist ein dunkler und häßlicher Tag. Zerrissene Wolken ziehen niedrig über dem Escorial. Der König tritt aus dem unfertigen Portal der unfertigen Riesengruft.
Noch ist der weite Platz nicht gepflastert, der Boden zerrissen, die Jara nicht weggerodet. Ein ungeheurer Katafalk, ganz schwarzer Samt und goldner Brokat, ist errichtet. Drei Stufen führen hinauf. Eine lange Tafel erwartet die Särge. Goldumwundene Säulen tragen den Baldachin.
Der König tritt ganz allein vor das 128 Trauergerüst, in feierlichster Gala. Es sind Barett und großer Ornat vom Goldenen Vlies, die er trägt: der offene Talar, dessen Aufschläge in erhabener Stickerei oftmals das Lamm wiederholen. Er hält ein Kruzifix in den Händen. Sein Blick geht über die verbrannte Steppe, das traurige Herz seines Landes. Meilen um Meilen schweift er hin bis zu den fernen Bergen von Toledo. Als etwas unbestimmt Weißliches erschimmert in halber Weite seine Stadt Madrid.
Schon schallt Trauermusik und Gebet. Die Spitze nähert sich schon bergan. Nun zeigt sich die Adlerstandarte. Es ist Karls des Fünften Sarg, der als erster heraufschwankt.
König Philipp kniet nieder. Dies juwelenbesäte Kruzifix hat in Yuste sterbend der Kaiser gehalten. Mit ihm in den Händen will er selber einst sterben.
Er legt dem Vater Rechenschaft ab in dieser Stunde. Ach, die Hände, die sein Kreuz umspannen, sie können das Gottesreich der Erde nicht mehr zusammenfügen. Auf immer dahin sind die schönen glänzenden Zeiten, da Europa in gläubiger Gemeinschaft geeint war. Greuel läßt Gott geschehen, dunkel wird seine Welt. Auflehnung überall, Irrglaube und Wahn. England, Deutschland, der Norden, lang der Verdammnis verfallen, Habsburgs Niederlande in tiefem geistigen Aufruhr, Frankreichs König bereit, mit den Ketzern Frieden zu machen. Habsburgs Meer aber und der Süden und Osten ausgeliefert dem Heidenpropheten, vom Atlantik bis zum Heiligen Grab und vom Heiligen Grab bis vor Wien.
129 Doch er hat die Rechenschaft nicht zu scheuen. Er war immer bereit, Gott alles zu opfern. Der reinen Lehre zuliebe regiert er in Feindschaft mit allen Staaten, zücken seine Geschöpfe den Dolch nach dem Leben abtrünniger Fürsten, sind die besten Provinzen verwüstet, der Staatsschatz geleert, maurischer Kunstfleiß und jüdische Weisheit verbrannt und verjagt. Bald wird er allein sein mit den Toten seines Geschlechts, den Einzigen, mit denen er sich eins weiß, in der Glaubensburg, in die sie nun einziehen.
Aus dem unfertigen Innern beginnt die Orgel zu tönen. Salven herkommandierter Truppen hallen darein. Aus dem Tor, dem die Flügel noch fehlen, tritt mit dem Kreuze der Prior. Gesang von drinnen mischt sich mit dem Psalmodieren der Nahenden.
Nun sind die Könige angelangt auf dem weiten Plateau, vor ihrem Gruftschloß, das klaffend mit ungleichen Armen nach ihnen greift. König Philipp verharrt im tröpfelnden Regen und überwacht die Zeremonien, unter denen die Truhen von den Wagen geschafft und emporgetragen werden auf die Estrade. Orgelklang, Salven, Geläut und Gesang währen fort, die Bischöfe in Pallium und Inful segnen die Toten. Niedrig ziehen Weihrauchschwaden dahin in der Regenluft.
Nun ist es vollbracht. In langer Reihe, nach streng aufgezeichneter Ordnung, bedecken die Särge die gewaltige Tafel. Initial und Goldreif nennt jeden Schläfer. In der Mitte aber, majestätisch gesondert, wuchtet der Sarg, der die 130 geschlossene Krone trägt, die Kaiserfahne zu Häupten, das Bahrtuch über und über bestickt mit dem Adler der Weltmacht.
In einer schweren Trunkenheit steht der Erbe. Oh könnte der Augenblick währen! Es ist sein größter. Nie wieder, auch in ihrer Gruft nicht, wird er sie so umfangen können mit Einem Blick, die seines Blutes waren, seiner Sendung, seines Schicksals, seiner Gewißheit. Diese Totenparade ist endlich Erfüllung, Erfüllung für den verzückten Glauben, Erfüllung zugleich für sein tiefes krankes unersättliches Bedürfnis nach Ordnung. Ordnung gewährt nur der Tod.
Da aber, wie ein reißendes Urtier aus seiner Höhle, aufheulend, bricht mit Orkansgewalt der Sturm vom Gebirge.
Er ist die Geißel des finstern Orts, die Mönche fürchten ihn, als einen körperhaften Satan sehen sie ihn an, der sein einsames Reich verteidigt gegen die aufsteigende Zwingburg. So aber wie heute hat die Teufelskraft niemals gewütet.
In einem einzigen Augenblick sind Pracht und Ordnung zerstört. Die Kronen kollern, die Fahne knickt, die Bahrtücher wirbeln herab. Der gewaltige Baldachin bläht sich auf, wie ein Segel auf hohem Meer, und zerreißt, die goldenen Säulen krachen zusammen. Schon ist von dem prunkenden Katafalk nichts mehr da als ein nacktes Gerüst. Die Tücher klatschen und sausen, lebensgefährdend, niemand wagt sie zu fassen. Riesenfäuste zerreißen die Sinnbilder von Habsburgs Macht in der Luft. Fetzen mit Adlern und Kronen wirbeln 131 dahin über das steinige Feld, fort bis zum Wald. »Brokatblüten trägt unser Wald«, werden im Frühjahr die Holzfäller sagen, wenn sie Mittag machen unter den Steineichen.
Mitren der Bischöfe rollen im Schmutz. Der Ornat seines Ordens ist König Philipp von den Schultern gerissen. Im schwarzen Untergewand hält er sich mitten im Aufruhr, eine magere schwache Figur, vor den kahlen Särgen. 132