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Prinz Ludwig

1

Ludwig Prinz von Sachsen-Camburg war nicht ganz zehn Jahre alt, als sein Vater, der regierende Herzog, zugleich mit all den anderen deutschen Herzögen, Großherzögen und Königen, von seinem Throne glitt. Ludwig erinnerte sich lange genau an den Tag. Er stand mit seinem um drei Jahre älteren Bruder August und dem Hauslehrer auf einem Seitenbalkon des Residenzschlosses, als um elf Uhr morgens die angekündigte Delegation der neuen republikanischen Regierung erschien. Sie kam zu Fuß. Es waren drei Herren im Zylinder, mit dunklen Überziehern, zwei von ihnen schlank und auffallend groß, der in der Mitte untersetzt. Sie verschwanden im Mittelportal.

Der Hauslehrer forderte die Prinzen auf, ins Zimmer zurückzukehren, denn der Novembertag war unfreundlich. Aber Ludwig erklärte, er müsse die Abordnung bei ihrem Rückzug noch einmal sehen, und blieb allein auf dem Balkon zurück. Er hatte auch nicht lange zu warten. Nach kaum zehn Minuten war der Staatsakt vorbei. Die drei Herren wandelten genierten Schrittes wieder über den menschenleeren Schloßplatz. Dann blieben sie stehen. Der in der Mitte tastete in seiner Mappe umher, als fürchte er, etwas verloren oder vergessen zu haben, nahm dann ein Papier hervor, entfaltete es, und alle drei steckten die Köpfe zusammen und blickten hinein. Es war dem zehnjährigen Prinzen auf seinem Balkon klar, daß dies der unterzeichnete Thronverzicht war.

Um halb eins war Familienfrühstück wie immer. Ludwig war gespannt, was der Vater vom Ereignis des Vormittags zu berichten haben würde. Aber er berichtete gar nichts. Der einschneidende Akt wurde ignoriert. Herzog Philipp erschien ruhig wie sonst und teilte in langen Pausen ein paar seiner frostigen Scherze aus. Sein Haus war mehr als tausend Jahre souverän gewesen, ihm seinen Rang durch ein Blatt Papier abdingen zu wollen, war eine nicht erwähnenswerte Albernheit. Erwähnt wurde sie immerhin, einmal, ganz kurz, ganz zum Schluß. Als der Herzog die Tafel aufhob und seiner Gattin die Hand küßte, hielt er sie einen Augenblick länger fest als gewöhnlich und sagte mit herabgezogenen Mundwinkeln: »Auf der Schreibmaschine getippt, Beatrix!« Das war alles. Aber augenblicklich, als hätte sie auf dieses Stichwort gewartet, liefen der Herzogin die Tränen herunter.

Anna Beatrix war eine portugiesische Braganza, sehr fromm, sehr still, vom Beginn ihrer Ehe an leidend. Ihre Stimme, die lieber und geläufiger Französisch sprach als Deutsch, klang klagend und ausgebleicht, es war eine weiße Stimme.

Einige Wochen nach der Thronentsagung feierte Ludwig seinen zehnten Geburtstag. Nach dem Herkommen wäre er an diesem Tag als Leutnant in das Sachsen-Camburgische Infanterieregiment eingestellt worden. Eine kleine Uniform mit Gardelitzen war bereits angefertigt und lag bereit. Dies fiel nun weg. Statt dessen hing ihm seine Mutter am Morgen, nach dem Gottesdienst in der Annenkirche, den Smaragd der Maria da Gloria um den Hals. Sie küßte ihn unter Tränen dabei. Ludwig war ihr Liebling.

Im übrigen blieb so ziemlich alles wie es war. Der Landtag des kleinen Bundesstaates hatte eine sozusagen sozialistische Mehrheit, die fast vom ersten Tag an mit schlechtem Gewissen regierte. An den gesellschaftlichen Verhältnissen änderte sich nichts, an den ökonomischen beinahe nichts. Die Lage der Arbeiter in den Industriebezirken des Ländchens – man produzierte vorwiegend Spiel- und Glaswaren – blieb wie sie gewesen, die Lage der landesherrlichen Familie ebenfalls. Der sozialistische Landtag sprach ihr eine Abfindung in fast verblüffender Höhe zu. Man wollte auch ferner den Glanz des uralten Hauses, auf das man stolz war. Es blieben der Hofstaat und das bescheidene Zeremoniell, es blieben sogar die beiden grün-weiß gestrichenen Schilderhäuschen am Hauptportal, obwohl sie jetzt leer standen. Nicht ohne Bedauern nahm der Staatspräsident, eben jener kleine Herr, der in der Mitte der Delegation geschritten war, Inhaber eines florierenden Gas- und Wasserleitungsgeschäfts, sein Hoflieferantenschild herunter. Er war aber auch der einzige, der das tat. Es wurden sogar neue Hoflieferanten ernannt, und jedermann fand es ganz in Ordnung.

Prinz Ludwig genoß weiter den Unterricht des Hauslehrers Doktor Steiger, eines befähigten Philologen und Historikers, auch als sein Bruder August in die Oberklasse des Gymnasiums eingetreten war. Steiger war ein ruhiger, überaus gepflegter Mann in den Dreißigern, mit sehr großen, sanften, braunen, etwas vorstehenden Augen und einer feinen Stimme; er hatte im ersten Kriegsjahr durch einen Granatsplitter die linke Hand verloren. Sein Monarchismus war tief und leidenschaftlich und von speziell camburgischer Prägung. Er hatte über die herzoglichen Linien des Hauses Sachsen mehrere Werke veröffentlicht, und wahrscheinlich gab es auf Erden niemand, der über deren kompliziert verschränkte Geschichte so nachtwandlerisch Bescheid wußte. Lang verschollene, verschwundene Zweige, Sachsen-Merseburg, Sachsen-Römhild, Sachsen-Teschen, Sachsen-Barby, führten in seinem Kopf, in seinem allein, ein farbiges, plastisches Leben. Dies alles waren Wettiner, die Welt hieß für Doktor Steiger Wettin. Und das war nicht abstrakte Genealogie und Heraldik. Sein Gegenstand entflammte ihn. Er träumte, er plante vielleicht. Warum ließ sich dieses fürstliche Haus nicht ebenso gut als Schnittpunkt europäischer Geschichte denken wie Habsburg und Zollern? Camburg war älter. Camburg war älter als alle. Vor fast tausend Jahren war Prinz Ludwigs Vorfahr Dietrich in der Sarazenenschlacht Kaiser Ottos des Zweiten in Kalabrien gefallen. Und das war keineswegs der früheste Ahnherr seines Schülers, von dem Doktor Steiger wußte.

Im 19. Jahrhundert hatte das nahe verwandte Coburg nacheinander seine Söhne auf die Throne von Belgien, England, Portugal und Bulgarien entsandt. Doktor Steiger sprach selten davon. Doch er dachte daran. Vielleicht war er eifersüchtig auf Coburg.

Denn das Haus, dem er diente, schien ihm zu solcher Rolle weit glänzender bestimmt. Die Camburger, obwohl Herren über eine vorwiegend protestantische Bevölkerung, waren vor zweihundert Jahren zur alten Kirche zurückgekehrt – aus Gründen irgendeiner Erbteilung. Ihr Katholizismus war ziemlich äußerlich geblieben, Herzog Philipp zum Beispiel war religiös ganz indifferent. Aber als eine der wenig zahlreichen katholischen Fürstenfamilien hatte man sich durch Heirat mit Habsburg verknüpft, mit Sizilien, mit Savoyen. Andererseits bestand, seit der Reformationszeit, Verwandtschaft mit Schweden und den holländischen Oraniern.

Mit Rührung blickte Steiger auf seinen jungen Prinzen, dies zarte Gefäß für jedes erlauchte europäische Blut. Der Umgang mit ihm wurde ihm niemals zur Selbstverständlichkeit. Unter der bräunlichen Haut seiner Schläfen sah er in seinen Adern das Blut klopfen, und es war das von Maria Theresia und von Wilhelm dem Schweigenden.

Häufig richtete er die gemeinsamen Spaziergänge nach dem unweit gelegenen Stammschloß. Es stand nur noch ein einziger Turm von der Camburg, ein uralt rohes Gemäuer, das man neuerdings leider wieder besteigbar gemacht hatte. Viel Butterbrotpapier lag dort oben immer herum. Aber Butterbrotpapier oder nicht – der alte Turm schien dem Doktor Steiger verehrungswürdiger als Buckingham Palace und als die Schlösser von Laeken und Lissabon.

Als Ludwig fünfzehn Jahre alt war, verlor er seine Mutter. Ihr schwaches Licht verflackerte schmerzenlos. Tage hindurch saß Ludwig und hielt eine nasse heiße Hand, die nicht breiter war als bei anderen Menschen drei Finger. Es roch im ganzen Trakt nach Weihrauch. Herzog Philipp kam in gemessenen Abständen ins Zimmer, küßte seine Frau auf die Stirn und frug nach ihren Wünschen. Und immer fand er seinen zweiten Sohn an ihrem Bett. Der Erbprinz erschien selten und immer nur auf einen Augenblick; die Atmosphäre von Krankheit und Hingang war seiner egoistisch groben Natur unerträglich. Am Tag vor dem Ende fand Ludwig den Bruder, wie er in einem Saal des Erdgeschosses mit einem Kammerherrn Billard spielte. Der Kavalier wurde rot, aber August blieb zielend über der Tischkante liegen, um einen schwierigen Ball zu machen. Ludwig wartete, bis der Ball gefehlt war und sein Bruder wieder auf den Beinen stand, dann blickte er an ihm hinauf und sagte mit Ekel in der Stimme: »August, du bist ein erstaunliches Schwein.« Worauf er seinen Weg fortsetzte.

Die Beisetzung vereinigte Fürstlichkeiten aus ganz Europa. Mehrere Thronfolger noch regierender Häuser waren erschienen, dazu eine ganze Anzahl von Prätendenten. Es kamen Braganza, Bourbon, Orléans, Este, die ganze untergegangene Geschichte des Erdteils, Hochadel dazu mit verwunderlichen Namen, Dentici-Frasso, Vallabriga y Chinchon. Herrschaften waren darunter, die jedesmal den Hut abnahmen, wenn sie die Worte »Feu mon grand-père« aussprachen, und solche, bei denen die Türklinken abgewischt wurden, wenn ein Protestant zu Besuch dagewesen war. Man sah Uniformen, die in keinem Lande der Erde mehr galten, Sterne und Großcordons, die im Jahre 1868 zum letzten Mal rechtmäßig verliehen worden waren. Der spukhafte Glanz in der Annenkirche war so seltsam, daß die Trauer vor ihm zunichte wurde. Nur Ludwig, der ein vom Weinen völlig verschwollenes Gesicht aufwies, brauchte keine Anstrengung, um zu wissen, daß dort in dem Katafalk der schmale Leib seiner Mutter verschlossen lag.

Er ließ sich nach der Zeremonie sogleich von Steiger in seine Wohnung zurückführen, zwei Zimmer im Ostflügel des Schlosses, deren Fenster auf den Park sahen. Es war Juni und wunderschönes Wetter. Ludwig lehnte sich zum Fenster hinaus. Gerade vor ihm stand ein alter Ahorn. Ein niedlicher Specht mit rotem Scheitel hackte aus Leibeskräften auf die Rinde los und schickte nach je zwei Schnabelhieben seine spitzige Zunge hinein, um Insekten hervorzuholen.

»Macht er denn den Baum nicht kaputt?« fragte Ludwig.

»Nein«, sagte der hinter ihm stehende Steiger, »ein Specht hackt nie gesunde Stellen an. Der alte Ahorn ist morsch.«

»Aha«, wollte Ludwig sagen. Aber er brachte nur ein Krächzen heraus und warf sich laut aufweinend in einen Sessel, das Gesicht in den Händen, den ganzen Körper geschüttelt.

Sein Lehrer sah dem eine Weile sorgenvoll zu. Dann legte er ihm den unverstümmelten Arm um die zuckende Schulter: »Ludwig, Sie machen sich krank. Bewahren Sie Haltung. Es wird Ihnen helfen.«

»Ich will aber keine Haltung! Ich hasse Haltung. Nichts fühlen und ein feierliches Gesicht dazu schneiden kann jeder. Ich hätte die haltungsvollen Herrschaften anspucken können in ihren roten und grünen Affenjacken. Man hat meine Mama zu wenig geliebt, und daran ist sie gestorben.«

»Sie wissen doch selber ganz gut ...«

»Ja, ich weiß alles ganz gut. Krankheiten sind Vorwände, glauben Sie mir's, Doktor!«

»Vorwände«, sagte Steiger kopfschüttelnd.

»Wandschirme, die sich die ermattete Seele vorhält, wenn es ihr nicht mehr lohnt zu leben.«

»Kommen Sie«, sagte Steiger, »Sie sollen an anderes denken!«

Seine Stimme schwankte, er war selber den Tränen nahe. Ihm war anzusehen, daß er seinen Zögling leidenschaftlich liebte. Dieser Monarchist sah in dem zarten, schönen hochveranlagten Knaben etwas, was es auf Erden sonst kaum mehr gab: einen wirklichen Fürsten. Er hatte die Trauergäste, von denen Ludwig so respektlos sprach, selbst eingehend und sehr kritisch gemustert. Er fand sie, mit zwei oder drei Ausnahmen, grenzenlos ordinär. Er fand auch den Erbprinzen ordinär. Der Herzog selber war zwar nicht ordinär, aber resigniert und blutlos, kein Gegenstand der Liebe. Ludwig war dies und war mehr.

»Woran soll ich denken nach Ihrer Ansicht? Vielleicht ans Billard wie mein Bruder? Was macht der Mensch übrigens?«

»Seine Hoheit geleitet die Fürstlichkeiten zum Bahnhof. Dankenswert, daß Seine Hoheit das übernommen hat.«

»Bringen Sie mich nicht zur Verzweiflung mit Ihren Kurialien, Steiger. Seine Hoheit! Das ist wahrhaftig die Bezeichnung für den.« Aber der Ausbruch hatte ihn doch entlastet.» Woran soll ich denken«, fragte er ruhiger.

Steiger zog einen Stuhl heran, ließ sich nieder und nahm vertraulich die Hand seines Schülers. »Haben Sie bemerkt, daß der Sarg Ihrer entschlafenen Frau Mutter neben dem Sarkophag des Kaisers seinen Platz gefunden hat?«

»Nun und?« fragte Ludwig. Seine Stimme klang wund.

»Und«, wiederholte Steiger mit sanftem Vorwurf und sah seinem Zögling in die Augen.

Es war in der Tat ein deutscher Kaiser in der Krypta der Annenkirche beigesetzt, einer aus dem 14. Jahrhundert, der freilich nur kurz und umstritten regiert hatte.

Ludwig wurde plötzlich rot und stand auf.

»Wie kann ein Mann wie Sie solchen Träumen nachhängen«, sagte er in Verwirrung.

Steiger antwortete ernst: »Nicht weit von hier hat schon einmal ein einfacher Mensch, ein Landarzt, solche Träume gehegt. Er hat sie in Taten umgesetzt. Er hat die coburgischen Verwandten Eurer Hoheit auf drei Königsthrone geleitet.«

»Ich weiß, daß dieser Doktor Stockmar Ihre Gedanken beschäftigt. Aber das ist hundert Jahre her. Die Zeiten sind vorbei.«

»Und darf ich Sie fragen, warum, Prinz? Meinen Sie, diese deutsche Republik werde ewig stehen – eine Republik, die selber nicht wagt, sich bei Namen zu nennen, eine Republik ohne Mut, ohne Glanz, ohne wirklichen Drang zur Gerechtigkeit. Die Leute pfeifen ja in den Versammlungen, wenn man ihre Staatsform erwähnt. Und was kommt dann?«

»Kein Camburgischer Kaiser.«

»Warum nicht! Deutsche Kaiser haben Nassau geheißen, Luxemburg, Pfalz. Waren das bessere Namen? Warum nicht ein Kaiser aus einem Haus, neben dem diese kompromittierten Hohenzollern Parvenüs sind? Nennen Sie mich nicht gefühllos, Ludwig, wenn ich noch einmal an die Krypta erinnere. Fünfhundert Jahre lang hat jene Grabnische leergestanden. Es ist kein Zufall – es soll keiner sein, daß der neue Sarg nun neben dem Sarge des Kaisers steht.«

2

Im Westflügel des Residenzschlosses, im zweiten Stockwerk, lagen die »Kammern Johanns des Gläubigen«, drei Räume in der Ausschmückung des siebzehnten Jahrhunderts. Sie umfaßten das Münzkabinett des Herzogs. In langen Mahagonikästen waren hier auf dunkelgrünem Samt seine silbernen und goldenen Schätze zur Schau gelegt.

Die beiden ersten Säle waren völlig der Münzgeschichte Sachsens gewidmet. In wundervoll erhaltenen Exemplaren erglänzte hier Johann Friedrich neben Johann Georg, Adolf Wilhelm neben Franz Josias, Ernst an Ernst. Diese Sammlung war so gut wie lückenlos. Sie hatte vor Herzog Philipp nicht existiert, sie war völlig sein Werk, sein Stolz und eigentlich seine einzige Liebhaberei.

Er war sonst nicht leicht zu unterhalten. Wie alle seine Kollegen subventionierte er zwar ein Hoftheater und ein Hoforchester, aber er zeigte sich selten, nur aus Anlässen notwendiger Repräsentation, in der mit Purpurtuch behangenen rechten Proszeniumsloge. Baulust, die ihm als Erbteil wahrscheinlich im Blute lag, mochte durch die verfassungsmäßige Kontrolle seiner Finanzen zurückgedrängt worden sein. Die Jagd, herkömmliche Zerstreuung sich langweilender Fürsten, zu der in den ausgedehnten Wäldern seines Gebietes reiche Gelegenheit war, hatte ihn niemals gereizt; er war erstaunt, diese Leidenschaft in seinem älteren Sohne neu aufflammen zu sehen. Als Münzensammler hatte er Rang und genoß Ansehen unter den Fachleuten. Vermutlich hatte er zuerst einfach sein Vergnügen daran gehabt, seine Ahnherren und Verwandten in Edelmetall beieinander zu haben. Aber dieser Hang hatte sich langsam zu wirklicher Kennerschaft gewandelt. Er verbrachte mehr Zeit in den Kammern Johanns des Gläubigen als in seinem Arbeitszimmer.

Gerade als an der sächsischen Sammlung nicht viel mehr zu tun blieb, hatte ihn eine Italienfahrt in die Münzkabinette von Turin und Neapel geführt. Und hier, ganz zur rechten Zeit, hatte sich seiner ein neuer Ehrgeiz bemächtigt, vor dem die fast kompletten Herzöge und Kurfürsten alsbald zurücktraten. Dieser neuen Leidenschaft war das dritte, kleinste Zimmer gewidmet.

Eine Sammlung altgriechischer Münzen war hier vereinigt, nicht umfangreich, doch erlesen. Um jedes ihrer Stücke war auf den Auktionen von London und Paris gerungen, für manche waren Preise bezahlt worden, über die in der herzoglichen Finanzdirektion Kopfschütteln entstand. Wetzlar, der Frankfurter Antiquar, der diese Ankäufe vermittelte, war in der Finanzdirektion kein beliebter Mann. Aber ihm hatte es Herzog Philipp zu danken, wenn sein griechisches Münzkabinett neben den großen europäischen Sammlungen ernsthaft mitzählte.

Seine Leidenschaft war um so konzentrierter und heftiger, als sie einsam war. An seinem Hofe, in seiner Stadt, verstand niemand etwas von griechischer Numismatik. Der Althistoriker der Landesuniversität, ein unappetitlicher und verlegener Greis, sah in diesen Gold- und Silberstücken nichts als Hilfsmittel zur geschichtlichen Forschung und war ohne Auge für ihren Kunstwert und Reiz. Er wurde zweimal zu Hofe geladen und dann niemals wieder. Über seine Schätze sprechen konnte der Herzog eigentlich nur mit Jacques Wetzlar selbst, und der kam natürlich nicht ungerufen. Allzu häufig rufen aber konnte man ihn schicklicher Weise nicht. Erschien er, so verweilte der Herzog viele Stunden lang mit ihm in jenem dritten Zimmer, niemand durfte stören, und noch Tage nach einem solchen Besuch pflegte der Landesherr in gehobener Stimmung zu sein.

Kein geringes Ziel hatte sein Ehrgeiz sich gesteckt. Die leicht erlangbaren Münzen der Spätzeit, ausgegeben von den hellenistischen Königen und unter der Römerherrschaft, waren verschmäht. Die Sammlung hob an mit uralten, plumpen Stücken, sechs oder sieben Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung aus dem Golde der lydischen Flüsse geprägt: oval noch die ersten oder kugelig von Gestalt, die folgenden flach, aber unvollkommen gerundet, einseitig bebildert und ohne Aufschrift, zu unterscheiden nur am Emblem ihres Landes oder ihrer Stadt. Die Schildkröte von Aegina war da, der böotische Schild, die ephesische Biene, die Rose von Rhodos. Eine etwas spätere Zeit bevorzugte Silber: Geld von Amphipolis mit dem Apollon, Geld von Naxos mit dem efeubekränzten Dionysos, Geld von Athen mit dem Haupte der Pallas. Und die Sammlung schloß ab mit Münzen des großen Alexander, auf denen zum ersten Mal statt des Götterbilds das Portrait eines irdischen Herrschers erscheint.

Den Prinzen war das Betreten der Räume lange Zeit ausdrücklich untersagt, und zwar seit dem Tage, da Herzog Philipp versucht hatte, seinen Ältesten mit seinen Schätzen bekannt zu machen. August war damals sechzehn, für standesgemäßen Sport interessiert, dazu in etwas auffälliger Weise auf seine persönliche Eleganz bedacht, und er wußte ganz offenkundig nicht, was er aus den buckeligen Metallstückchen machen sollte, die da so anspruchsvoll in grünen Samt gebettet lagen. Es hatte Jahre gedauert, bis der Sammler an seinem Zweitgeborenen den Versuch wiederholte. An ihm erlebte er mehr Freude. Der fragte wenigstens. »Hat man auch vor den Griechen schon Münzen geprägt, Papa, oder haben die sie erfunden«, fragte er, nachdem er eine Weile unter den beobachtenden Augen des Herzogs stumm von Kasten zu Kasten gerückt war.

»Das ist eine ganz gute Frage«, antwortete Herzog Philipp, und es war beinahe ergreifend zu sehen, wie seine matten grauen Augen aufglänzten. »Eine ganz gute, verständige Frage. Nein, das ist eben der Grund, weshalb wir diese frühen Kugeln und Barren mit Verehrung betrachten müssen. Im Kopf eines Griechen vor nun fast dreitausend Jahren ist dieser Gedanke entstanden. Es muß ein Mann gewesen sein, Ludwig, so originell und bedeutend wie der, der – ja – die Schere erfunden hat oder das Wagenrad. Eines von den wahren Genies, deren Name auf immer verborgen bleibt. Stell es dir nur recht lebendig vor: Gold und Silber waren selten in der Welt und waren gesucht, und man zahlte damit. Aber wie mühsam! Kauft einer sich Waffen oder Gewebe oder Öl, immer mußte er das Metall abwägen mit der Waage und ausproben mit dem Probierstift. Noch war keinem der Gedanke gekommen, keinem unter Millionen, daß man dem Barren ja einen Stempel aufdrücken könne, um Bürgschaft zu leisten für Gewicht und Gehalt. Bis eines Tages der Geniale kam und das einfache Wort aussprach. Vielleicht drehte er sich dann auf den Hacken um und ging davon und hatte es schon vergessen – aber die Kaufleute oder Regierungsmänner blickten ihm nach mit offenen Mündern, und so sollten auch wir ihm noch nachblicken, dem Unbekannten, in die Dämmerung der Vorzeit, darin er verschwunden ist.«

Am darauffolgenden Tag wurde Wetzlar aus Frankfurt erwartet. Er wurde zur Tafel gezogen. »Gestern habe ich meinen Jüngsten in unsere Anfangsgründe eingeweiht«, sagte der Herzog aufgeräumt zu seinem Kommissionär, »es scheint, daß er begriffen hat oder doch einmal begreifen wird.« Und er schenkte, mit einer Geste, als verliehe er einen Orden, Ludwig ein halbes Glas Rotwein ein. Dann streifte er mit einem ziemlich verächtlichen Blick den Erbprinzen und schloß ein Auge dabei. Der Erbprinz wurde zornrot, er sah sich bloßgestellt vor dem Händler und verschloß dies Erlebnis in seinem primitiven Herzen.

Er hätte sich sagen mögen, daß er keineswegs bloßgestellt sei. Wetzlar konnte den abschätzigen Blick nicht bemerkt haben. Denn seine dunklen Augen, die hinter kompliziert geschliffenen, dicken Gläsern unheimlich vergrößert erschienen, sahen beinahe nichts. Dieser berühmte Experte des numismatischen Weltmarkts, ohne den das Britische Museum und die Bibliothèque Nationale wichtige Münzkäufe ungern abschlossen, nahm nur Umrisse wahr. Dafür hatte sich das Gefühl seiner Finger, und zwar besonders seiner beiden kleinen Finger, bis zum Unfaßbaren entwickelt. Sacht und liebkosend tupfte er mit der Spitze über die geprägte Fläche und sprach ein Verdikt, gegen das es keine Berufung gab. Im vertrauten Kreise ließ er sich zu Experimenten herbei. Er schloß die Augen, man legte ihm Münzsorten vor, und nach kurzem Tasten und Streicheln hieß es: Zwölf Kreuzer Christian von Lüneburg, Denar Karls des Großen, China Thsin-Dynastie.

Jacques Wetzlar war ein kleiner, feingliedriger Herr mit seidig gepflegtem Schnurrbart und Kinnbart, weit vor seinen Jahren ergraut. Er sprach Frankfurter Dialekt mit unverhohlen jüdischem Tonfall, und den behielt er auch in den fünf oder sechs fremden Sprachen bei, die er beherrschte. Sein Vermögen galt für bedeutend. Er lebte in einer weitläufigen Villa an der Miquelallee in Frankfurt, als Witwer, ganz allein mit seinem Töchterchen. Seine Geschäftsräume am Roßmarkt galten als eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt.

Er pflegte, vermutlich aus Scheu vor den Stufen der Eisenbahnwaggons, seine zahlreichen Berufsreisen im Auto zurückzulegen. Alle paar Monate sah Ludwig den großen grauen Tourenwagen im inneren Schloßhof halten. Immer hatte der Chauffeur, ein treuaussehender Mensch von Gardemaßen, nachdem er seinen Herrn die Treppen hinaufgeleitet, an dem Auto etwas zu scheuern und blankzureiben.

Mit den Jahren wandelte sich Wetzlars Schwachsichtigkeit in fast völliges Blindsein. Die Netzhautablösung war weit vorgeschritten. Und als Ludwig zum ersten Mal von der Universität nach Hause kam, hatte Wetzlar nicht mehr allein reisen können. Er hatte sein Töchterchen mitgebracht, ein Kind von vierzehn Jahren, das ihn führte und ihm bei Tisch die Geräte zurechtlegte.

Ludwig kam aus besonderem Anlaß mitten im Semester von der Hochschule herüber. Heute vor 25 Jahren war Herzog Philipp zur Regierung gelangt.

Der Tag wurde still begangen. Mochte seiner nun in der Bevölkerung gedacht werden oder nicht – zu Festlichkeiten bestand wenig Anlaß, da ja das Haus Camburg seit zwölf Jahren nicht mehr »regierte«. Dem Magistrat der Residenzstadt, der unter der Hand angefragt hatte, ob eine offizielle Begrüßung willkommen sei, war durch das Hofmarschallamt abgewinkt worden. Die ›Camburgische Landeszeitung‹ hatte einen wehmütig-innigen Aufsatz gebracht, in ihrem nichtpolitischen Teil. Fünfzig oder sechzig Depeschen waren eingetroffen, hingegen auf Wunsch kein Verwandtenbesuch. Die beiden Prinzen hatten am frühen Morgen schon gratuliert, Ludwig mit ein paar gelispelten Worten und einem Kuß auf die väterliche Hand, der Erbprinz mit Kommandostimme und Hackenzusammenschlagen, genau in der Art, die seinen Vater unfehlbar nervös machte.

Die Entfremdung zwischen den beiden war neuerdings schlimm gewachsen, besonders seitdem Prinz August sich der populär nationalistischen Richtung verschworen hatte, deren Gelärm und Gehetze dem leidenden Deutschland in den Ohren zu gellen begannen. Bei einem Neujahrsdiner vor nunmehr fast zwei Jahren hatte er den versammelten kleinen Hof damit überrascht, daß er seinen Toast auf den Vater mit einem kehlig hervorgestoßenen »Deutschland erwache!« beschloß, worauf ihm der Herzog überhaupt nicht dankte und ihm unmittelbar nachher unter vier Augen nahelegte, derartiges Pöbel-Rülpsen, wie er sich ausdrückte, gefälligst für seinen engeren Freundeskreis zu reservieren.

Jacques Wetzlar hatte vor einigen Tagen telegraphisch angefragt, ob sein Besuch genehm sei, in einer Form, aus der nicht hervorging, daß er die Bedeutung des Tages kannte. Antiquarische Geschäfte aber waren diesmal nicht abzuwickeln.

Die Mittagsmahlzeit im kleinsten Kreis war vorüber. Der Erbprinz stand auf. »Du könntest wenigstens noch den Kaffee mit uns nehmen«, sagte sein Vater erstaunt und wies nach dem anstoßenden Raum.

Prinz August erwiderte laut und schneidend: »Ich komme wieder, Papa, sobald hier die übliche gute Luft herrscht.« Er verbeugte sich eckig und ging.

Ludwig war um die Nase herum ganz weiß geworden, er verspürte eine plötzliche Übelkeit. Ohne den Kopf zu bewegen, blickte er zwischen den Anwesenden hin und her. Sowohl der Herzog als der Hofmarschall als auch der diensttuende Adjutant hatten völlig sachliche, ausdruckslose, verbindliche Gesichter. Gesichter, die das Gehörte leugneten, es einfach ausstrichen, man konnte zweifeln, ob etwas dergleichen wirklich ausgesprochen worden war. Anders der Antiquar selbst. Auf den Arm seines stillen Töchterchens gelehnt, stand er schon aufrecht. Er lächelte entschuldigend. »Junge Leite!« sagte er mit besonders starkem Akzent und erweckte damit in Ludwig eine seltsam komplizierte Empfindung. War dies Würdelosigkeit, Demut, Hohn oder war es Weisheit – er wußte es nicht zu entscheiden. Aber noch dreißig Jahre später, als Jacques Wetzlar und der Herzog lange schon tot waren und er selbst graue Schläfen hatte, vermochte sich Ludwig den Tonfall dieser zwei Worte ohne Mühe zurückzurufen.

Im angrenzenden Salon, der mit breiten englischen Sesseln ausgestattet war, bestand die eine Wand fast völlig aus Glas. Man blickte über den Park in eine weiche, weite Flußlandschaft, die in der Septembersonne leuchtete. Die beiden Kavaliere hatten sich zurückgezogen. Man trug den Kaffee auf. Das junge Mädchen hatte sich den einzigen unbequemen Sitz ausgesucht, einen hochlehnigen Holzstuhl dicht neben dem flammenlosen Kamin, möglichst weit entfernt von der Fensterwand.

»Nun komm ich also mit meinem kleinen Geschenk, Hoheit«, sagte Wetzlar, als der Diener gegangen war, und holte aus der Innenseite seines Rockes eine kleine, schmiegsame Brieftasche hervor. Er schlug sie auf, entnahm ihr ein mehrfach zusammengelegtes sämisches Leder und faltete es mit einer gewissen Umständlichkeit auseinander. Dann stand er unsicher auf und überreichte seine Gabe mit einer kleinen Verbeugung dem Herzog.

Der unterdrückte einen Aufschrei. »Das schenken Sie mir, Wetzlar?« sagte er mit wankender Stimme, »wissen Sie aber, das ist in der Tat –« Er suchte nach Worten und fand sie schwer. »Das ist generös, Wetzlar, ungewöhnlich reizend, ein ganz großes Vergnügen.«

Und im Bedürfnis sich mitzuteilen, seine Freude anzuvertrauen, wandte er sich an Ludwig, der interessiert herzugetreten war. »Du wirst das nicht ganz verstehen können, Louis« – er nannte ihn neuerdings Louis – »es ist ein Stück, das mir schmerzlich gefehlt hat. Ich möchte sagen, ich hatte Sehnsucht danach. Die großen Institute besaßen es natürlich, aber zu erwerben war es nicht mehr. Einmal tauchte eins auf, aber die Echtheit war zweifelhaft, Wetzlar riet ab. Nach ein paar Jahren wieder eins, in unanfechtbaren Händen diesmal – unerschwinglich. Das British Museum kaufte es an. Und nun kommt dieser Wetzlar dahergefahren in seinem Automobil und wickelt es aus seinem Tuch und behauptet, er schenke mir's ... Außerordentlich generös, Wetzlar«, wiederholte er und nickte mehrmals dazu mit dem Kopf, »sehr dankenswert und besonders charmant.«

»Darf ich fragen, was es ist, Papa«, sagte Ludwig.

»Die Dekadrachme von Syrakus doch natürlich«, sagte der Herzog, »und was für ein Exemplar!« Er betrachtete die Münze ergriffen, wandte sie um und nochmals um, und der gemessene Herr sah aus, als werde er das alte Geldstück im nächsten Moment an die Lippen führen.

Auch Ludwig sah, daß es schön war. Die Rückseite zeigte in wundervoll klarer Ausgestaltung ein stürmendes Viergespann, die Hauptseite aber das lieblich strenge Haupt einer jugendlichen Göttin. Die vier ersten Lettern des Wortes Syrakus waren deutlich zu lesen, und am Rande wiegten sich Fischlein.

»Eine Nymphe, Papa, nach den Fischen zu schließen.«

»Arethusa, wer sonst«, sagte Herzog Philipp. »Die Quellnymphe. Hast du denn das nicht gelernt? Die in Syrakus als Göttin verehrt wurde. Sieh die Stirn, sieh den Mund, das ernste, liebliche Lächeln. Drei Jahrtausende alt, die Quelle vertrocknet. Syrakus ein Haufen Geröll – aber dies hier in so wunderbar anfänglicher Frische. Lieber Wetzlar, ich danke Ihnen«, sagte er noch einmal, »kommen Sie, wir gehen hinüber, sie bekommt gleich ihren Platz. Sie selber sollen sie dort hinlegen, wohin sie gehört.«

Und er führte seinen blinden Gastfreund vorsichtig hinaus, hinüber zu der dritten Kammer Johanns des Gläubigen.

Ludwig blieb mit dem jungen Mädchen allein. Aus ihrer Ecke kam kein Laut. Er trat näher. Da sah er, daß aus den übergroßen Augen über das Kindergesicht Tränen herabliefen. Ihre Wangen waren ganz naß. Sie hatte wohl die ganze Zeit über geweint. Der Kummer über den Schimpf, der ihrem Vater, ihr, ihrem Volk, vorhin bei Tafel angetan worden war, stürzte in lautloser, salziger Flut aus ihren dreitausendjährigen Augen.

3

Ludwig von Camburg war kein sehr normaler Student. Mit den zweitausend Zwanzigjährigen, die sonst die Gassen und Hallen der Universitätsstadt bevölkerten, hatte er wenig gemeinsam.

Es war Tradition, daß die Söhne seines Hauses diese nahegelegene Hochschule bezogen; er hatte der Überlieferung um so lieber gehorcht, als die Luft des väterlichen Palais auf ihm zu lasten begann.

Bei Herzog Philipp war die Beschäftigung mit seinen Münzen allmählich zur beherrschenden Schrulle geworden, eine gemarterte Langeweile drückte sich in seinen Zügen aus, sobald auf etwas anderes die Rede kam. Nun war freilich Ludwigs Interesse echt und nahm zu. Hier war ihm zuerst offenbart worden, was eigentlich Kunst sei. Dennoch konnte ihm niemand zumuten, in stundenlangen Konversationen über Prägestempel und Feingehalt, über Prägerechte und Fälschung, den ausschließlichen Inhalt für seine jungen Jahre zu erblicken. Er atmete auf, als er in der Universität anlangte.

Mit seinem Diener Hermann bezog er die kleine Etagenwohnung, die man in der Villengegend für ihn ausfindig gemacht hatte. Darauf begann er gemächlich sich umzusehen. Aber wonach? Welches Studium empfahl sich für einen deutschen Fürstensohn in dieser Zeit? Ludwig war weit davon entfernt, seine Stellung in der Welt für etwas Besonderes zu halten. Prinzen wie er liefen zu Dutzenden, liefen schockweise in Deutschland herum, und wenige, das wußte er, hatten etwas aufzuweisen, was einem Lebenszweck ähnlich sah. In früherer Zeit, als die zwanzig Dynastien noch in Funktion waren, hatten sich Volkswirtschaft und Verwaltungsrecht als Studium von selber empfohlen; es war immer gut, davon etwas zu verstehen, wenn man vielleicht eines Tages doch auf den angestammten Löwen- oder Adlersessel gelangte. Überhaupt war damals der Weg vorgezeichnet. Man trat in ein Corps ein, in »das« Corps, jenes vornehmste, das die Söhne des heimischen Adels mit einigen auserlesenen Bürgerlichen vereinigte, und lernte hier, von der studentischen Disziplin bis auf wenige Äußerlichkeiten entbunden, seine zukünftigen Staatsminister und oberen Verwaltungsbeamten kennen.

Mit alledem war es vorbei. Die Ehrfurcht, die noch fünfzehn Jahre zuvor die souveränen Familien getragen hatte, war eine Erinnerung, gerade noch wirksam genug, um deren Söhne mit einer Isolierschicht zu umgeben. Mit einigen Studierenden von Adel, einem Larisch, einem Gerstenberg, einem Herrn von Zednitz besonders, stellte sich Umgang her, aber auch der war nicht ohne Gezwungenheit. Selbst diese jungen Leute wußten noch eher, wohin sie sozial und beruflich gehörten.

Prinz Ludwig, solcherart alleingelassen, hatte für juristische Vorlesungen inskribiert, auch für naturwissenschaftliche und philosophische, und war überall ziemlich rasch erlahmt, da weder ein faßbarer Zweck noch eine entschiedene Neigung ihn leiteten. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn starke Figuren unter den Lehrern ihn angezogen hätten. Diese Hochschule besaß eine stolze Tradition. Von ihren Kathedern hatten Fichte, Schlegel, Schelling, hatte sogar Schiller zur Jugend gesprochen. Diese Vergangenheit war toter Schall. Ludwig hatte eigentlich bei jedem der Professoren die mißmutige Empfindung, daß ein beliebiges Lehrbuch den mündlichen Vortrag völlig zu ersetzen imstande sei. Er fühlte sich überhaupt nicht wohl. Bei aller Bescheidenheit des Camburger Hofes war er eben doch ein verwöhnter junger Mann, und die gedrängte Nähe der nicht immer soignierten Kommilitonen bereitete ihm Unbehagen. Er registrierte das mit Ärger über sich selbst.

Da geriet er, schon gegen Ende seines zweiten Semesters, in eine kunsthistorische Vorlesung des Geheimrats Johannes Rotteck. Es geschah beinahe mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. »Kunstgeschichte ist gar nichts«, hatte daheim sein Lehrer Steiger gelegentlich zu ihm gesagt, »Kunstgeschichte ist etwas für unnütze Söhne aus alten Firmen.« – »Ganz mein Fall«, hatte er lachend geantwortet. Aber das Wort war haften geblieben.

Es war sogleich fortgewischt, wie er jetzt den Mann da oben auf seinem Katheder sah, einer kleinen Estrade eigentlich, auf der er sich im Reden bewegte. Etwas weniger Professorales an Erscheinung ließ sich nicht wohl erdenken. Mit seinem kantigen, länglichen Gesicht, darin steingraue Augen unter borstigen Brauen ihre kräftige Sprache führten, mit dem schmalen, hart wirkenden Körper, den langen federnden Beinen, mit seiner ganzen unbekümmerten, etwas schlampigen Eleganz, erinnerte dieser Fünfzigjährige weit eher an einen Reitergeneral als an einen Dozenten. Mit einem langen Stock zeigte er illustrierend auf der Projektionsfläche hinter seiner Estrade umher.

Was da augenblicklich zu sehen war, stellte einen Teil des Isenheimer Altars dar. Der Geheimrat sprach eigentlich nur halb zu den Hörern, halb sprach er zu der Christusfigur hinauf, die er erläuterte. Seine Aussprache, ohne ein Dialekt zu sein, war süddeutsch, alemannisch gefärbt. Im Saal war es still. Man befand sich im Auditorium Maximum, denn Rotteck war eine Berühmtheit, zwischen den Studenten saßen zahlreiche Damen aus der Stadt, die sich übrigens durch Kraßheiten in seinem Vortrag nicht selten schockiert fanden. Wahrscheinlich kamen sie eben deshalb um so lieber.

»Sehen Sie sich mal diesen Christus an, meine Herrschaften«, ließ sich der reitergeneralähnliche Geheimrat vernehmen und schlug mehrmals auf seine Leinwand, so daß sie Falten warf. »Von den aristokratischen Jesustypen der frühen, der feudalen Gotik ist da nicht mehr viel übrig. Der Heiland hier ist vor allem ein Mann, ein gewaltiges Stück männliches Leben. Das ist einer, der Lasten geschleppt hat, einer aus dem Volk, auf dessen Nacken der ganze schwere Oberbau der Gesellschaft wuchtet. Das Lastentragen, das ›für uns Schleppen‹ – es hat hier nichts Abstraktes, nichts Überspirituelles mehr. Ein zu Boden gepreßter Arbeitsmann, der für uns Sünder gefront hat – so hat ihn dieser Meister gefühlt und gemalt, ob er es nun in Worten gedacht haben mag oder nicht. Denn was bei uns armen Gehirnleuten ein Begriff, ein schleichender Syllogismus ist, das ist bei solch einem Meister ein schaffender Pinselschlag. Martin Luther, sein Zeitgenosse, das wissen Sie, hat es sehr mit der Angst bekommen, als plötzlich das Volk vor ihm aufstand und ihn, den Verkünder der Freiheit, als Eideshelfer für sein Recht forderte. Da war der wortgewaltige Gottesmann plötzlich viel zu fein für die Bauern. ›Dem Esel gehört sein Futter, Last und Geißel‹, hieß es da, und gemeint war der Bauer. ›Hohe Zeit ist's, daß sie erwürgt werden wie tolle Hunde‹, hieß es da, und gemeint waren die Bauern. Denn die Freiheit eines Christenmenschen, nicht wahr, das ist eben eine Idee, eine Theorie, an der hat man sich's genug sein zu lassen, und mit Leibeigenschaft, Kornzehntem und Jagdverwüstung hat das gar nichts zu tun. Wenn Sie einen freien Deutschen sehen wollen – rarissimam avem, für die unter Ihnen, die Lateinisch können –, so sehen Sie ihn hier vor sich in dem Meister, der das gemalt hat.«

Er klopfte mit seinem Stock zweimal aufs Pult, und ein anderer Teil des Altars erschien auf der Leinwand.

»Alles ist hier wahrhaft revolutionär – so wie auch Michelangelo revolutionär war: der ganze künstlerische Ausdruck in seiner schonungslosen Heftigkeit, dies sich nicht Genug-tun-Können, die männliche Feindschaft gegen alles Beschönigende, Glatte, Freundliche. Sie brauchen sich nur einmal vorzustellen, was Goethe gesagt hätte vor dieser so unbedingt hervorschießenden Leidenschaft, jener befriedete Goethe meine ich, dem bekanntlich ›ein Unrecht lieber war als eine Unordnung‹ – ein Glück, daß er nichts gewußt hat von ihm! Aber es hätte ihn schwerlich geniert. Er hätte sich abgewendet so wie Luther, nicht mit unflätiger Schimpfrede natürlich, sondern mit einer seiner listig vereinfachten Formeln, einem der Heil- und Trostsprüche, mit denen er wie mit einer schweren Steinplatte den eigenen innern Abgrund verschloß.«

So allerdings hatte sich Prinz Ludwig Kunstgeschichte nicht vorgestellt. Sie konnte also doch etwas anderes sein als ein »Zeitvertreib für jüngere Söhne«. Nicht Vorwand, Fleißaufgabe und preziöse Spielerei, sondern wahrhafte Geisteswissenschaft, Beitrag zur Ausgestaltung des Daseins.

Er hatte sich Rottecks Hauptwerk verschafft, seine ›Geschichte des Portraits in Europa‹, von der bis jetzt vier Bände erschienen waren und auf die sich sein Ruf gründete. Ein ungeheures Tatsachenwissen war hier mit römischer Klarheit geordnet. Die Meister lebten, und die sie dargestellt hatten, lebten auch. Ein leerer Name stand nirgends. Nirgends war deklamiert, nirgends fand sich ein bequemer Gemeinplatz, nirgends wurde, nach der Art so vieler neudeutscher Gelehrten, feierlich die Wolke umarmt. Alles war Substanz, Wirklichkeit, Fleisch und Leben. Ein illusionsloser Menschenbetrachter redete hier. Ihm war Kunst nicht eine losgelöste, zu Häupten schwebende Erscheinung, zu der man emporgedrehten Auges aufschaut. Sie war Daseinsextrakt, Aufschrei, Trost und Nahrung. Jedes seiner Kapitel malte solid eine neue Phase der europäischen Gesellschaft. Man wußte, wie in jedem Jahrhundert in Paris, Siena oder Ulm die Menschen sich fortgebracht, wie sie geliebt, wie sie einander geehrt oder verfolgt hatten. Alles erschien so simpel, so selbstverständlich, man glaubte, schloß man das Buch, es nacherzählen zu können.

Auch als der Geheimrat Ludwig zum ersten Mal empfing, hatte er sich bei Allgemeinheiten nicht aufgehalten. »Was wollen Sie eigentlich auf der Universität, Prinz«, hieß es nach den ersten drei Minuten. »Wollen Sie sich die Zeit vertreiben oder wollen Sie etwas vor sich bringen? Wenn Sie das zweite wollen, bin ich gern für Sie da. Wenn Sie sich mit dem ersten begnügen, so rate ich eher zu Hockey oder zu Lachsfang in Schottland.«

Das Ergebnis war, daß sich Ludwig schon sehr bald mit einer Aufgabe betraut sah. Er nahm sie ernst, sie erfüllte ihn ganz, sie machte ihn glücklich.

Er schrieb an Steiger, der jetzt drüben an der obersten Klasse des Gymnasiums amtierte: »Sie werden vermutlich schelten, liebster Doktor, aber Ihr Camburgischer Kaiser ist tatsächlich das geworden, wozu Sie ihn am wenigsten machen wollten, ein Kunsthistoriker. Es wird wohl auf die Griechenmünzen der dritten Kammer zurückgehen. Aber ohne den Antrieb durch Rotteck wäre es doch nicht dahingekommen. Ich habe von ihm einen umrissenen Auftrag, der mich ein paar Jahre beschäftigen und auch wohl einmal meine Doktorarbeit darstellen wird: es ist ein genauer Katalog der Portraits von Francisco de Goya. Ein solcher Katalog fehlt – eine Schande! Denn dieser Goya, Sie wissen's natürlich, ist nicht ein bloßer Talentmann unter den anderen, sondern ein Geist ersten Ranges und vermutlich das oberste malerische Genie unserer neuen Zeiten. Nächsten Monat reise ich nach Spanien, um dort ›Entdeckungen‹ zu machen. Natürlich nicht im Prado, sondern in verborgenen Löchern von Aragon und Estremadura. Denn dieses verteufelte Genie hat unendlich viel gemalt, manchmal hat er zu einem Bildnis bloß zwei Stunden gebraucht, und da er erst seit fünfzig Jahren wieder richtig entdeckt ist, kennt man noch längst nicht alles. Mit zahllosen der so portraitierten Herrschaften bin ich um ein paar scharfe Ecken herum verwandt. Das wird die Nachforschungen, denke ich, erleichtern.«

Aber als er, mit ziemlicher Ausbeute, von dieser ersten Kunstfahrt zu Rotteck zurückkehrte und seine Aufzeichnungen vorwies, stieß er auf sarkastische Kritik. »Das ist ja wirklich äußerst plastisch, lieber Prinz«, hieß es da, »hören Sie es sich selber an: Marquesa de Lazan, Höhe 1 Meter 43. Breite 1 Meter 16. Bravo, bis hierher ist's richtig. Aber jetzt die Beschreibung: ›Eine hübsche junge Frau mit sympathischem Ausdruck. Stützt sich auf eine Sessellehne. Empirekostüm, weißes Kleid, unten am Rock Goldpailletten.‹ Das habe ich gern, mein Lieber! Empirekostüm. Soll sie angezogen sein wie Maria Stuart? Hübsche junge Frau. Werd ich sie danach erkennen, wenn ich ihr drunten im ›Schwarzen Bären‹ gegenübersitze? Das müssen Sie erreichen, denn vorher haben Sie selber auch nichts gesehen.«

Noch nach der zweiten Reise im Jahre darauf hieß es gelegentlich: »Ich weiß nicht, was Sie haben, Prinz Ludwig. Ihrer Charakteristik der Königsfamilie von Spanien fehlt es verdächtig an Cayennepfeffer. Sie haben sich jetzt schon ein statistisches Verdienst erworben, gewiß. Statt dreizehn Portraits Karls des Vierten kennen Sie fünfzehn, und statt achtzehn von Maria Luisa zählen Sie zwanzig auf. Ausgezeichnet! Sie kommen bereits in Kleindruck in meinen siebenten Band und in die ›Encyclopedia Britannica‹. Aber Sie wollen, wie ich mir einbilde, doch kein Registrator sein, sondern, verzeihen Sie das harte Wort, eine Art Schriftsteller. Los also, schreiben Sie! Daß Ihr Goya Hofmaler bei der scheußlichsten Familie der neuen Geschichte gewesen ist, das geht aus Ihren Notizen nur sehr unvollkommen hervor. Wenn diese Herrschaften auch vielleicht Ihre Uronkel oder Großstieftanten gewesen sind, das darf Sie wenig genieren. Charakterisieren Sie doch diesen greulichen dicken Bourbon mit den Elefantenbeinen und den Karpfenaugen als das, was er gewesen ist: als einen hirschemetzelnden Dreiviertelskretin. Und Ihre Ururschwägerin Maria Luisa mit der geilen Harpyenvisage, den halbnackten Rumpf mit Glitzerzeug übersät wie eine Hure von der Puerta del Sol – vielleicht machen Sie's ein bißchen deutlicher, wie erbarmungslos der Herr Hofmaler sie angeschaut hat, und wie er gewußt hat, er oder doch sein Pinsel, daß die Person ihr Land und Volk in den Abgrund kutschieren würde. Sie haben so eine Neigung zu ehrerbietiger Verschwommenheit und stiller Demut. In solcher Haltung haben sich die Herren Deutschen allzeit dem Thron genähert. Aber Sie, mein hochgebietender Prinz und Herr, geboren auf seinen Stufen – «

4

Er ging um die fünfte Nachmittagsstunde den »Landgrafenberg« hinauf, machte auf halber Höhe halt und läutete am Gartentor der Rotteckschen Villa. Frau Susanna Rotteck kam vom Hause her den geraden Pfad herunter, zu dessen beiden Seiten ein Gewoge von Georginen und Astern regellos durcheinanderblühte im getrübten Feuer der Herbstpalette. Sie winkte von weitem schon.

»Rotteck hat angeordnet, wir sollen den Tee allein trinken«, sagte sie, als Ludwig eingetreten war. »Schneiden Sie nur nicht so ein unhöflich enttäuschtes Gesicht! Ich weiß schon, daß Sie mich nicht leiden können.« Und sie verschloß ihm den Mund mit der Innenfläche ihrer langen und kräftigen Hand, um keine Verwahrung zu hören.

»Was für ein Herbst!« sagte Ludwig, während sie auf dem mit großen Platten belegten Weg sacht aufwärts schritten. Sie gab keine Antwort. Aus ihren spähenden, klugen, hellgrauen Augen blickte sie schräg zu ihm nieder. Sie war etwas größer als er, herrlich gewachsen, Schultern und Hals von ebenmäßiger Kraft, bei schon etwas zu voller Büste, eine beunruhigende, schöne Person. Was sie mit Lustigkeit übertrieb, war nicht so unrichtig: Ludwig wehrte sich gegen seine Sympathie. Es verursachte ihm eine leichte Pein, die Frau seines Meisters so anziehend zu finden.

Susanna mochte fünfzehn Jahre jünger sein als Rotteck, vielleicht mehr. Sie war flämischer Abkunft, der Professor hatte sie geheiratet, als er in den Museen von Antwerpen und Brüssel an der Arbeit war. Übrigens hatte sich niemals Gerede oder Klatsch an sie geheftet, was in dieser engen und strengen Dozentenwelt etwas sagen wollte.

Ein rotbäckiges Mädchen brachte den Tee in den Pavillon. Es war so warm, daß man ohne Mantel im Freien sitzen konnte. Durch die offenen Holzbögen ging der Blick über die verwinkelte kleine Stadt und über das Saaletal.

Es standen drei Tassen da. »Er kommt also doch?« fragte Ludwig.

»Fürchten Sie nicht für Ihr Heil, er kommt! Und er wäre schon da, aber er ist im Begriff, einen Aufsatz fertigzuschreiben, den er Ihnen zeigen möchte. Das wird was für meinen Prinzen, hat er ausdrücklich erklärt. Früher hieß es: Sanna, das wird was für dich. Ich mache Sie darauf aufmerksam, Prinz, daß Sie im Begriff sind, unsere Ehe zu zerstören.«

»Was für einen Aufsatz denn?«

»Replik auf diesen hier«, antwortete Susanna und schob ihm eine Nummer der ›Kunsthistorischen Monatshefte‹ hin. »Sie sollen das durchlesen, ehe er kommt. Sie dürfen es gegen die Teekanne lehnen und dabei trinken und sich die Zunge verbrennen.«

Der aufgeschlagene Artikel war überschrieben ›Ritter, Tod und Teufel‹, und als sein Verfasser bekannte sich ein gewisser Werner Hoffedanz, ein Homo novus offenbar, denn Ludwig war ihm in diesen Bezirken noch niemals begegnet.

»Was soll das sein«, fragte er. »Über den Dürerschen Stich gibt's doch nichts Neues zu sagen.«

Sie gab keine Antwort. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und das starke und schöne Haupt auf die Hände. Ihr lebensvoller Mund stand ein wenig offen, was ihr leicht geschah, und ließ die ungewöhnlich breiten und ebenmäßigen Zähne sehen. Von ihrem hellrotblonden Haar hatte sich eine ganz schmale Strähne gelöst, hing ihr in die Stirn und wurde vom Wind hin und her bewegt. So saß sie und beobachtete den jungen Mann, wie er las, hie und da zerstreut einen Schluck Tee nahm, auch wohl die Tasse, wenn er bei seiner Lektüre auf eine besonders erstaunliche Stelle stieß, eine Weile selbstvergessen in der Luft balancierte.

Es handelte sich in der Tat um Albrecht Dürers bekanntes Blatt, den Geharnischten, der unbekümmert um die gräßlich drohenden Figuren von Teufel und Tod unbeirrbaren Blicks seines ernsten Weges reitet. Und allerdings bot dieser Aufsatz Ungewohntes. Einen Sonderfall bildete allein schon die Tatsache, daß eine anerkannte Zeitschrift wie die ›Monatshefte‹ einen Neuling von der Art des Herrn Hoffedanz ihre Spalten geöffnet hatte. Im ungelenk stolpernden Deutsch eines Viertelgebildeten gab er dem berühmten Kupferstich eine präzise und aktuelle Deutung.

Der mutige Ritter, hieß es da mit stammtischhafter Direktheit, sei natürlich das ernste, würdige, heilig unbeirrbare deutsche Volk. In der öden Larve des Todes habe der Nürnberger Meister, der »deutschblütigste« unter allen, nichts anderes dargestellt als den drohenden Kommunismus, der wenig nachher in der Bauernrevolution grausig sein Haupt erhoben, in der scheußlichen Fratze des Teufels aber, mit dem Sichelhorn auf dem difformen Schweinsschädel, selbstverständlich den Juden. Vom Juden war immerfort die Rede in dem Artikel, und zwar vorzugsweise in der apostrophierten Einzahl, der Jud', was Ludwig als besonders würdelos und ekelerregend auf die Nerven fiel. Dann aber wurden die seherischen Qualitäten Albrecht Dürers gerühmt, über Jahrhunderte hin habe der deutschblütige Meister das Geschick seiner Nation vorweggenommen, und es fehlte nicht viel oder eigentlich gar nichts, so wurde der stille Ritter zu einem prophetischen Portrait Adolf Hitlers erklärt. »Es ist, als hätte der Meister gewußt, daß eines fernen Tages einer die Straße reiten werde, der dem Bolschewiken das fast schon abgelaufene Stundenglas aus der Hand schlagen wird, während ein lässiger Huftritt seines Rosses den hinter ihm lauernden Juden erledigt.«

»Nun?« sagte Frau Rotteck, als er das Heft schloß, »Sie haben ja nicht ein einziges Mal gelächelt. Johannes hat prophezeit, sie würden sich vor Lachen biegen.«

Ludwig wollte antworten, dazu sehe er wenig Anlaß, als ihm von rückwärts Rotteck die Hand auf die Schulter legte. Er stand auf. Rotteck trug in der Linken eine Anzahl beschriebener Blätter.

»Also, was sagen Sie, Ludwig? Aber diesmal ist mir's zu viel. Ich hab mir den Knaben gekauft. Platt gebügelt, daß er nicht wieder aufsteht.«

»Herr Geheimrat«, sagte Ludwig, »ich fürchte, Sie verkennen die Substanz, aus der diese Herren geformt sind. Kot kann man nicht bügeln.«

Rotteck las vor. Wahrhaftig, er hatte sich »den Knaben gekauft«, ihn und seinesgleichen. Was seiner Ironie aus den Zähnen kam, das hing komisch in Fetzen. Mit Behagen zerriß er zunächst den unsinnigen Superlativ vom »deutschblütigsten Meister«, dem Meister, dessen Vater aus einem ungarischen Dorf namens Aytos kam, und dessen Vatersbruder so germanisch noch Laszle hieß. Der Hoffedanz wurde freundlich befragt, an welchen Kreis von Ignoranten er sich eigentlich wende, etwa mit der Behauptung, Dürer habe sich im giebeligen Nürnberg sein Leben lang unaussprechlich glücklich gefühlt, treuumsorgt von Agnes, seiner geliebten Hausfrau. Der berühmte Brief aus Venedig wurde zitiert, jener leidvolle Aufschrei kurz vor der Heimkehr: »Wie sehr wird es mich nach der Sonne frieren!« und die geliebte Hauswirtin Agnes war als das mit Seufzern geschleppte Hauskreuz charakterisiert, als die echtbürtige Xanthippeschwester, die sie war. Danach aber ging die Replik grimmig ins allgemeine, sie nahm sich die ganze opportunistische Sippschaft vor, die mit den Begriffen des Vaterländischen und Bodenechten neuerdings ihr bezahltes Lumpenspiel trieb. Die Worte »bezahltes Lumpenspiel« standen ausdrücklich da. Und es folgte eine Gegenüberstellung des ernst und stumm der Wahrheit zureitenden Ritters mit jenen Agitatoren, die im Flugzeug Tag und Nacht über Deutschland daherknatterten, im Kneipenjargon bis zur Heiserkeit die Säle vollbrüllten, tobten und schäumten, allen alles versprachen und in fuchtelnden Händen der Masse ewig die selben zwei Schreckpuppen vor die Augen schwenkten: die mit den Schlafenlöckchen im fettigen Kaftan und die im Russenkittel, das blutige Messer in der Faust. Wenn abends daheim die ermüdeten Leute ihr Radio aufdrehten, lief ihnen der giftige Geifer der »Ritter« unweigerlich in die Stuben.

Das alles sei, schloß der Aufsatz, in der politischen Realität gewiß ohne Bedeutung, da das völlig Absurde und Hohle nicht dazu bestimmt sein könne, das Geschick eines großen Volkes abzulenken. In der Wissenschaft aber, zumal bei den Lernenden, könne diese Art von Dilettantismus doch schließlich Unheil anrichten. Wer werde noch Zeit und Mühe aufwenden, um etwas Rechtes zu lernen, wenn abgerichtete Hohlschädel vom Schlage Hoffedanz an einst vornehmer Stelle sich zum Wort melden durften. »Die Wissenschaft unseres Landes hat noch immer einen Ruf und eine Würde zu verlieren. Möge sie doch auf sich achten! Qui mange du Nazi en meurt.«

Als Rotteck zu Ende war, entstand eine Stille. Er schob seine Augengläser zur Stirn hinauf und blickte befremdet erst seine Frau an, dann Ludwig.

»Na, vielleicht sagen Sie was, Prinz von Sachsen«, meinte er nicht ohne Gereiztheit.

»Herr Geheimrat – ein vorsichtiger Mann würde diesen Aufsatz bestimmt nicht veröffentlichen.«

»Nicht veröffentlichen! Und warum denn nicht, wenn's beliebt? Weil ich vielleicht bei diesem stänkernden Klüngel von kinädischen Totschlägern mißliebig werde? Am Ende könnte mein Name noch zu dem Obergott selbst dringen, gehässig akzentuiert ... Wenn's wirklich gefährlich wäre, mein Prinz, dann würde ich das Artikelchen natürlich doch drucken lassen, es erst noch ein bißchen salzen und pfeffern, denn so ist es ja sanfter als Mandelmilch. Aber wo ist die Gefahr! Lesen Sie keine Zeitungen? Ist Ihnen entgangen, daß diese ganze gottvolle Bewegung überhaupt schon erledigt ist, asthmatisch aus ihrem letzten stinkenden Loche pfeift? Zwölf Millionen drängende Schulden hat diese redliche Partei zusammengehäuft und weiß nicht, wo den ersten Tausender hernehmen. Sie stehen ja an allen Straßenecken in ihren kotbraunen Hemden und klappern mit ihren Büchsen. Selbst unsere Herren Industriellen, so instinktverlassen sie sind, haben endlich erkannt, was es auf sich hat mit den Brüdern, und verabreichen ihnen den lang entbehrten Tritt. Und wenn's anders käme ...« Er lachte. »Gott weiß, wie ich auf Rang und sogenannte Ehren pfeife. Aber schließlich bin ich Ordentlicher Professor, Geheimer Regierungsrat, Ehrendoktor und sonst noch was, zwei Komturkreuze habe ich, nein drei, und weil es ja doch ums Nationale geht, aus dem prächtigen Weltkrieg eine Wäscheleine voll Schlachtorden. Aufrichtig – sehen Sie, unter welchem Regime immer, den Herrn Werner Hoffedanz, Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, wie er sich dort unten im Auditorium Maximum auf mein Katheder pflanzt!«

Ludwig schwieg bedrückt. »Mögen Sie recht haben, Herr Geheimrat«, sagte er endlich.

Frau Rotteck hatte kein Wort geäußert. Den lebensvollen Kopf auf die Hände gestützt, in ihrer Lieblingsstellung, blickte sie aus ihrem spähenden, hellgrauen Augen langsam vom einen zum andern.

5

An einem kalten Wintertag wenige Monate später kam Ludwig kurz nach zwölf vom Kolleg in seine Wohnung zurück. Im Vorraum nahm ihm der Diener den Mantel ab. Ludwig schnupperte. »Du hast dir wohl Kokotten eingeladen, Hermann, wo treibst du die hier auf?«

Der Diener fand nicht gleich die Antwort. »Der Herr Erbprinz sind hier«, brachte er schließlich heraus.

»Mein Bruder?« Ludwig öffnete rasch die Tür zu seinem Wohnzimmer. Erbprinz August saß mit übergeschlagenen Beinen in dem Voltairesessel am Fenster und las eine Zeitung.

»Morgen, August«, sagte der Jüngere, »sehr gnädig, daß du mich aufsuchst und gleich im Faschingskostüm. Kleidsame Maske.«

Der Erbprinz trug jene braune Uniform, die Rotteck so angewidert charakterisiert hatte, aufgeputzt mit mehreren undeutbaren Abzeichen, um den linken Arm die Binde mit dem Hakenkreuz. Jetzt stand er auf. Er war ein baumlanger, etwas dicklicher Mensch. Sein Gesicht wäre hübsch gewesen ohne die unangenehm rosige Farbe, die es zeigte; es war, als besäße Prinz August eine Hautschicht zu wenig. Der ganze Herr wirkte roh und weichlich zugleich. Das Resedaparfüm, das sein Bruder schon draußen bemerkt hatte, lagerte in Schwaden im Zimmer.

»Eure Hoheit bringen den Frühling mit«, bemerkte Ludwig. Und er riß ein Fenster auf.

»Wenn du mit deinen geistvollen Scherzen zu Ende bist, Ludwig, wollen wir reden.«

»Vielleicht einen Schnaps? Aber ach, ich habe bloß Kirsch, keine Crême de Cacao«, sagte Ludwig und lächelte unverschämt. »Kommst du von daheim? Wie geht's dem Papa?«

»Den Papa traf ich selbstverständlich mit seinem Leibjuden Wetzlar. Sie putzten an alten Geldstücken herum. Ich blieb nur zwanzig Minuten.«

Ludwig hatte den Bruder viele Monate lang nicht gesehen. Er hatte auch keine Briefe mit ihm gewechselt. In illustrierten Zeitschriften hatte er ihn mehrfach unter den Parteiwürdenträgern erblickt, die bei Massenversammlungen in der ersten Sitzreihe dem fuchtelnden Propheten lauschten. Er wußte auch, daß August des öftern gewürdigt wurde, ihn im Flugzeug auf seinen Kreuzfahrten zu begleiten. Er galt als einer der kommenden Männer.

»Auch dich, lieber Ludwig, werde ich nicht lange aufhalten. Ich komme im Auftrag. Man nimmt oben Anstoß an deinem Umgang. Äußerungen von dir sind bekannt geworden. Man legt dir nahe, solange es noch Zeit ist, zu erwachen.«

»Sors de l'enfance, ami, réveille-toi!«

»Was?«

»Rousseau, August. Nichts für dich. Also weiter!«

»Ich muß dir bemerken, daß deine ganze Haltung sehr geeignet ist, auch mir Unannehmlichkeiten zu schaffen.«

»Einen Augenblick! Meine Haltung? Worin besteht die? Ich gehe ins Kolleg und bereite eine Doktorarbeit vor.«

»Nur keine Ausflüchte! Ich wiederhole: noch ist es Zeit. Nach der Machtübernahme durch die Partei wird es nicht mehr Zeit sein. Du brauchst nur einfach Ja zu sagen, es kostet dich ja nichts. Alle Formalien erledige ich dann im Handumdrehen.«

»Dir scheint diese Machtübernahme so gewiß, wie daß auf den Dienstag der Mittwoch folgt. Es gibt andere Ansichten.«

»Die schöpfst du aus deiner Presse, Ludwig«, sagte der Erbprinz und wies mitleidig auf das Exemplar der ›Vossischen Zeitung‹, das zu Boden gefallen war. »All diese Produkte wird es bald nicht mehr geben.«

»Ich weiß sehr gut, daß hin und her geschachert wird. Alle wollen sie dein schäumendes Roß vor ihren Wagen spannen, die Herren Eisenkönige, die Herren Landbesitzer, die Herren Spezereiwarenhändler. Sie werden sich's anders überlegen. Und vor allem will ja der Oberstallmeister nicht.«

»Hindenburg?«

»Ehe ich diesen böhmischen Gefreiten zum Reichskanzler mache ...«

»Lieber Ludwig, solange du dich an Worte hältst ... Sei überzeugt, es kommt, wie ich sage. Die Wege sind ja gleichgültig. Und da wünsche ich einfach nicht, daß du mir die Karriere verdirbst. Es hat keinen Sinn, um die Dinge herum zu reden.«

»Karriere«, fragte Ludwig und schloß das Fenster, denn die Temperatur war eisig geworden. »Was stellst du dir vor darunter? Schämst du dich nicht, das Wort in den Mund zu nehmen?«

»Da gibt's gar nichts zu schämen. Statthalter für Sachsen und Thüringen klingt nicht so übel. Und ist nicht übel. Ihr werdet an mir eure Wunder erleben, der Papa und du.«

»Unsere braunen Wunder. Ich wart's ab.«

»Sei nicht blödsinnig, Ludwig. Ich mache den Weg auch ohne dich. Wenn's sein muß, gegen dich. Aber du selber! Warum dich von vornherein ausschalten aus dem Blutkreislauf der Macht.«

»Blutkreislauf. Ich danke dir für deinen Altruismus. Nur höre«, sagte Ludwig, schnupperte und schüttelte den Kopf, »für einen Statthalter parfümierst du dich wirklich zu stark. Willst du mich verführen? Oder meinen Hermann? Er hat ja Säbelbeine. Nun, ich werde dir erzählen, warum ich mich ausschalte aus deinem Kreislauf. Deswegen!«

Er hatte aus seinem Schreibtisch ein bedrucktes Blatt herausgenommen, das er dem Bruder hinlegte. Der warf einen Blick darauf und lachte: »Potempa! Auf so etwas war ich gefaßt.«

»Jawohl, Potempa.« Ludwig marschierte im Zimmer umher, das sich langsam wieder erwärmte. »Sei einmal still, August! Wenn du die Geschichte schon kennst, so wirst du sie eben noch einmal hören. Sie verdient's. Da holen also in diesem schlesischen Nest fünf Nazis – fünf – einen sozialistischen Arbeiter bei nachtschlafender Zeit aus seinem Bett heraus. Sie haben alles genau verabredet, sie handeln methodisch. Das heißt, sie foltern den Mann in langsamer Arbeit viehisch zu Tode. Sie hauen ihm mit einem stumpfen Beil auf den Kopf, sie stechen ihm mit spitzigen Stöcken im Gesicht herum, sie stoßen ihm in den Kehlkopf ein Loch, sie zerreißen ihm mit den Fingern die Halsschlagader. Erfinderisch sind sie, deine Parteifreunde. Solange sich's hinziehen läßt, amüsieren sie sich. Neunundzwanzig Wunden stellt der Gerichtsarzt fest. Die fünf werden zum Tod verurteilt. Aber dein ›Führer‹, der Mensch, aus dessen Händen du deine Statthalterschaft zu empfangen hoffst, der telegraphiert den fünf Viechskerlen in ihr Gefängnis. Still! ich les es dir vor, sein Telegramm. Es steht hier: ›Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichsten Bluturteils fühle ich mich mit Euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Befreiung ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre –‹ Er wird sie leicht durchsetzen, ihre Befreiung, dein Hitler, wenn er zur Macht kommt, und vielleicht werden die fünf Bestien deine Kollegen als Statthalter. Ich aber brauche nicht mehr zu wissen. Er könnte das Genie sein, dein Hitler, als das ihr ihn ausschreit. Sein Programm könnte ein Wunderwerk sein an Scharfsinn und an Erleuchtung. Mir genügt auf alle Fälle sein Telegramm. Das ist unpraktisch von mir, ich weiß, überholt und liberalistisch. Aber so ist's. Und nun muß ich dich leider bitten, mir deine erhabene Gegenwart zu entziehen, samt Braunhemd und Resedaparfüm. Lebe wohl!«

Das war im Januar. Und schon am Ende des gleichen Monats wurde der »böhmische Gefreite« an die Spitze der Regierung geschoben, durch ein Intrigenspiel, bei dem die drahtziehenden Schlauköpfe den uralten Präsidenten und am meisten sich selber betrogen. Eine schon ruinierte Hetzer- und Schwindlerbande wachte eines Morgens auf im Besitz der Gewalt und rieb sich die Augen, selbst noch unfähig, an ihr Märchenglück und an die ungeheuerliche Eselei zu glauben, die es ihr beschert hatte. Ein paar Wochen danach ließen sie den Reichstag brennen. Der Schlachtruf gegen den »roten Terror« war da. Fünftausend Menschen zunächst wurden in Deutschland eingesperrt. Das Gesindel hatte die Gasse frei. Es wurde geraubt, gemordet, zu Tode geprügelt. Geeichte Schnapphähne wurden zu Polizeipräsidenten promoviert.

Möglich freilich, daß jene Drahtzieher selber gezogen wurden, und daß hinter ihrem tölpelhaften Kabinettsspiel eine kalt und weithin planende Intelligenz stand, jene militärische Zentral- und Kollektivintelligenz, von der deutsche Geschichte in allen ihren Phasen gemacht wird, und für die ein verlorener Weltkrieg nichts weiter ist als ein bedauerlicher Zwischenfall – möglich oder beinahe gewiß.

Dergleichen zu überblicken, war der Moment nicht gekommen, am wenigsten für einen Studierenden der Kunstwissenschaft an einer kleinen Universität. Er spürte nur den Gestank. Als Knabe einmal, auf einem Spaziergang mit Steiger zur Camburg, hatte er im Wald einen großen Stein umgedreht, der überwachsen war von tauschimmerndem-smaragdenem Moos. Ein muffiges Loch wurde sichtbar, darin Geziefer wimmelte, ekelerregende Würmer und Asseln. Fassungslos hatte er auf die widerliche Offenbarung hinuntergestarrt. Das fiel ihm jetzt ein. Was er täglich um sich und unter sich sah, war ein kriechender Wettlauf der Feigheit, der schleimigen Unterwürfigkeit, war die zuckende Gier, nur ja um Lebens- und Sterbenswillen jedes Opfer an Anstand und Vernunft zu bringen, um vielleicht noch Gnade zu finden. Jeder bespitzelte jeden. Wenn der Geheimrat Johannes Rotteck in der Universität die Korridore entlangschritt, öffneten sich links und rechts vor ihm die Türen und verschluckten Dozenten und Studierende, die Angst hatten, ihn zu grüßen.

Der Rektor der Hochschule, Herr Zeilbecker, Mathematiker seinem Fach nach, mausartig von Ansehen und klug, bat den Geheimrat zu sich und legte ihm eine Unterbrechung seiner Vorlesungen nahe. »Sie sehen ja selbst, wie es steht. Statt dreihundert Hörer hatten Sie fünfzig das letzte Mal. Jeden Tag kann Irreparables passieren.«

Rotteck weigerte sich: »Wenn es noch zehn sind statt fünfzig, bekommen sie Tee.« Am nächsten Morgen war an der Tür des Auditorium Maximum ein Zettel befestigt: »Wegen mangelnder Zivilcourage vieler Hörer findet meine Vorlesung im Saal 28 statt.«

Auch der kleine Saal 28 erwies sich als viel zu geräumig. Nur die zwei vordersten Bankreihen waren besetzt. Rotteck las über Cranach. Als er zwanzig Minuten gesprochen hatte, öffnete sich sperrangelweit die Tür und ein Haufen junger Leute drang ein, die meisten in Parteiuniform. Unter Gepolter nahmen sie Platz. Ludwig war aufgesprungen, hatte sich den Eindringlingen zugekehrt und musterte sie. Der Unterkiefer zitterte ihm, es war ein Reflex, dessen er nicht Herr werden konnte. »Nehmen Sie doch Platz, Herr Prinz von Sachsen«, hörte er Rotteck freundlich sagen, »oder wünschen Sie etwas?« Ludwig setzte sich, außer sich und beschämt. Ein töricht atavistischer Vorgang hatte sich in seinem Innern abgespielt: er sah sich selber geharnischt, als irgendeinen wettinischen Diedrich oder Thietmar, wie er sie aus Steigers Geschichtsstunden kannte, den schweren Zweihänder in Fäusten dort vorm Katheder stehen und seinen Meister decken gegen die Knechtsbande. »Ich träume schon so elendes Zeug wie das braune Gelichter selbst«, dachte er mit Ärger – da wurde mit einem Mal die Luft im Hörsaal unatembar. Dort hinten halb unterdrücktes Gescharr und Gekicher. »Stinkbomben«, sagte zu Ludwig sein Banknachbar; er sagte es vorwurfsvoll, als trüge der Prinz oder doch mindestens der Geheimrat die Schuld.

Rotteck unterbrach sich. »So habe ich mir Ihre Ausdünstung schon immer vorgestellt«, sprach er gelassen. Hämisches Gemecker antwortete. Einer der Wohlgesinnten in der ersten Bank stand zögernd auf, geduckt, um ein Fenster zu öffnen. Als er merkte, daß ihm nichts geschah, kehrte er hochaufgerichtet auf seinen Sitz zurück. Draußen wehte durchsonnte Mailuft, aber die Atmosphäre im Raum wurde kaum erträglicher. Man hörte Husten und Würgen, doch unterdrückt, denn die Gutgesinnten wünschten offenbar, über das unliebsame Geschehnis ohne Konflikt fortzukommen. Sie fühlten sich in der Minorität, obwohl sie zahlreicher waren. Denn hinter jenen dort stand der aufbrechende Geisteshaß einer ganzen wildgewordenen Philisterschaft.

Rotteck schob seine Papiere zusammen. »Die Herren werden ersucht, sich privat auszustinken«, sagte er abschließend, stieg vom Katheder und schritt zum Ausgang. Der Prinz von Sachsen ging ihm zur Seite und stieß die Tür vor ihm auf.

Vor dem Hauptportal im hellen Mittagslicht stand, von einer Leere umgeben, Susanna. In einem rostbraunen Kostüm, das ihre Gestalt modellierte, und einem rostbraunen flotten kleinen Hut mit einer ziemlich frechen roten Feder darauf, sah sie höchst verlockend und zugleich streitbar aus. Rotteck zog verwundert die Brauen hoch: es zählte nicht zu Susannas Gewohnheiten, ihn vom Kolleg abzuholen. Aber Ludwig kannte sehr wohl die Erklärung. Sie hielt ihn in Gegenwart einer Frau für geschützter.

Sie nahmen Rotteck in die Mitte. Er lächelte flüchtig. Im unerbittlichen Sonnenlicht sah er recht verfallen und alt aus. Gesprochen wurde nicht viel. Als Ludwig sich auf dem Landgrafenberg verabschiedete, hielt der Geheimrat seine Hand fest und sagte: »Wissen Sie, ich gehöre nicht zu den Leuten, die vom Kaffee bis zum Nachtschoppen Goethe zitieren. Eher im Gegenteil. Aber manchmal kann man nicht umhin. ›Wir Deutschen sind von gestern‹, hat der gesagt, ›es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe man von uns wird sagen können, es sei lange her, daß wir Barbaren gewesen.‹«

Dies war am 14. Mai. Am 16. erhielt Rotteck einen handbreiten, mit der Maschine beschriebenen Zettel, der ihm mitteilte, er sei vorläufig von seinem Lehramt suspendiert. Der Zettel kam aus dem Ministerium für Kultus und Unterricht. Irgendein Sekretär hatte unleserlich unterschrieben.

Am selben Abend saß man zu dritt im Arbeitszimmer der Villa. Es ging gegen neun. Ludwig legte den Zettel still auf den Tisch zurück. Die Schmiererei des Herrn Hoffedanz über Dürer fiel ihm ein, Rottecks beißende Antwort, die zu allem der Anlaß war, und seine ironische Sicherheit damals: schließlich bin ich Professor, Ehrendoktor, Ordenskomtur.

»Ich hätte mich zu schämen, wenn's anders gekommen wäre«, hörte er ihn jetzt sagen.

»Und was sind Ihre Ansichten, Herr Geheimrat? Was werden Sie in der nächsten Zukunft beginnen?«

Rotteck zuckte die Achseln. »Cultiver mon jardin, was sonst!« sagte er mit einer Geste nach seinem Schreibtisch. »Lang kann der Unfug ja doch nicht dauern.«

Ludwig schwieg. In diesem Augenblick krachten rings am Hause die Fensterscheiben. Nur hier im erleuchteten Arbeitszimmer war nichts geschehen.

Die beiden Männer stürzten hinaus. Im Garten war niemand mehr. Man sah eine letzte Gestalt sich über das Gitter schwingen, hörte Geräusch rennender Füße, und Gelächter, das sich entfernte.

Am nächsten Tag fand Haussuchung statt. Vier braungekleidete Burschen, womöglich dieselben, die gestern so heldisch gehaust hatten, durchstöberten planlos die Villa, vermutlich ohne selbst recht zu wissen, was sie suchten. Glücklicherweise standen sie unter Aufsicht zweier Leute von der regulären Polizei, älterer Männer, die sich ganz offenbar schämten.

Es geschah eigentlich nichts. Unordnung und Stiefelschmutz blieben zurück.

Aber unmittelbar nach dieser Aktion liefen den Rottecks beide Dienstboten davon. Es kam weder Brot noch Milch noch Fleisch mehr ins Haus. Als Susanna unten auf dem Viktualienmarkt einkaufte, wurde sie insultiert.

Ludwig wich beinahe nicht aus dem Haus. Er sah mit tiefem Erschrecken den Verfall in Rottecks Zustand: er sprach kaum mehr, es war wie eine fortschreitende Versteinerung. Endlich entschloß sich Ludwig zu reden.

»Es hilft nichts mehr«, sagte er, während er mit Susanna auf dem plattierten Gartensteig auf und ab schritt, »der Geheimrat muß fort. Nicht nur Glas geht in Trümmer, wenn Steine fliegen. Und übrigens gibt es auch Schußwaffen.«

Er wartete auf eine Antwort. Als die nicht kam, fuhr er fort: »Und wenn auch dies Schlimmste nicht – sie nehmen Mißliebigen einfach die Pässe weg. Dann sitzt er im Käfig.«

»Sie haben vollkommen recht, Ludwig. Fort – so schnell wie möglich! Hier geht er uns drauf.«

Ludwig blieb stehen. »Ich muß zudringlich sein und bitte um Verzeihung. Haben Sie Mittel, um draußen zu leben?«

»Unser Hauptbesitz ist das Haus. Was sonst da ist, habe ich abgehoben. Sie wurden schon aufmerksam in der Bank. Ich trage es bei mir.«

Sie machte eine Bewegung nach ihrer Brust. Ludwig sah hin und wurde blutrot dabei, was ihm lächerlich vorkam.

Sie lachte und zeigte die ganze leuchtende Reihe ihrer Zähne. Es war ein seltsames Lachen in dieser Lage, unbekümmert und aufreizend.

Sie sagte: »Ich werde es Ihnen anvertrauen, Ludwig. Aber erst laß ich den Beutel auskühlen. Sonst beeinträchtigt es die Klarheit Ihrer Entschlüsse.«

Er schluckte hinunter. »Meine Entschlüsse sind einfach. Wozu gibt es Diplomaten? Es geht unter Verschluß über die Grenze. Wird es denn reichen?

»Für zwei Jahre gewiß.«

Alle Vorbereitungen wurden ohne Rottecks Mitwirkung getroffen. Mit dem Verkauf der Villa betraute man die Agentur- und Speditionsfirma S. Lemberger und Sohn. In deren Speicher wurden auch das Mobiliar und die sechstausend Bände von Rottecks Bibliothek eingelagert, deklariert als Eigentum Ludwigs.

»Vielleicht hilft das was, wenn sie bei uns plündern«, sagte der alte Lemberger und betrachtete das große Pappschild mit dem stolzen Namen. »Ich weiß allerdings nicht, warum der Herr Geheimrat gerade mir die Ehre schenkt in dieser Zeit.«

»Aber ich weiß es, Herr Lemberger«, sagte Ludwig. »Bei Ihrer Firma ist man wenigstens sicher vor dem Inhaber selbst.«

Susanna packte, unterstützt von Ludwigs frischwangigem Diener. Gleichmütig, ohne nach Frauenart Unnützes zu beklagen, schied sie aus und ließ zurück. Zwei mächtige Kassetten enthielten Rottecks Studienmaterial und seine Manuskripte.

Man wollte mit dem Abendzug fort. Ludwig fuhr das Ehepaar mit seinem kleinen Auto zur Station. Ein hochbeladenes Taxi folgte.

Schon von weitem sahen sie die Eingänge zum Bahnhof besetzt. Es waren braune Trupps, untermischt mit Studierenden in Zivil; alle johlten. Auch auf dem Platz standen Gruppen umher. Man hatte von der Abreise Wind bekommen und versprach sich ein Fest.

Ludwig bog scharf nach rechts. Er beugte sich zum Wagen heraus und gab dem Taxichauffeur einen Wink.

»Was machen Sie denn«, fragte Rotteck und faßte von rückwärts nach seiner Schulter, »nur immer mutig heran!«

»Auf fremde Rechnung bin ich nicht mutig«, gab er zurück. Er hatte in voller Fahrt den Platz überquert, daß die Gruppen fluchend auseinander fuhren.

Es fing an zu dunkeln. Sie waren auf der Straße nach Gera. Auf halbem Wege mitten im Wald hatte das Taxi eine Reifenpanne. Man mußte Koffer und Kassetten abladen, um den Wagen zu heben. Es war spät am Abend und gewitterschwül, als man einfuhr. Im trüb erleuchteten Restaurant eines Hotels am Bahnhof, das »Victoria« hieß, ließ man sich nieder und nahm Tee. So viel war zu sagen, daß niemand ein Wort fand. Wie Rotteck seine Tasse zum Munde führte, zitterte ihm die Hand derart, daß der Trank überfloß.

Um 11 Uhr 40 ging ein Zug. Es war ein sogenannter gemischter Zug, bestehend aus Güterwagen und zwei Personenwaggons, in denen kaum Licht brannte. Viele Milchkannen wurden eingeladen.

Als die Minute der Abfahrt herankam, brach draußen das Gewitter los. Der Sturm heulte durch die kleine Halle. Das Donnerkrachen verschlang wohltätig die Abschiedsworte. Ludwig stand und winkte. Von Rotteck sah er nichts mehr. Aber Susanna beugte sich zum Fenster heraus. Eine starke Strähne ihres hellrotblonden Haares war aufgegangen und züngelte im Sturm wie ein Fanal.

Er fuhr langsam die nächtige Straße zurück. Das Unwetter war vorbei, und von Wiesen und Wäldern kam wundervoller Sommernachtsduft. Es war halb zwei, als er ankam und über den Eichplatz fuhr. Das marmorne Burschenschaftsdenkmal glänzte vor Nässe: der Student in der Tracht von vor hundert Jahren, mit Schwert und Fahne, Memento freiheitsmutiger Jugend.

Am anderen Mittag las er in der Lokalzeitung, daß Herr Werner Hoffedanz, 31 jährig, aber schon seit 1924 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, auf Rottecks erledigten Lehrstuhl berufen worden sei. – Zwei Tage später verließ er die Hochschule.

6

Im Ablauf der großen Französischen Revolution war der 10. August 1792 der eigentlich entscheidende Tag. Die Tuilerien wurden erstürmt, auf ihrer Treppe und in ihren Höfen fielen siebenhundert Mann der Garde und elfhundert Revolutionäre. Der König flüchtete sich und seine Familie in den Saal der Nationalversammlung. Nach einem runden Jahrtausend der Feudal- und Königsherrschaft war dieser 10. August der Geburtstag der Republik.

Jedoch ein paar Straßen abseits vom Schloß war alles wie immer. Die Kaufläden waren geöffnet, in den Restaurants wurde gespeist, in allen Spielhäusern amüsierte man sich, zur gewohnten Stunde wurden an den Theatern die Lampen angezündet, und die Leute warteten seelenruhig auf die Abendzeitung, um zu erfahren, was die Schießerei dort im Zentrum zu bedeuten gehabt habe.

So brauchte auch ein junger, wohlsituierter Mann, der sich im Sommer 1933 im Westen von Berlin einmietete, von den Ereignissen nicht viel wahrzunehmen. Von den geöffneten Restaurants allerdings besuchte er nur ein kleines, abgelegenes, in seiner unmittelbaren Nähe, denn in den anspruchsvolleren der Stadtmitte und des Westens machte sich der Troß der Volksbefreier breit, so daß der Aufenthalt sich verbot. Die Theaterrampen erhellten sich weder für ihn noch für sonst einen Menschen von Anspruch, da hinter ihnen nur hastig zusammengeschmierte Konjunkturdramatik geduldet wurde. Und auf die Abendzeitung wartete er ebenfalls nicht, da die kommandierte Presse kein wissenswertes Wort enthielt und er sich auf die ›Times‹ angewiesen sah, die nach zweitägiger Reise eintraf und über die deutschen Geschehnisse in Kleindruck und mit jener Gleichgültigkeit berichtete, die sie etwa den Zerwürfnissen in einer südamerikanischen Radaurepublik zu widmen pflegte.

Leute in Bern, Amsterdam oder Oslo waren über das deutsche »Erwachen« immerhin genauer unterrichtet als er. Er wußte das Allgemeinste.

Daß die volksbefreiende Partei ihre soziale Tätigkeit damit begann, den Arbeitern ihre in den Gewerkschaftskassen gesammelten Sparmillionen zu stehlen, erfuhr er als schlichte Tatsache.

Daß den gesetzlichen Strafrichtern, zu so viel Rechtsbeugung sie auch zitternd erbötig waren, vielfach ihre Funktion abgenommen wurde, erfuhr er. Aber kaum Einzelheiten über die Todesurteile und todbedeutenden Zuchthausstrafen, die ohne Anhörung von Zeugen oder Verteidigern das eingesetzte Parteigericht verhängte.

Daß selbst ohne solche Komödie in Polizeihäusern und Konzentrationslagern Zehntausende zusammengepfercht, durch Schmutz, Hitze und Hunger erledigt, Hunderte zerprügelt, erstickt, zu Tode gefoltert wurden, erreichte ihn als Gerücht; aber wie konnte man den Glauben daran festhalten in dieser Millionenstadt, in der Untergrundbahn, Post, Wasser- und Lichtversorgung so herkömmlich funktionierten.

Daß in einem neuartigen Rinnstein-Kauderwelsch gegen den jüdischen Teil der Bevölkerung eine Art Kreuzzug gepredigt wurde, war ihm bekannt; aber diesem Irrsinnsgewäsch zum Mord hetzender Analphabeten konnte man wohl einmal zehn Minuten lang zuhören, nicht länger, nicht wieder.

Gelegentlich war von Ausschreitungen die Rede, die sich in entfernteren Teilen der Riesensiedlung abspielten, aber es schien sich um rasch ablaufende Episoden zu handeln. Auf seinen Gängen zur staatlichen Bibliothek, wo es so ordentlich zuging wie eh und je, begegnete Ludwig uniformierten Rotten, die stumpf dahertrabten oder ihre Blutlieder gröhlten, und er wandte den Blick von ihnen und von ihrem Hakenkreuzlappen hinweg.

Einmal, es war am Kemperplatz, fand er sich durch eine Menschenansammlung aufgehalten, und als er zusah, war die Ursache der scharf bewehrte Mercedeswagen des Anführers. Die Leute jubelten. Eine kleinbürgerlich gekleidete Frau, herbestellt oder nicht, reichte dem Messias ihr dreijähriges Kind hin, und er legte dem Wesen mit einem lauen Grinsen die Hand auf den Kopf. Erneuter Jubel. Sie stauten sich. Ludwig konnte nicht weiter. Er sah ihn genau. Das da also war es! Das erweckte Glauben, Verehrung, Begeisterung, zitternde Hingabe, Schrecken. So sah Deutschlands Schicksal aus, womöglich Europas. So!

Das Haus, darin Ludwig sich eingemietet hatte, stand in dem noch nicht völlig bebauten, äußeren Teil des Hohenzollerndamm benannten Straßenzugs. Es war ein solides Gebäude mit einem ausgezeichneten, geräuschlos funktionierenden Lift, der ihn rasch zu seiner im obersten, dem sechsten Stockwerk gelegenen kleinen Wohnung hinauftrug. Sie bestand aus zwei viereckigen Vorderzimmern, deren Fenster über Tennisplätze und lückenhaft bebautes Terrain den Blick auf die Wipfel des Grunewalds freigaben, einem Dienerzimmer, dem Bad und der Küche. Er hatte einen Teil seiner Möbel hertransportiert, es waren wenige, meist altholländische Stücke, ererbt weiß Gott woher. Das Ganze wirkte ein bißchen leer und fast übermäßig ordentlich.

Für das Dienerzimmer hatte er, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, nun doch Verwendung, denn der säbelbeinige Imme hatte bei der Übersiedlung herzinnig darauf bestanden, ihn zu begleiten.

»Hoheit können unmöglich ohne Bedienung bleiben. Und da bin ich doch besser als irgendein Neuer, der erst angelernt werden muß.«

»Ich sage dir ja, eine Aufwartefrau genügt mir. Du verlierst nichts, Hermann. Geh zurück ins Schloß, und wenn das nicht, so schreibe ich dir ein Zeugnis, daß dich der Papst engagiert!«

Die runden blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Hoheit meinen, ich denke bloß an mich. Hoheit wissen ja gar nicht, wie ich an Hoheit hänge.«

Ludwig war jung und war leicht gerührt. Er machte noch einen schwachen Versuch.

»Persönlich vermissen werd ich dich auch. Aber praktisch? Höchstens wenn ich mir die Knöpfe selber ins Frackhemd stecken muß. Und es sind keine Frackzeiten.«

Es war ein Rückzugsgefecht. Hermann war natürlich mitgekommen. Auch die »Frackzeiten« waren nicht so völlig vorbei, wie Ludwig angenommen hatte. Einige Wochen zwar lebte er ziemlich einsam; aber dann stellte sich mit Häusern der Aristokratie in Berlin und Potsdam Verkehr her, und ebenso mit mehreren der alteingesessenen Familien, die das darstellten, was sie selbst halb stolz halb ironisch »la première juiverie« nannten.

Wundervolle Besitzungen in Dahlem und Wannsee. Erlesener, unaufdringlicher Reichtum an Dingen der Kunst. Ohne Prahlerei waren die frühen Aubussons hingebreitet, in unscheinbarer Ecke hing ein van der Goes, stand ein Cloisonné-Stück aus der Sung-Zeit. Ludwig bevorzugte eine Weile diese Häuser aus einer Art Trotz gegen die aufschießende germanische Narrheit, aber er hörte bald auf, sich hier wohl zu fühlen. Und zwar wurde ihm gerade die Stellung zu den Ereignissen fatal, die man hier einnahm. Man ignorierte sie. Man bagatellisierte, was geschah. Man legte den allerhöchsten Wert darauf, aus anderem Stoff zu sein als jene neuhergewanderten Juden, denen man östlich vom Alexanderplatz die Bärte abschnitt und den Hausierkram in die Gosse streute. Man saß hier im Ansehen seit hundertfünfzig, seit zweihundert Jahren. Man war Friedrichs des Großen Hofbankier gewesen, und Kaiser Friedrich der Dritte hatte einen geadelt. Der italienische Botschafter verkehrte im Haus. Man zitierte ohne Aufhebens Swinburne und Valéry. Gab es noch so etwas wie eine europäische Kultur hohen Stils, hier war sie zu finden. Wenn je einmal die Rede auf Herrn Hitler und seine Gewalttätigkeiten kam, so stellte sich heraus, daß man ihm leider so völlig Unrecht nicht geben konnte. Trugen etwa jüdische Literaten nicht wirklich Schuld an sehr vielem, jene ungezügelten Gesellen, die in radikalen Zeitschriften mit rotem oder grünem Umschlag ihr Gift verspritzt und aus ihren Sympathien für Moskau kein Hehl gemacht hatten? Langte nicht wirklich von dort her mit haariger Tatze das Chaos herüber, ganz bereit, alle Cloisonné-Vasen zu Staub zu zerquetschen, und richtete die neue Bewegung – ganz unter uns, Prinz, natürlich – nicht in der Tat einen Damm auf gegen dies Schrecknis? Ihre Anfangsformen freilich waren ungepflegt, aber das würde sich geben.

Wenn hier solch vertrauensvolle Hoffnung möglich war, wie erst in legitimierten Schichten! Was von der Industrie Gewinn zog, teilte sie, denn war nicht die Absicht der neuen Machthaber deutlich, den Ansprüchen des Handarbeiters endlich ein Ziel zu setzen und so die neue Prosperität heraufzuführen. Was vom Großgrundbesitz lebte, teilte sie, denn ihm zunutze hatte das siegende Hakenkreuz der Untersuchung über räuberisches Schmarotzen an den Reichskassen ein Ende gemacht. Die kleinen Leute natürlich teilten sie erst recht, Millionen des Mittelstands, kümmerlich lebend, aber vom Proletariat steif distanziert – denn aus ihrem Mehl war der neue Sultan gebacken, ihr Niveau war das seine, ihr Sonntagsdeutsch gröhlte er in das Mikrophon, auf ihren Schultern war er emporgeklettert. Und wenn Ludwig seinen seltenen Gesprächen mit Menschen aus dem wirklich arbeitenden Volk trauen durfte, so war man selbst hier gegen jene Illusionen nicht völlig immun, da man sich der altgewohnten Führer beraubt oder von ihnen verlassen sah.

Aber keinerlei Illusion, sondern ein sehr solides Wissen und Planen verschloß sich hinter dem gesammelten Lächeln der hohen Offiziere, mit denen sein Umgang ihn zusammenführte. Er hatte stets die Empfindung, daß mit diesen Herren höchst substantielle Gespräche zu führen wären; aber in ihren Zirkeln war man nicht redselig.

Angesichts solcher weitgreifenden Behexung kam er sich recht alleingelassen vor mit seinem ewigen Argument von Potempa. Wer wollte von dergleichen noch hören! Nichts wußte er von den Gruppen, die in anonymer Tiefe dachten, standhielten, haßten. Und Potempa hatte sich vertausendfacht. Der Mensch! Der Mensch wurde verneint und vernichtet, zertrampelt, zerschlagen, von einem öden, blindwütigen Bestialismus. Sein Argument war das gute. Es gab kein anderes. Unberaten, oder wo man ihm Gründe entgegenhielt fehlberaten, zog sich der Fünfundzwanzigjährige völlig in sich selber zurück. Er gehörte nirgends hin. Das ist wenig bequem. Aber man kann ein Mann dabei werden.

Er verbiß sich in Arbeit. »Cultiver mon jardin, was sonst«, hörte er seinen Meister sagen, und es existierte kein anderes Rezept. Die Entwicklung einer Kunst zu studieren, das war gewiß ein seltsames Beginnen in so trübe gischtender Zeit. Doch was wäre nicht seltsam gewesen. Welterkenntnis war ein Theben mit hundert Toren, und es blieb am Ende gleich, durch welches der Tore man eindrang. Die Arbeit über Goya den Portraitisten allerdings, zu der in seinen Mappen das Material aufgeschichtet lag, ging stockend voran, dann blieb sie liegen. Es fehlte Rottecks befeuernde Gegenwart, es fehlte auch der Antrieb, sich an einer der verunreinigten Hochschulen einen akademischen Grad zu erwerben, schon der Gedanke daran war lächerlich. Wem konnte es einfallen, einen Hörsaal zu betreten, wo man zu gewärtigen hatte, statt eines gelehrten Kenners irgendeinen Hoffedanz vom Pult zu vernehmen. Aber es bot sich ihm die gewaltige Literatur zur Geschichte der Künste, ein unüberblickbares Firmament, an dem, von Sandraart und Winckelmann über Jakob Burckhardt und Wölfflin bis zu seinem Rotteck, ein Heer von Sternen erster Ordnung erglänzte.

Mit System und Beharrung erzog er sich selber zum Sehen. Er verbrachte schweigsame Stunden, die hinflogen, in den Studierzimmern des Kupferstichkabinetts, es zog ihn im Museum immer wieder in die Seitenzimmer zu Schongauer, Altdorfer, Hans Baldung Grien, und in den 23. Saal zu Multscher und Landauer. Das also war einmal deutsch gewesen, dies heitere Frommsein, diese klare Wahrhaftigkeit, dieses zugleich liebreiche und wagemutige Anschauen der Realität.

Zu Rotteck, anders als er erwartet, liefen nur dünne Fäden. Der Vertriebene hatte sich in Prag festgesetzt. Eine Zeitlang schien Aussicht, dort einen Lehrstuhl für ihn freizumachen, erst war von einem Ordinariat die Rede, dann von einer außerordentlichen Professur, endlich wurde es still davon. Der günstige Wille der tschechischen Regierung war unverkennbar, aber die materiellen Hemmnisse ließen sich nicht überwinden. »Könnte ich Stiefel machen, Brillen schleifen, gebrochene Steißbeine flicken, dann wäre vielleicht Platz in der Welt für mich«, schrieb er an Ludwig, »aber wo braucht man einen Historiker des Portraits.« Er hatte unrecht. Auch die Schuhmacher, Brillenschleifer und Chirurgen irrten ohne Brot durch die Länder. Die Anstrengung der Geflüchteten stieß sich wund an zurückweichenden Mauern.

Es ging aus den immer kürzer werdenden Briefen aus Prag nicht deutlich hervor, wie die beiden dort lebten. Die Briefe schwiegen sich spröde aus. Dazu war auch äußerlich Anlaß, denn selten gelangte einer unzensuriert zu Ludwig. Ehe er ihn las, wusch er sich jedesmal die Hände und verbrannte den Umschlag, den die Tatzen der Hitlerpolizisten geöffnet und ihre Zungen bespeichelt hatten.

Was Rottecks kleines Vermögen betraf, so hatte er ohne viel Umstände Wort halten können. Unter diplomatischem Verschluß war die anvertraute Summe hinausgelangt. Bibliothek und Mobiliar lagerten weiterhin bei der Firma S. Lemberger. Man habe nicht Platz, um die Bücher aufzustellen, hieß es aus Prag. Das erweckte beklemmende Vorstellungen.

Daß er sich's selber nur eingestand: es war Susanna, um die er sich sorgte. Er war viel tiefer verwundet, als er gewußt hatte. Ihr Gang, ihr Haar, ihre Stimme blieben fast bedrohend lebendig. Einige Male stand von ihrer Hand ein kleines Postskriptum unter den Briefen, grammatikalisch nicht einwandfrei, was auf ihre fremde Herkunft zurückging, und in einer eigentümlich ungepflegten, nicht völlig reinlichen Kleinmädchenschrift, die seltsamerweise etwas Erregendes hatte.

Er lebte im übrigen nicht viel heiliger, als geradegewachsene junge Leute es in einer großen Stadt zu allen Zeiten gewohnt sind. Der Anbruch der neuen Ära hatte die weibliche Zurückhaltung nicht gefördert, im Gegenteil drang eine Ahnung hervor, daß man chaotischen Schrecknissen zutreibe und wohl daran tue, Abenteuer noch mitzunehmen.

Aber solche Beziehungen blieben ohne rechte Gestalt für Ludwig und versickerten bald. Eine einzige, die zu der kleinen Hertha Westphal, zog sich mehrere Monate fort, bis hinein in den Sommer 34.

Sie war die Tochter eines Funktionärs aus dem Bereich des Vizekanzleramts und war reizend. Ganz blond und hell, leicht wie ein Hauch, verspielt provokant und naiv. So weit es ihrer Natur gemäß war, liebte sie ihn. Aber die Freuden, die er selbst aus dieser Verbindung davontrug, waren recht flüchtiger Art, so sehr, daß es ihm aufs Gewissen fiel. War er etwa einer innigeren Zärtlichkeit gar nicht fähig? Er umging in sich selber die Antwort. Aber er kannte sie wohl.

Es war in einer Nacht spät im Juni, in Ludwigs Schlafzimmer. Sie klagte über einen sengenden Durst. Wein stand da. Aber sie wollte ein Glas oder am liebsten drei Gläser frischen kalten Wassers. Ganz leise, um den säbelbeinigen Imme nicht zu wecken, schlich Ludwig hinüber in die Küche und drehte an der Leitung den Hahn auf. Er wartete, damit das Wasser recht frisch würde. Durch das vorhanglose Geviert des Fensters kam der Morgen, es mochte halb fünf sein. Er öffnete, um die kühle Luft einzusaugen. Da sah er aus seinem hochgelegenen Ausguck auf ein Schauspiel, das ihn erstaunte.

Hier hinter dem Haus erstreckten sich weite Höfe und Plätze. Und zu dieser Stunde wurde hier exerziert. Es waren nicht Soldaten, die da einschwenkten und strammstanden, auch nicht Hitlersche Milizen. Es waren Hunderte von Schaffnern, ganz einfach Stadtbahnschaffner, er erkannte es an der Uniform, obgleich die im unsichern Morgenlicht eine gespenstische Farbe zeigte, eine Art schmutziges Lila. Soldatisch adjustierte Vorgesetzte kommandierten gedämpft. Vor ihrer langen Tagesfron, nach verkürztem Schlaf, hatten diese Verkehrsbeamten hier anzutreten, um militärischen Dienst zu tun.

Ludwig stand lange. Ein Begriff davon, daß so ein ganzes, um seinen Willen beschwindeltes Volk truppweise herangeholt und für ein nahes oder ferneres, recht finsteres Ziel gedrillt wurde, kam ihm. Er blickte auf die Hunderte von lila Figürchen, die von hier oben ganz spielzeughaft wirkten, und vergaß das Leitungswasser, das hinter ihm rauschte.

Als er endlich zurückkam, war Hertha ungeduldig geworden. Halb angekleidet saß sie auf dem Bettrand. Er präsentierte ihr Karaffe und Glas. Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Du siehst ja aus«, sagte sie, »als hättest du in deiner Küche den Teufel gesehen«

»So etwas Ähnliches«, gab er zur Antwort.

Er fuhr sie zu ihrer elterlichen Wohnung und kehrte zurück. Als er nach ein paar Stunden Schlaf unfrisch erwachte, lag auf seinem Nachttisch ein Telegramm, versehen mit dem roten Streifen, dringend befördert also. Er riß es auf. Das Hofmarschallamt beschied ihn nach Hause. Mit seinem Vater ging es zu Ende.

Gegen Abend langte er an. Von einer tödlichen Krankheit hatte er nichts gewußt. Zwar hatte bei seinen letzten Besuchen der Herzog sich wenig wohl gefühlt, hatte über rheumaartige Schmerzen im Rücken und im linken Arme geklagt, aber der Leibarzt Dr. Sittart, der die Angina pectoris lang erkannt hatte, hielt es für nutzlos, den Patienten oder die Söhne nach seinem Wissen zu unterrichten. Er sorgte für Linderung, mehr war ohnedies nicht zu erreichen.

Herzog Philipp lag in Bewußtlosigkeit, der durch narkotische Mittel nachgeholfen war. Das Gesicht war eingesunken, bläulich um Nasenwinkel und Mund. Eine alte Ursulinerin hantierte geräuschlos. Neben dem Sterbenden, auf einem Schemel, stand ein mit Samt ausgeschlagener Kasten, darin Münzen lagen. Die schöne Dekadrachme von Syrakus war auch dabei. Erst bei diesem Anblick kamen Ludwig die Tränen.

In der Nacht traf sein Bruder August ein. Sie begrüßten einander kalt. Es war ihr erstes Zusammentreffen – seit damals. Der Erbprinz steckte jetzt in einer schwarzen Uniform, die ihn besser kleidete als das ehemalige Braun. Statthalter war er nicht geworden, aber er bekleidete irgendwelche anderen gehobenen Funktionen, Ludwig hätte nicht angeben können, welche. Das Parfüm seines Bruders, Heliotrop jetzt und etwas weniger aufdringlich, vermischte sich seltsam mit dem Weihrauchduft, den der ölungspendende Priester hinterlassen hatte.

Herzog Philipp erlangte das Bewußtsein nicht wieder. Er starb gegen Morgen.

7

Kurz nach fünf Uhr an jenem Morgen ging Hertha leise die Treppe zur elterlichen Wohnung hinauf, leise öffnete sie, legte sich leise in ihr Bett. Sie schlief natürlich noch, als ihr Vater, Oberregierungsrat seinem Titel nach und dem Vizekanzler Papen attachiert, gegen zehn Uhr das Haus verließ, um sich in sein Bureau zu begeben. Auf diese Weise sah sie ihn niemals wieder. Denn er gehörte zu den Niegezählten, die an jenem Tage ermordet wurden. Besonders um den Vizekanzler herum wurde »kahlgeschossen«. Es war der Morgen des 30. Juni 1934.

Durch eine verständliche Fügung erfuhr Ludwig an diesem und an den folgenden Tagen nicht, was im Lande geschah. Kein Spritzer von dem schäumenden Blutbad erreichte das Camburger Schloß, es lag in diesen Tagen des funebren Zeremoniells in unerreichbarer Isolierung. Niemand sprach zu den Söhnen über die Geschehnisse; man hätte es nicht gewagt und glaubte sie im übrigen orientiert, besser als andere.

Allerdings fiel es Ludwig auf, wie gering die Zahl der auswärtigen Trauergäste war. Kein Vergleich mit dem Zustrom an verschollenen Fürstlichkeiten damals, als Anna Beatrix starb. Aber dies schien begreiflich. Die jungen Erben waren draußen fast unbekannt. Und außerdem mied, wer es vermochte, eine Reise in das tief verdächtige Deutschland.

So war es eine kleine, schattenhafte Trauergesellschaft, die sich in der Krypta zusammenfand, als Herzog Philipp neben seiner Gemahlin beigesetzt wurde, ganz nahe also auch er bei dem Sarkophag jenes Kaisers. Eine klare, sonderbare Erinnerung ging Ludwig durch die Gedanken. Und wie er sich seitwärts wandte, trafen seine Augen wirklich auf seinen einstigen Lehrer, der dort hinten irgendwo stand, von einem der plumpen, sechseckigen Stützpfeiler halb verdeckt. Aber als man die Kirche verließ und im blendenden Sonnenlicht zum Schloß hinüberging, war er verschwunden.

Am Abend waren die Brüder allein. Die paar Wettiner und Braganzas waren schon alle abgereist. Man hatte zu zweit ein frostiges Diner eingenommen und saß nun in jenem angrenzenden Salon mit den englischen Sesseln, von wo der Blick durch die offenen Fenster über die weiche Flußlandschaft ging. Der Kaffee wurde hereingebracht. Türen schlossen sich mit fernem Nachhall.

Ludwig rührte in seinem Trank. Hier hatte vor fünf Jahren, oder waren es sechs schon, der Frankfurter Antiquar dem Vater sein Geschenk übergeben, die Dekadrachme mit dem lieblichen Nymphenbild. Wie sehr hatte der Herzog sich damals gefreut. »Das ist generös, Wetzlar, ungewöhnlich reizend, ein ganz großes Vergnügen.« Ludwig hörte deutlich die Stimme, die jetzt auf immer schwieg, und spürte mit Unbehagen, daß sie ihn nicht bewegte. Ein schmaler Schatten trat vor den Vater. Dort neben dem Kamin hatte das Kind gesessen, auf dem hochlehnigen Holzstuhl, der immer noch an der gleichen Stelle stand, und Tränen waren ihr über das schmale Gesicht herabgeströmt. Sie mußte nun groß sein und schön. Er wußte gar nichts von ihr, hatte kaum einmal an sie gedacht. Wie mochte sie leben? Sie hatte wohl seither noch anderes über ihr unglückliches Volk gehört, als die Flegeleien des Bruders, der ihm hier gegenübersaß.

Der hatte eben begonnen zu reden. Allzu bequem zurückgelehnt in seinen tiefen Sessel, eines der uniformierten Beine über das andere geschlagen, ließ er sich sicheren Tones vernehmen.

»Um auch von der äußeren Gestaltung deines Lebens ein Wort zu sagen, so wird da Einschränkung nötig sein. Ich habe mich über den Stand der Finanzen orientiert. Ich bin wenig befriedigt.«

Dazu hat er heute Zeit und Laune gefunden, dachte Ludwig bei sich und blickte mit Widerstand auf das hübsche Gesicht.

»Du warst bis heute mit zweitausend Mark im Monat apanagiert. Ich habe die Materie mit Renthauptmann Grunsky durchgesprochen. Du wirst dich künftig mit zwölfhundert einrichten müssen.«

Er wartete. Ludwig reagierte nicht.

»Vielleicht läßt sich an eine neuerliche Erhöhung denken, wenn hier einmal liquidiert ist.«

»Was willst du denn hier liquidieren?«

»Alles totliegende Kapital. Vor allem diese ganz unnütze Sammlung in ihrem grünen Samt.«

»Ich hatte nicht angenommen, daß du am ersten Abend, an dem unser Vater in seinem Grabe liegt, an die Verschleuderung seines liebsten Eigentums denken würdest.«

»Von Verschleuderung kann nicht die Rede sein«, war die ganz sachliche Antwort. »Meine nahe Verbindung mit den obersten Amtsstellen wird den Ankauf durch den Staat mühelos möglich machen. Ich habe da vorgefühlt.«

»Hast du?« sagte Ludwig. »Vielleicht beim Herrn Propagandaminister persönlich. Gern stelle ich mir die kleinen griechischen Göttinnen zwischen diesen Fingern vor!«

Hierauf ging der neue Herzog nur indirekt ein. »Ich bemerke dir«, sagte er vornehm, »daß deine weitere Dotierung von deiner Haltung abhängig ist. Ich erwarte Loyalität. Für Krittler und Beiseitesteher ist im nationalsozialistischen Staate kein Raum. Man hat dergleichen zu lange geduldet. Du kannst annehmen, daß meine Entschlüsse unbrechbar sind.«

»Und du kannst annehmen«, sagte Ludwig und war aufgestanden, »daß ich deine so elegant angebotene Unterstützung nicht will. Laß deinen Renthauptmann Grunsky heraufkommen und teile ihm mit, daß du zwölfhundert Reichsmark erspart hast. Glorreicher erster Regierungsakt! Meinst du, ich lasse mir das Vergnügen abkaufen, dich und deinesgleichen aus Herzensgrund zu verachten.«

»Nach Belieben. Nur empfehle ich dir, das im stillsten Kämmerlein zu tun. Man hat ein Auge auf dich. Und es gibt noch andere Repressalien als bloßen Entzug der Existenzmittel. Laß dir's gesagt sein.«

Es war für Herzog August ein großer Moment. Er genoß ihn. So rosig hatte sein hübsches Gesicht selten geleuchtet.

Es pochte. Mit einer Geste, die Entschuldigung andeutete, ließ der Kammerdiener einen Menschen eintreten, der dieselbe schwarze Uniform trug wie der Herzog. Seine hohen Stiefel waren bestaubt. Offenbar war er soeben vom Motorrad gestiegen.

Der SS-Offizier hob flüchtig zum Gruß die Hand. »Befehl vom Führer!« meldete er und entnahm seiner Kuriertasche ein Schreiben. August riß es auf, mit einem stolzen Blick auf den Bruder, der schon in der Nähe der Tür stand.

Seine Züge veränderten sich, er wurde ganz weiß. Er stammelte: »Das ist wohl nicht möglich. Was soll das denn heißen?« Der Offizier antwortete nicht. August Herzog von Sachsen-Camburg war so erschüttert, daß er sich nicht länger mehr aufrecht hielt, seine Füße glitten fort unter ihm, er sank in den Sessel zurück, daß das alte Holz krachte.

Ludwig ging in sein Zimmer hinüber. Er wollte mit dem Nachtzug noch fort und fing an zu packen. Dann fiel ihm ein, daß dies nicht recht anging, und er läutete. Es erschien ein Lakai namens Haase, ein gebückter, freundlicher Greis, dem bei jedem Griff die Hände zitterten.

»Stellen Sie den Koffer doch auf den Tisch«, sagte Ludwig und ging zwischen Schrank und Badezimmer hin und her, um dem Alten die Gegenstände zuzureichen. »Wie geht's denn immer? Wie finden Sie sich ab mit den neuen, farbigen Zeiten?«

»Gott, Hoheit, wie soll's gehen. Mich werden sie ja wohl nicht mehr totschießen mit meinen achtundsechzig.«

»Nein, Haase, warum sollten sie auch.«

»Gründe haben die weiter nicht nötig. In den letzten Tagen war's ja wieder ganz schlimm.«

»So, was ist denn passiert?«

»Haben Hoheit denn nicht die Zeitung gelesen? Und was da drin steht, ist nicht mal der zehnte Teil, soviel weiß man.«

Nein, Ludwig hatte keine Zeitung gelesen. Seit mehreren Tagen nicht. Man schrieb heute den 3. Juli.

»Er hat doch den Hauptmann Röhm erschossen, Hoheit. Und manche sagen sogar, mit eigener Hand.«

Ludwig blieb stehen, Haarbürste und Kamm in der einen Hand, in der anderen den Schwammbeutel.

»Bitte noch einmal, Haase!«

Der Alte erzählte. Das meiste war vages Gerede. Aber eines blieb und stand fest: ohne Untersuchung und Spruch hatte dieser Führer und Reichskanzler seinen Paladin Ernst Röhm exekutieren lassen, den Organisator seines Parteiheers, Baumeister seiner Macht, den Mann der »unvergänglichen Dienste, für den er dem Schicksal so dankbar war«.

Es wurde Ludwig augenblicklich klar, daß Tod und Bestattung des Herzogs seinem Bruder das Leben gerettet hatten. Denn der hatte dem intimen Kreis des ermordeten Hauptmanns angehört.

Aber unmöglich konnte er wissen, wie haarscharf August der Pelotonkugel entgangen war.

Das Telegramm aus dem Camburger Schloß nämlich hatte ihn in Heidelberg erreicht, eben in Gesellschaft des Röhms, seines Stabes und seiner sonstigen Sippschaft. Die Herren befanden sich dort auf Urlaub, und sie genossen ihn auf ihre Weise, in einer Atmosphäre, in der Schmierstiefelgestank sich mit dem Gedüft männlicher Huren eigenartig vermischte. Bei Tage flanierte man breitspurig in den Straßen und tätigte so massenhafte Käufe an Puder und Schminke, daß in den Parfümerien die kleinen Verkäuferinnen sich anstießen. Nachts im Hotel wurde gezecht und gebrüllt, und die Champagnerflaschen flogen in Spiegel und Fenster. Es war ein derartig wüster Skandal, daß schließlich die Bürger drohten, das ganze Gelichter aus Heidelberg hinauszuprügeln. Daraufhin reiste man ab, nach dem bayrischen Süden.

Dem Erbprinzen wurde die Depesche des Camburger Hofmarschalls unmittelbar vor der Abfahrt überbracht. Mißmutig nahm er Abschied und fuhr nach Hause. So blieb er am Leben.

Zwar vermißten die Mörder ihn unter den Opfern. Aber die »Nacht der langen Messer« war nun einmal vorüber. Dem Führer und Reichskanzler wurde es Angst vor der Fülle seiner Taten. Es erging jener Befehl, bei dessen Empfang August so krachend in seinen Sessel gesunken war. Darin war verfügt, daß sich der neue Herzog als Gefangener in seinem Schloß zu halten habe. Ging alles gut, so vergaß man ihn da ... Er war ausgeschaltet aus jenem Blutkreislauf der Macht, an dem teilzuhaben er so gierig gewesen.

Ludwig sah ihn nicht mehr. Auf dem Bahnhof kaufte er Berliner Zeitungen und die paar Schweizer und englischen Blätter, die in diesen Tagen durch Nachlässigkeit der Konfiskation entgingen. Die ihm gewohnten ›Times‹ waren darunter.

Er blieb allein im Abteil. Und er las. Aus Dreiviertelslügen und kommandiertem Gewäsch auf dem deutschen Papier, aus Halbgewußtem, Halberratenem in der Presse von draußen, stieg ihm das Ungeheuerliche entgegen.

Was sich hier entladen hatte, war die natürliche Spannung zwischen den historischen Gewalten im Reiche und dem Parteiheer, auf dessen Schultern jener zur Höhe geklettert war. Diesen wimmelnden Landsknechtshaufen, von Röhm zusammengebacken, denen man die versprochene Alleinherrschaft vorenthielt, nachdem sie ihren Dienst geleistet.

Für Kanzler Hitler war der Moment bedenklich. Der uralte Reichspräsident lag im Sterben. War er tot, dann bedurfte Hitler zu seiner endgültigen Erhebung der Generäle. Aber die Generäle verlangten die Auflösung seiner Miliz, ihre teilweise Einordnung in die reguläre Armee. Sollte er das wagen? Sollte er, um ganz hoch zu steigen, zunächst das Postament zertrümmern, auf dem er jetzt stand?

Er zauderte. Er wußte nicht, was er wollte. Sich behaupten, das wollte er. Sich behaupten um jeden Preis. Im Frühjahr hat er die »nationale Revolution« ausgerufen, jetzt, drei Monate später, erklärt er sie für beendet. Und da er vor allem einmal »der Gefreite aus dem Weltkrieg« ist, den es vor den roten Streifen an einer Generalshose ehrfürchtig schauert, so verrät er schließlich »sein Werk« und den, der es für ihn getan hat, »seinen geliebten Freund Röhm«.

Er fliegt also bei Nacht über das viel duldende Deutschland, um dort im Süden den Ahnungslosen samt seinem Anhang zu fassen. Zur Exekution führt er seinen Propagandaminister und seinen Pressechef mit. Die Tat soll gleich an Ort und Stelle frisiert werden. Aus dem noch rauchenden Blut kochen die Handlanger ihre Lügensuppen.

Die für den Reichskanzler Meineide geschworen haben, gestohlen, geplündert, Menschenglück hekatombenweise vernichtet, sie werden zusammengeschossen, zusammengehauen in seinem Namen. Begangenes Verbrechen schützt sie nicht mehr.

Mordfreiheit herrscht. Die Unterführer machen sich selbständig. All das Gesindel, das in der Hefe eines Volkes von fünfundsechzig Millionen wimmelt, heut hat es seinen Jagdschein in der Tasche. Heut ist für jeden die Gelegenheit da, persönliche Rache zu kühlen. Man folgt seinem Trieb, man hat seinen Spaß und empfiehlt sich damit noch nach oben. Man arbeitet umsichtig. Es werden alle erlegt, die nach diesem »Führer« jemals zur Macht aufsteigen könnten; Sozialisten, Monarchisten, Katholiken, Protestanten, besser, es verbluten fünfzig zu viel als einer zu wenig. Manchmal natürlich gibt es Verwechslungen. Einer heißt Schmidt und ein andrer heißt Schmidt, sicherheitshalber exekutiert man sie beide.

Alle die Erschlagenen – sind's achthundert? sind es tausend? werden verbrannt. Niemand wird die entstellten Leichen mehr sehen.

Und dann stellt Reichskanzler Hitler sich hin und »übernimmt die Verantwortung«.

Jahrelang hat er das wüste Gehabe seiner Vertrautesten angeschaut, ihre Knabenschändungen, ihre tierische Völlerei. Nun gröhlt er über die warme Asche hin seine sittliche Entrüstung in eine ekelschauernde Welt. Aber der Ekel gilt ihm.

»Der deutsche Unrat stinkt in die Nüstern der Welt«, las Ludwig in den ruhigen ›Times‹.

Unordentlich häufte und bauschte sich um ihn das Zeitungspapier. Die Hände flogen ihm. Immer suchte er noch, es war ihm nicht genug Klarheit – obwohl es genug war. Da stieß, in einem deutschen Blatt, sein Blick auf Verse. Mechanisch haftete er an den kürzeren Zeilen. Es war eine Art Hymnus. Er lautete so:

Der Atem derer, die ihn sehen, lischt,
Die Erde, die vom Anmarsch bebte, schweigt.
Der Lärm hockt grau am Ende aller Welt.
Der Führer steht.
Der Führer hebt die Hand zum ewigen Gruß.
Es schlägt sein Herz im Herzschlag seines Volkes.
Er steigt, vom Wunder ganz umhüllt.
Des Führers Schreiten heute ist Gebet.

Ludwig stand hastig auf. Physische Übelkeit überkam ihn. Er riß das breite Fenster herunter und atmete die Nachtluft ein. Dann raffte er all das bedruckte Papier zu einem riesigen Ballen zusammen und warf den hinaus.

In diesem Land zu leben, war nicht mehr möglich. Morgen verließ er es –

Hinter seinem Rücken entstand Geräusch. Die Tür zum Abteil war geöffnet worden. Im offenen Eingang stand Otto Steiger, sein Lehrer.

8

Gretschels Weinhaus war ein solides Restaurant, in einer der Gassen hinter dem Altmarkt in Dresden gelegen. In seinen dunklen Ledersesseln tranken Rentner und gutgestellte Beamte einen würzigen Dämmerschoppen. Auch waren Herrn Gretschels Krebse unter diesen behaglichen Kennern berühmt. Er selber, beleibt, angenehm anzuschauen, und witzig beredt in seinem Heimatdialekt, bewegte sich umsichtig zwischen den Nischen und besorgte persönlich die Bedienung seiner ansehnlichsten Gäste. Politisiert wurde nicht. Aber keine braune oder schwarze Uniform war hier noch gesichtet worden. Man verstand sich innerhalb dieser Stammkundschaft, die einer anderen Zeit angehörte. Gretschels Weinstube war eine Insel des Friedens.

Es gab übrigens noch ein Hinterzimmer. Ein langer, dunkler Korridor, der zweimal im rechten Winkel abbog, führte dorthin. Der Raum war ganz klein, sein einziges Fenster ging auf einen Hof hinaus, der nicht viel mehr war als ein Luftschacht. Man mußte um Mittag hier Licht brennen. Aber dies Zimmer wurde selten benutzt. Herrn Gretschels Kellner, der erst vor vier Wochen bei ihm in Dienst getreten war, wußte vielleicht noch gar nicht, daß es existierte.

Heute abend war eine kleine Gesellschaft hier versammelt. Acht Herren saßen um den runden eichenen Tisch. Jeder von ihnen hatte ein grünliches Römerglas vor sich stehen. Aber das schien eine Formsache. Man trank kaum etwas. Es wurde auch wenig geraucht.

Es waren gut aussehende Leute. Die Mehrzahl von ihnen zeigte das gehaltene, etwas steife Betragen von gehobenen Beamten oder von Offizieren in Zivil. Mit zwei Ausnahmen waren sie jung.

Doktor Otto Steiger, der mit am Tische saß, war jetzt den Fünfzig nahe. Noch immer erschien er soigniert in seinem Äußeren, doch dieser Gepflegtheit sah man an, daß sie unter bedrängten Umständen festgehalten wurde. Sein schwarzer Anzug war peinlich sauber, aber er glänzte. Doktor Steigers sehr große, braune, etwas vorgewölbte Augen zeigten nicht mehr die Sanftheit seiner jungen Jahre, sie spiegelten in einer eigensinnigen, beinahe fanatischen Härte.

Wesentlich älter noch als er war Oberst Michael Bruckdorf. Unter Mittelgröße, fest, mit einem geröteten Gesicht, von dem Augenbrauen und gestutzter Schnurrbart sich watteweiß abhoben, war er aufgestanden und sprach mit einer leicht krähenden Befehlsstimme, die er nach wenigen Sätzen immer von neuem dämpfte.

Dazu war Anlaß. Es hatte seinen Sinn, daß die acht Herren sich in dem trübseligen, luft- und lichtarmen Hinterraum zusammengefunden hatten. Wenn das Wort Hochverrat in diesem Deutschland, unter dieser Regierung, noch einen Sinn hatte, so war Herrn Bruckdorfs Rede hochverräterisch im äußersten Grad.

Er gab ein Resumé. In Abschnitten, die durch seine knappen Gesten gleichsam graphisch markiert wurden, faßte er die Berichte seiner Vorredner zusammen.

Da waren die kirchlich gesinnten Protestanten im Land. Nicht länger schienen sie willens, der Ausbreitung eines neuen Heidentums tatenlos zuzuschauen, das die »Judenbibel« verwarf und Christi hohe Gestalt in die eines völkischen Häuptlings umfälschte. Von dem unter den Protestanten zur Empörung aufschwellenden Unmut hatte Herr von Unna überzeugend berichtet.

Ihrerseits hatten die Herren Herdegen und von der Unstrut über die vielleicht noch höher gestiegene Abwehrlust im katholischen Lager ihr Material bekanntgegeben – nur die Namen der sympathisierenden Bischöfe waren sie durch Handschlag verpflichtet, vorläufig geheimzuhalten.

Durch Ministerialassessor von Zednitz war man über den Frondegeist innerhalb der Beamtenschaft orientiert.

Und zuletzt hatte Bruckdorfs Kamerad Eisendecher, Hauptmann der Reichswehr, in seinem knappen Referat angedeutet, was nun der Oberst selbst genau zu belegen sich anschickte.

Vom »Stahlhelm« ging seine Rede, der ausgebreiteten Organisation alter Soldaten, von der ein dichtes Gestränge starker Fäden zur aktiven Reichswehr hinüberlief. Es waren Millionen von Männern.

Jeder am Tisch wußte bereits, wie dort die Stimmung war. Man hielt sich im Stahlhelm an die Traditionen des vergangenen Jahrhunderts gebunden, war betont und kämpferisch antirevolutionär, war deutsch in einem oft primitiven und engen Geiste. Gereizte, übersteigerte Vorstellungen von nationaler Würde dominierten auch dort. Jedes einzelne Mitglied empfand die Deutschland aufgezwungene Waffenlosigkeit als eine ihm persönlich angetane Schmach. Aber das waren eifersüchtig gehütete Vorstellungen und Ziele. Man wünschte diesen Schatz nicht zu teilen. Und ihn hatte nun ein Klüngel von Agitatoren sich angeeignet, hatte ein demagogisches Marktgeschrei daraus gemacht und sich unter diesem Zeichen in die Herrschaft emporgeschwatzt und emporgeschwindelt.

Die an ihr altes, ihr wieder zu errichtendes Deutschland glaubten, fühlten sich elend betrogen. Man war monarchistisch im Stahlhelm, man war religiös. Man hatte auch gar nichts übrig für den volksverführenden Rassenhumbug. Unter diesen ehemaligen Kämpfern waren ungezählte nicht rein »germanischen« Bluts. Sie alle auszustoßen war man gezwungen worden, man empfand das als einen unwürdigen Verrat am Gedanken der Kameradschaft. Gerade innerhalb der sächsischen Organisation, wenn Oberst Bruckdorf die Dinge richtig ansah, war dies Gefühl höchst lebendig.

Leider aber, leider – und hier dämpfte der weißbärtige Herr seine Stimme wieder zum Flüstern – erschien die oberste Leitung des Bundes durchaus nicht mehr zuverlässig. Diese Leitung zeigte sich zu Kompromissen geneigt, ja das Wort Kompromiß war beschönigend. Dort oben waren sie im Begriff, dem zu erliegen, was Herr Hitler seine Ideen nannte. Bereit schon oder beinahe bereit, den alten Kämpferbund aufzugeben. Eines Morgens konnte man vor Tatsachen stehen: vor der Tatsache der vollzogenen Auflösung. Der Oberst sah den Moment schon vor sich. Er las im Geist schon die Zeitungsartikel! Der Verrat würde verklebt und verkleistert werden mit schönen Worten von Einordnung und Totalität und erfüllter Aufgabe. Die obersten Bundesführer, zum Lohn für ihre Felonie, würden abgefunden werden mit Ministerposten und dicken Pfründen. Dann war das Bollwerk dahin. Aber noch stand es, das Bollwerk!

Der Oberst nahm einen Schluck aus seinem grünen Römer und fuhr dann fort:

»Für die Bereitschaft der Kameraden in Sachsen kann ich einstehen. Widerstand seitens der hiesigen Reichswehr ist nicht zu fürchten. Unsere Vorbereitung ist weit gediehn. Noch sind wir im Besitz unserer Waffen. Die letzte Gelegenheit ist da, aus unserm engen Vaterlande her das Zeichen zu geben, von Sachsen aus das volkzerstörende, mit Morden belastete Gewaltregiment aufzurollen. Es kann geschehen, es muß geschehen, aber es muß bald geschehen.«

Er straffte seine kurze Gestalt, blickte nach einer bestimmten Stelle des Tisches, neigte ein wenig den Kopf und begann, in anderer Stimmlage, gewissermaßen von neuem: »Hoheit, gnädigster Prinz –«

Denn dort saß Ludwig. Mit verschlossenen Zügen hatte er während der Rede Bruckdorfs auf eine Stelle der Tischplatte niedergeschaut, seine Augen hatten sich dort festgesehen, sie zeigten einen entrückten und grübelnden Ausdruck. Er hörte manches nur wie von fern, manches gar nicht, es waren ja auch vielfach Dinge, die jeder in dieser Runde auswendig wußte, und nur des Nachdrucks halber, gleichsam um seinen Vorschlägen ein Sprungbrett zu geben, hatte der alte Offizier alles noch einmal ausgebreitet. Ludwig saß wie in einem leichten Fieber. Das Gefühl von etwas Unwirklichem, Traumhaftem, hatte ihn in den letzten Monaten kaum verlassen. War in der Tat er, Ludwig von Camburg, zum Mittelpunkt und Sinn dieser Gewaltpläne ausersehen, die da vor der Verwirklichung stehen sollten?

Sein Lehrer Steiger glaubte damals den Moment gut gewählt, um ihn zu gewinnen. Die Junimorde, die plötzlich taghell beleuchtete, wüste Bedenkenlosigkeit des Regimes, mußten, so rechnete er, diese empfindende, leidenschaftliche Seele bereit gemacht haben. Da das grausig Phantastische in diesem Lande geschah, was sollte ferner unausführbar erscheinen! War es nicht endlich geboten und ganz natürlich, einen Abkömmling aus tausend Jahre lang souveränem Haus der nie erhörten, blutigen Anmaßung entgegenzustellen? Steiger fragte ihn das. Seine alten Träume von einem Volksfürsten aus sächsischem Stamm erhielten im Licht der unwahrscheinlichen Ereignisse einen Lebensschimmer von Möglichkeit.

Dennoch war Ludwigs erste Reaktion eine solche der Abweisung, fast des Hohnes gewesen. Ja er, ein noch nicht dreißigjähriges Prinzchen, mit einem unvollendeten Portraitkatalog als Lebensleistung, er war wahrhaftig der Mann, um diese Sintflut von Blut in ihre Dämme zu weisen. Da gab es wohl andere!

Die gab es eben nicht, war die Antwort. Beschämend genug und tief niederdrückend. Nicht einer aus diesen einst hochgebietenden Geschlechtern, deren Namen als Inbegriff einer besseren Vergangenheit dem Volk im Herzen nachklangen, nicht einer war aufgestanden und hatte ein freies Wort gewagt. Sie schienen alles ganz natürlich zu finden. Sie sahen zu, wie da einer mit der Pfiffigkeit des geborenen Bauernfängers erfolgreich alle schmählichen Instinkte aufrief, die auf dem Seelengrund einer Volksmasse schwelen: jede Unsicherheit, jede Dumpfheit, jeden Neid, jede Feigheit, jedes böse Gewissen. Wie alles Großartige und Freie aus dem öffentlichen Leben der Nation, aus ihrer Sichtbarkeit verschwand, und wo es nicht gleich verschwinden wollte, ausgetreten wurde vom Stiefelabsatz des Geheimpolizisten. Wie vom Federstrich einer Klippschüler-Handschrift die deutschen Länder weggelöscht wurden, die die historischen Namen der alten Teilmonarchien trugen. Wie die Partei des Zauberkünstlers, deren Ziel und Sinn weder er noch sonst irgendein Mensch mit klaren Worten zu nennen wußte, als ein saugender Schwamm sich über den weiten Volkskörper legte. Wie vom Schmarotzertum ihrer hunderttausend Funktionäre die öffentlichen Schulden ins Unerrechenbare aufschnellten, da niemand mehr da war, der Halt gebot. Ja, dem allen sahen jene einst gebietenden Herren tatenlos zu.

Schlimmer noch, es gab Mitglieder ihrer Familien, die sich beflissen an den zum Abgrund rasenden Wagen anhängten! Mußte einem Menschen wie Ludwigs Bruder August – denn Steiger nannte Personen wie Dinge bei Namen – nicht die Schamröte aufsteigen, wenn er davon las, wie Männer aus dem Volk, Proletarier, Enterbte, ihr Leben in die Schanze schlugen, wie sie namenlos opferten, namenlos hingefoltert wurden im Dunkeln, diese »Marxisten«, diese »Bolschewiken«. Alle die nämlich, denen es nicht gleichgültig oder erwünscht war, daß in diesem Deutschland erpreßt und geraubt wurde an allen Ecken. Deren Herz nicht stumpf genug war, jene Tausende zu vergessen, die bereits hinter elektrisch geladenem Stacheldraht tägliche Qualen litten. Nein, nicht das ganze Volk war vergeßlich. Nicht das ganze Volk unterwarf sich so freudig wie sein einst regierender hoher Adel der Recht- und Ruchlosigkeit. Ein furchtbares Maß von Wut und Haß war aufgespeichert. Es gab ein anderes Deutschland – Steiger wurde nicht müde, das zu wiederholen. Die in den Militärbünden vereinigten Männer, sie vor allem, waren bereit. Sehnsüchtig schauten sie aus nach dem, der vorangehen würde. Nach einem, den sein Name und sein Sinn wahrhaftig legitimierten. Der Tag war nah, er war da, für einen Volksfürsten aus altem Blut.

Ludwigs Skepsis schwand nie ganz dahin unter der heißen Beredsamkeit seines Lehrers. Wahrscheinlich hatte es noch keine Stunde gegeben, da er wirklich im Innersten vertraute. Aber was unermüdlich wiederholt, unerschöpflich abgewandelt und ausgemalt wird, verliert endlich das Gesicht des völlig Phantastischen. Steiger hatte ja recht: was er da wollte und betrieb, war längst so absurd nicht, als was diesem Volke geschehen war und täglich geschah. Und als seine Pläne dann Gestalt annahmen, sich gleichsam verengten, als handelnde Personen, Örtlichkeiten, Daten hervortraten, da erschien das Unternehmen Ludwig schon beinahe vertraut.

Sachsen war zunächst das Ziel. Sachsen, dessen Namen er trug. Fürst von Sachsen und Thüringen – der Titel war ihm vererbt. Alle würden sie ihm zufallen, die in einer Monarchie die Rettung vor Lüge, Gewalt und Ruin erblickten. Aber Sachsen war nur der Anfang. Steiger sah weiter.

Arm, mit einem Koffer als einziger Habe, war er in jener Julinacht nach Berlin gefahren, vorsätzlich im gleichen Zug wie Ludwig, ein entlassener Gymnasialprofessor. Es blieb ganz unklar, wovon er lebte, wovon er seine Reisen bestritt. Denn er war in den Monaten, die folgten, unablässig unterwegs zwischen der Reichshauptstadt, Dresden und den Städten der Provinz. Seine zwei Anzüge wurden immer schäbiger, sein Aussehen asketischer. Eine Beihilfe anzunehmen, war er nicht zu bewegen. Er benötigte nichts, hieß seine ständige Antwort, er brauche nur eines: Ludwigs Glauben. Es dauerte lang, ehe er ihn auch nur Blicke tun ließ auf das Gewebe, an dem er spann. Im Frühjahr 1935 führte er ihm die ersten Verbündeten zu, umsichtig ausgewählte Männer, von Adel zumeist, übrigens nur der Minderzahl nach aus dem sächsischen. Ein einziger von ihnen war Ludwig bekannt: jener Jurist von Zednitz, ehrgeizig, ziemlich hochmütig, schweigsam, mit dem er auf der Hochschule zusammengetroffen war.

In Ludwigs Berliner Wohnung fand die erste Zusammenkunft statt. Die Herren von Eisendecher, von Unna, Herdegen, von der Unstrut, zuletzt Oberst Bruckdorf, kamen, völlig bereit schon, den Prinzen zu akzeptieren. Sie fanden Steigers schwärmerische Schilderung bestätigt – sie hätten sie wohl in jedem Fall bestätigt gefunden. Und sie behandelten Ludwig vom ersten Augenblick an als den künftigen Souverän, der mit Einzelheiten nicht zu behelligen ist und der im gegebenen Moment hervortreten wird wie der Gott aus der Wolke.

Die Herren kamen einzeln vor dem Haus am Hohenzollerndamm an, fuhren einzeln mit dem geräuschlosen Lift zum sechsten Stockwerk hinauf, wurden einzeln von dem apfelwangigen Imme in das Wohnzimmer mit den holländischen Möbeln geleitet. Ludwig hatte überlegt, ob er an diesem Tage dem Diener nicht besser Ausgang geben sollte, aber Steiger vertrat die Meinung, dies müsse dem Treuen nur auffallen. Man traf sich dreimal in Ludwigs Wohnung. An diesen drei Abenden saß Imme drüben in seiner Kammer.

Der eigentliche Treffpunkt der Gruppe jedoch befand sich in Dresden, eben hier in Herrn Gretschels licht- und luftarmem Hinterzimmer. Zum ersten Male war Ludwig heute hierher gereist. Benommen, erhitzt, tief befangen, lauschte er den Erklärungen des weißbärtigen Offiziers. Eben ging der von seinen Prämissen zur nächsten, der praktischen Zukunft über:

»Hoheit, gnädigster Prinz –«

In der Nacht vom 24. zum 25. Dezember, der Christnacht, werde man handeln. In genau sieben Wochen also. Auf diesen Zeitpunkt sei die Wahl gefallen weil man da erwarten dürfe, ohne Blutvergießen ans Ziel zu kommen. Niemand, auch Hitlers mißtrauischste Handlanger nicht, versähen sich während hoher Festtage einer Gefahr. Das Gros der Milizen werde auf Urlaub sein, fast alle zivilen und militärischen Befehlsstellen außer Funktion. Dies gelte besonders – Bruckdorf wendete hier seinen Blick auf Hauptmann von Eisendecher und lächelte ein wenig – von den lokalen Kommandeuren der Reichswehr. Man werde in den Kasernen nur schwache Kontingente vorfinden. Die Ministerien zu besetzen, die Bahnhöfe, die Telegraphenämter, das Funkhaus, sei Kinderspiel. Alles werde ohne viel Aufhebens vor sich gehen. Da zwei, eigentlich drei Tage lang Zeitungen nicht erschienen, werde erst Freitag, den 27., nachmittags die Bevölkerung von dem Umschwung volle Kenntnis erlangen. Daß er als eine Erlösung begrüßt werden würde, stehe ganz außer Zweifel. Inzwischen aber, im Besitz aller Verkehrsmittel, habe man Zeit gehabt, mit den Kameraden im Reich in Verbindung zu treten. Mit einem augenblicklichen Aufflammen vielerorts, in Hessen, in Bayern, in katholischen Teilen Preußens, sei zu rechnen. Sachsen aber gehe voraus, es gebe das Beispiel, ein sächsischer Herzog trage die Reichssturmfahne voran einem von Usurpation, Druck, Lüge und Verbrechen erlösten Deutschland!

Er setzte sich, verlegen und selber erschüttert. Sein Gesicht war purpurn, er räusperte sich lange und rauh. Aller Augen richteten sich langsam auf Ludwig.

Ludwig wollte aufstehen, dann unterließ er es, aus Scham vor der feierlichen Geste. Er holte tief Atem, sah flüchtig seinen Lehrer Steiger an und sagte mit einer ausgetrockneten, bleichen Stimme, die ganz der seiner verstorbenen Mutter Anna Beatrix glich:

»Was Oberst Bruckdorf vorgetragen hat, ist das Ergebnis langer Vorbereitungen. Ich kann nichts anderes tun als dies Resultat annehmen. Sie haben mir Ihre Hoffnungen zugewendet, haben mir in Ihrer Unternehmung die sichtbarste Stelle zugewiesen. Das verdanke ich ganz allein dem Namen, den ich trage, und dem Vertrauen, um das mein einstiger Erzieher für mich geworben hat. Ihm, meine Herren, haben Sie geglaubt. Ich bin ein junger Mensch, ohne Erfahrung und notwendigerweise ohne Leistung. Aber ich teile mit Ihnen das Gefühl für die Untragbarkeit des jetzigen Zustands. Mit Ihnen glaube ich, daß die Menschen, die jetzt über unser Land verfügen, es entwürdigen, sein Herz und seinen Geist zerstören und es zur allgemeinen Gefahr machen. Ich bin heute nur eine Figur in Ihren Händen und kann nicht wissen, ob ich jemals mehr sein werde. Niemand kennt seine eigenen Kräfte, am wenigsten ein noch unfertiger Mensch. Wenn Ihr Plan glückt, und es erweist sich, daß diese Kräfte nicht ausreichen, so werde ich meinen Platz gern einem Fähigeren lassen. Das ist ein Versprechen. Und noch ein zweites Versprechen kann ich geben. Sie alle setzen Ihre Existenz und Ihr Leben aufs Spiel. Das will ich auch. Das Blut, das in mir fließt und dem Sie vertrauen, will ich gern hingeben. Es wird kein Opfer sein, wenn es geschehen muß. Denn so wie in diesem Lande das Leben geworden ist, lohnt es nicht mehr. Sie wollen, und auch ich will, daß es wieder lohnt. Wenn es mir gegeben wäre, zu beten, so würde ich für Sie beten, und dafür, daß Ihr Mut und Ihr Glaube gekrönt werden.«

Er hatte bei seinem letzten Satz die Stimme nicht sinken lassen. So wußten die anderen erst nicht, ob er zu Ende gesprochen habe. Es entstand eine befangene, schwere Stille. Man hörte nur den herzkranken Herrn von der Unstrut einmal tief aufseufzen. Da geschah ein donnernder Schlag gegen die Tür. Alle standen sie aufrecht. Die unter ihnen, die Soldaten gewesen waren, blickten einander an; ihr Ohr unterschied den Gewehrkolben. »Öffnen!« gebot eine gemessene Stimme. Neue Kolbenstöße folgten. Die Tür wankte schon.

Steiger hatte Ludwig um die Schulter gefaßt, er zog ihn zum Fenster. Er riß es auf. Sein verstümmelter Arm deutete durch den Hof auf ein Tor. »Am Postplatz stehen Taxis. Sie fahren zur Grenze, nicht Richtung Altenberg – Richtung Freiberg-Teplitz! Sagen Sie dem Chauffeur, wer Sie sind!«

»Aber Steiger!« sagte Ludwig ganz leise.

Ihm war, als hätte er den Vorgang vorausgewußt, ganz so, wie er sich abspielte. Alle blickten auf ihn. Mit genierten Schritten ging er zur Tür. Bruckdorf und Eisendecher drängten sich vor ihn. Er sah, daß Eisendecher bewaffnet war.

Zum ersten und letzten Mal lag es ihm ob, zu befehlen. »Stecken Sie das ein – bitte«, sagte er. »Es werden viele sein. Wo Leben ist, ist noch Hoffnung.« Die Türfüllung splitterte. Ludwig schob den Riegel zurück.

Ins Zimmer blinkten die Läufe von vier Gewehren. Dahinter Revolvermündungen, genug, um eine Kompanie zu erledigen. Man erkannte im unsichern Licht die schwarzen Uniformen der SS. Der Anführer, hoch und breit gewachsen, Totenkopf an der Mütze, trat herein. Er hielt in seiner linken Hand einen Zettel.

»Sie verlassen zu zweien den Raum«, sagte er beinahe höflich. »Unter der Tür werden Sie nach Waffen durchsucht. Bei Widerstand Kopfschuß. Sie werden paarweise transportiert. Die ersten sind Ludwig von Sachsen und« – er blickte auf sein Papier – »und von Zednitz.«

Steiger stürzte zu Ludwig heran, ergriff seine Hand und drückte sie mit Heftigkeit an die Lippen. Der Offizier ließ es ruhig geschehen. »Bitte jetzt!« sagte er nur.

Als Ludwig und Zednitz um die zweite Ecke des Korridors bogen, sahen sie an der Wand wie ein Paket Herrn Gretschel liegen, mit dem Gesicht nach unten. Ludwig wollte stehenbleiben, aber das wurde nicht geduldet.

Im Auto saßen bereits zwei SS-Männer, Revolver in Fäusten. Sie stiegen ein. Man fuhr unterm Schloßbogen durch, an der Hofkirche vorbei, über die Augustbrücke zur Neustadt.

9

Das Gebäude, vor dem sie hielten, wirkte wie eine Schule. An seiner riesigen Front waren die vorhanglosen Fenster allesamt hell erleuchtet, vom Parterre bis unter das Dach. Man war zum Empfang bereit. Man verbarg sich hier nicht. Nackt und frech und im vollen Licht residierte hier die Gewalt.

Die Begleiter verschwanden im Haus. Von Soldaten umstellt, hatten die Gefangenen im Regen zu warten. Ludwig las überm Portal einen griechischen Spruch: Ho me dareis anthropos u paideuetai, und wunderte sich, daß er's noch übersetzen konnte. Die Inschrift war eigentlich der neuen Bestimmung des Gebäudes noch besser angepaßt als seiner früheren. Er bemerkte etwas dergleichen zu Zednitz. »Stramm angefaßt« werde man ja wohl werden.

»Maul halten!« fuhr man ihn an. Von drinnen kam ein Zeichen, und man führte Zednitz ins Haus.

Ein zweites Auto hielt. Aber Ludwig blieb keine Zeit, sich zu vergewissern, wer nun anlangte. Bewaffnete eskortierten ihn zum zweiten Stockwerk hinauf. Eine breite Tür, der Treppe gerade gegenüber, wurde vor ihm geöffnet.

Inmitten des saalartigen Raumes saß ein junger Mann hinter einem Schreibtisch, auf dem keinerlei Arbeitsmaterial zu sehen war. Er trug die schwarze Uniform mit silbernen Abzeichen und eine Doppelschnur von der linken Schulter über die Brust. Sein helles Gesicht unter spiegelnd blondem Haar, das sonst hätte schön heißen müssen, war auf eine abstoßende Art entstellt: der linke Nasenflügel zeigte sich bis hoch hinauf zackig zerfressen. Es war beinahe unmöglich, den Blick von dieser Nase abzuwenden.

Mehrere Schreiber waren im Zimmer verteilt. Auch die Eskorte blieb. Neben dem leeren Schreibtisch hatte man ein Grammophon aufgestellt.

»Nehmen Sie Platz«, sagte der Uniformierte. »Schlechtes Wetter plötzlich. Zigarette? Abtreten alle«, sagte er dann vornehm ins Leere hinein. »Sie bleiben, Wisotzky!«

Er setzte sich behaglich zurecht, als die Tür sich geschlossen hatte.

»Dies soll kein Verhör sein, Prinz von Sachsen. Wir brauchen keins. Es ist über Sie schon verfügt, seit längerer Zeit schon.«

»So«, sagte Ludwig auf seinem Strohstuhl.

»Wir ließen Sie so im Netze zappeln, wissen Sie. Wir dachten, der Kreis Ihrer Paladine würde sich noch erweitern. Aber es waren immer die gleichen Getreuen. Na, da haben wir heute mal zugegriffen«, schloß er faul.

»Nun«, sagte Ludwig, »da Sie nichts von mir wissen wollen ...«

»Ach, wir wollen schon. Wir wüßten zum Beispiel gern, mit welchen Stellen der Reichswehr Ihr Oberst Bruckdorf Verbindung gehalten hat. Wollen Sie uns das mitteilen?«

»Könnte ich nicht. Ich weiß nichts davon.«

»Natürlich. Und auch die Namen der Bischöfe und sonstigen O-ber-hirten kennen Sie nicht, mit denen die Paladine Herdegen und von der Unstrut konspiriert haben?«

»Ebensowenig. Ich versichere, daß ich keine Ahnung habe.«

»Aha«, sagte der andere. »Ja also, das wäre das. Volkskönig war ja wohl die Bezeichnung?« fragte er dann ohne Übergang, »Volkskönig. War das mehr so eine private Benennung oder sollte es Ihr offizieller Titel sein?«

Ludwig runzelte die Brauen. Wie kam das Gesindel zu solchen Einzelheiten? Sein guter Steiger – er erinnerte sich – hatte das schallende Wort wohl einmal gebraucht, unter verlegenem Schweigen der andern. Aber wieso wußte man hier, was in seiner Berliner Wohnung vor Monaten flüchtig ausgesprochen worden war –

»Im ganzen waren Sie wohl mehr auf Herzog abgestellt, was?«

Wie so etwas redet! dachte Ludwig angewidert. Auf Herzog abgestellt. Wirklich zum Speien.

Er sagte: »Sie werden selbst den Eindruck haben, daß diese Unterredung hier gar keinen Zweck hat. Ich nehme an, daß man mich erschießen wird. Wie ist das?«

»Seien Sie doch nicht so neugierig, Prinz«, hieß es jovial, »das erfahren Sie ja alles noch. Aber es wäre nützlich für Sie, sehr nützlich, wenn Sie mir eine Frage beantworten wollten: wer hat denn nun den janzen jottvollen Plan ausjeheckt?« Er sagte ›jottvoll‹, obwohl er im übrigen nicht berlinerte.

»Diese Frage will ich beantworten«, sagte Ludwig. Es kam viel zu prompt, um glaubwürdig zu wirken. »Der Plan ist von mir ausgegangen. Die heute verhafteten Herren haben sich durch mich überzeugen lassen, aus Anhänglichkeit an eine früher regierende Familie.«

»Aha.«

»Und ich bedaure es heute, ja ich bedaure es aufs tiefste, daß ich gute, redliche Männer in ein aussichtsloses Unternehmen verstrickt habe. Das können Sie aufschreiben«, sagte er zu dem Schreiber hinüber.

»Der schreibt sowieso schon alles auf. Das ist ja alles jottvoll, tatsächlich jottvoll. Also Sie waren der teuflische Verführer, und die andern sind so hinterherjetrampelt. Hören Sie gern mal ein bißchen Grammophon? Legen Sie Platte drei auf. Wisotzky!«

Wisotzky, ein albinohafter Hüne, tat nach Befehl. Kratzend setzte die Nadel an.

Eine Männerstimme wurde hörbar, stockend zuerst und zögernd, dann in bequemerem Fluß. Ehe Ludwig noch unterscheiden konnte, wer da sprach, erhoben sich andere Stimmen und redeten durcheinander. Hierauf blieb die erste wieder allein zurück. Es war Unna, der sprach. Als er abbrach, entstand eine Pause, die Nadel kratzte vernehmlich, und dann hörte Ludwig sich selbst etwas sagen.

Er sah sich am Tische sitzen dabei in seinem Berliner Wohnzimmer. Oben an der Schmalseite saß er, vom Fenster abgewendet, in dem Armstuhl mit dem oranischen Wappen. Die Geheime Staatspolizei also hatte von den Zusammenkünften gewußt, und hatte, was da geäußert wurde, phonographisch festgehalten. Es war bekannt, daß dergleichen geschah. Der Vorgang war einfach. Irgendwo im Raum wurde ein Mikrophon eingebaut, und mit einem Griff machte ein Vertrauensmann es aufnahmebereit. Ein Vertrauensmann – wer denn? Es konnte nur Imme gewesen sein, Hermann Imme, der Säbelbeinige, mit den runden, blauen Augen im Apfelgesicht. So also sah Verrat aus. Monat um Monat hatte der ihm die Kleider zurechtgelegt, und Pyramidon auf den Nachttisch bei Föhnwetter, hatte den Atem angehalten beim geringsten Wunsch seines Herrn, und wenn er Mittwoch Ausgang hatte, war er zur Staatspolizei gewandert und hatte seine Rente behoben. So sah das aus. Jetzt sprach, von der Rückseite der Platte drei, Oberst Bruckdorf, militärisch deutlich, recht laut. Es war eitel Hochverrat, was er redete.

Ludwig blickte den Menschen hinter dem Schreibtisch an. Der schien sich köstlich zu unterhalten. Sein zerfressener Nasenflügel zuckte vor Vergnügen.

»Ja also, Prinz«, bemerkte er freudig, »das sind so unsere kleinen technischen Wunder. Ganz überzeugend, wie? Aber das ist noch jarnischt«, fuhr er in seinem unglaubwürdigen Berlinisch fort, »ieberhaupt noch jarnischt is das.«

Ludwig unterbrach ihn. »An der Richtigkeit meiner Aussage ändern diese Aufnahmen nichts. Darum bleibt es nicht weniger wahr, daß die Initiative von mir kam.«

Der andere winkte müde mit der Hand. Er gab seinen Zügen einen Ausdruck von Langeweile und Ekel. »Geschenkt«, sagte er nur. Das hieß: kennen wir alles, haben wir alles gehabt – Anstand, Kameradschaft, Edelsinn, Großmut, interessiert uns alles nicht im geringsten, Staubkörnchen in unsrer Maschine, die weitermalmt.

Er nahm den Telephonhörer ab und drückte einen Knopf nieder: »Truppführer Lankwitz!«

Truppführer Lankwitz kam und warf mit Elan den Arm nach vorn.

»Sagen Sie mal, Lankwitz, ist Zimmer 14 bereit?«

»Zu Befehl, Herr Obersturmbannführer.«

»Alles nett und komfortabel? Gute Kissen im Bett?«

»Befehl, Herr Obersturmbannführer.«

»Also alles bereit für 'ne wirklich behagliche Nacht? Wir haben einen verwöhnten Gast.«

Wieder bejahte Truppführer Lankwitz, und Ludwig konnte keinen Zug von Hohn in seinem stumpfen Gesicht entdecken. Er war gleichwohl überzeugt, daß Zimmer 14 ein besonders abscheuliches Kerkerloch sein müsse. Man hatte ihn einmal in Venedig durch die alten Verließe geführt: nackte Steinlöcher, grabdunkel, naß, mit einem scharfkantigen Stein als Schlafkissen. Die fielen ihm ein.

Aber als man ihn zum Souterrain hinunterführte und Zimmer 14 vor ihm aufschloß, präsentierte sich dies Gelaß in der Tat gar nicht unfreundlich. Besonders geräumig war es nicht, zwei Schritt breit und fünf lang, aber ordentlich möbliert, und das Bett wirkte einladend. Eine unbestimmte Birne hoch an der Decke spendete grelles Licht.

Truppführer Lankwitz fragte nach seinen Wünschen für das Abendessen.

Ludwig äußerte keine.

Trotzdem brachte man ihm einen Teller mit Schwarzbrot und Schinken herein, dazu eine Flasche Bier, alles ganz appetitlich. Hierauf wurde draußen die Tür umständlich verschlossen und, wie Ludwig zu unterscheiden meinte, auch noch durch Querbarren verrammelt.

Nach einigem Umherwandern brach er ein Stück von dem Brot ab und legte etwas Schinken darauf. Erstaunt nahm er wahr, daß Zunge und Gaumen ihren unterscheidenden Dienst versagten. Das Schinkenbrot schmeckte durchaus wie Papiermaché. Und er hatte sich eingebildet, seine Nerven hätten auf Überfall und Verhör überhaupt nicht reagiert! Er legte das Brot auf den Teller zurück.

In diesem Augenblick ging an der Decke das Licht aus. Die Finsternis war vollkommen. Tastend ließ er sich aufs Bett sinken, das weich und elastisch nachgab; er saß und lauschte in die Stille um sich. Aber lange blieb es nicht still.

Auf dem Korridor näherten sich Schritte und Stimmen, und deutlich konnte er unterscheiden, wie man zu beiden Seiten die Nebenzellen aufschloß.

Er vernahm Möbelrücken, sodann Kommandos, und zwar dieselben von links und von rechts:

»Ausziehen! Über die Tischkante. Gesicht nach unten!«

Ludwig in seiner Finsternis lauschte ungläubig. Dies alles entsprach so genau den Gerüchten, die im Lande flüsternd kolportiert wurden – daß er zweifelte. Es war nicht Wirklichkeit! Man imitierte die Schreckensberichte. Man spielte ihm etwas vor, um ihn einzuschüchtern.

Die Ausrede war ihm nicht lange gegönnt. Rechts und links begann das Verhör. Eine Frage, immer dieselbe. Und dann zischte die Stahlrute.

Die Frage links lautete: Mit welchen Kommandeuren hast du Verrat getrieben?

Die Frage rechts lautete: Mit welchen Bischöfen hast du Verrat getrieben?

Nach jeder Frage wurde gezählt. Keine Antwort kam. Und dann hieben sie zu.

Das wiederholte sich einförmig. Nur wurde das »Verhör« bequemlichkeitshalber bald abgekürzt:

»Kommandeure – eins – zwei – drei.«

»Bischöfe – eins – zwei – drei.«

Kein Laut von den Delinquenten. Aber Ludwig ahnte zuerst und dann glaubte er zu wissen, wer da über der Tischkante lag, mit hochaufschwellendem Rücken, und in das Holz biß, um nicht aufzuheulen. Dort links, das war Eisendecher, der Soldat – auch der Oberst konnte es sein, aber nein, das glaubte er nicht. Und er wußte plötzlich, wie Eisendechers Rücken aussah, braun, breit, muskulös, und er sah die Muskeln aufspringen unter der Stahlpeitsche. Zur Linken dort, war das Unstrut? Ja sicherlich, sie hatten nicht Herdegen gewählt, sondern Unstrut, weil der herzkrank war und aussah, als werde er nicht widerstehen. Warum schrie er nicht wenigstens! Vor wem nahm er sich denn zusammen, vor den Henkerskanaillen etwa, oder hatte man ihm gesagt, daß er, Ludwig, ihn hören könne? Jetzt, jetzt kam ein Wimmern, ein rauhes Stöhnen, aber es kam von der anderen Seite, Eisendecher war es, der Soldat, der zuerst aufgestöhnt hatte – es war wie ein grausiges Wettspiel.

Ludwig merkte auf einmal, daß es ihm warm aus den Handflächen rieselte, er hatte seine Nägel derart eingekrallt, daß die Haut zerrissen war. Mein Gott und Vater, mein Gott und Herr, es war ja nicht auszuhalten, da drinnen marterten sie zwei Männer zu Tod – weshalb, für wen – für ihn.

Es riß ihn vom Bett und warf ihn gegen die Wand, er trommelte mit den Fäusten und brüllte: »Halt! Halt! Halt! Aufhören!« Und zurück zu der Gegenwand, stolpernd im Finstern: »Aufhören! Aufhören!«

Das Verhör zu beiden Seiten ging weiter.

»Bischöfe – eins zwei drei –«

»Kommandeure – eins zwei drei –«

An keinem von ihnen konnte mehr eine Handbreit Haut heil sein. Und das waren nur diese zwei. Was geschah mit den andern? Mit Zednitz? Dem alten Bruckdorf? Was war mit seinem Steiger geschehen? Der lebte womöglich nicht mehr, die Hunde wußten ja ganz genau, wer der wirkliche Urheber war. Mein Gott – und er saß hier im Käfig, machtlos, zum Hören verdammt, wenn er aufbrüllend Halt gebot, so grinsten die drinnen und grimassierten einander zu, denn genau so war ihr Programm. Mein Herr und Gott! mein Gott und Vater – ach, nun konnte er beten, nun mußte er beten, obwohl er nicht glaubte – lieber Gott, was wäre es für eine Erlösung, wenn sie jetzt kämen, ihn holten und ihn draußen im Hof vor die Flinte stellten –

Auf einmal brannte im Zimmer wieder hell das Licht. Nebenan war es still. Die fürchterliche Vorführung schien beendet zu sein. Betäubt vom verzweifelten Lärm, der in seinem Innern tobte, hatte Ludwig überhört, wie man die Zerfleischten, sicherlich Ohnmächtigen, fortschleppte. Er sah auf seine Uhr. Es war halb zwölf.

Von nun an veränderte sich nichts mehr. Das Licht blieb brennen. Es sollte ihn am Einschlafen hindern, wenn er nach dem Gehörten noch Lust verspüren würde, zu schlafen.

Die Nacht war noch lang. Er zweifelte nicht, daß es seine letzte sein sollte. Er wanderte die fünf Schritt seiner Zelle auf und ab, hundertmal, fünfhundertmal, er wanderte mehrere Kilometer weit in dieser Nacht. Er hatte meistens die Hände in den Hosentaschen, schleuderte ein wenig die Beine und machte scharf kehrt an der Schmalwand, wieder und wieder.

Er war ruhig. Er prüfte sich selber genau, stellte fest, daß er von Todesfurcht frei sei, und war jung genug, darüber Befriedigung zu empfinden. Ja, es war gut, daß er starb. Was durfte er anderes wünschen! Nach dem Fehlschlag der Unternehmung, die seinen Namen trug. Nach dem Leiden, das für ihn über jene anderen verhängt wurde. War er tot, so würde man milder gegen sie verfahren, gleichgültiger zumindest. Das Unternehmen zerrann dann in sich. Wahrscheinlich würden die Henker verzichten. Nach ein paar Monaten kamen die Freunde frei. Er hatte gar nichts anderes zu tun als zu sterben. Er wollte es so.

War dies die Wahrheit? Betrog er sich nicht? Glaubte er etwa nicht daran? Er stellte sich die Szene am Morgen recht deutlich vor Augen, gab ihr jede schreckensvolle Realität. »Dann spritzt mein Hirn an die Wand«, sagte er laut, und blieb gleichmütig. Es hatte am Ende doch etwas für sich, wenn so viele Ahnen von einem in die Schlacht gezogen waren und so viele gefallen –

Aber er suchte nach anderen Gründen für diese Gelassenheit, der er mißtraute. Es gab solche Gründe. Hatte er's nicht selber ausgesprochen, in jener ersten und letzten Rede seines Daseins noch keine zwei Stunden war es her – daß das Leben nicht mehr lohne, so wie es in diesem Lande geworden war! Mit siebenundzwanzig zu sterben, war im allgemeinen bestimmt kein Spaß. Aber das eine hatte das unsägliche Gelichter, das nun über Deutschland seine schmutzigen Stiefel setzte, erreicht: man verlor nichts mehr mit dem Tod. Schon erschien beinahe ausgetilgt, was an diesem Lande lebens- und liebenswert war. Sie buken mit ihren Henkertatzen dieses allzu fügsame, allzu formbare Volk zu einem ununterscheidbaren Sklaventeig zusammen. Sie schlichen und horchten und spitzelten, sie prahlten und brüllten Gasse und Stuben voll, ein ekelerregender Phrasenschleim überzog Deutschland. Es stank nach Blut und gemeinem Gewäsch. Was sie bauten, war steinerne Phrase. Schon sahen die Städte nicht mehr aus wie vordem, kaum das offene Land. Man konnte keinen Eichbaum mehr ansehen, ohne Brechreiz zu spüren. Was Deutsche gedacht hatten, was deutsche Dichtung gewesen war, wurde posthum verdächtig, weil das Gesindel es zu unsaubern Zwecken stahl, umbog und fälschte. Das harmlose Wohlsein, die Lust am Atmen, waren vergällt. Der gute Bissen und der Wein quollen einem im Munde. Ja, es war so, wo nicht Freiheit war und nicht Barmherzigkeit, da lohnte die Existenz nicht. Da war es sehr gleichgültig, ob man mit zwanzig starb oder mit siebzig. Da war es besser, jung hinzugehen, und vollends, wenn man ein deutscher Fürst war und an vertrauenden Männern schuldig geworden –

Plötzlich drehte sich alles um ihn. Er hielt taumelnd an, schwindelig von seinem tausendmaligen Käfigmarsch. Es ging vorbei. Aber er spürte eine schwere Müdigkeit. Halb vier. Wenn bloß dieses verdammte, grellweiße Licht dort oben verlöschte ... Die Stirn tat ihm weh davon. Er ließ sich niederfallen auf das sonderbar weiche Bett, angekleidet, das Gesicht nach unten, die Arme ausgebreitet, und schon schlief er.

Unsere Träume spielen sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Er wußte das, und dennoch glaubte er nachher, lange geträumt zu haben. Aus der Ermattung, so schien ihm, war er sogleich in die Arme dieses Traumes gestürzt, und es waren Susannas Arme. Ausgebreitet lag er an ihrer Brust. Er hatte im Wachen nicht wissen wollen, nicht dürfen, was noch lockte, noch lohnte im Leben. Aber nun, augenblicklich, wußte er es. Wie konnte er aufrecht davongehen durchs Tor, dem Dasein absagen aus stolzen Gründen, da es zurückblieb, das Dasein, ungekannt, ungelebt. Denn um sie allein ging es. Alles wurde Schatten und wurde halbwahr vor der ungeheuren Wirklichkeit ihrer Schultern und ihrer Brust – vor ihrem grauen, spähenden Blick, ihrem reifen Munde, der dunklen Stimme. Er hatte sich gesehnt all die Zeit her, es war kein Augenblick vergangen ohne sie. Er hatte die schwerste Steinplatte hingewälzt über sein Verlangen, eingesargt lag es mit offenen Augen. Sie war die Frau seines Meisters, eines Geschlagenen im Kampf, und schon der Gedanke an sie verbot sich, aber im Schlafe, in diesem letzten Traum – denn er wußte im Traum, es sei sein letzter – fiel jedes Gebot. Er weinte mit ausgebreiteten Armen an ihrer Brust, er schluchzte, das Gefängniskissen unter seinem Gesicht wurde ganz naß. Er merkte es im Augenblick, da sie kamen und ihn aufweckten.

Die elektrische Birne brannte noch immer, aber durch das hochgelegene Fenster kam ein trüber Morgenschein. Im Zimmer befanden sich zwei Männer in bürgerlicher Kleidung, beide den Hut auf dem Kopf.

Ludwig stand auf seinen Füßen. Er war sogleich völlig klar. Ja, dies war die Stunde, da dergleichen geschah. Alles vollzog sich wie nach Rezept.

»Wir stören Sie früh«, sagte der Mann, der näher stand, lüftete seinen steifen schwarzen Hut und setzte ihn wieder auf. Sein Gefährte hinter ihm, ungefüger von Ansehen, wiederholte linkisch die gleiche Geste mit seinem braunen Filz.

»Vielleicht wollen Sie erst etwas Toilette machen.« Das Wort Toilette klang sonderbar schrecklich unter diesen Umständen.

Ludwig tauchte das Handtuch ins Wasser und fuhr sich mit dem Zipfel über Augen und Stirn. Dann strich er sein Haar glatt und wandte sich gegen die Tür.

»Nehmen Sie Hut und Mantel mit. Es ist kühl.«

Ludwig gehorchte, etwas befremdet über die Fürsorge. Hut und Mantel hingen am Haken, er wußte nicht, wie sie hergekommen waren. Die Zellentür stand weit offen.

»Einen Augenblick bitte!« Der Gehilfe erhielt einen Wink. Ganz gelenkig produzierte er ein Paar Handschellen. Alles geschah ohne Brutalität.

»Muß das sein?« Ludwig hatte bis dahin nicht den Mund aufgetan.

»Ausdrücklich befohlen. Bedaure.«

»Aber dort wird man sie mir abnehmen, nicht wahr?«

»Dort – gewiß.«

Der Gehilfe schritt voran, dann kam Ludwig, zuletzt der, der gesprochen hatte. Es ging durch einen langen Gang, dann eine Treppe hinauf, am einfallenden Licht war zu merken, daß man sich jetzt zu ebener Erde bewegte.

»Es ist der Weg des Todes, den wir treten«, dachte Ludwig, und die taktmäßigen Schritte sangen es mit. »Wieviel gute Verse weiß man, ohne daß man es weiß. Ist alles weg, wenn jetzt das Gehirn – Wenn sie nur meinen armen Steiger nicht so fürchterlich quälen! Eigentlich wollte ich, er sähe mich sterben. Es würde ihn kräftigen und trösten, wenn ich das mit Anstand mache. Es ist der Weg des Todes, den wir treten –«

Rechts und links waren die Klassenzimmer. Eine Schiefertafel lehnte zwischen zwei Türen an der Wand, halbverwischte algebraische Kreidezeichen darauf, an ihrem Gestell hing ein völlig vertrockneter, verschrumpfter Schwamm. Aber am Ende des Korridors war eine Tür, die führte zum Schulhof. Da hatten sonst die Jungens gespielt. Jetzt stand dort das Peloton für ihn bereit.

Der Gehilfe stieß die Tür auf. Sie führte nicht nach dem Schulhof. Sie ging nach der Straße. Unmittelbar vor den Stufen hielt ein Automobil. Einer in SS-Uniform saß am Steuer, ein andrer hielt den Schlag geöffnet.

Dieser ganze Apparat war ihm unangenehm. Wozu noch erst ein Transport! Wie einfach und bequem hätte man das auf dem Hof haben können ... Vielleicht fürchtete er, seine Haltung zu verlieren, wenn Umstände gemacht wurden. Vor jenem Bezirk seines Innern, wo er nicht gerne starb, würde der Vorhang aufwehen, wenn die Zurüstung sich lange hinzog.

Der Mann mit dem steifen Hut saß neben Ludwig im Fond. Auf dem Rücksitz saß der Gehilfe. Er hielt zwischen den roten Tatzen einen blanken Revolver.

Lautlos fuhr das Auto an. Es war ein vorzüglich gefederter, besonders komfortabler Wagen. Lichtschalter, Aschenbecher, sogar ein Parfümzerstäuber waren vorhanden, alles aus blankgeriebenem Nickel. Polster und Wandbespannung beige-farben, die Vorhänge ebenso.

Diese Vorhänge waren herabgezogen. Man saß in einem gelblichen Dämmer. Niemand sprach.

Ludwig wandte ein wenig den Kopf und betrachtete seinen Nachbar. Es war ein grauhaariger Herr mit einem magern, ganz gut geschnittenen Gesicht, trotz der frühen Stunde sorgfältig rasiert. Er sah aus – nun, wie ein Abteilungschef im Verkehrsministerium. Der Mensch gegenüber dagegen war ein Büttel; in Schmierstiefeln, gestreiftem Beinkleid, dunklem Sakko, und den braunen Hut auf dem Kopf, wirkte er unglückselig.

Die Fahrt dauerte lang. In Dresden konnte man längst nicht mehr sein. Regen prasselte auf das Dach und gegen die rechte der verhängten Scheiben.

Man brachte ihn also zur Exekution auf das flache Land, ganz geheim. Alles was man da draußen nötig hatte, war eine Grube mit ungelöschtem Kalk, um seinen Leichnam zu verzehren.

Seinen Leichnam – »Wann sind wir endlich da«, fragte er nun doch.

»Das wird leider noch eine Weile dauern«, war die Antwort. Dann, nach einer Art von innerem Kampf, lüftete er wieder den Hut: »Polizeirat Donner.«

»Sehr erfreut«, sagte Ludwig. Er sagte es ganz bewußt und genoß die Komik des Vorgangs. »Und nun nehmen Sie mir das hier ab! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich nichts unternehme.«

Herr Donner blickte unschlüssig auf Ludwigs Hände. Dann, als könne er jetzt, da gesellschaftliche Beziehungen hergestellt waren, sich der Forderung nicht länger entziehen, gab er dem Gehilfen einen Wink. Der legte seine Waffe beiseite und öffnete mit geübtem Griff den Verschluß.

Man fuhr und fuhr. Schließlich schien man eine Stadt zu durchqueren. Der Wagen hielt. Einer der Uniformierten vorne sprang vom Sitz. Man hatte zu warten. Sächsische Stimmen und Tramgeläute schallten herein. Es dauerte lang, ehe man wieder auf der Landstraße rollte.

Von links fiel ein Sturm den Wagen an, daß er sich zu biegen schien. Es wurde kälter. Durch einen Spalt zwischen Vorhang und Wand sah Ludwig wirbelnde Blätter.

»Scheußliches Wetter, Hoheit!«

»Scheußliches Wetter, Herr Polizeirat.«

Man fuhr wohl doch nach Berlin. Wollten sie ihn zur Abschreckung in großer Zeremonie guillotinieren? Einen Fürsten hatten sie noch nicht umgebracht, mindestens öffentlich nicht.

»Ich hätte Ihnen Kaffee geben lassen sollen«, sagte Herr Donner plötzlich, »Sie haben ja nicht gefrühstückt.« Er schüttelte mißbilligend den Kopf über seine eigene Vergeßlichkeit.

Das klang kaum nach Exekution. Und nach Berlin fuhr man auch nicht. Ludwig hätte nicht sagen können, woher ihm die Gewißheit kam. Vielleicht spürte er die Himmelsrichtung oder war es die große Stadt, die passiert worden war? Zwischen Dresden und Berlin lag keine. Cottbus vielleicht? Aber Cottbus war nur ein Städtchen. Er würde den Herrn Polizeirat um eine Landkarte bitten ...

Dies dachte er schon nicht mehr klar. Er war unversehens in Schlaf gefallen. Sein Kopf schwankte hin und her. Undeutlich merkte er noch, wie man ihn gegen die Ecke lehnte. So fuhr er schlafend seiner Bestimmung entgegen.

Er wachte auf, als der Wagen still hielt. Eisige Luft traf ihn. Die Tür war offen. Draußen schneite es dünn. Sie befanden sich mitten im Wald, neben einem Kilometerstein. Am Schlage stand der Gehilfe, den Rockkragen in die Höhe gerichtet, und einer der Soldaten. Das ganze wirkte durchaus geeignet für eine geheime Erledigung.

Der Polizeirat saß immer noch neben ihm. Er hielt jetzt tatsächlich eine kleine Landkarte in den Händen.

»Wir sind angekommen«, sagte er beinahe liebenswürdig. »Sie gehen jetzt hier diese Straße weiter ...«

»Darf ich fragen, ob Sie Befehl haben, mich auf der Flucht zu erschießen?«

»Ich habe Befehl, Sie an die Grenze zu bringen.«

Ludwig spürte plötzlich eine ziehende Schwäche in Hüften und Knien. Er machte einen Versuch aufzustehen.

»Einen Augenblick noch!« sagte Herr Donner. Er entnahm seiner Rocktasche ein Portefeuille, diesem einen Umschlag und dem Umschlag ein Blatt Papier. Er las vor:

»Berlin, 7. November 1935.

Der Stellvertretende Chef der Geheimen Staatspolizei Reichsführer SS

Ich verfüge, was folgt: Ludwig von Sachsen-Camburg, geboren am 15. Dezember 1908, wird des Landes verwiesen. Alle Grenzbehörden haben Befehl erhalten, ihn zu verhaften, wenn er den Versuch macht, deutsches Gebiet von neuem zu betreten. Das Weitere ist dem Ausgewiesenen persönlich bekanntzugeben.«

Der Polizeirat schloß die Tür. Es war jetzt beinahe dunkel im Wagen. Er sagte leise und stark artikulierend:

»Wenn Sie deutsches Gebiet wieder betreten, so erfolgt automatisch, ohne Verfahren und Aufschub, die Hinrichtung aller mit Ihnen Verhafteten, also der Herren von Eisendecher, von Zednitz, von Unna, Herdegen, von der Unstrut, Steiger und Oberst Bruckmann.«

Er hatte den Satz auswendig gelernt. Immerhin sagte er Bruckmann statt Bruckdorf.

»Und wenn ich mich füge?«

Keine Antwort.

»Wenn ich im Ausland bleibe, werden sie dann in Freiheit gesetzt? Ich bin bereit, mich schriftlich zu verpflichten.«

»Weitere Mitteilungen habe ich nicht zu machen.«

Ludwig stieg aus, mit ihm Herr Donner.

Die Straße vor ihnen lief etwas bergan, zwischen lauter Tannenwald.

»Wenn Sie dort die Höhe erreichen, müssen Sie schon das deutsche Zollamt sehen. Das tschechische liegt dann nur wenige Schritte entfernt.«

Er lüftete nach seiner Gewohnheit den Hut und setzte ihn gleich wieder auf. Das tat auch der plumpe Gehilfe. Der SS-Mann hob den Arm. Hingegen blieb der Chauffeur unbeweglich auf seinem Sitz und sah geradeaus.

Ludwig setzte sich in Bewegung. Er ging ganz langsam, in der ruhigen Erwartung, jeden Augenblick eine Kugel zwischen die Schulterblätter zu bekommen. Aber es geschah nichts.

Doch, jetzt rief ihn der Polizeirat an. »Prinz Ludwig – die Hauptsache!« Ludwig wandte sich um. Es trennten ihn noch keine dreißig Schritt von der Gruppe.

»Ihr Reisepaß!« rief Donner, und schwenkte im Schneetreiben das braune Heft.

Ludwig hatte den Paß in seiner Wohnung zurückgelassen, als er nach Dresden fuhr. In der linken untern Schublade seines Schreibtisches war das Büchlein eingeschlossen gewesen. Aber Hermann Imme wußte natürlich genau, wo seine Papiere lagen.


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