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Der Weg durch den kleinen Staat führte abwechselnd über kahle Hochflächen hin und durch Wälder. Sehr kalt war es nicht, aber immer bauschte der Höhenwind ihre dünnen Mäntel oder trieb ihnen Sprühregen ins Gesicht. Erst auf belgischem Gebiete würden sie die Bahn nehmen. Sie fürchteten jede Kontrolle: Steiger hatte ja keinen Paß. Er sei kräftig genug, ließ er tapfer vernehmen, um auch bis ans Meer zu marschieren. Ludwig verbarg Besorgnis und Zweifel. Beinahe schweigend zogen sie ihren beschwerlichen Weg. Manchmal ergriff Steiger im Hinschreiten Ludwigs Linke, und sie gingen auf eine Weile Hand in Hand.
Viele Wegweiser zeigten links hinunter zur Hauptstadt. Dort residierte die Großherzogin, die Ludwig nahe verwandt war, eine Braganza durch ihre Mutter. Sie hätte sich wohl gewundert, wäre er, so wie er war, in ihrem Vorzimmer erschienen. Seltsame Wanderung! Daß dies Wirklichkeit war, ließ sich kaum festhalten. Das Knarren der Ardennenbäume im Winterwind kam aus traumhaft entrückter Sphäre.
Übrigens hatten sie Glück. Als sie müde waren, nahm ein Automobilist sie mit durch den Abend, ein Lederfabrikant aus Wiltz, wie er sogleich mitteilte, wohlwollend und ein wenig betrunken vom Moselwein nach Abschluß eines guten Geschäfts. In einer Dachkammer fielen sie in den Schlaf der tiefen Erschöpfung. Am andern Morgen erfuhren sie erst, wie nahe die belgische Grenze schon sei. Es war eine gutmütige Grenze, wenig bewacht. Als sie Bahngleise erreichten, sahen sie eine erste Schranke in den brabantischen Farben, schwarz, gelb und rot. Und dann stiegen sie in einen Zug dieser Nebenstrecke.
Das Bähnlein ratterte schleichend fort im grauen Wintertag. Nur eine ältere Frau in Trauer saß noch in der Ecke, die manchmal ihr Tuch an die Augen führte. Bald stieg sie aus. Steiger hatte sich auf einer der Holzbänke ausgestreckt. Sein linker Arm, der ohne Hand, hing von der Bank, steif wie ein nasses Seil, sonderbar leblos. Und als Ludwig ihm ins Gesicht blickte, sah er, daß sein Mund mit bläulichen Lippen offenstand und die Augen nicht ganz geschlossen erschienen. Dies war kein Schlaf, sondern wieder eine Ohnmacht aus Schwäche. Sie dauerte lang. Als sie in Libramont und dann noch einmal in Jemelle den Wagen zu wechseln hatten, brachte er den Freund nur mit Mühe über die Gleise.
Am Brüsseler Nordbahnhof fragte er einen Gepäckträger nach einer Unterkunft. »Nah gelegen. Und billig. Kann gar nicht billig genug sein!« Der Mann führte sie ein paar hundert Schritt weit nach einer Querstraße der Rue du Progrès. Sie stützten Steiger von beiden Seiten. »C'est propre«, versicherte der Träger, »et pas cher.«
Billig mußte das »Hôtel Josaphat« ja wohl sein, aber von Sauberkeit war keine Rede. Ihr Zimmer, darin er Steiger sogleich zu Bett brachte, erinnerte Ludwig an jenes erste in der tschechischen Grenzstadt Kumerau. Nichtschließender Schrank, schlecht schließende Fenster, Waschtisch aus Eisenblech, so war nun einmal die Umgebung, darin sie zu existieren hatten. Selbst die unbeschirmte elektrische Birne hoch an der Decke war vorhanden, und das Licht zuckte auch hier.
Der Arzt, den Ludwig herbeiholte, ein kleiner, geschniegelter Herr, sah sich um, als habe man ihn in eine Räuberhöhle gelockt.
»Unsere Umgebung, Doktor, flößt Ihnen kein Vertrauen ein«, sagte Ludwig, »ich verstehe, wenn Sie Vorauszahlung erwarten.«
Irgend etwas im Ton der Worte bestimmte den Doktor Bruneel, diese Absicht, die er wirklich gehegt, mit großmütiger Geste zu verleugnen. Er beugte sich über den Patienten. Es war ganz still. Nur im eisernen Öfchen knackte das Feuer.
»Ich kann wenig finden«, sagte er endlich und richtete sich auf, mit hochrot gewordenem Köpfchen. »Der Herzmuskel arbeitet auffallend schlaff. Sie sind auf äußerste geschwächt, mein Herr, ich weiß natürlich nicht wodurch. Vermeiden Sie jede Anstrengung, richten Sie sich sogar im Bette nicht auf. Keine Erregung! Die kräftigste Nahrung ist die beste. Und dann möchte ich eine Kur empfehlen, Injektionen alle zwei Tage« – und er nannte den kompliziert klingenden Namen eines Präparats.
Steiger sagte mit weißem Mund, in etwas eingerostetem Schulfranzösisch: »Herr Doktor, bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Kann ich mich wirklich erholen und ein gesunder Mann werden? Im andern Fall nämlich möchte ich lieber nichts tun und meinem Freund nicht zur Last fallen.«
»Unbedingt muß dies die längste Rede sein, die Sie für einige Zeit gehalten haben«, sagte Doktor Bruneel, »dann werden Sie sich vollkommen erholen.«
Und er begab sich fort, etwas hüpfenden Schritts, gleichsam gefedert vom Bewußtsein seiner ungewöhnlichen Großmut.
Geduld war nötig, viel Geduld. Nur Ruhe und Zeit konnten heilen. Aber die Zeit bedeutete hinschwindendes Geld.
In den ersten Tagen erlaubte Ludwig dem Kranken auch nicht eine Bewegung. Er wartete ihn wie ein Kind. Und er sah an seinem abgemagerten Leib verbleichende Striemen.
Ihr einziger Besucher außer dem Arzt war der Hausknecht des »Hôtels Josaphat«, ein kahler stämmiger Mann, der im Hause die einzige Bedienung zu sein schien. Tags und auch nachts stieg er unermüdlich die steilen, knarrenden Treppen auf und nieder. Unerfindlich war, wann er schlief. Zu den beiden ärmlichsten Gästen im Hause, denen auf Nummer 34, kam er mit Vorliebe, er kam auch, wenn man ihn nicht benötigte. Es war fast zu viel. Er bot sich an, Gänge zu machen, er bat geradezu um Ludwigs Befehle. Plauderhaft war er auch, und zwar politisch plauderhaft. Der Zustand Europas schien ihm schwere Sorge zu bereiten. Ludwig übte Vorsicht mit ihm, er dachte an Hermann Imme, den Treusten der Treuen. Aber er tat ihm wohl unrecht.
»Moi qui suis venu au monde dans un pays neutre«, begann dieser Hausdiener jeden dritten seiner Sätze. Aber damit meinte er keineswegs Belgien: dieses »Land« war das Örtchen Moresnet in der Nähe von Aachen, das man einmal bei irgendeiner Grenzregulierung vergessen und schließlich für unabhängig erklärt hatte. Dans un pays neutre! Es klang, als trotze der kahle Mann allem Nationalitätenhaß und -wahnsinn. Als müsse im Örtchen Moresnet eines Tags der Retter erstehen, der bestimmt war, Europa vom Gift zu heilen. Und da ihm Ludwig bescheiden einwendete, seines Wissens sei diese Unabhängigkeit doch längst aufgehoben, bekam er zur Antwort: »Mais quand je vins au monde, c'était un pays neutre.« Womit denn alles gesagt war.
Manchmal ging Ludwig aus. Er strich durch die großbürgerliche, etwas leere Eleganz der neueren Brüssler Quartiere, er stand auf der mittelalterlichen Grand' Place, er wanderte im Museum von Memling zu Rubens – und alles zog bleich vor seinen Augen vorüber, nichts haftete. Man kann nicht genießen in tiefer Sorge. Unterwegs in einem Caféhaus zu rasten und eines der Francsstücke aus schlechtem Metall auszugeben, schien ihm unentschuldbarer Leichtsinn; müde kam er heim. Lag wach in den Nächten, horchte auf Steigers Atem, der nun kräftiger ging, und das Nichts tat sich auf vor seinen schmerzenden Augen, wie der Ausblick in eine tiefe, unheimliche Halle voll Schatten.
Wozu denn hatte er Steiger gerettet, wenn er nicht fähig war, seine Existenz zu sichern! Wo zeigte sich irgendein Broterwerb, in einer Welt, in der die Intellektuellen das hoffnungsloseste Proletariat darstellten? Jeder Staat wachte eifersüchtig darüber, seinen Markt den eigenen Kindern vorzubehalten. In allen Städten der Welt standen in langer Reihe die Arbeitsgierigen vor den Volksküchen und warteten auf einen Löffel Suppe, um sich zu fristen.
England – er wußte eigentlich nicht, wann er angefangen hatte, an England zu denken. Es schien ihm selbstverständlich, daß England ihr Ziel sein müsse. Dort schuf die Gunst der wirtschaftlichen Situation noch Möglichkeiten. Aber das allein war es nicht. Noch weniger war es die Hoffnung, bei den hochgestiegenen Verwandten seines Hauses Förderung zu finden. Er war wiederholt in England gewesen, er kannte ein wenig den Hof und die Aristokratie. Aber daran stellte sich keine Erinnerung ein, es war ein ganz andres Bild, das in ihm wiederkehrte.
Er sah sich zur Feierabendzeit inmitten der Menschenflut auf der London-Bridge. Aus der City zogen die Heimkehrenden über die Brücke, Kopf an Kopf, eine dunkle Armee, eine schweigende Armee. Ermüdet alle, der Ruhe zustrebend, aber nicht einer in Hast. Kein Schrei und kein Stoß. Gesammelte, verständige Mienen. Gelassen geschwinder, gleichmäßiger Schritt. Masse. Aber Masse mit Haltung, mit Würde. Ludwig war wieder und noch einmal hergekommen. Der Anblick schien ihm so trostreich, dieses Volk so wenig geneigt, sich von Agitatoren mit schäumendem Maul in Haß und Tod hetzen zu lassen. Er machte es sich schwerlich selbst klar, aber es war London-Bridge abends um sechs, wohin er zurückstrebte.
Jedoch England war eine Festung, und ihr Festungsgraben das Meer. Steiger besaß keinen Paß.
Wahrscheinlich hätte die Möglichkeit bestanden, auch ihm hier in Brüssel oder in Paris ein falsches Papier zu besorgen. Aber was berechtigt gewesen war in Ludwigs Fall, höchst legitim als ein Mittel, den besudelten Machthabern in Deutschland ihr Opfer zu entreißen, das verbot sich hier gänzlich. Man betrat nicht ein freies Gastland mit Hilfe eines Betrugs.
Sein eigener, echter Paß war ihm von Prag her durch »Scheurer« nachgesandt worden, und er konnte sich ausweisen. Aber Steiger würde das gar nichts nützen vor den englischen Kontrolleuren.
Er glaubte sich zu erinnern, daß diese Beamten auf den Kanalbooten hin und zurückfuhren und zur Bequemlichkeit der Passagiere die Revision unterwegs vornahmen. Man bestätigte das im Reisebureau. Es kam also darauf an, einen solchen Mann schon im belgischen Hafen zu sprechen und mit seiner Genehmigung an Bord zu gehen.
Nur völlige Aufrichtigkeit konnte helfen. Unwahrscheinlich sogar, daß sie half. Aber das Schlimmste, was man riskierte, war ein einfaches Nein. Dann stand man, wo man ohnedies stand. Allerdings, man stand vor dem Nichts. Der Schlaf kam spät zu Ludwig in dem schmalen Bett des »Hôtels Josaphat«.
Ihr Geld ging zur Neige. Kaum würde es ausreichen, um Arzt und Reise zu zahlen. Wieder dachte Ludwig an seinen Smaragd. Aber Steiger protestierte. Dynastisches Erbgut in Händlerhände verschleudert zu sehen, widerstand zu sehr seiner Denkart. Dieser Smaragd der Maria da Gloria werde noch von äußerster Wichtigkeit für sie werden, er fühle es deutlich, er flehe Ludwig an, sich von ihm nicht zu trennen. Sein Gesicht dabei war beinahe seherisch verzückt, und Ludwig lachte ihn aus. Aber eigentlich war er ganz einverstanden und im geheimen erleichtert. Gut, er würde den Stein nicht verkaufen. Aber was dann? Er sei neugierig, was Steiger ihm raten werde.
Steiger konnte nichts raten. Aber er war voller Zuversicht. Es ging ihm besser, und Doktor Bruneel hatte einen ersten Ausgang erlaubt.
Der folgende Tag war ein klarer Januartag. »Ich werde mich für uns beide rasieren«, sagte Ludwig, »Ihnen steht Ihr Renaissancebart zunächst noch ganz gut.« Und er suchte in der Tasche aus Segeltuch nach einer Klinge für seinen Apparat.
Im Seitenfach ertastete seine Hand ein zusammengelegtes Papier, es fühlte sich unbekannt an. Er nahm das Paketchen heraus. Drei Hundertmarkscheine und ein Zettel kamen zum Vorschein. Auf dem Zettel stand zu lesen:
»Bitte dies von mir anzunehmen. Irgend etwas bekommt man draußen wohl noch für das deutsche Schwindelgeld. Und immer glückliche Fahrt! M.«
Das war Martis. Und sein Geld bedeutete mehr als sachliche Hilfe. Der Fund war ein Trost, mochte die belgische Bank nun was immer bezahlen, war ein erstes Wetterleuchten des Glücks. Ludwig setzte sich an den wackeligen Tisch und schrieb dem Chauffeur Martis einen Brief, in verhüllten Ausdrücken und ohne Unterschrift, aber mit mehreren Unterstreichungen, und die Hand zitterte ihm dabei, so daß die Striche krumm ausfielen und er beschloß, sich doch lieber nicht zu rasieren. Übrigens besaß er ja auch keine Klinge.
Und dann stützte er Steiger die knarrende Treppe hinunter und führte ihn ein wenig spazieren durch die kahlen Alleen im Botanischen Garten. Ein paar Tage später wurde die Abreise festgesetzt.
»Eines möchte ich doch noch sehn hier in Brüssel«, sagte Steiger, »und das ist Sankt Gudula.«
»Daraus wird nichts«, sagte Ludwig. »Hat Sie darum der Doktor Bruneel injiziert, damit Sie sich tödlich erkälten? Sie wollen mich doch nicht alleinlassen in solch einer Welt!«
Schließlich gab er nach. Sie betraten den ungeheuren Bau durch ein Seitenpförtchen.
Es wurde Ludwig gleich klar, weshalb Steiger hierher gedrängt hatte. Elend noch und sehr mager stand er im dämmerigen Dom und schaute aus allzu glänzenden Augen zu den Glasfenstern auf, den Bildnissen der fürstlichen Stifter in ihren Juwelenfarben.
»Ahnen aus Ihrem Hause, Hoheit«, sagte er andächtig.
Das mochte so sein. Steiger zeigte sich unterrichtet. Da war der dritte Johann von Portugal, da war Isabella von Portugal, Gattin des Weltkaisers Karl, da war die Frau seines Sohnes Philipp, Maria, eine Portugiesin auch sie. Von ihrer aller Blut rann ein später Tropfen in Ludwigs Adern.
Rührung und Spott zugleich regten sich in seinem Herzen. »Was haben Sie an diesen Isabellen?« fragte er, »das da zum Beispiel ist ein ganz gleichgültiges Fenster, muß eine moderne Nachbildung sein.«
Aber Steiger wußte, was er daran hatte. Kein Massengeschrei und kein Diktator, kein persönlicher Fehlschlag und kein Leiden in der Baracke hatten an seine dynastischen Träume gerührt. Im Gegenteil, er träumte sie inbrünstiger als jemals. Der Abkömmling all dieser fürstlichen Beter dort oben war sein Retter geworden. Kronenträger allein konnten auch die furchtbar gefährdete Welt noch erretten ...
»Jetzt kommen Sie fort«, sagte Ludwig und ergriff ihn am Arm, »Sie schaudern ja in der Kälte!«
Noch schien draußen eine dürftige Sonne. Ludwig legte dem müden Freund die Hand um die Schulter, und so gingen sie langsam dahin. Sein Blick fiel auf ein Straßenschild: rue Treurenberg. Eine Strophe erklang da in ihm,
So tauchst du auf, wie du auf die Wimperge
Sankt Gudulas die Fieberblicke schössest,
Droben im Park den letzten Strahl genossen,
Und langsam niederschlichst am Treurenberge.
Er hatte vergessen, was »Wimperge« waren. Doch das verschlug nichts. Auf jedem Schritt geleiteten ihn die Stimmen der Deutschen, ihrer Dichter, ihrer Lehrer. Er hatte gut abstammen von portugiesischen Infantinnen und französischen Fürsten. Er hatte gut trauern und schmähen über alles, was jenes Volk mit sich geschehen ließ. Er konnte verwerfen, konnte verachten, konnte zu hassen meinen. Er konnte es fliehen, er mußte es fliehen in der Mißgestalt, in der es sich heute darbot. Im Herzen seines Herzens saß es dennoch, unaustilgbar.
»Und langsam niederschlichst am Treurenberge.«
Sie waren schon um neun in Ostende. Um elf ging das Schiff.
Ludwig machte sich auf die Suche nach dem englischen Kommissar, aber er fand ihn nicht. Er konnte ihn auch nicht finden. Ausnahmsweise nur, ein oder zwei mal in jeder Woche, kam jetzt im Winter der Beamte von Dover herüber und fuhr am Nachmittag zurück.
Eine schwache Möglichkeit also blieb. Das Nachmittagsschiff ging um Viertel nach drei.
Diese Informationen empfing Ludwig von einem Mann, der zum braunen Zivilanzug eine goldverzierte Uniformmütze trug. Er war ganz ungewöhnlich schwarz- und stachelbärtig und roch durchdringend nach einem scharfen Gemisch von Gewürzen.
»Warum wollen Sie den Engländer denn unbedingt sprechen?« fragte er und versuchte, seinen Augen, die ziemlich vertrunken aussahen, einen inquisitorischen Ausdruck zu geben, »der Paß ist wohl nicht recht in Ordnung.«
»Ach der ist schon in Ordnung –«
»Darin sind die nämlich komisch, müssen Sie wissen, und in diesen Tagen natürlich besonders!«
Ludwig fragte nicht weiter, warum die Engländer gerade in diesen Tagen so besonders komisch seien, und kehrte recht entmutigt zu Steiger zurück, den er im Wartesaal zurückgelassen hatte.
Es war hier leer, wenig sauber, und es zog. Man blickte über die Gleise aufs Wasser. Auf den Schienen standen abgekoppelt braune Wagen der Internationalen Schlafwagengesellschaft. Die Luxuslinien von Berlin, Wien und Basel mündeten an diesem Quai. Vor einem der Waggons stand in seiner knappen, braunen Tracht ein junger Schlafwagenschaffner und bohrte, mit versunkenem Ausdruck, seitwärts geneigten Hauptes in seinem Ohr. Jetzt ging eine Seitentür auf, ein belgischer Gendarm in prachtvoll verschnürter Uniform marschierte durch den Wartesaal, warf den beiden einsamen Reisenden einen amtlich mißbilligenden Blick zu und verschwand jenseits, mit Dröhnen.
Hier Stunden zu verwarten, konnte sie nur verdächtig machen. Der Instinkt der Friedlosen trieb sie hinaus.
Sie durchquerten auf der Hauptstraße die Stadt. Die Ostender Bürger, die ihnen begegneten, wichen ihnen ein bißchen aus. Sie kamen beide nicht viel besser daher als Handwerksburschen. Steiger besonders in dem geschenkten Mantel, der um ihn schlotterte, mit der Umhängetasche, die zu schleppen er durchgesetzt hatte, wirkte befremdend.
Am Badestrand unten, der wüst lag, wehte es stürmisch. Das Meer ging hoch. Seekrankheit war ihnen sicher. Ach, wäre sie ihnen nur schon sicher gewesen!
Im Sturm marschierten sie einsam den Strand entlang, kamen am ungeheuern Kursaal vorüber, an dem noch Fetzen vorjähriger Konzertplakate flatterten, passierten all die Bellevues, Continentals und Splendids in flämischem Stil oder wildem Barock, mit ihren endlosen Reihen holzverschlagener Fenster, Kirchhöfe des Vergnügens und Luxus.
»Das ist auch kein rechter Witz hier«, sagte Ludwig. Steiger bestätigte, es sei keiner.
Dort, wo die Häuserreihe zu Ende ging, lag erhöht eine fürstensitzartige Villa. Weiterhin tat eine Kolonnade sich auf, durch Glaswände gegen die Witterung geschützt, lang und leer. Sie begannen hier auf und ab zu wandern. Eine Uhr, die merkwürdiger Weise aufgezogen war, zeigte halb elf.
Ihre Schritte hallten taktmäßig wider im verlassenen Gang. Steiger hielt mit Ludwig gleichen Tritt. Etwas Gläubiges, völlig Vertrauendes, klang aus seinem Schritt. »Wohin du mich führst, will ich gehen«, sprach der Rhythmus, »es wird seinen Sinn haben, wenn wir in dieser öden Halle hier auf und ab schreiten.« Ludwig zog sich das Herz zusammen unterm Griff der Verantwortung.
»Wir haben noch gar nicht gefrühstückt«, sagte er. »Gut sorg ich für einen Rekonvaleszenten!«
In einem Gäßchen hinter der Rue Longue traten sie in ein kleines Caféhaus. Kein Gast war da. Die Bedienerin unjung und struppig, legte widerwillig ihr Strickzeug beiseite, sie schien höchst verwundert, als Kaffee und Gebäck verlangt wurden. Man hörte sie hinten in der Küche unwirsch klappern. Die Croissants, über die Straße geholt, waren schwarz verbrannt. Steiger aß mit der Gier des Genesenden.
Auf einem Nachbartischchen lag ein fleckiges Exemplar der ›Indépendance Belge‹. Ludwig hielt es schon in der Hand, dann ließ er das schmutzige Papier wieder fallen. Er wußte ohnehin, was vorging in diesem Europa! Wozu die taumelnden Schritte ins Unheil hinein einzeln verfolgen. Er hatte seit Prag keine Zeitung gelesen.
Er sagte: »Jetzt sollten Sie doch einmal erzählen, Steiger. Ich weiß noch immer nicht, was Sie mitangesehen haben – dort.«
Steiger schüttelte entschieden und sanft den Kopf. »Das ist nichts für Sie, Hoheit.«
Ludwig lächelte und drang nicht in ihn. Die Fiktion, daß er, Ludwig, als etwas Unanrührbares, zu Schonendes, zu gelten habe, als die »Hoheit« eben, vor der man Jammer und Grauen verbarg – sie war angesichts der Umstände so absurd wie ergreifend. Ludwig fühlte, daß er sie nicht zerstören dürfe. Es war möglich gewesen, dem guten Martis die unsinnig gewordene Anrede zu untersagen. Es war unmöglich bei Steiger.
Eine leere Stunde kroch hin. Einmal kam ein Arbeiter in das Lokal, trat an die Theke, schluckte stumm irgendein farbig schillerndes Getränk, warf Geld auf das Blech und ging ohne Gruß. Die Bedienerin strickte. Es wurde halb zwei.
Als sie zur Gare Maritime zurückkamen, lief eben ein Zug aus Antwerpen ein. Zwischen Bretterschranken stellten sich in langer Reihe die Reisenden an, ihre verschiedenfarbigen Paßheftchen vorsorglich schon in den Händen. Die polyglotten Angestellten der Weltfirma Cook, vornehm gekleidet wie Hofbeamte, chaperonierten Unorientierte mit Zuvorkommenheit.
Aber niemand wußte etwas von einem englischen Beamten. Und der ausweislose Steiger vermochte schon die belgische Sperre nicht zu passieren.
Ludwig sank das Herz. Steiger dagegen schien sich keine Sorge zu machen, ganz heiter hielt er sich ihm zur Seite, fest vertrauend darauf, der welterfahrene Freund werde schon alles zum Besten wenden.
Die Uhr in der Mittelhalle zeigte ein Viertel vor drei. Durch die breite Glastür, die verschlossen und mit einer Sicherheitskette verhangen war, konnte man jenseits der Gleise das kleine Schiff sehen, das selbst hier im tiefeingeschnittenen Hafen ein wenig tanzte. Reisende kamen von rechtsher über den Quai, betraten den Landungssteg, verschwanden im Boot. Ludwig verspürte einen brennenden Neid auf sie alle.
Unter ihnen waren die Engländer an ihrer Gemessenheit zu erkennen. Aber heute schien diese ruhige Art noch besonders getönt. Schweigsame Gedrücktheit, Betrübnis, lag auf den Gesichtern. Ludwig bemerkte etwas hierüber zu Steiger, und der bestätigte es.
Nur noch vereinzelte Nachzügler kamen. Es war keine Hoffnung mehr.
Da betrat von der Landseite her eine Gruppe von vier Herren die Halle, dunkler gekleidet, als man es unterwegs gewöhnlich zu sein pflegt, und trotz der vorgerückten Minute ohne Reisehast. Ein Fünfter, im Cutaway dieser und ohne Hut, schritt ihnen starr lächelnd und mit einladenden Handbewegungen seitlich voraus. Er komplimentierte die Gruppe bis vor die Glastür, und einer, ein hoch und mager gewachsener, älterer Herr mit gebietender Nase und kleinem grauen Spitzbart, trat an die Scheibe heran und blickte hinaus. Die drei anderen blieben ein wenig zurück, achtungsvoll flüsternd.
Der im Cutaway hatte in die Hände geklatscht, daß es widerhallte im Raum. Ein Angestellter, der im Hintergrund müßig stand, kein anderer übrigens als der Unrasierte, der so durchdringend roch, antwortete mit einer fragenden Geste. Sein Vorgesetzter wies nach der verschlossenen Tür, ausdrucksvoll hob er die Arme zum Himmel, als hätte jedermann wissen müssen, daß diese spätkommenden Herren ohne Paßrevision und durch den Hauptausgang das Schiff zu besteigen wünschten.
»Es kann höchstens eine Minute dauern«, ließ er entschuldigend vernehmen und blieb seitwärts stehen, seine Hände reibend, aber in sichtlicher Nervosität.
Der große Herr im schwarzen Pelzmantel nickte und fuhr fort, auf den Hafen hinauszuschauen. Obgleich es bedeutend länger dauerte als eine Minute, ehe man mit den Schlüsseln kam, gab er kein Zeichen von Ungeduld.
Ludwig war aufmerksam geworden. Er wechselte sogar den Standort, um genauer zu sehen.
»Den Herrn da, Steiger, sehen wir beide heut nicht zum ersten Mal.«
»Den großen im Pelz oder welchen?«
»Er ist ein Onkel von mir oder doch etwas Ähnliches.«
Ja, er kannte den Mann. Damals vor dreizehn Jahren war er dabei gewesen, als man Ludwigs Mutter in der Annenkirche bestattete, als ein abgelebtes Europa mit verschollenen Titeln um ihren schmalen Sarg versammelt war. In all seiner Trauer hatte Ludwig ihn wahrgenommen, als einen der wenigen unter den Herrschaften, die nicht »grenzenlos ordinär« waren.
Steiger fragte noch etwas. Aber Ludwig hörte nicht mehr. Er war an die Gruppe der drei Begleiter herangetreten. Einer von ihnen, der jüngste, wandte ihm mit zusammengezogenen Brauen das Gesicht zu.
»Ich möchte mit Seiner Hoheit ein paar Worte reden.«
Alle drei Herren musterten ihn, erstaunt und unwillig. Sie schickten auch einen Blick über Steiger hin, der nähergekommen war.
»Seine Hoheit ist im Begriff abzureisen, wie Sie sehen.«
In der Tat war jetzt ein Bahnbeamter mit einem Schlüsselbund an der Glastür beschäftigt. Da die Tür offenbar niemals geöffnet wurde, fand er den rechten nicht gleich. Er rasselte reichlich. Der Herr im Cutaway hatte sich der Gruppe genähert, bereit einzugreifen, wenn etwa dieser schlecht gekleidete Andringling sich von den illustren Reisenden nicht zurückweisen ließ.
Es war acht Minuten nach drei.
Ludwig hob beide Hände empor und manipulierte in seinem Nacken. Die Herren sahen ihm voll Erstaunen zu. Er bot einen unvorteilhaften, ja grotesken Anblick, wie er so dastand, mit etwas verzerrten Zügen an einem Schloß nestelnd, das nicht aufging. Der Stoff des Mantels über seinen Schultern bauschte sich und stand nach oben. Sein Hut fiel zur Erde, Steiger trat heran und hob ihn auf. In der Glastür drehte sich knackend der Schlüssel.
Da ließ er ab von seinem Nacken, griff sich in die Brust und riß mit einem Ruck das Kettchen durch, das seinen Smaragd hielt.
»Geben Sie das Seiner Hoheit. Rasch! Es ist keine Bombe.«
Der junge Herr schaute auf das Juwel nieder. Auch die beiden anderen betrachteten es. Auch der Mann im Cutaway machte einen langen Hals und sah es an.
Ein scharfer Luftzug schlug in die Halle. Die Doppeltür war geöffnet. Victor von Bourbon-Braganza war eben dabei, den Pelzkragen seines Überrocks in die Höhe zu stellen, als sein Begleiter an ihn herantrat. Er nahm ihm den Smaragd aus der Hand, er beschaute ihn und drehte ihn um, jetzt sah er das Wappen, er blickte auf. Ludwig stand schon bei ihm.
»Voudriez-vous me reconnaître, mon oncle«, begann er.
Viel hatte er darzulegen und vorzubringen in wenigen Atemzügen: Verwandtschaftsbeziehung, Umstände in Deutschland, das eigene Geschick und das seines Freundes – und schließlich die Bitte. Er mußte sachlich sein, klar, knapp, und zugleich drängend, emphatisch. Während er sprach, hatte er drohend vergrößert den vorrückenden Zeiger der Uhr vor den starren Augen – obwohl er dabei seinem Verwandten in das Gesicht schaute.
»Wir werden beide Unannehmlichkeiten haben, lieber Louis«, sagte der Braganza.
»Sie werden keine Unannehmlichkeiten haben. Einmal in London, geh ich sofort zu allen Behörden. Ich bitte Sie, lieber Onkel«, setzte er noch einmal beschwörend hinzu.
Und als der andere noch schwieg, gab er sich einen Ruck: »Ich hätte freilich nicht geglaubt, einmal so vor Ihnen zu stehen, als Sie damals nach Camburg kamen, um meine Mutter zu bestatten.«
Er schämte sich unmäßig, das auszusprechen. Der Schweiß kam ihm auf die Stirn.
Der Hinweis schien den alten Herrn zu bewegen. Er zögerte noch. Der Mann im Cutaway erlaubte sich eine respektvoll mahnende Geste nach der Uhr. Auf dem Schiff drüben war man aufmerksam geworden und schaute herüber.
Der Prinz Victor reichte Ludwig die Hand, wobei er ihm den Smaragd wieder einhändigte.
»Es ist gut«, sagte er langsam, »da es Ihnen so überaus wichtig zu sein scheint.« Er seufzte. »Halten Sie sich auch bei der Ankunft in meiner Nähe.«
Und das wartende Personal auf dem Dampfer sah nicht ohne Verwunderung inmitten der feierlichen Gruppe der schwarzen Herren zwei schäbig gekleidete Leute über den Quai daherkommen.
Zwischen salutierenden Matrosen betrat man die Planken. Die Sirene hustete rauh. Man stieß ab.
Der König von England war gestorben.
Dies also hatte das gedrückte Schweigen der Passagiere bedeutet. Dies der Hinweis, es werde gerade jetzt jeder fremde Besucher genau überwacht. Dies das reisewidrige Schwarz, darin der Braganza und seine Begleiter auftraten.
Kein lautes Wort wurde an Bord gehört. Das Schiff war wie ein Totenschiff. Und wie ein Toteneiland die Insel, als sich in der trüben Januardämmerung Klippen und Burg von Dover aus dem grauschäumenden Wasser hoben.
Funktionäre des Hofs und des Außenamtes standen seit Tagen bereit, um die anreisenden Staatsgäste zu empfangen. Es ward keine Frage getan, kaum ein Wort gewechselt, jeder Laut schien zuviel. Und als Ludwig und Steiger, benommen nach übler Fahrt, im Gefolge des Braganza zum Zuge geleitet wurden, sahen sie auch die Beamten in der Zollhalle zurückhaltend mit dem Gepäck der Reisenden beschäftigt. Kein Kofferdeckel schlug zu. Es war, als sei alles mit Samt ausgelegt. Sogar der Zug nach London schien mit gedämpfterem Rollen zu fahren, auch er wie auf Samt.
Das war Einbildung. Wirklich, unleugbar aber war eins: auf allen Gesichtern lag echte Betrübnis. Nicht angenommene Wichtigkeit. Nicht das zur Schau getragene Bewußtsein, einem nationalen Ereignis als Zeuge anzugehören, sondern einfach Trauer. Sie klang aus dem gedämpften Gespräch der Leute in dem Abteil dritter Klasse, sie war sichtbar an der starren Wartehaltung der Menschen auf den Bahnhöfen, die man durchfuhr, sie redete unpathetisch aus den Spalten der Zeitung. Ganz allein vom toten König Georg dem Fünften war hier die Rede. Politik, Sport, Unterhaltung, Geschäft schwiegen völlig. Man fühlte, daß es, genau wie in einem bürgerlichen Trauerhause, in diesen Tagen unmöglich und unanständig war, anderes zu betreiben. Sie sahen Tränenspuren in den Gesichtern der mitreisenden Frauen. Was war das?
Dieser König war kein Mann von besonders glänzenden Eigenschaften gewesen. Niemand schrieb sie ihm zu. Er selbst tat es nicht. Als Ludwig – es lag acht Jahre zurück – zusammen mit seinem Bruder diesem gekrönten Verwandten vorgestellt wurde, war sein Eindruck der von etwas Ausgelöschtem, leise Befangenem gewesen. Aber über dem Lande lag das Gefühl eines großen, tiefen, schmerzlichen Verlusts. Was war das?
Die Stadt London schien in eine Starre versunken. In der dunklen Nässe des Winterabends bewegten sich Gefährte und Menschen wie widerwillig unter den erschlafft hängenden schwarzen Fahnen und Tüchern. Widerwillig schloß ihnen in dem Boardinghouse nahe Victoria-Station eine schwarzgekleidete Wirtin ein Hofzimmer auf. Es war kaum möglich, etwas zu essen zu bekommen. Wen immer man um bezahlte Dienste anging, der schien es als halb ungehörig zu betrachten, daß der andere in solchen Tagen überhaupt Bedürfnisse merken ließ.
Durch Fenster und Wände drang eine Niedergeschlagenheit in das kalte und trübe Zimmer. Steiger hatte die Zeitung zur Hand genommen und wendete die riesigen, schwarz geränderten Seiten um.
»Wir wollen doch hin!« sagte er plötzlich und zeigte auf ein Bild, das die Aufbahrung des verstorbenen Königs in Westminster-Hall darstellte. Das Bild reichte über das ganze Blatt. »Es ist heute die letzte Nacht, in der man das Publikum zuläßt.«
Ludwig suchte ihm den Gedanken auszureden. Man würde Stunden lang anzustehen haben, ehe man Einlaß fand – in dieser Nässe, die Steiger unmöglich zuträglich sein konnte. Aber er widersprach doch nur matt. Ein Erstaunen, eine Art Neugier, zogen ihn selber dorthin. Auch schien der schwerverhangene Abend in diesem Mietszimmer nicht enden zu können.
»Wir sind es ihm beinahe schuldig«, sagte er nachgebend. »Wir hätten ja sonst sein Land nie betreten – Aber tun Sie mir den Gefallen, Steiger, und ziehen Sie noch ein Paar Strümpfe an über das erste!«
Als sie in die Nähe des Parlaments gelangten, wurden sie durch Schutzleute schweigend nach rechts gewiesen. Dann brauchten sie nicht mehr zu fragen. Die dichte graue Menge, die sich in stummem Eilmarsch flußaufwärts bewegte, hatte offenkundig dasselbe Ziel. Weit hinter Lambeth-Bridge erst standen die letzten. Ludwig erkannte den Ort: man befand sich hier kilometerweit von Westminster. In Viererkolonnen standen die Wartenden die Uferbrüstung entlang. Ludwig und Steiger reihten sich an. Schon setzte sich hinter ihnen die Kette fort. Die hintersten verloren sich schon wieder im Dunkel.
Schritt um Schritt rückte man vor. Im Regen, der gleichfalls fiel, hielten die Zehntausende aus, Männer, Frauen, auch Kinder, Arbeiter, Bürger, Reichgekleidete, um ihren kurzen Blick auf einen Sarg zu tun.
Ludwig und Steiger hatten vor sich zwei Leute, unscheinbar und solide anzusehen, es mochte ein kleiner Fabrikant sein oder ein Ladenbesitzer und seine Frau. Schirme trugen sie nicht, man sah überhaupt wenig Schirme, vielleicht weil es dem Ernst dieser Nachtstunde unangemessen erschien, sie ließen den Regen auf ihre wasserdichten Mäntel niederfallen. Aber der Mann rauchte seine kurze Pfeife, wie übrigens viele.
Die beiden schwiegen meistens im langsamen Vorrücken. Selten kamen ein paar Worte. »Ob er gewußt hat«, sagte einmal die Frau, »wie sehr ihn alle geliebt haben?« Ihr Gatte überlegte. »Er war ein bescheidener Mann«, meinte er dann. »Mir hat jemand erzählt, was er vor Jahren einmal gesagt haben soll. I am a very ordinary sort of a fellow, hat er gesagt. Nun, dieses eine Mal war er weit von der Wahrheit.«
Dann verstummten sie wieder. Der Regen floß nieder, und der Mann rauchte geruhig.
Es ging gegen Mitternacht, als Ludwig und Steiger im dunklen Zug das Parlamentshaus erreichten, und die zwölf Rufe der Kolossaluhr über ihnen waren verhallt, ehe sie in den Palasthof einrückten. Dann also tat sich Westminster-Hall vor ihnen auf.
Jedem aus den Hunderttausenden, die seit Tagen und Nächten hier ein- und vorbeizogen, griff unweigerlich die gleiche Empfindung an das Herz: dies ist einmalig, ich werde es mein Lebtag nicht vergessen.
Die ungeheure Halle, eine Landschaft mehr als ein Raum, war durch starke Lampen erleuchtet. Aber so hoch hinauf wölbte sich ihr stützenlos freischwebendes Dach, daß das Holzwerk dort sich in mystische Schatten verlor und unsicher blieb, wo nach oben ein Ende war. Schickte man hienieden den Blick das kaum abmeßbare Rechteck entlang, so schien im Hintergrund eine Treppe aufzusteigen, und darüber schimmerte in düster farbigen Reflexen ein einziges Fenster, wie der Ausblick in ein vieldeutig verheißungsvolles Jenseits. Inmitten aber, durch Podeste erhöht, ruhte der verstorbene Fürst auf seinem Staatsbett.
Über den Katafalk war die Königsflagge hingebreitet, deren goldene Wappentiere zwischen den Falten sprangen. Auf dem Fahnentuch die Symbole des Amtes: Szepter, Reichsapfel und die Krone selbst, daneben ein kleiner Kranz, rot und weiß. Um das Schaulager gestellt sechs hochübermannshohe Kerzen. Zu Häupten ein Kreuz. Wenige Gewaffnete, in Abständen verteilt, Offiziere, und Ehrenwächter im elisabethanischen Kleid.
Von ernster Kargheit das alles, auf die Essenz reduziert, nur eben das Notwendige, um einen großen Begriff vorzuführen. Das Gewölbe selbst nackt und leer, in der stumm redenden Existenz seiner achthundertjährigen Geschichte. An was für einer Stelle setzte dieser Tote sich der Verehrung und trauervollen Liebe aus! Diese Halle hatte anderes gesehen als loyale Ehrerbietung, wahrhaftig.
Mehr Monarchen-Elend als Glück. Der König, der sie erbaute, Wilhelm Rufus, starb verworfen, verachtet. In ihr entsagte Eduard der Zweite dem Reich. Richard von Bordeaux, der ihr das prachtvolle Dach gab, stand unter ihm, kaum ein Jahr später, als man ihm die Krone wegriß. Karl der Erste, allgemeinen Gedenkens, erschien hier vor seinen Richtern, nachdem sein eleganter Purpur durch Blut und Schmutz der Bürgerkriege geschleift war. Hierher kam, im Angesicht einer Nation, die sich schämte, der vierte Georg, um sein Krönungsbankett abzuhalten, triumphierend über seine eigene Königin, nach langem, widerwärtigem Hader. Nicht viel länger als hundert Jahre war das erst her.
Westminster Hall also erzählte durchaus von anderem als von unanrührbarer Hoheit. Der alte Mann dort unter der Löwenflagge hatte seine Würde aus eigenem Recht. Schatten der Abgesetzten, Verfluchten, Enthaupteten, geisterten um seinen Sarg und zergingen. Die englischen Männer und Frauen, die vorbeizogen, weinten. Was war das?
Sie verspürten keine Neigung zum Schlaf, als sie heimgekehrt waren in ihr Boardinghouse-Zimmer. Steigers Augen glänzten, er fühlte sich angerührt und bestätigt in der Tiefe seines mystischen Vertrauens. Ludwig war in anderer Art bewegt, doch nicht weniger. Er verspürte ein Bedürfnis nach Klärung. Im Überlegen und Reden marschierte er auf und ab in der Stube, zwischen dem Schiebefenster, vor dem ein unwahrscheinlich schmutziges und auch zerrissenes Stück Häkelei hing, und der Tür, die unvollkommen schloß und jedesmal klapperte, wenn er ihr nahe kam.
Verehrung und Liebe ... Ein erstaunliches Schauspiel sei das freilich heute gewesen. Und etwas Besseres, Realeres, als verschwommene Hingabe habe sich da manifestiert. Keine Mystik. Mit Mystik habe die englische Krone gar nichts zu schaffen. Ihr Ansehen sei einfach das der einzelnen Menschen, die sie trügen. Hierzulande habe man einmal einem König das Haupt abgeschlagen, und der eine Schwerthieb habe genügt, um die Dinge auf immer ins Gleiche zu rücken. Dies Königtum hier habe eigentlich keine Funktion mehr, mindestens sei sie ganz unbestimmt, in greifbaren Rechten kaum auszudrücken. Kraft besitze es dennoch, eine erhaltende Kraft – eine ärztliche beinahe.
»Wissen Sie, Steiger, ich meine es so: es gibt Völker, die machen sich groß mit Gelärm, sie fallen sich selbst auf die Nerven und andern. Das gibt es hier nicht. Die Nation überträgt ihr Selbstbewußtsein, ihren Stolz, auf den einen Mann, in ihm sagt sie Ja zu sich selber. Freilich, er muß danach sein! Er muß taugen zum Existenzideal. Verantwortung hat er keine, dem politischen Streit ist er ganz entzogen. Er soll thronen in einer noblen Neutralität.«
»Ein bißchen anders als anderswo.«
Ludwig nickte. »Das Land hat ja seine Kämpfe und Krämpfe wie irgendeines. Der Gegensatz zwischen Armut und Wohlstand ist sogar besonders kraß – die Armenquartiere von London, Sie werden sie ja zu sehen bekommen! In den Bergarbeiterprovinzen bin ich nicht gewesen, aber so etwas von trister Entbehrung muß es weder in Frankreich noch in Deutschland irgendwo geben. Da ist das letzte Wort nicht gesprochen, sicherlich nicht. Aber sogar für die Ärmsten scheint es etwas zu bedeuten, daß da eine Instanz existiert, die der Ausbeutung und Geschäftemacherei entrückt ist. Ein Pfeiler, an dem sich der grobe Eigennutz bricht. Einstweilen hält er, der Pfeiler. Möglich, daß er sogar aushält im künftigen Sturm. Ein Richtpunkt. Ein Blickpunkt. Einfach ein Mensch, auf den man Vertrauen setzt. Nicht ein Halbgott, den man im Staub zu verehren hat, und aus dessen Faust Glück und Elend kommt wie der Blitz aus der Wolke. Nicht so ein schmetternder Lohengrin-Imperator, kein neurasthenischer Alleswisser und Allesbetreiber. Am wenigsten natürlich irgendein schäumender Vitzliputzli von einem Diktator. Sondern ein vornehmer Herr, der sich genau an der Stelle hält, wo die Geschichte ihn haben will.«
»Ja«, sagte Steiger. »Aber England hat auch Glück gehabt, Hoheit. Ihre deutschen Verwandten – «
Ludwig lachte. »Lassen Sie die Verwandtschaft einmal auf sich beruhen, Steiger!«
»Es ist aber wahr. Diese Welfen waren eine herbe, schwierige Rasse. Besonnenheit, Klugheit, kamen aus anderen Adern hinzu.«
Ludwig mußte es zugeben. Sie betrachteten miteinander die drei Generationen, die genau ein Jahrhundert ausfüllten. Nach der willenskräftigen Bürgerkönigin den Sohn, der ein würdebewußter, skeptisch gescheiter Weltmensch gewesen war, und den Enkel, der jetzt unter der Löwenflagge dort lag.
»I am a very ordinary sort of a fellow.«
Ein unauffälliger, gemessener Herr, freundlich und wohlwollend. In der Haltung von einer scheuen Korrektheit, die anmutig war. Ein britischer Edelmann. Was eigentlich konnte er einer Epoche bedeuten, die in Wehen und Krankheiten kreißte und zuckte!
Er bedeutete ihr erstaunlich viel. Nie hatte er selber gedacht, den Stoff zur Volkstümlichkeit in sich zu haben. Aber als er schwer krank wurde, vor nun sieben Jahren, da brach in seinem Volk eine leidenschaftliche Anhänglichkeit durch, eine tiefe, wirkliche Angst. Und seine Wirkung reichte über das Land hinaus. Achtungsvolles Vertrauen der Welt zur englischen Krone, das war das Resultat seiner Regierung. Ihre geistige Macht war unter ihm und durch ihn gewachsen. Sprach man irgendwo in der Welt vom Königtum, so meinte man dieses, das nicht Gewalt mehr bedeutete, nur ein hohes Zeichen.
Und dann fügte Ludwig etwas hinzu, was ihm schon dort in der Trauerhalle im Sinn gelegen. Er nannte ein anderes Volkshaupt: den Alten, Uralten, zu dem er einmal hinübergeblickt hatte auf die Prager Burg. Ein Staatsbürger dieser und nicht ein Erbe. Sohn eines Leibeigenen, nicht ein Fürst. Ein Philosoph und ein Lehrer, klar, wahrhaftig und weise, aller Phrase und Pose mit Heiterkeit fern, zur höchsten Geltung aufgestiegen, ohne Recht und Menschengefühl je zu verletzen, ein Blickpunkt und Trost für alle, die in einer Epoche des Völkerbetrugs und der Roheit vor Ekel verzweifelten. Auch er, wie der König unter der Flagge, etwas sehr Hohes: ein Sinnbild der Menschenwürde.
Geht man im englischen Ministerium des Innern, das in der Straße Whitehall gelegen ist, linker Hand die Treppe hinauf, so gelangt man am Ende des Korridors zu einer Tür mit der Nummer 125. Es ist das Wartezimmer für Paß- und Aufenthaltssachen. Hier hast du dein Anliegen niederzuschreiben, wobei ein freundlicher, alter Bureaudiener dir flüsternd assistiert. Er nimmt Antrag und Paß und verschwindet im Nebenraum.
Dann vergeht eine ziemliche Weile. Unter zahlreichem Publikum, unbehaglich wartend und vielrassig, hast du eine oder auch zwei Stunden auszuharren im karg möblierten Gelaß, mit dem Blick auf einen freudlosen Innenhof. Neuankömmlinge tröpfeln fortwährend hinzu, du überläßt deinen Stuhl einem slowenischen Dienstmädchen oder einem anatolischen Greis, und wenn du endlich aufgerufen wirst, so hast du's nicht mehr erwartet, und all die schlagfertigen Beweisgründe sind vollkommen vergessen, mit denen du ankamst.
Als es mit Ludwig und Steiger so weit war, hatte nebenan der Beamte Ludwigs deutschen Reisepaß vor sich liegen. Der Mann sah sachlich und keineswegs streng aus, aber wiederum unbehaglich – wie eben nicht nur Bittsteller aussehen, sondern auch Menschen, die mit Bittstellern von Amts wegen zu tun haben und häufiger abweisend sein müssen als entgegenkommend.
Er blätterte in dem braunen Büchlein.
»In Ihrem Paß fehlen die Grenzvermerke. Und dieser Herr, wie Sie schreiben, besitzt überhaupt keinen.«
»Das ist so. Darf ich Ihre Zeit fünf Minuten in Anspruch nehmen?«
»Natürlich.«
Der Beamte nahm ein Papiermesser vom Tische, spielte aber nicht damit, sondern hielt es ganz ruhig zwischen den Händen; er neigte ein wenig den Kopf und hörte zu.
Steiger saß daneben, mit jenem Ausdruck ergebener Gläubigkeit, der Ludwig teils rührte, teils mit einer unbestimmten Reue erfüllte. Ihm war klargeworden, daß der Freund unter den Schlägen seiner Erlebnisse Schaden genommen hatte. Es war, als seien Stützen in seinem Innern weggebrochen. Seine Augen, die ehedem in einem harten Glanz so entschlossen geblickt hatten, waren sanft wie Kinderaugen.
Als Ludwig zu Ende war, sagte der Beamte: »Ich kann Ihnen jetzt keinen Bescheid geben. Sie hören von uns. Haben Sie genügend Mittel, um in England zu leben?«
»Nein«, sagte Ludwig. Und dann gingen sie.
Nach fünf Tagen kam eine Aufforderung, sich wiederum einzufinden. Diesmal ging Ludwig allein.
Zimmer 125 und das Warten blieben ihm heute erspart, und er befand sich alsbald in einem ihm unbekannten Bureau, das geräumig war und im Stil der siebziger Jahre behagenerweckend möbliert. Ein mächtiges Kaminfeuer flammte. Vom ledernen Schreibsessel erhob sich ein sorgfältig gekleideter, schmalköpfiger Herr von etwa vierzig und kam ihm entgegen.
»Wie lange gedenken Sie im Vereinigten Königreich zu bleiben«, fragte er, als sie saßen.
»Wir haben keinerlei Pläne, sonst irgendwo hinzugehen.«
»Sie teilen mit, daß Sie keine Existenzmittel haben.«
»Das ist leider so.«
»Aber doch gewiß eine Vorstellung, wovon Sie leben wollen?« Der schmalköpfige Herr blickte angelegentlich an Ludwig vorbei. »Sie haben Verwandte in England.«
»Von diesem Umstand möchte ich keinen Gebrauch machen, kann es auch gar nicht nach Lage der Dinge.«
Der Beamte ließ einen sanften Laut hören, der etwas wie Befriedigung oder Befreiung ausdrückte, und änderte sein Thema.
»Ihr Begleiter ist ohne Papiere nach England gekommen. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Herr« – er blickte auf einen Zettel – »Herr Steiger einen Paß ausgestellt bekommt, wenn er die Deutsche Botschaft darum ersucht?«
»Für ganz unwahrscheinlich. Die Botschaft muß nach Deutschland zurückfragen und wird eine Absage kriegen. Leute, die das Regime bekämpft haben, bekommen keinen Paß.«
»Hm.« Der Mann hinterm Schreibtisch nahm einen langen und schweren silbernen Bleistift zur Hand, ein Mammut von einem Stift, und malte über den Zettel, von dem er Steigers Namen abgelesen hatte, bedächtig ein großes, blaues Kreuz.
»Sind Sie der Ansicht«, fragte er langsam, »daß Herr Steiger seine deutsche Nationalität verloren hat oder verlieren wird?«
Ludwig schwieg. Er sagte sich, daß von seiner Antwort viel abhing. Offenbar hatte man hier schon des öftern mit solchen Flüchtlingen zu tun gehabt, denen von Berlin aus, ganz als ob dergleichen überhaupt möglich wäre, das »Deutschtum aberkannt« worden war. Wen immer diese Maßregel traf, der empfand sie zunächst als Geschenk, da sie ihn ja von der herrschenden Sippschaft auszeichnend distanzierte. Aber für fremde Behörden lagen diese Dinge sicherlich kompliziert: sie hatten politische Schwierigkeiten zu bedenken. Sagte er also jetzt die Wahrheit, so nahm er Steiger und damit auch sich vermutlich die letzte Chance. Er zögerte. Allein er fühlte eine völlige Unfähigkeit, zu lügen. Seine Achtung vor dem freien Gesetzesstaat, gesteigert, ja erst ins Bewußtsein gehoben durch seine Verachtung des Willkürregimes, das ihr Gegensatz war, behielt die Oberhand. Er sagte:
»Jawohl. Ich glaube, daß Herr Steiger seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat.«
»Ah«, sagte der Herr gegenüber, »das ist ja sehr gut.«
Er schien erleichtert, geradezu vergnügt. Er sah aus, als hätte er Lust, sich die Hände zu reiben, vermeide diese Geste aber aus Gründen der Konvenienz.
»Trinken Sie ein Glas Sherry, Prinz?«
Ludwig fand, daß er sich etwas zu offenkundig darüber freute, eine lästige Angelegenheit loszuwerden. Der Einfall, eine Erfrischung anzubieten, um gewissermaßen die Entbürdung mit dem Betroffenen selbst zu feiern, bekundete zweifelhaften Geschmack. Er füllte zwei Gläser.
»Natürlich wäre es gut, wir hätten die Sache Schwarz auf Weiß. Diese Ausbürgerungen werden in einer Zeitung veröffentlicht, sie heißt, glaube ich, Reichsanzeiger« – er zerbrach sich die Zunge an dem Wort –, »aber unerläßlich ist es gerade nicht.«
»Unerläßlich wofür?« fragte Ludwig ziemlich ratlos.
Der andere lächelte. »Man setzt immer voraus, jedermann wisse, was einem selber geläufig ist. An und für sich, nicht wahr, müßten wir Ihren Freund ausweisen. Aber wenn er kein Deutscher mehr ist, sondern staatenlos, dann können wir ihn nicht ausweisen. Wohin auch, nicht wahr! Dann müssen wir ihn behalten. Das ist Gesetz und außerdem sogar logisch. Ich freue mich sehr für Sie.«
Ludwig wallte das Herz auf. Dies alles schien ihm höchst englisch, wundervoll englisch, doch am englischsten dieser Satz vom Gesetz und der Logik.
»Wovon wollen Sie existieren? Was haben Sie sich gedacht?«
»Ich spreche mehrere Sprachen.«
»Unterricht – traditionell für Herren in Ihrer Situation. Aber kein leichtes Brot. Auch ist eine Erlaubnis vom Arbeitsministerium nötig. Ich würde Ihnen folgenden Weg empfehlen -«
Der empfohlene Weg führte über das »Woburn-Haus«, die jüdische Hilfsorganisation. Durch ihr weitläufiges Gebäude ging Monat auf Monat ein der Elendsstrom der Vertriebenen. Sie empfingen hier sachkundigen Rat, Mittel zur vorläufigen Existenz, Reisegelder, Unterstützung vor den Behörden. Es gab Speisehallen im Woburn-Haus, Klassenzimmer, wo Englisch gelehrt wurde, Räume für das Gebet. Die wohlhabenden Juden Englands waren sich ihrer Pflicht gegen ihre glücklosen Brüder großartig bewußt. Ungeheure Mittel waren notwendig, und sie wurden aufgebracht. Aber gerade die, die am meisten gaben, beschränkten sich nicht darauf, fünfstellige Pfundschecks auszuschreiben. Sie kamen selbst, viele Male und regelmäßig, hörten jeden Elendsfall an und beschieden die Hilfeheischenden einzeln. Heimatlose, beraubte, mißhandelte, hin- und hergestoßene Juden fluteten an ihren Tischen vorbei. Kein ahasverisches Schicksal war zu unersinnbar, sie hatten es schon vernommen.
Es gab auch Schwindler unter denen, die Hilfe wollten. Sie waren nicht einmal selten. Man deckte vielleicht ihren Schwindel auf, noch lieber ließ man ihn auf sich beruhen und spendete dennoch. Überwallender Wohlstand war es ja kaum, was diese Leute hertrieb, um mit ingeniösen Lügengeschichten an der berühmten Quelle des Segens ein paar Pfund wegzuschöpfen. Aber die Herren, die dieser Pflicht ein paar Jahre obgelegen hatten, trugen Wunden in ihren hilfsbereiten Herzen davon. Mit grauen Gesichtern, Säcke unter den müden Augen, die zu viel Jammer gesehen hatten, saßen sie andern Morgens in ihren Büros in der City.
Hierher also war Ludwig verwiesen worden. Man war nicht kleinlich, nicht engherzig konfessionell, im Woburn-Haus. »Wer Hilfe braucht, ist ein Jude für sie«, hatte der Beamte im Ministerium geäußert, und der Satz, aus dem eine Art von enthusiastischer Zustimmung klang, war Ludwig bemerkenswert erschienen im Mund des schmalhäuptigen Funktionärs.
Er kam sich trotzdem sehr als Eindringling vor in dem überfüllten Korridor, wo sie zu warten hatten. »Hier sollte uns mein Bruder August mal sehen«, sagte er zu Steiger, und Steiger amüsierte sich herzlich bei der Idee. Die jüdische Menschheit, die da versammelt war, sozial und kulturell ganz abenteuerlich gemischt, erschien dennoch geheimnisvoll homogen. Ob sie den großstädtischen Allerweltsanzug trugen, die Bluse und Schirmmütze des Händlers vom Land, oder noch den Kaftan, ob sie religionswidrig rasiert waren oder nach Vätersitte den Bart trugen und Schläfenlocken, sie waren trotzdem dieselben. Das Deutsch, in dem sie sich mit beredten Gesten zu laut unterhielten, trug Akzente der verschiedenen deutschen Stämme, unter denen ihre Voreltern und sie selber gelebt hatten. Doch es war nicht einfach Dialekt. Vielfach klang es entstellt, klang verdorben. Aber war es nicht eher veraltet und hatte aus Ghettozeiten Ausdrücke und Wendungen in sich bewahrt, die im Munde der Deutschen längst abgewelkt waren? Der Kaftan, den einige trugen, war ja auch kein orientalisches Kleid, sondern, abgewandelt und fleckig geworden im Staub der Jahrhunderte, der deutsche Bürgerrock aus den fränkischen und rheinischen Städten des Mittelalters.
In dem kleinen Empfangsraum, dessen Tür sich schließlich vor ihnen auftat, wurde Ludwigs Bericht und sein Name wohltuend sachlich entgegengenommen. Die beiden dunkeläugigen Herren des Comités hinter ihrem kleinen Tisch hatten schon erstaunlichere Geschichten aus dem tollgewordenen Deutschland vernommen. Man notierte sich ihre Adresse, fragte, ob Mittel vorhanden seien, um eine Woche oder auch zwei auszudauern, und damit waren sie verabschiedet und standen wieder unten auf dem Square, im nebeligen Abend. Eine Turmuhr schlug zehn.
So dicht zog der Nebel nicht, daß man seinen Weg nicht zu finden vermochte, und da es sich für sie empfahl, die vier Pence für den Autobus einzusparen, so wanderten sie Euston-Road entlang bis zum Park und dann den langen Weg am Gitter hin bis hinaus nach St. John's Wood.
Es war hier einsam. Die vornehmen Wohnhäuser jenseits der Straße lagen schwach sichtbar hinter ihren Auffahrten, in großen Abständen und vorsichtig rollten Autos daher, sie begegneten keinem Fußgänger. Eine herbe Luft, die frisch und unbestimmt nach Holzrauch schmeckte, kam über die Parkwiesen. Sie schwiegen in ihrer Verlorenheit.
»Ich habe einen elektrischen Ofen gekauft«, sagte Steiger unvermittelt.
»Um Gottes Willen, Steiger!«
»Einen ganz kleinen, Hoheit. Auf Abzahlung. Er muß schon zu Hause sein.«
Zu Hause – damit war das Zimmer in der Charlbert-Street gemeint, das sie vor drei Tagen gemietet hatten.
»Er kommt billiger als der Kamin. Mrs. Carpenter hat es ausgerechnet. Sie sagt, wir können ihn ausdrehen, wenn wir das Zimmer verlassen. Dadurch kommt es billiger.«
Er verbreitete sich ausführlich über den Gegenstand. Auf einmal blieben sie stehen. Ganz nahe an ihrem Ohr erhob sich ein Brüllen, machtvoll und lang hinrollend. Kein Zweifel, da brüllte ein Löwe durch die Londoner Nacht, schlaflos, verlangend nach seiner Wüste.
»Das ist der Tiergarten, Steiger. Noch ein Vorzug unserer Wohnung! Den haben wir gleich bei der Hand.«
Ihr Weg bog um, und nach einigen Minuten waren sie angelangt.
In London sind die anspruchsvollen Wohnquartiere von den bescheidenen wenig geschieden. Ganz nahe beim Königspalast gibt es kahle, trübselige Gassen. Tat man hier draußen vom Park ein paar Schritte seitwärts, so öffneten sich armselige Sträßchen, in denen es Mietszimmer gab. Die Charlbert-Street war von der Sorte.
»So stell ich mir Dakar vor oder Swakopmund«, hatte Ludwig gemeint, als sie das erste Mal hier entlanggingen, und wirklich hatte das ganze Bild etwas provisorisch Koloniales. Einstöckige Häuschen, nicht alt, aber verwahrlost, zum Abbruch reif oder schon bestimmt, wechselten mit lieblos erstellten Kasernen ab. Seltsam stand dazwischen eine Art von niedrigem Kirchlein, Bethaus oder Sektenschule früher einmal, doch jetzt in profanem Gebrauch, mit einem gemeißelten Portal, das zerbröckelte, Unrat im Vorhöfchen und Holzverschläge vor den gotischen Fenstern.
Aber gleich um die Ecke, mit der Aussicht auf den Regents-Park, erhoben sich prachtvolle, großbürgerliche Wohnbauten, mit livrierten Dienern im Eingang, wo die Jahresmiete 800 Pfund betrug.
Das Häuschen an der Charlbert-Street besaß zwei Stockwerke, war aber dafür so schmalbrüstig, daß nur je ein Fenster zur Straße ging. Zu ebener Erde befand sich eine Gemischtwarenhandlung, in der es, neben Gemüse, Obst, Zigaretten und jederlei kleinem Hausbedarf, verwunderlicherweise auch Lederwaren zu kaufen gab. Neben den Büchsen mit Bodenwachs und den Äpfeln waren in zwei Ecken der Auslage billige Suitcases aufgestaffelt, obwohl der Zustrom von Reisenden, die sich gerade hier equipieren wollten, unmöglich beträchtlich sein konnte.
Im ersten Stock hingegen tagte die »Gesellschaft für psychische Forschung«. Zwei alterslose Damen mit stets unordentlicher und gleichsam staubiger Frisur veranstalteten hier Séancen, an denen teilzunehmen jedem freistand, der zwei Schilling bezahlte. Die Abende waren besucht, der Verkehr mit der Geisterwelt augenscheinlich von Vorteil. Ludwig und Steiger in ihrem Oberstock vernahmen durch den Fußboden hindurch dumpfes Chorgemurmel und mitunter, jedoch höchstens dreimal im Verlauf derselben Sitzung, einen ekstatischen Gruppenaufschrei.
Mrs. Carpenter, ihre Hauswirtin, war eine rundliche Halbdame, die das Geschäft des Zimmervermietens mit melancholischer Geringschätzung betrieb. Sie hatte lange Jahre ihres Lebens in Indien verbracht, wo ihr verstorbener Mann im Zivildienst beschäftigt gewesen war, ihren Andeutungen nach in einer Stellung, die der des Vizekönigs sehr wenig nachgab. Seine Photographie, die zwischen »Tadj Mahal bei Mondlicht« und einem »Tod Nelsons« in ihrer Wohnstube hing, ließ eher einen Kassenboten oder Gerichtsschreiber vermuten. Auch um ihren einzigen Sohn Percy und seine Tätigkeit im britischen Kolonialdienst breitete sie einen diamantenen Schimmer. Invercargill hieß seine Station, und niemandem, der Mrs. Carpenter hörte, wäre der Gedanke gekommen, das Percy auf dem dortigen Postamt damit beschäftigt war, neuseeländische Briefmarken abzustempeln. Ein verzehrender Snobismus schien ihr Laster zu sein, im übrigen wirkte sie gutmütig. Jedenfalls beschloß Ludwig, seinen genauen Namen vor ihr geheimzuhalten, und er beschwor auch Steiger in diesem Sinn.
Es zog in dem Mietszimmer, wie es überall in England zieht, aber durch Verstopfen der Ritzen ließ sich dem abhelfen. Die Möbel hinkten etwas, der Teppich war zackig geflickt, und die Rosentapete zeigte bräunliche Flecken. Trotzdem überschritt die Unwohnlichkeit nicht ein ertragbares Maß. Ein alkovenartiges Nebengelaß war vorhanden, darin das zweite Bett seinen Platz fand, und ihm wiederum war ein winziges Räumchen angegliedert, eine Art Schrankküche oder Küchenschrank, mit einem Gasherdchen.
»Hier werde ich für uns kochen«, sagte Steiger.
»Können Sie denn?«
Er nickte freudig.
Es stellte sich heraus, daß Steiger schon in Camburg, als wohlbezahlter Professor, seine Mahlzeiten ungern im Gasthaus genommen hatte. Es gab gewisse, bescheiden raffinierte Gerichte, auf die er sich etwas zugute tat. Mit einem Erröten, als handle es sich um Verbotenes, erzählte er Ludwig davon. Und die ersten Proben seiner Kunst waren erstaunlich befriedigend.
Er legte bei den häuslichen Verrichtungen, die er mit seiner einen Hand wie selbstverständlich übernahm, einen Eifer an den Tag, der Ludwig ins Herz schnitt. Eine kindliche Dienstbereitschaft war in seinem Wesen, zugleich etwas Zeremonielles. Und Ludwig fühlte, daß er ihn da nicht beirren dürfe. Steiger setzte sich sogar widerstrebend mit an den Tisch, den er gedeckt hatte. Er wäre lieber hinter Ludwigs Stuhl stehen geblieben, als herzoglicher Obermundschenk und Truchseß. Es war eine letzte Zuflucht für seine Träume. Wie er einst den Umgang mit dem jungen Prinzchen nie hatte zur Selbstverständlichkeit werden lassen, so brachte er es jetzt fertig, im Zusammenleben auf ein paar Quadratfuß Raum die Distanz zu wahren. In seinem mitgenommenen Geist hatte sich ein Programm und eine Legende gebildet: die Legende vom vertriebenen Fürsten, dem nur ein einziger treuer Diener noch folgt, um ihm Ehren und Hof zu ersetzen.
Der vertriebene Fürst hatte schon bald von dem jüdischen Wohlfahrtsausschuß eine Anzahl Adressen erhalten. Er machte sich auf, seine Dienste anzubieten. Er hatte auch Glück. Da waren zwei Damen, Mutter und Tochter, die in einem hübschen, langweiligen Hause in Kensington ganz allein wohnten und aus purer Unbeschäftigtheit auf den Gedanken verfallen waren, Französisch zu lernen. Und in einer Villa in Hampstead begann er, die beiden halbwüchsigen Söhne eines Herrn Einstein im Deutschen zu unterrichten.
Der Vater, Weinimporteur, Chef der Firma Einstein and Wilcox, Upper Thames Street, war selbst deutscher Herkunft. Er stammte aus der Gegend von Ulm. Nach 35 Jahren sprach er Englisch noch immer mit oberschwäbischem Akzent, hatte aber sein Deutsch beinahe völlig vergessen. Mit einer den Zeitumständen trotzenden Sentimentalität legte er Wert darauf, daß seinen Söhnen die alte Sprache wieder vertraut werde. Die Mutter freilich, stockenglisch und Protestantin, setzte dieser Tendenz eine etwas verächtliche Gleichgültigkeit entgegen, und so behandelten auch die Schüler Herrn Camburg zunächst mit der Ironie einer überlegenen Rasse. Es gab sich allerdings bald.
Jedenfalls genügten diese Lektionen – zusammen wöchentlich neun – um die gemeinsame Existenz in der Charlbert-Street aufrechtzuhalten. Für Steiger hatte sich keinerlei Verdienst gefunden. So blieb er auf seine Verrichtungen als Oberstkämmerer und Truchseß beschränkt.
Eine Art von erstem, dürftigem, erschöpftem Behagen stellte sich ein.
Sie wohnten billig. Aber sie hätten noch billiger wohnen können. Der Distrikt von St. John's Wood galt als eine »gute Gegend«, und der hochbezahlte Glanz der herrschaftlichen Häuserzeile vorne am Park färbte wenigstens finanziell auf die unfreundlichen Hintergassen ein wenig ab.
Ludwig hatte sich auch erst in anderen Stadtvierteln umgesehen. Einen Tag lang war er mit Steiger im Süden durch die Straßen von Walworth, Camberwell, Stockwell gezogen. Und wieder einen Tag und noch einen halben im Norden durch Kingsland und Islington. Zu zahllosen Zimmern waren sie auf schmutzigen Treppen hinaufgestiegen. Das Resultat war eine unsagbare Traurigkeit. Man mußte wohl hier zur Welt gekommen sein, um an Freudlosigkeit nicht zu sterben. Alle diese Straßenzüge erschienen so düster, kalt und verdrießlich, und trotz ihrer Menschenfülle so öde. Man hatte überall das Gefühl, diese trübe Gleichförmigkeit ende nirgends. Der Gedanke, daß es irgendwo einen freien, unverrußten Himmel gab, grüne Flächen, rauschende Wälder, schien absurd. Und außerdem – es war eher lächerlich und dennoch wahr – empfahl es hierzulande selbst einen Sprachlehrer nicht, wenn seine Adresse Westmacott-Street Camberwell lautete oder Spitalfields-Market E. I.
Was Freudlosigkeit der unmittelbaren Umgebung betraf, so entsprach das Häuschen in Charlbert-Street ebenfalls bedeutenden Ansprüchen. Aber mit zweihundert Schritten war man im Park. Seine sanften Wiesen und lichten Wäldchen taten sich auf, ein See schimmerte, von Wasservögeln fröhlich bevölkert, und am Saume zeigten sich künstliche Felsgebilde, zackiges Wohngebiet für die Gemsen und Steinböcke des Tiergartens. Jetzt war noch Winter. Aber wie schön würde es sein, an einem Juni- oder Septembertag lesend auf einer Parkbank zu sitzen oder den spielenden Hunden zuzusehen, deren Tummelplatz diese Grasflächen waren.
Ihre Abende verbrachten sie immer zu Hause. Steiger hatte den Tisch abgeräumt, und sie machten es sich beim elektrischen Öfchen nach Kräften bequem, jeder mit einem Buch, das aus der Leihbibliothek stammte. Manchmal auch spielten sie Schach. Sie waren beide von Meisterschaft weit entfernt, Ludwig am weitesten, sie spielten gerade gut genug, um zu wissen, wie schlecht sie spielten. Aber der herrliche Kampf unterhält ja auf jeder Stufe. Mitunter drang das Gemurmel von unten herauf oder der ekstatische Aufschrei, dann hatten die Adepten für ihre zwei Schilling einen Vorhang sich geisterhaft bauschen sehen oder gar eine halb ausgeformte Hand sich bläulich bewegen im Dunkel. Und selten einmal, wenn es ganz still war und der Wind günstig, hörten sie hier in ihrer Stube jenes dumpfe Brüllen der großen Katzen.
Es kam vor, daß sich Ludwig unversehens vom Buche oder vom Schachbrett aufrichtete, die Augen schloß und tief Luft schöpfte, wie einer, der fürchtet, der Atem könne ihm ausgehen. Es waren die Augenblicke, in denen ihn das Bewußtsein seiner Lage pressend überkam. War es möglich, daß dies endgültig sein sollte, diese Existenz ohne Ausblick, in Gemeinschaft mit einem Freund, an den ihn doch Erinnerung und Mitgefühl stärker als anderes band.
Er brauchte Gewalt, um über solche Anwandlungen hinwegzukommen. Er stellte sich fremdes Schicksal vor, bei geschlossenen Augen: das von Arbeitern, die in deutschen Höllen unter der Zuchtpeitsche schrien, das von Heinrich Nothaft, dem der Büttel die Hände zerschlug, die nicht harmloses Leben hatten zerstören wollen, das von Wetzlar, den die hetzerische Meute in seinen Tod trieb. Ich darf atmen, gehen wohin ich will, denken wohin mein Gedanke mich führt, sagte er sich, ich bin glücklich, ich habe glücklich zu sein! Und so ging es vorüber.
Er sah nicht viel anders aus als ein Jahr zuvor. Sein Haar war wieder gewachsen, weich und dicht und jugendbraun lagerte es über der Stirn, und er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit Herrn Ozols aus Riga. Von Erregung und Anstrengung war ein einziges Kennzeichen zurückgeblieben: ein vibrierendes Zucken am rechten Augenwinkel, nahe der Schläfe. Er hielt es erst für eine neuralgische Erscheinung, die verschwinden würde, und suchte es zu bekämpfen. Aber das feine Zucken blieb.
Da man ihm aus Prag seinen Koffer zugesandt hatte, erschien er auch gekleidet wie früher, ein junger Herr von unauffälligem Äußern, der überall präsentiert werden konnte.
Die wöchentlichen Empfänge im Hause James Einstein zum Beispiel waren nicht zu umgehen. Jeden Samstag wurde dort sozusagen offene Tafel gehalten. Herr Einstein nährte eine unorientierte, ein wenig großsprecherische Neigung für Künste und Künstler, freundlich und wahllos protegierte er darauf los, tat auch Gutes in seiner Art, und so begegneten sich an diesen Abenden jüdische und andere Bourgeoisie mit allerhand Kunstausübenden. Um die gedrängt stehenden, kleinen Tische, an denen ein reiches, aber nicht sehr delikates Diner mit guten Weinen serviert wurde, saßen zweitrangige Musiker, rollenhungrige Schauspieler, auch Schriftsteller mitunter, in überlautem Gespräch. Es war ein Bankett der halbbefriedigten Eitelkeit, dem Herr Einstein mit dem Gefühl eines florentinischen Mäzenaten jovial präsidierte. Seine englische Gattin nahm an diesen Veranstaltungen mit spürbarer Reserve teil, öfters auch gar nicht, und zog aus ihnen neuen Grund, sich überlegen zu fühlen.
Ludwig, auf dessen Erscheinen Herr Einstein nachdrücklich Wert legte, langweilte sich ausgiebig. Aber er hatte Ursache, dankbar zu sein. Er kam hier in nützliche Berührung mit lerneifrigen Leuten, und der Ring seiner Schüler erweiterte sich. Sehr bald waren aus seinen neun Wochenstunden fast zwanzig geworden.
Und es war ein festliches Ereignis für ihn, als er seine ersten Ersparnisse in die Tasche steckte, um in einem Kleidergeschäft an der Regent-Street Steiger zu equipieren. Denn bisher hatte der sich, was sein Äußeres anging, recht notdürftig behelfen müssen. Mit wehmütiger Freude sah er andern Tags den Fünfzigjährigen vor dem kleinen Spiegel stehen, bald vor – bald zurücktreten, die Krawatte zurechtrücken und an den Schultern zupfen, wo der Rock nicht ganz einwandfrei saß.
Da Steiger nun ausgerüstet erschien, suchte er ihn unter Menschen zu bringen, voll Mitgefühl für seine Isolierung. Er selber hatte allmählich mehr Umgang als ihm lieb war. Man lud den zurückhaltenden jungen Herrn mit der merkwürdig vibrierenden Schläfe überall ein, man reichte ihn weiter. Hätte er Lust daran gefunden, er hätte jeden zweiten Tag an einer der absonderlichen Veranstaltungen teilnehmen können, die unter dem Namen Cocktail-Parties beliebt sind, und bei denen man in drangvoller Enge, ein Glas mit scharfem Gebräu in der Hand, beisammen steht und mit angestrengt hervorgestoßenen Trivialitäten seine Nachbarn zu übertäuben versuchen muß.
Aber Steiger entschuldigte sich. Er kam nicht mit, nicht ein einziges Mal. Und doch sprach er nie zu jemand ein Wort, außer zu den Krämern hier um die Ecke in Henry-Street oder High-Street, oder zu Mrs. Carpenter. Er wollte es offenbar so.
Ludwig war verwundert. Schließlich kam er darauf, daß Steiger – es gab kein anderes Wort – es für unziemlich hielt, seinen Umgang zu teilen. Er hätte eine unstatthafte Gleichstellung darin erblickt. Dies gehörte zu seiner Fiktion, zu der Legende, an der er festhielt. Zu jener selben Haltung, mit der er aufstand, wenn Ludwig ins Zimmer trat, mit der er ihm seinen Sessel zurechtrückte, zu seiner Gesprächsform. Die Hoheitsbezeichnung zwar erlaubte er sich selten mehr, sie erschien wohl auch ihm bei diesem bescheidenen Zusammenhausen absurd. Aber er vermied es nach Möglichkeit, Ludwig direkt anzureden, und verlor sich, um dem »Sie« auszuweichen, in eigentümliche Konstruktionen. Mehr und mehr verspann er sich wieder in seine historisch-dynastische Traumwelt. Seine Lektüre war ausschließlich von dieser Art. Was immer die Leihbibliothek zur Geschichte des Coburgischen Hauses und der verwandten sächsischen Linien zu bieten hatte, er fand es heraus. Ludwig sah die Memoiren des Herzogs Ernst in seiner Hand, die Werke von Grey und von Martin, die Staatsdepeschen der Königin Victoria. Und er ließ ihn in seiner Welt.
Auch er selber hatte sich spezialisiert. Die Vorbereitung seiner Lektionen, erst nur Notwendigkeit, fing an ihm Freude zu machen, ihn bis zur Passion zu beschäftigen. Er hatte damit begonnen, sich eine Sammlung deutscher Redewendungen anzulegen, eine Art leichtfaßlicher Stillehre zum Gebrauch seiner Schüler. Aber dies führte ihn tiefer hinein in das geheime Schacht- und Minenwerk der Sprache, die ihm bisher selbstverständlich gewesen war. Es verlockte ihn, ihren Schwingungen nachzuspüren, ihren Subtilitäten und letzten Verschlagenheiten. Immer häufiger kam es vor, daß er den Bleistift sinken ließ und einer lebensvollen Wendung nachhing, in der die Stimme lang vergangener Bauerngeschlechter noch klang oder der Hammerschlag einer Handwerkerzunft oder ein Landknechtskommando. Genauigkeiten, Konkretheiten, gingen ihm auf, die er achtlos hingenommen hatte. Es war, als werde die Sprache, die flächig gewesen war, für ihn dreidimensional. Er begann sie mit einer neuen Bewußtheit zu lieben. Herrlich müßte es sein, in dieser Sprache zu arbeiten und zugleich an ihr – ihr vielleicht einen noch ungekannten Ton zu entlocken. »Sie wollen doch, verzeihen Sie das harte Wort, so etwas sein wie ein Schriftsteller«, hatte eines versunkenen Tages jemand zu ihm gesagt. Eine erste Möglichkeit hiervon stieg aus dem blauen Heft zu ihm auf.
»Ich habe etwas zu bekennen«, sagte Steiger nun schon zum zweiten Mal. Ludwig kehrte aus seinen Träumen zurück. Er lachte. »Bekennen? Was haben Sie angestellt? Sicher bekommt Mrs. Carpenter ein Kind, und Sie müssen sie heiraten!«
»Ist an meiner Buchführung nichts auffällig gewesen?«
»Mir nicht, Steiger. Freilich, ich bin nicht genau.«
Er amüsierte sich. Der Freund bestand darauf, täglich über seine Ausgaben für den Haushalt Rechnung zu legen. Suppe in Büchsen 5 pence stand da, Zucker 2 pence.
»Bei etwas Aufmerksamkeit hätte es auffallen müssen, daß mehrmals ein Schilling notiert war, ohne nähere Angabe.«
Es stellte sich heraus, daß Steiger wiederholt, mit dem Gefühl von Raub und Sünde, den Tiergarten aufgesucht und das Eintrittsgeld dort bezahlt hatte.
Ludwig konnte nicht sogleich sprechen. »Ich glaube, Sie machen Witze mit mir«, sagte er dann, »warum zum Donnerwetter sollen Sie nicht in den Zoo gehen!«
Aber er hatte völlig begriffen, was alles Steigers »Geständnis« in sich schloß: die Vereinfachung bis zum Kindlichen, die unterm Druck der Erlebnisse mit ihm vorgegangen war; die Einsamkeit seiner langen Tage; die Flucht aus Mrs. Carpenters freudloser Sphäre in die Welt der fremden Wesen. Er hatte seine Beichte abgelegt wie ein Kind, es zog ihn zu der Pforte, wo der Eintritt einen Schilling kostete, mit dem Wunderdrang eines Kindes. Auch an dieser Seele war ein Mord begangen worden, ein Mord wie an Rotteck. Nicht nur das Blut der Erschlagenen schrie gegen die Henker.
Opfer fallen hier,
Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört.
Die unsterblichen Zeilen drängten sich ihm ins Bewußtsein, so stark, daß er unwillkürlich die Lippen bewegte.
Gleich andern Tages bestand er darauf, Steiger an den Ort seiner Sünden zu begleiten. Mit festlich aufgeregter Miene führte der Freund ihn umher. Wirklich, er mußte manchen Schilling hier ausgegeben haben; er kannte sich aus.
Er führte Ludwig seine Lieblinge vor, die Vögel besonders: Reiher, Marabus, und den Königsfischer, dessen Schrei klingt wie Menschengelächter. Im Papageienhaus schnatterten hundert grellbunte Plapperer von ihren Stangen, an denen sie affenmäßig verwegen turnten, die buschgekrönten Köpfchen nach unten. Aber Steiger liebte besonders einen großen, ganz schwarzen Kakadu, der vornehm ruhig saß und kein Wort sprach.
Flamingos standen in ihrem kleinen Sumpfrevier auf Beinen, die dünner waren als das dünnste Röhricht um sie, schimmernd und leuchtend in allen Farben der roten Palette, vom hauchzarten Rosa bis zum heftigsten Inkarnat.
Doch am längsten verweilte er mit Ludwig vor den Käfigen der großen Räuber, der Kondore und Adler, von denen jeder allein saß in seinem Gefängnis, aus steinernen Augen am Eisenschnabel vorbeiblickend in eine verlorene, wilde Freiheit.
In diesen gewaltigen Kuppelraum, den Lesesaal des Britischen Museums, mündete, unweigerlich fast, der Weg der Heimatlosen, Verbannten. Gleich als Ludwig zum ersten Mal niedersaß an einem der lederbezogenen Arbeitstische, wurde ihm wohl und feierlich. Tiefe, verschlossene Stille. Kein Laut vom rasselnden Atem der Millionen draußen. Ein Grab des Lebens, aus dem der Geist sich aufschwingt, empor zur immensen Wölbung dort oben, die an die schönste Kuppel der Welt gemahnt, an die im Pantheon.
Rom und Antike, der Begriff stellte sich ungesucht ein. Dieser Lesedom war nicht unwert der Wunder aus Ephesus und Athen, die von den gleichen Mauern umfaßt werden. Mit einer Art Andacht schweift der Blick um den Ringwall von Büchern, die Galerien entlang, auf denen die Figuren der nachschlagenden Leser klein wie Puppen erscheinen. Denn was hier im Saale aufgestellt ist, das sind Nachschlagwerke, Lexika, bloße Wegweiser hinein in die Unerschöpflichkeit der eigentlichen Schatzkammer. Jeder, der hier hereintritt, besitzt eine Bibliothek von vier Millionen Bänden. Er hat nur nötig, einige der Zettel auszufüllen, die auf dem schwarzen Leder bereitliegen, und ein stiller Diener legt, was er begehrt hat, vor ihn aufs Pult.
Hier konnte man Jahre zubringen. Einer, den Zeitlauf und Schicksal vom lebendigen Wirken ausschloß, konnte sich wohl ein Dasein vorstellen, in dem er draußen für seinen Unterhalt notdürftig sorgte, die eigentliche Existenz aber hier vergehen ließ, in den hundertsprachigen Schächten des Geistes. Hier konnte man vergessen, daß man jung war, Sonnenlicht vergessen, lockenden Zufall und das Glück der Menschenbegegnung. Morgen um Morgen kam man hierher, schon war der Tisch gerichtet für einen, die Bücher lagen bereit, die Bücher wechselten, die Beamten am Mitteltisch wurden versetzt, wurden zu alt oder starben, man selber hatte schon graues Haar. So hatten Menschen gelebt.
In dieser stillen Luft hatten Philosophen und religiöse Denker geatmet, die Staatsmänner, die in drei Generationen das Imperium ausgebaut hatten, die Dichter, die seine Zunge und sein verläßlichster Ruhm waren. Hier hatten sie mit dem Ärmel ihre künftigen Feinde gestreift, jene, die an den Stützpfeilern ihrer Gesellschaft zu rütteln bestimmt waren. In diesem Saale hatte Marx ›Das Kapital‹ geschrieben. An diesen Tischen, kleinbürgerlich angetan, hatte der kuppelstirnige Lenin gesessen. Hier sogen sich stille Asiaten voll mit den Wissenssäften einer Welt, als deren Erben sie sich betrachteten: großmütig und selbstsicher verschenkte der Westen seinen teuer erarbeiteten Besitz. Hier war Roms Herz, wenn England Rom war. Es gab keine Menschenfarbe, die hier noch nicht gesehen worden, keine Menschensprache, in der hier nicht gedacht worden war. Diese totenstille Halle war bunter als der farbigste Hafenplatz. Hier kann es dir geschehen, daß du zur Rechten einen Hindu hast, über frühchristlichen Manuskripten beschäftigt, und zur Linken einen ebenholzhäutigen Herrn mit weißem Kraushaar und scharfer Brille, der Pringsheim'sche Mathematik studiert. Hier vermischt sich in einer stummen, dauernden Hochzeit jederlei Blut mit jederlei Geist.
Ludwig war mehrmals hergekommen, um sprachliche Nachschlagewerke zu konsultieren. Er tat es mehr aus Neigung als aus Notwendigkeit, weniger für seine Schüler als für sich. Das große Oxforder Lexikon besonders hatte es ihm angetan, dies vollkommenste Wörterbuch der Erde, das unerschöpfliche Bergwerk menschlichen Ausdrucksvermögens, erleuchtet bis in die untersten Adern.
Er hatte sich auch heute einige von den 30 Bänden auf seinen Lesetisch getragen, zwei deutsche Grammatiken außerdem. Er schlug auf, blätterte, ging zurück, machte sich seine Notizen, hielt sich länger auf als nötig gewesen wäre, bezaubert von so viel profunder Genauigkeit und solidem Reichtum.
Dann träumte er über die Bücher hinweg in die Lautlosigkeit der Wissenshalle. Es war fast jeder Studierplatz besetzt, dreihundert Leser mochten anwesend sein, einer nahe dem andern an den langen Tischen, aber durch Mauern des Schweigens voneinander abgeschieden, jeder in seiner gesonderten Welt. Wie jedesmal, wenn sein Blick über die vielen geneigten, braunen und weißen Häupter ging, tauchte Rotteck vor ihm auf, Rotteck verhundertfacht, schreibend an seinem Prager Fenster. Und wie jedesmal, so spürte er auch jetzt in seinem Herzen den scharfen Biß der Reue.
Er hatte gefehlt gegen ihn, nicht menschlich nur – davon dachte er mit hastiger Anstrengung weg. Er hatte auch gefehlt als sein Schüler. Rotteck hatte ihn einen Weg geführt, und er war ihm nur ein kleines Stück weit gefolgt. Er dachte an seine Arbeit zurück, an das Goya-Manuskript, die vielen engbeschriebenen Foliobogen. Es schien Jahrhunderte her zu sein, seit er den letzten Federstrich daran getan hatte. Aber es waren noch nicht zwei Jahre. Er erinnerte sich genau an den Tag. Es war der Tag vor jener Nacht, da er von seinem Hinterfenster hinuntergeblickt hatte auf die violetten Mordpüppchen im Hof. Sie waren noch kleiner gewesen als dort auf der obern Galerie die Figürchen vor den Nachschlagewerken. Wo mochte das Manuskript jetzt sein? Verstreut wie sein übriger Hausrat, in einem Winkel verstaut, wahrscheinlich als wertlos verheizt.
Wertlos, das war es gewiß. Es verschlug wenig, ob man von Karl dem Vierten sechzehn Bildnisse kannte statt dreizehn. Immerhin, er hatte tausend emsige Stunden und auf Reisen viel Forschungsmühe an diese Arbeit gesetzt. Und schließlich war sie auch mehr und war Besseres geworden als nur ein Katalog. Die Portraitierten lebten in seiner Beschreibung, ja auch der Maler begann schon zu leben. Rotteck hatte angefangen, zufrieden zu sein ... Es war doch schön gewesen, an etwas zu bauen, und war es auch nur am dunkelsten Seitenkapellchen im Dom einer Wissenschaft.
Ein Verlangen kam ihm, durchs Domfenster einen Blick zu tun auf die verlassene Arbeitsstätte. Es war leicht zu befriedigen, nirgends leichter als hier. Er füllte ein paar Verlangzettel aus, aufs Geratewohl und aus dem Gedächtnis. Er verlangte Reproduktionen und zwei, drei Werke über den Meister. Wie geläufig sich alles noch einstellte. Name, Erscheinungsort, Datum! Yriarte, Paris 1867, schrieb er hin, Viñaza, Madrid 1887.
Dann wartete er. Die große Uhr dort oben zeigte vier. In Prag war es jetzt fünf. Da ging Rottecks Arbeitstag noch längst nicht zu Ende. An seinem Fensterplatz saß er und schrieb.
Als die Bücher kamen, schlug Ludwig das auf, das zuoberst lag. Es geschah mit Herzklopfen wie bei einem schicksalbedeutenden Wiedersehen. Das Buch klappte an einer Stelle auseinander, an der eine farbige Tafel eingeheftet war. Es war eine sehr gute Reproduktion. Und es war ein furchtbares Bild.
Einsam der Ort, zwischen kahlen Hügeln, nah einer Stadt. Vor dem Nachthimmel, geisterhaft, ihre Mauern und Türme. Soldaten vollstrecken ein Todesurteil. Am Boden, als Lichtquell, eine riesenhafte Laterne, sie sieht aus wie ein leuchtender Koffer. Scharf fällt ihr Strahl auf die Opfer und auf die nackte Sandwand dahinter. Schon Gemordete liegen in Blutlachen, die Münder noch offen vom letzten Schrei. Der jetzt an der Reihe ist, einer in grellweißem Hemd und grellgelber Hose, breitet die Arme weit aus, sein afrikanisch braunes Gesicht in entsetzter Entschlossenheit dem Tod zugewendet. Um ihn jene, die folgen werden, ohnmächtiges Schlachtvieh, die Hände vors Gesicht geschlagen, die Fäuste schüttelnd, hineinbeißend in ihre Fäuste, Verzweifelte, Rasende, heilig Ergebene. Ein ganzes, betrogenes, geschändetes Volk in einer Gruppe des Jammers. Vor ihnen, zur Rechten, im halben Dunkel, das Mordpeloton, sieben, acht Mann – aber nicht einzelne sind das, nicht Mensch und Menschengesicht, es ist die Maschine, das präzis funktionierende Mordinstrument der Gewalt.
Ein Schrei gegen Unrecht und Missetat das ganze Bild, ein Hilfeschrei aller Zertretenen, die waren und sein werden.
Ist dies Napoleons Zeit, Spanien, das Gemäuer vor dem schwarzen Himmel Madrid? Nichts braucht man zu wissen. Denn es ist ewig dasselbe.
Dies ein Werk aus der Zeit des kalten und leeren Empire? Unglaublich. Dies von der gleichen Hand, die noch Rokokofreuden gemalt hatte? Völlig unglaublich. Aller Mut, jeder Ausdruckswille spätester Kunst war hier schon vorweggenommen. Was war das für ein ungeheurer Mensch, der da durch die Zeiten schrie!
Ludwig schlug einen Band auf, der nichts als Bilder enthielt.
Es waren die ›Desastres de la Guerra‹. Er kannte sie gut, kannte jedes einzelne radierte Blatt in der Sammlung. Aber er wußte schon, daß er diese »Kriegsgreuel« heute anders anschauen würde als ehemals; Was ihm selber die Brust zersprengen wollte, Nacht um Nacht, hier hatte einer die unbegreifliche Seelenkraft besessen, es Kunst werden zu lassen. Hier war mit unersättlicher Trauer, achtzigmal gestaltet, was der Mensch fühlte vor dem stumpfen Hohn der gemeinen Gewalt. Vor Verwüstung und schnöder Untat, die der Bestialismus wollte und organisierte und anpries – damals und heute und immer.
Achtzigmal Elend. Leichen, Leichen, Leichenberge am Boden. Kinder und Weiber vorm Flintenlauf. Da hockt ein Gepfählter mit abgeschnittenen Armen. Eltern suchen unter den Hingestreckten ihren Sohn. Im Spittel flehen taumelnde Skelette die Siechen um Hilfe an. Aufgereiht am Strick ziehen Opfer über die Heide. Männer in Ketten, knirschend im Mauerloch. Da baumelt einer am Baumstrunk, im letzten Hemd, vor ihm lagert sein Henker, in behaglicher Pose, genießend. »Den wären wir los«, steht darunter.
Hingekritzelte Aufschreie überall: »Barbaren!« – »Wilde Tiere sind das!« – »Seid Ihr dazu geboren!« – »Da hilft kein Weinen!« – »Ich hab's gesehen!«
Unter einem Blatt aber, fast am Ende der Reihe, standen diese Worte: »Die Wahrheit starb.« Da liegt sie hingesunken, zur Strecke gebracht, eine weiße Frauenfigur, eher ein sanftes Bürgermädchen als eine Göttin, aber lorbeerumwunden das Haupt. Hinter ihr, schattenhaft, ein Gefühl von Fratzen, die Meute der Hetzer und Meuchler, der Feigen und Heuchler, ihnen allen ist sie erlegen. Ihre Stimme schweigt, aber schweigt sie wirklich auf immer ... Im Bande folgte ein letztes Blatt, ein allerletztes. Da taucht sie empor aus dem Grab, umleuchtet von überwirklichem Licht. Die sie gemordet haben, Purpurschänder, falsche Propheten und feile Richter, alles was von der Lüge leben will, sucht sie zurückzustoßen ins Finstre. »Wird sie auferstehen« – und ein Fragezeichen.
Nein, dies hieß nicht mehr Spanischer Aufstand, 1809, Marschall Soult. Es war eine ewige Gegenwart. Das Grauen dieser Radierungen, ihre brennende Pein – sie waren in jedem fühlenden Menschen, wenn er heute am Morgen seine Zeitung aufschlug. Genau dies stand der Welt aufs neue bevor, im nächsten Jahr oder am nächsten Tag.
Man schrieb März 1936. Deutschland war völlig »erwacht«. Nun riß man sich dort mit Gebrüll die letzten Larven herunter. »Stärkste Militärmacht der Welt!« gellte es dem Kontinent in den Ohren. »Weg mit Verträgen! Verträge sind Fetzen! Wir rüsten, wir befestigen, wir fordern, wir drohen, wir werden erzwingen!« Böses Gewissen in jedem Geschrei. Feige wie nur die Brutalität feige ist, hält man sich schielend zum Rückzug bereit – vor dem ersten männlichen Wort.
Aber es kommt nicht, das Wort. Die europäischen Mächte konferieren. Die europäischen Mächte bedauern Vertragsverletzung. Die europäischen Mächte raten milde zur Einkehr. Die Einkehr wird brüllend verweigert. Die europäischen Mächte nehmen das höflich zur Kenntnis.
Jeder weiß, wie es steht dort in dem geknebelten Lande. Der Volkskörper ausgeblutet, die Wirtschaft verreckend, was sie ihr Geld nennen, so gut wie Tapetenpapier. Einmal muß es ja losbrechen, das stampfende Ungeheuer, mit Hauern und Klauen, nachdem man ihm alle Säfte und Kräfte verfüttert hat. Es wird ja nicht gerade wieder in Spanien sein! Spanien ist ruhig in diesem Frühjahr. Spanien liegt abseits. Geschichte wiederholt sich nicht so genau. Wohl aber wiederholt sich Tyrannei und ihr Schicksal. So mußte damals ein Weltherr, ein wirklicher, auf immer neue Entladungen sinnen, ein Jahrtausendgehirn, nicht irgendeine alberne Imitation von Imitationen. So brach er in Spanien ein, endlich in Rußland, und zerschmetterte erst seine Hunderttausende und zuletzt sich selbst. Ewig zahlt das Volk. Ewig baumeln Verstümmelte an den Bäumen, ewig schwingt ein rasender Bauer das Beil, ewig ziehen am Strick die zum Tod Bestimmten über die Heide.
Der das geschaut, gewußt und für immer aufgezeichnet hatte mit der Radiernadel – wie unter einem Nachtgewitter zuckte seine Gestalt vor dem Erschütterten auf. Er sah nicht mehr Einzelheiten dieses Werks und dieser Laufbahn, es war ein Inbegriff, war eine Vision, was über ihn kam. Das Leben des Malers Francisco de Goya zu schreiben – nie hatte ihn auch nur der Gedanke berührt. Jetzt war er da und war schon ein Zwang.
Da stand der Mann, eine Riesenfigur, an der Scheide zweier Zeitalter, doppelgesichtig. Ein Gesicht noch der alten, heiteren Welt zugekehrt, sie schwelgerisch auskostend, in Bildern von klarem Glanz ihr zärtlichster Sohn. Das andere einer neuen Zeit zugewendet, der der Massen, Maschinen, keuchenden Kämpfe. Ganz für sich stand er da, inmitten einer Generation, die in ihrer Kunst nur das Flache und Schwache hervorbrachte. Er spannte seine Arme aus über zwei Jahrhunderte Malerei. Da er zur Welt kommt, erinnern sich alte Leute noch an Velazquez, und da er stirbt, wird Manet geboren. Und was für ein Dasein! Welch ein Lauf vom Bauernsohn zum goldüberschütteten Maler einer todgeweihten Gesellschaft, auf den auf der Höhe eine furchtbare Trauer fällt mit der Ertaubung, die einsam macht. Der das Holde liebend geformt hat, wird heimisch unter Dämonen. Der Bettfreund der Grandenfrauen umarmt Gespenster. Seinem Pinsel und Stift ist keine Bewegung zu wild, das Ungeheuerliche nicht gräßlich genug, der Abgrund zu flach. Und aus dem Abgrund vernimmt sein taubes Ohr den eisenkehligen Schrei nach der Freiheit. Er war sehr berühmt gewesen, jetzt ist er allein. Sein Werk ist verstreut, halb verloren, er trägt nicht Sorge, die Blätter zu sammeln. Es ist ja doch alles ins Wasser geschrieben. Auch Kinder von Fleisch und Blut hat er gehabt, viele, zwanzig wohl an der Zahl, alle sind tot, es lebt ihm ein einziger Sohn. In einem Landhaus sitzt er, mit dem Blick über kastilische Öden. Selten kommt noch ein Freund. Seinen Pinsel in der Hand geht der Abgeschlossene durch die Zimmer und bedeckt alle Wände mit undeutbaren Gesichten. Niemand braucht sie zu sehen. Niemand würde sie je begreifen. Manchmal kratzt er sie ab und malt noch Entsetzlicheres, eine Hexen- und Spukwelt, Grauen und Bosheit und zerreißenden Schmerz, leichenfahl oder frischblutend – und dazwischen, sehnsuchtsvoll, ein Stück Himmelsblau oder Erdengrün. War es eine Flucht in den Wahnsinn? War die Last des Mitleidens nicht mehr zu tragen? Trost gab es ja nicht. Er war nie gläubig gewesen. Hatte er Kirchenbilder gemalt, immer wurden sie schlecht.
Aber es war nicht der Wahnsinn. Aus den Schwaden der Höllenvisionen taucht ein fester, ruhiger Alter hervor. Von neuem malt seine Hand Volksfiguren und Bildnisse, seine schönsten, griechisch klar, leuchtend einfach, froh und real. Er ist gesund geblieben der Meister, er war niemals krank. Und fast schon achtzig nimmt er den Stab und verläßt sein Land. Als ein freundlicher Greis lebt er die spätesten Jahre in Frankreich. Und legt sich, der von nichts als Spanien gewußt hat, in Frankreichs Erde zur Ruhe, über die längst kein Dämon mehr herrscht –
Ludwig hörte, daß jemand ihn anrief. Er tauchte empor wie aus einem tiefen Brunnen. Im Saale war niemand mehr. Die Uhr zeigte sechs. An der Türe der Pförtner klapperte mit seinen Schlüsseln.
Er machte den Lesedom zu seiner Heimat. Man kannte ihn schon, er war eingereiht.
Dreimal in der Woche kam er am Morgen her und dreimal am Nachmittag. Es war ihm geglückt, seine Lektionen so zusammenzulegen, daß dies möglich wurde. Und er vollführte die doppelte Aufgabe mit der Unabnutzbarkeit eines Menschen, der noch nicht dreißig ist. Zum ersten Mal durchdrang ihn das Gefühl, daß er etwas vollenden könne, zu etwas berufen sei. Er rannte einen steilen Berg hinauf mit unverbrauchten, kräftigen Lungen.
Es drängte ihn zu seiner Arbeit, wie es einen zu seiner Geliebten drängt. Daß der Autobus langsam fuhr und zwanzigmal anhielt, machte ihn wild vor Ungeduld. Endlich durchschritt er das Atrium, den kleinen Gang, die innere Tür, und da war gleich zur Rechten sein Platz. Er sah ihn jedesmal mit einem neuen Glücksgefühl wieder.
Er liebte alles an ihm.
Das schwarze Leder der Tischplatte, die herunterzuklappenden Bücherpulte zu beiden Seiten, auch sie mit Leder bezogen und sogar gepolstert, die zwei Plätzen gemeinsame Hängelampe, die an so vielen trüben Londoner Tagen entzündet werden mußte. Den alten Diener, der ihn mit einem zurückhaltenden Lächeln grüßte, den umlaufenden Fries mit den Namen der englischen Schriftsteller, die Stille, die Kuppel mit ihrem gläsernen Auge, über das die Schatten der Wolken zogen.
Er erzählte dies Leben. Die Umwelt von Goyas Kindheit und Jugend, sie war da vor seinen Augen, die strenge, unerbittliche Landschaft von Aragon, der ärmliche Flecken vor Zaragoza, wo er zur Welt kam, dann die seltsame Stadt selbst, abweisend steinerner Traum, Alptraum fast, mit der schwarzen Madonna als innerstem Heiligtum.
Er war zweimal dort gewesen. Mit unvermuteter Klarheit lebte das Land noch in ihm. Er kannte auch seine Menschen. Der Bauernbursche Francisco, Malschüler in Zaragoza, er war ihm physisch vertraut. Groß und breit über seine Jahre stand er da, überschäumend stark, zum Welteinreißen. Ludwig spürte seinen Mut, seine Beweglichkeit. Er kannte den früh Verliebten, den Fenstersänger und Lautenschläger, den kein heranklirrender Polizeisäbel schreckt. Den eifersüchtigen Raufer, den Händelsucher, Haupt einer Rotte, die mit schallendem Lied durch die Häuserschluchten marschiert, anmaßende Herren der Welt. Ein böser Handel sodann. Es liegt einer tot. Der Anführer muß sich verstecken. Fromm ist er auch nicht, sein Name steht im schwarzen Buch der Inquisition. Sie helfen ihm fort. Mit neunzehn Jahren ist er schon in Madrid.
Ludwig schrieb zuerst fast ohne Besinnung. Er überlas nicht, was dastand, aus Angst, alles werde ihm schal und nichtig vorkommen. Und mit Erstaunen merkte er eines Tages, daß er sicher war. Daß ihm die Sprache sich wirklich darbot, daß seine Sätze ihren festen Gang hatten und den Atem des Lebens. Freilich, es war nicht überall er selbst, der da schrieb! In mancher Kadenz, in der Art wie ein Abschnitt endete, erkannte er noch den Stil seines Meisters. Er löschte das nicht hinweg. Dann wurde die Abhängigkeit schwächer, und sie verlor sich.
Draußen waren jetzt schöne Tage. Die Sonne kam durch den Ruß. Von den Blumenkarren, die an den Ecken hielten, duftete es weithin. Im Park die Terriers und Collies tummelten sich auf Wiesen, die einen smaragdenen Schimmer annahmen.
Er sah das flüchtig, zehn Minuten am Morgen, wenn er zur Arbeit ging. Die Vorstellung, auf einer der Bänke hier mit einem Buch zu ruhen, hatte sich noch keinmal erfüllt. Steiger allein kam hierher und nährte aus alten Staatspapieren seine dynastischen Phantasien.
Die Leserschaft in der Bibliothek war jetzt weniger zahlreich. Öfters blieben neben Ludwig zu beiden Seiten die Plätze leer. Es fiel ihm kaum auf. Er kannte nicht ein Gesicht. Wohl aber kannte er die Gesichter der drei Stierkämpfer, mit denen zusammen sein Goya sich nach dem Hafenplatz durchschlug, um aufs hohe Meer und so nach Rom zu gelangen. Denn Goya war jetzt in Rom. Schon kletterte er an Sankt Peter empor, um in gefährlicher Höhe seinen unberühmten Namen in die ewige Kuppel einzukratzen.
Eines Nachmittags im April – die Sonne blitzte durch das Lichtauge oben – sah Ludwig neben sich, zur Linken, eine Hand liegen. Es war eine weibliche Hand, und sie ruhte ganz still auf der Grenzscheide zwischen Ludwigs Bezirk und dem nächsten. Er sah einen Augenblick nach ihr hin und vergaß sie. Aber nach einer Viertel- oder halben Stunde, als sein Blick zufällig wieder die Richtung nahm, lag sie immer noch da, genau in derselben Stellung wie vorher. Die Frau, der sie gehörte, konnte in der ganzen Zeit ihre Körperhaltung nicht geändert haben.
Es war eine bräunliche Hand, an den Knöcheln etwas tiefer gefärbt, zart, gestreckt und erstaunlich schmal. Ihr Rücken war nicht breiter als bei anderen Menschen drei Finger sind. Es war die adeligste Menschenhand, die er seit vielen Jahren gesehen hatte – seit wie lange denn schon? Seit dem Tod seiner Mutter. Ja, diese Hand glich der seiner toten Mutter Anna Beatrix.
Ihr Gelenk war ganz eng von einem ziemlich groben, blauen Wollstoff umspannt, und darüber trug die Leserin ein Armband, breit und biegsam, aus vielen kleinen Silberplättchen zusammengesetzt. In dieses Armband war eine Münze eingelassen.
Er erkannte die Münze. Es war Arethusa – wer sonst. Es war das Haupt der jugendlichen Göttin, ihre Stirn, ihr Mund, das ernste liebliche Lächeln. Die ersten Lettern des Stadtnamens waren deutlich zu lesen, und am Rande wiegten sich Fischlein.
Es war die Dekadrachme von Syrakus.
Ludwig richtete sich auf seinem Stuhl in die Höhe, vorsichtig, um die Nachbarin zu betrachten. Das Leder krachte ein wenig, es scholl ihm laut. Er wandte langsam den Kopf nach ihr.
Er wußte nicht sogleich, ob sie es war. Er fragte nicht einmal sehr eindringlich danach. Er wußte nur, daß sich in diesem Moment sein Dasein veränderte.
Sie saß da, das Haupt in die Linke gestützt, und schaute auf ein großes Buch, das sie vor sich hingelehnt hatte. Nichts verriet in ihrem Gesicht, daß sie den Druckzeilen folge. Es sah eher aus, als träumte sie durch das Buch hindurch.
Von ihrem Auge war nichts zu sehen, als ein seidiger Schleier hing die schwarze Wimper davor. Von dem kleinen Ohr, das ausgeformt war wie ein Schmuckstück, war das glatte und reiche Haar weggestrichen, dunkel, nächtig dunkel, von »purpurner Schwärze«, und gab eine schmale Wange frei, die bräunlich erschien, wüstenhaft fast. Aber die kleine, gerade Nase war Arethusas, und es war Arethusas rundes und festes Kinn. Ihr Mund hatte sich leicht geöffnet in der Versunkenheit, es war ein Mund mit vollen, etwas zu vollen Lippen, dessen Ausdruck schmerzlich wirkte, und der trotzdem – oder war es deshalb – ein wehes Begehren erweckte. So saß sie und träumte durch ihren Folianten hindurch.
Er wagte nicht, lange hinzusehen. Ja, sie mußte es sein. Hatte er denn nicht auf diese Wiederbegegnung gewartet, seit sie damals mit strömenden Tränen auf dem Holzstuhl gesessen hatte im Haus seines Vaters, neben dem flammenlosen Kamin?
Dann begann er zu zweifeln. Er hatte sie damals kaum angesehen. Eigentlich konnte er sich nur an ihre Tränen erinnern. Und diese Münze – sie war nicht die einzige, die sich gerettet hatte durch die Jahrtausende.
Er mußte sie fragen. Aber es kam ihm vor, daß seine Stimme, auch flüsternd, wie Donner schallen würde im stillen Saal.
Er trennte von einem Manuskriptblatt einen Zettel ab und schrieb darauf: »Ich glaube, daß Sie Ruth Wetzlar sind. Darf ich mit Ihnen sprechen?« Und er schob ihn neben die Hand mit der Münze.
Die Hand rührte sich nicht. Die Frau schien den Zettel gar nicht zu bemerken. Aber auf einmal wandte sie Ludwig den Kopf zu und maß ihn aus schwarzdrohenden Augen, mit einem vor Ablehnung fast kranken Gesicht. In ihrem Blick war Widerwille und Verachtung und zugleich eine wunde Scheu und Angst. Gegen diesen Blick gab es keine Berufung.
Gleichzeitig ergriff sie das Blatt, knitterte es mit einer krampfigen Bewegung zusammen und schleuderte den Knäuel zu Boden.
Dann versuchte sie zurückzukehren zum Buch. Aber sie war gestört, ihre Lust an Traum oder Lektüre dahin durch die Impertinenz dieses Unbekannten. Sie stand auf, nicht sehr leise, sondern mit Nachdruck, legte ihr Buch am Aufsichtstisch nieder und war schon beim Ausgang.
Einen Augenblick noch, und er konnte sie nicht mehr erreichen. Schon mußte sie durch den Vorraum hindurch sein, die Stufen hinunter, sie verschwand unter den zehn Millionen.
Er ließ seinen Arbeitsplatz liegen so wie er war und stürzte ihr nach. Er rannte über die majestätische Treppe, durch den weiten Vorhof, durchs Gittertor.
Great Russell-Street war fast menschenleer. Gerade dem Tor gegenüber, vor dem Thackeray-Hotel unterhielt sich der Portier mit einem Taxichauffeur.
Er sah sie nicht mehr. Linkshin war es zu weit bis zur Straßenkreuzung, die konnte sie nicht erreicht haben. So lief er nach rechts. An der Ecke von Museum-Street hielt er an und hielt Ausschau.
Da war sie – ein gutes Stück schon entfernt. Schlank und groß ging sie dahin, mit starken, noch immer unmutigen Schritten. Sie trug keinen Hut. Das purpurn schwarze Haar lag ihr an wie ein Helm.
Er rannte einfach hinter ihr drein. Es war als spürte sie es, sie beschleunigte noch ihren Schritt. Aber er lief wie einer, der um sein Leben läuft. Auf einmal war sie verschwunden. Und wie er selbst um die Ecke bog, prallte er fast an sie an. Sie stand vor dem Lädchen eines Buchhändlers und blickte hinein. Noch atmete sie tief von ihrer Flucht.
Sie richtete wieder groß ihre Augen auf ihn, diese Augen voller Nacht, Scheu und Mißachtung. Sie öffnete zornig den Mund.
Er hob seine Hand. »Ruth. Ruth. Ruth«, sagte er langsam, »da sind Sie. Ich habe Sie immer gesucht.«
Zwar wurde sie ruhig, als er ihr sagte, wer er sei, aber es war keine Freude in ihren Augen, kein rechtes Erkennen, kein Echo für das stürmische Wiedersehensglück, das er selber empfand. Sie wendete nichts weiter ein, als er vorschlug, irgendeine Teestube aufzusuchen, um da in Ruhe zu sprechen. Nur schien sie nicht zu finden, daß zwischen ihnen viel zu besprechen sei.
Es störte ihn nicht. Er fühlte sich kräftig, jedes Hemmnis zu überrennen. Aber wie sie in dem kleinen Raum als die einzigen Gäste einander gegenübersaßen, wußte er nicht wo beginnen und redete, zu seiner Beschämung, belangloses Zeug. Sie betrachtete ihn mit traurigem Spott.
»Was haben Sie für ein Zucken da an der Schläfe?« sagte sie auf einmal, und eigentlich war es das erste, was er von ihr vernahm. Sein Leidenszeichen, sein Lebensmal, sie nannte es sogleich beim Namen. Die Frage kam wie ein Schock für ihn und dennoch vertraut, ganz natürlich.
Ihre Stimme war tief, süß und klingend, und erweckte die unmittelbar körperliche Vorstellung ihres schmalen Rückens, der wie ein Geigenrücken erzittern mußte unter dem vollen Laut. Ludwig war, als liege seine Hand auf diesem Rücken, und er spüre sie leben. Vom ersten Augenblick an war er sinnlich verliebt in das dunkle, schöne Wesen und zugleich voll einer behutsamen Zärtlichkeit, einem Wunsch zu schützen und zu stützen. Und er wußte nicht, was beglückender war.
»Das Zucken da«, sagte er, »ich weiß nicht recht, was es ist. Vielleicht –«
Er verstummte. Da er im Gegenteil sehr genau wußte, woher ihm das Zeichen geblieben war, wäre es natürlich gewesen, nun zu erzählen. Von dem unbekannten Mädchen in Frankfurt, das ihr glich, deren Blick ihm den Weg gewiesen hatte – und von allem, was weiter geschehen war. Aber es war ganz unmöglich. Er brauchte sie ja nur anzuschauen, um zu wissen, daß an ihr nichts vernarbt war, daß sie noch immer wund war an ganzer Seele. Kein Wort war erlaubt, das mit ihrem Vater und seinem Geschick zusammenhing.
»Wollen Sie behaupten«, sagte sie wieder, »daß Sie mich dort im Museum so einfach erkannt haben? Damals, vor acht Jahren, war ich ja ein Kind.«
Er antwortete nicht sogleich. Beide sahen sie sicherlich in diesem Augenblick das gleiche vor sich: den Salon im Camburger Schloß, die englischen Sessel, den Herzog und seinen Gast. Und vielleicht spürte sie auch die Tränen wieder, die ihr damals die Wangen herabliefen.
»Woran ich Sie wiedererkannt habe!« Er streckte die Hand aus und deutete auf Arethusa. Es geschah zaghaft, auch dies war ein Weg hinein in schmerzhafte Erinnerung. Alle Wege führten dorthin –
Aber sie lächelte. Sie betrachtete zärtlich die Münze. Ihr Lächeln schimmerte über das dunkle Gesicht, wie der Mond aufgeht über einer dämmerigen Landschaft. Und er wußte, daß es seine schwere, wundervolle Aufgabe sei, dies Licht immer wieder heraufzuführen über ihr Antlitz.
»Mein Gott«, sagte er, »sind Sie schön, wenn Sie lächeln! Ich glaube, Sie tun es nicht oft. Von Ihren Augen hat man mir ja erzählt und von Ihrer Stimme, aber davon nicht.«
»Man hat Ihnen erzählt. Wer?« fragte sie mißtrauisch. Das Lächeln war fort.
»Der Chauffeur Martis.«
Sie zuckte zusammen, schloß die Augen, und ihr ganzer Körper steifte sich wie gegen eine herandrohende Gefahr.
Er nahm einfach ihre Hand. Er sagte: »Ruth – nicht! Haben Sie keine Angst. Ich spreche jetzt nur von Martis, nur von ihm. Das ist ein herrlicher Mann. Ich bin zu ihm gekommen, er hat mich gar nicht gekannt. Aber er hat mich an seinem Tische sitzen lassen, er hat mir ein Bett gegeben, und er hat mir geholfen. Ohne zu fragen hat er geholfen, mit eigner großer Gefahr. Es ist solch ein Trost, daß es Männer gibt wie den Martis, sogar dort. Eines Tages müssen wir ihn wiedersehen, finden Sie nicht?«
»Wir?« sagte sie, »ein sonderbares Wort – wir. Sie binden uns da zusammen mit Ihrem Wir!«
So war das Gespräch weiter gegangen, ein fast unmögliches Gespräch für Ludwig. Es war, als hätte er einen Kranken zu tragen, an dessen ganzem Leib keine Stelle heil ist. Aber es war ihm süß, solche äußerste Behutsamkeit zu üben. Als wäre er mitverantwortlich für alles, was ihr angetan worden war, ihr und ihrem Volk, und hätte die Aufgabe, es gut zu machen. Er hätte später kaum sagen können, wovon sie geredet hatten, manchmal entstanden lange Pausen, aber gerade diese Minuten des Schweigens brachten sie näher zueinander als die schwierigen Worte, und die Zeit verging, eine lange Zeit. Ein paar Gäste waren inzwischen dagewesen und wieder weggegangen. Das Servierfräulein war gewiß verwundert über die beiden, die da ihre Teestunde in den Abend hinein ausdehnten. Aber einwenden konnte sie nichts. Es waren gute Gäste.
Denn mit einem Mitleid, das er kaum aushielt, sah Ludwig, daß sie hungrig war. Sie trank drei Tassen von dem chinesischen Tee, der nicht besonders aromatisch war, und aß ein Stück nach dem andern von dem buttergetränkten Toast, der dazu serviert wurde. Ihr Gesicht blieb still und unbeteiligt dabei, aber sie verschlang ihn geradezu. Ihr Körper schrie nach Nahrung. Die bräunliche Wange war ja auch blutleer und die vollen Lippen beängstigend bleich. Es mußte ihr elend gehen. Ludwig stand auf, winkte die Bedienerin hinaus, und sie brachte eine Platte mit kaltem Fleisch und Geflügel. Ruth sah ihn an, ein wenig Blut stieg ihr in die Stirn, aber sie bedankte sich nicht und aß von den guten Sachen. Er hätte am liebsten geweint.
Es war völlig dunkel, als sie wieder auf der Straße standen. Der Abend war kühl.
»Das Museum ist zu«, sagte Ruth. »Jetzt müssen Sie ohne Mantel nach Haus, und bekommen einen Schnupfen zur Strafe.«
»Er war eine Lungenentzündung wert. Welchen Autobus nehmen Sie?«
»Das geht Sie gar nichts an!« Was von beginnender Vertraulichkeit dagewesen, war schon wieder fort. Niemand sollte ihrem Leben zu nahekommen! Er sollte nicht einmal wissen, in welchem Stadtteil sie wohnte.
Schließlich teilte sie trocken mit, daß sie am übernächsten Nachmittag wieder im Museum sein werde, und war eingeschluckt von der Dämmerung.
Als Ludwig verspätet nach Hause kam, wo Steiger mit Unruhe auf ihn wartete, konnte er sich zu keiner Erklärung entschließen. Ihm war ganz zu Mut, als habe er eine Untreue an dem Gefährten begangen, da nun ein Gefühl in sein Dasein gekommen war, das über ihre Freundschaft so gewaltig hinausging. Sie aßen fast stumm. Aber als abgeräumt war, setzte er sich an den Tisch und schrieb wiederum einen Brief mit der Adresse Frankfurt-Sachsenhausen, Zwischenstraße 8 A.
Und nun begann eine Zeit der seltsamsten Werbung. Wochen hindurch blieben ihre Begegnungen auf die Lesehalle beschränkt, und ihr Gespräch auf ein paar geflüsterte Worte. Das war enttäuschend, er hatte wenigstens auf Wiederholungen jener Teestunde gehofft. Dann kam ein Spaziergang im Hydepark, bei dem sie aufgeschlossen, fast heiter erschien, und der sich weit ausdehnte, bis hinaus zum Schlößchen von Kensington. Aber bei der nächsten Begegnung war sie wieder verschlossen und fremd. Er mußte Geduld üben, lange Geduld, jahrelange vielleicht. Er durfte auch weiterhin Vergangenes nicht berühren, mußte tun, als ob es Deutschland und deutsches Unheil nicht gäbe. Als sie sich vor dem Museumsportal wieder einmal trennten, spürte er unvermutet einen festen Druck ihrer Hand.
Sie sagte: »Denken Sie nicht, ich wüßte nicht, wie gut Sie zu mir sind. Wie gut und wie geduldig. Ich muß Ihnen schon ganz abscheulich vorkommen, Ludwig.«
Er nickte: »Vollkommen abscheulich. Abscheulich wie die Sonne und wie die Luft, von der ich lebe. So. Damit Sie es einmal wissen. Und nun gehen Sie und springen auf Ihren Autobus mit der mystischen Nummer!«
Und dann erfuhr er, langsam und bruchstückweise, doch etwas über ihre Schicksale in London.
Sie war, nachdem das Unglück geschehen war, nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Dort hatte sie nichts zu suchen – nichts als eine Urne in einer Mauernische des Frankfurter Friedhofs. Die Genfer Freunde, mit denen sie auf jene Südfahrt gegangen war, boten ihr ein Asyl. Aber sie spürte plötzlich, in ihrem wilden Schmerz, daß diese gutartigen Leute sie nichts angingen. Sie besaß gerade noch Geld genug, um nach England zu gelangen. Vielleicht dachte sie damals noch, daß doch irgendein Teil ihres Erbes an sie ausbezahlt werden müsse. Aber es kam nichts als, Monate später, der Brief eines unbekannten Anwalts und ein Päckchen mit persönlichen Andenken an den Vater. Die Dekadrachme von Syrakus war dabei.
Nach dem Tode des Herzogs Philipp war sie, seinem Testament gemäß, an Jacques Wetzlar zurückgefallen. Sie hatte er in der Nacht vor seinem Ende heimlich an sich genommen, und sie hatte man in seiner Rocktasche gefunden.
Ruth war bettelarm in London und völlig allein, allein mit ihrer Trauer und ihrem Haß. Auf ähnlichen Wegen wie Ludwig hatte sie Beschäftigung gefunden. Es war eine anständige, nicht entwürdigende Unterkunft, ein Platz bei Kindern, in einer Familie aus gehobenem Mittelstand, irgendwo in Bayswater. Sie hatte ein gutes Bett hier, reichliches Taschengeld, man fand es selbstverständlich, daß sie mit am Familientisch saß. Ach, ihr wäre wohler gewesen, mit den Dienstboten in der Küche zu essen.
Denn es war viel von Deutschland die Rede an diesem Tisch, von Herrn Hitler und seinen Gesetzen. Und es war in einem Sinn davon die Rede, daß sie es schwer ertrug. Wenn bei den weltkundigen Großbürgern der Hilfscomités das Schicksal der deutschen Juden Schmerz und Hilfsbereitschaft wachrief, so tat man hier diese Leiden mit einem Achselzucken ab. Die dort drüben ausgeraubt und verstoßen wurden, das waren für die spießig Gesättigten hier »Ostjuden«, »Polacken«, die man sich besser vom Halse hielt. Was hatten sie's nötig gehabt, sich in Politik einzumischen, »Revolution zu machen«. Da hatten sie's nun.
Man bezog das nicht auf Ruth. Niemand fiel es ein, daß sie leiden könnte unter solchen Gesprächen.
Sie hatte es sich zur Pflicht gesetzt, völlig ruhig zu bleiben, niemals einen Protest zu äußern. Die Kinder, ein kleines, schwarzlockiges Mädel von vier Jahren und ein kluger Junge von sechs, waren zutraulich und vergnügt, sie tat ihr Bestes an ihnen. Um mehr hatte sie sich nicht zu kümmern.
Vielleicht wäre auch alles gutgegangen ohne die Besuche des Bruders der Hausfrau, der wöchentlich einmal mit der Familie zu Mittag aß. Dies war ein Junggeselle in den Dreißigern, von nicht ganz sicherer Eleganz, mit vom Rasieren bläulichen Backen, Inhaber eines Damenhutgeschäfts an der Shaftesbury-Avenue. Er gehörte zum Schlag der stets am besten Orientierten und galt hier als eine Art von Orakel. Immer hatte er den Brief eines Berliner oder Kölner Geschäftsfreundes in der Tasche, der bewies, daß es sich bei all diesen Geschichten um Erfindungen handle, um moskowitische Propagandalügen, einfach dazu bestimmt, die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern zu stören. Den anderen am Tische war es hochwillkommen, sie nickten schafsmäßig dazu.
»Nicht einem von diesen Polacken ist etwas Ernstes passiert, nicht einem einzigen!« rief der Orientierte und sah sich voll hoher Gewißheit im Kreise um.
Aber gerade dieser kleine Satz war zu viel gewesen für Ruth, vielleicht nur das eine Wort »einem«. Sie erzitterte über den ganzen Leib, in einem Krampf zerdrückte sie das Wasserglas, das sie eben zum Mund führen wollte, das Blut lief ihr über die Hand und tropfte aufs Tischtuch. Sie war aufgesprungen und rief in abgerissenen Sätzen den Verblüfften ihren Widerwillen in das Gesicht. Man lief ihr nach, man suchte sie zu beruhigen. Man zürnte ihr nicht, diese guten Leute waren zum Zorn gar nicht fähig, man war völlig bereit, zu vergessen und sie im Haus zu behalten. Sie hörte nicht hin. Sie warf ihre Habseligkeiten in ihr Köfferchen, nahm nicht einmal Abschied von den beiden Kindern – sie würden ja doch ebenso werden, ganz ebenso – und stand auf der Straße.
Es gelang, einen neuen Posten für sie zu finden. Die Familie hatte an den Wohlfahrtsausschuß berichtet, ratlos, nicht etwa aufgebracht. Es war klar: das Mädchen war nicht ganz richtig im Kopfe. Ruth zeigte sich außerstande, ihr Verhalten zu erklären und zu entschuldigen, übrigens billigte sie es bei kühlerem Blute selbst nicht mehr. Aber die Herren des Comités zeigten Verständnis. Man verschaffte ihr eine Existenz bei einem kinderlosen Ehepaar – einem gut anglikanischen diesmal –, eine nicht recht definierte Stellung zwischen Hausmädchen und Gesellschafterin. Sehr bald war von den Hausmädchenpflichten nichts übrig. Der Mann, ein beschäftigter Anwalt, hatte reichlich gesellschaftlichen Verkehr zu pflegen, und seine Frau fand sich darin durch Ruth auf das Angenehmste entlastet.
Aber diesmal kam das Unheil von andrer Seite. Der Mann faßte eine leidenschaftliche Neigung zu der jungen, schönen Person, die da unversehens in seinen Umkreis getreten war. Es kam kein Übergriff vor, er benahm sich im Gegenteil zurückhaltend und sogar scheu, bis er eines Tages zu ungewohnter Zeit aus seiner Kanzlei nach Hause kam und ihr mit seltsam unbeholfenen Worten seine Liebe und seine Hand antrug. Er werde kein Ungemach, keine soziale Einbuße, auch kein Geldopfer scheuen, um seine Scheidung durchzusetzen.
Ruth war auf das Peinlichste erstaunt. In seiner Haltung hatte sie eher Antipathie zu spüren geglaubt. Einen Augenblick hatte sie mit einem nervösen Lachen zu kämpfen. Dann aber versuchte sie alles, um ihn von dieser Laune, wie sie es nannte, abzubringen. Seine vertrauende Frau so aus allen Himmeln zu stürzen, sei ganz undenkbar, nie dürfe sie auch nur erfahren, was ihm da durch den Sinn oder eher durch die Sinne gegangen sei.
Aber dafür war es zu spät. Die Aussprache mit seiner Frau habe bereits stattgefunden, erklärte der Betörte, jetzt vor zwei Stunden, in seinem Bureau. Er vermöge das Zusammenleben mit ihr nicht mehr auszuhalten, hier gebe es keine Wahl.
Es folgten qualvolle Tage. Die Frau, ein wenig schönes und schwaches Geschöpf, flehte Ruth an, von ihrem Gatten abzulassen. Sie war überzeugt, daß jedes weibliche Auge ihn begehren müsse, und daß es nur an einem Entschluß des Mädchens liege, ihr Eheglück wieder herzustellen. Ihren Beteuerungen glaubte sie nicht.
Ruth verließ dieses zweite Heim in Verzweiflung. Sie war gezeichnet, jeder Schritt, den sie tat, brachte sie und andere ins Unglück. Warf sie sich denn nicht unablässig jene einzige Erholungsreise vor, die sie als erwachsener Mensch unternommen: ohne die hätte der Vater gewiß noch gelebt. Jetzt gab sie sich auf. Widerstand war doch nutzlos.
Nach dem doppelten Fehlschlag hatte sie nicht mehr den Mut, das Comité um Empfehlung zu bitten. Mehrmals wechselte sie die Unterkunft, überall war es zu teuer, und sie fand schließlich ein Obdach in einem abbruchreifen Hause, bei einer halbtauben Frau, der da provisorisch ein paar Zimmer belassen waren. Es kostete hier fast nichts. Sie lebte vom Verkauf ihrer letzten Gegenstände und von gelegentlichen Übersetzungen für eine populäre Encyklopädie, die elend bezahlt wurden. So kam es, daß auch sie in dem Kuppelsaal heimisch wurde. Sie tat ihre Arbeit ohne Lust, ohne Aufschwung, Kunst und vergangene Kultur waren tote Materie für sie, da der, mit dem sie sie hatte betrachten können, der Vater, nicht mehr am Leben war.
In diesem Zustand hatte Ludwig sie gefunden.
Sie maß ihm das Zusammensein karg zu. Noch immer mußte er im Gespräch gleich behutsam sein.
Der Name ihres Vaters war nie, nicht ein einziges Mal, über ihre Lippen gekommen. Sie aus ihrer Starre befreien zu wollen, erschien ihm manchmal ganz hoffnungslos. Aber dann kam, zu Ende April, an einem schon sommerlichen Tag, ein Ausflug in die prangenden Gärten von Kew, und hier fragte sie zum ersten Mal nach seiner Arbeit.
Er hatte im stillen darauf gewartet, und er sprach ihr sogleich ausführlich davon. Sie erwärmte sich, zeigte sich unterrichtet, frug begierig nach Einzelheiten. Als sie heimkehrten, stellte er mit Beschämung fest, daß er zwei Stunden lang von sich selber geredet hatte.
Aber es zeigte sich, daß hier der rechte Weg führte. Dies war neutraler Boden, ohne Gefahr. Sie bat um Einblick in sein Manuskript. Zwei Tage später war sie mit dem Gegenstand völlig vertraut, hatte Einwände, Vorschläge. Dankbar fühlte er sich bestätigt. Es beflügelte seine Arbeit, daß nun ein Auge da war, auf sie zu warten.
Inzwischen beobachtete er mit Betrübnis, daß ihr physischer Zustand sich nicht besserte. Sie schien ihm zarter und zarter zu werden. Er zerbrach sich vergeblich den Kopf, wie es anzustellen sei, ihr ein wenig zu Hilfe zu kommen. Aber die geringste Andeutung erbitterte sie. Offenbar empfand sie nachträglich ein Unbehagen darüber, daß sie sich an jenem ersten Nachmittag in der Teestube hatte gehenlassen, und die Folge war, daß sie argwöhnisch darauf bedacht war, auch nicht einen Bissen mehr anzunehmen. Das war grotesk. Dennoch begriff er sie. Es gehörte zu dem Leidensbild ihrer schwer getroffenen Natur. Sie hatte, wie Rotteck, wie Steiger, innerlich nicht standhalten können, niemand konnte sagen, ob die Wunde heilbar sei.
In seiner Arbeit war er jetzt zu einem Einschnitt gelangt. Was vorlag, war wie ein geschlossenes kleines Buch ›Goya's Jugend‹. Die Entwicklungs- und Sturmzeit lag dahinten, und der »Maler des Königs«, ein Mann nun gegen die Vierzig, begann sein weitausgreifendes Werk als Portraitist. Ludwig revidierte noch einmal sorgsam, strich und ergänzte, und sandte, mit einem Entschluß, die gesäuberte Handschrift an einen Verlag. Eine Übersicht über den fehlenden Rest schloß er bei.
Da er an einen Erfolg im Grunde nicht glaubte, war ihm das beste, berühmteste Haus gerade gut genug. Es war ja einerlei, wer ihm das Paket nun zurücksandte. Aber es kam ein Brief. Das Teilmanuskript, schrieb der Verleger, sei von seinem deutschen Lektor geprüft worden, er selber freue sich darauf, sich mit dem Verfasser über seinen Plan zu unterhalten. Das Rendezvous war auf vierzehn Tage vorausbestimmt.
Es klang verheißungsvoll. Aber beglückender als die Hoffnung selbst war der Anteil, den er Ruth an ihr nehmen sah. Fiebrig erregt, ja ganz außer sich, sah sie die Aussicht gleich als Erfüllung – und ihr selber war das Glück widerfahren.
Er nahm die Gelegenheit wahr, sie an ihren Besuch in der Charlbert-Street zu mahnen, den sie immer wieder hinausschob. Jetzt sei doch Anlaß zu einer kleinen Feier. Gern werde sie kommen, sagte sie gleich. »Zum Abendessen?« fragte Ludwig, und das Herz schlug ihm unvernünftig. »Auch zum Abendessen, wenn es Herr Steiger erlaubt.« In ihrer dunklen Stimme war ein Doppelklang von Fröhlichkeit und zärtlicher Ironie.
Er hegte selber unbestimmte Befürchtungen. Würde Steiger nicht, aus seinem recht besondern Gesichtswinkel, Ablehnung gegen diese Fremde zeigen, eine störende Reserviertheit zum mindesten? Auch Eifersucht wäre nur menschlich gewesen, öfters, wenn Ludwig mit sparsamen Andeutungen von Ruth berichtete, meinte er dergleichen verspürt zu haben.
Aber seine Besorgnis war ganz umsonst. Mit freudigem Eifer bereitete Steiger sein Festmahl vor. Er hatte die Haushaltskasse nicht geschont, hatte mit seiner einen Hand eine Ente gerupft und sie im Gasherdchen gebraten. Goldbraun und duftend kam sie auf den Tisch.
Diesmal war er wirklich und durchaus nicht zu bewegen, mit Platz zu nehmen. Er blieb aufwartend stehen, und seine Haltung dabei hatte eine seltsam überzeugende Würde.
Ruth begriff. Durch eigenes Schicksal hochempfindlich gemacht für fremdes Erleiden, fand sie sich ohne Zwang zurecht. Sie hatte für Steiger eine freie, strömende Liebenswürdigkeit. Noch nie hatte Ludwig sie so geliebt.
Das Mahl war vorüber. Ein leichtes und heiteres Gespräch zog sich in die Nachtstunden hin. Der elektrische Ofen brauchte nicht mehr zu brennen, und das Fenster stand offen gegen die Mailuft. Zweimal drang von unten der ekstatische Gruß der Adepten. Aus dem Tierpark kamen schwachrollend Wüstenlaute herüber.
Ludwig beobachtete unauffällig den Freund. Vielleicht war dessen Enthusiasmus zuerst nur jener sonderbaren Auffassung entsprungen, die da besagt, »der König könne kein Unrecht tun«. Aber nun stand er völlig unter dem Eindruck dieser strengen und holden Anmut. Dankbar genoß er den Zauber einer weiblichen Gegenwart.
Ludwig hätte keine Bestätigung nötig gehabt. Aber Bestätigung, woher sie auch stammt, tut immer wohl.
Es war ein Uhr in der Nacht, als Ruth aufbrach. Mit der alten Bestimmtheit lehnte sie's ab, sich begleiten zu lassen. Sie wohne auch durchaus gar nicht weit –
Aber unter der Tür kehrte sie noch einmal um, ging auf Steiger zu, legte ihm beide Arme um die Schultern und küßte ihn auf die Wange. Etwas wunderbar Unschuldiges, geisterhaft Zartes, lag in dieser Liebkosung, die nicht der empfing, dem sie galt.
Die Konzerthalle war häßlich, stimmungslos wie ein Bahnwartesaal. Den Hintergrund ihres Podiums nahm eine riesengroße, mißfarben gestrichene Orgel ein, deprimierende Pflanzenarrangements umrahmten sie. Aber von diesem Podium waren seit vielen Jahrzehnten alle großen Virtuosen und die beglückendsten Menschenstimmen gehört worden.
Ruth und Ludwig nahmen ihre Sitze ein, als der Saal noch halb leer war. Es waren gute Plätze, in der Mitte der fünften Reihe, eigentlich viel zu teuer für Ludwig.
Denn seine Verhältnisse gaben eher zur Einschränkung Anlaß. Um die Arbeit am Buche rascher zu fördern, hatte er die Hälfte seiner Lektionen aufgegeben; Steiger verbrachte sorgenvolle Stunden über dem Haushaltskonto. Aber für den nächsten Tag war die Zusammenkunft mit dem Verleger angesetzt ... Es störte Ludwig nicht, daß er als gesamtes Vermögen nicht ganz zwei Pfund in der Tasche trug.
»Manchmal habe ich Sehnsucht nach ein bißchen Musik«, hatte Ruth vor kurzem gesagt. Sie sprach sonst nie einen Wunsch aus, und er hatte diesen gleich begierig erfüllt. Aber als sie nun kam, schien sie verstimmt, und sie fröstelte. Er legte ihr das Mäntelchen, das sie abgestreift hatte, wieder um die Schultern. Denn es zog hier von allen Seiten.
Ein besonders wohlgekleidetes Publikum, das Publikum der großen Gelegenheiten, füllte den nüchternen Saal. Als der Geiger das Podium betrat, grüßte ihn langer Applaus. Dieser kleine, ernsthaft blickende Mann war nicht nur ein Musikant, dessen Ruhm zwischen den Erdteilen hin- und herschallte, er war auch sonst eine beachtete öffentliche Figur, in Schrift und Wort ein Herold für die Einigung des zerklüfteten Europa, und ein leidenschaftlicher Anwalt für Ruths und sein verfolgtes, vergewaltigtes Volk.
Unansehnlich gewachsen stand er dort oben, mit dem beunruhigend anziehenden Kopf eines in Melancholie gealterten Knaben, und zupfte im Angesicht der eleganten Tausende stimmend an seiner Geige. Alle seine Bewegungen waren von einer brüsken Würde.
Er eröffnete mit dem Werk eines modernen Italieners, das er selbst nicht besonders zu lieben schien. Er erlaubte sich Launen. Manchmal kratzte sein Bogen höchst eigenwillig und ein bißchen verächtlich. Aber was dann folgte, war Brahms, und gleich war zu spüren, wie wohl ihm wurde in diesem Element. Es war die Sonate in G, jene ›Regensonate‹. Das Instrument sang meisterlich und kristallen von sommerlichem Glück. Nach der verhaltenen Heiterkeit des ersten Satzes stieg das Andante zu voller Inbrunst und klarer Stärke auf, sonnenleuchtend und erdenfroh, bis hinan zur zaubrischen Coda. Aber ruhereich, wohlig, unterm warmen Regenfall, den die Begleitung mit tupfenden Sechzehnteln malte, löste sich in dem letzten Satz das Anfangsthema in einen milchigen Glanz.
In der Pause gingen sie hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Ruth warf die ihre gleich wieder weg, mit angewidertem Ausdruck.
»Schmeckt nicht?« fragte Ludwig. »Sagen Sie einmal, was ist das mit Ihnen.« Er legte ihr seine Hand auf die Stirn. »Ein bißchen heiß sind Sie auch.«
In diesem Moment fiel sein Blick auf eine kleine Gruppe, die eben aus dem Saal getreten war. Und er sah Susanna.
Sie hatte ihn auch schon erkannt, und sie lächelte ihm zu. Verwundert zog sie die Brauen hoch wie bei einer hübschen Überraschung. Ihr Lächeln war genau das, mit dem man unvermutet einen Bekannten entdeckt, den man auf Reisen geglaubt hat.
Da stand sie, hochgewachsen und prächtig, im vollen Strahl einer selbstverständlichen Eleganz. Sie trug ein herrlich gemachtes, schwarzes Kleid, weitausgeschnitten über ihrer reichen Brust, mit nichts als einer Perlenschnur zum Schmuck, und darüber ein silbern schwärzliches Pelzcape. Ihr hellrotblondes Haar hob sich in einer hohen, seidigen Welle von ihrer Stirn auf, in einer Frisur, die dem Gesicht etwas Fremdes, Künstliches gab. Verändert erschien auch ihr Mund, es war, als seien die Lippen schmaler geworden, nach innen gezogen, von einem verwöhnten oder habgierigen Ausdruck. Aber sie war schöner als jemals.
Erwartungsvoll schaute sie zu Ludwig herüber. Als er sich nicht vom Fleck rührte und mit einer Verneigung grüßte, gab sie sich nicht zufrieden, sondern vollführte mit der Hand eine kleine, auffordernde Geste, wobei sie ganz leicht die Finger öffnete und sie gleich wieder schloß. Hierauf wandte sie sich unbefangen wieder ihrer Begleitung zu.
Es waren ein Herr von vielleicht sechzig, sehr aufrecht und schlank in seinem Frack, mit einem erstaunlich frischen, ergeben lächelnden Gesicht unter vollem, weißem Haar, und ein junger Mann von fünfundzwanzig, fast anstößig elegant, der in ihrer Gegenwart eine nervöse, beflissene Angespanntheit zeigte. Sie unterhielt sich ruhig mit ihnen, sah auch kein einziges Mal mehr nach Ludwig zurück.
Verworren hörte er Tschaikowsky und Smetana, die der glorreiche Bogen mit Brillanz und mit Innigkeit aufklingen ließ. Dort saß sie, rechts vorne vor ihm, in der zweiten Sitzreihe. Ein Stück schwarzsilberner Fuchs war in seinem Blickfeld, und darüber ein Schimmer des Nackens und das hellrotblonde Haar. Von dem was einmal so mächtig gewesen, fühlte er nichts, kein Nachbeben der einstigen, besinnungslosen Begierde, er bezog diese fremde, schöne Frau nicht mehr auf sich. Aber ihr Auftauchen, diese blitzartige Aufklärung über ihre Existenz, war doch wie ein Schlag gewesen. Ihr Verschwinden damals, stumm, ohne Erklärung, bei Nacht, mit nichts als ihrem rostbraunen Kleid, war ihm immer so endgültig erschienen, so als gäbe es gar nicht die Möglichkeit, sie wiederzutreffen auf diesem Stern. Und schon schob sich vor den schimmernden Nacken eine Mannsfigur in einem blauen Trikothemd, an dem der Kragen offenstand und einen Hals sehen ließ, dessen Falten aus Holz schienen. Eine Stimme läutete ihm unausgesetzt in den Ohren: »Es wird ihr gut gehen, Ludwig, es wird. Fluctuat – fluctuat nec mergitur.«
Er sah Ruth von der Seite an. Sie lauschte mit geschlossenen Augen. Wie elend sie aussah! Nichts war mehr wirklich als Ruth.
Als sie nach dem Ende durch das Vestibül zum Ausgang strebten, Schritt vor Schritt, eingefügt in eine unhastige Menge, geschah Folgendes.
Sie befanden sich plötzlich dicht hinter jener Gruppe, Susanna im Pelzcape zwischen den beiden Figuren im hohen Hut. Und sie mußte seine Nähe bemerkt haben. Denn sie wandte sich halb nach ihm um, ihr weißes Gesicht war dicht vor ihm, und völlig unbekümmert, mit einem vertrauten Lächeln, legte sie ihm ihre große und kräftige Hand auf den Mund, die warme Innenfläche auf seinen Lippen, ließ sie einen Augenblick da ruhen, so daß er den Duft spürte, zog sie zurück, wandte sich ab und trat zwischen ihren Begleitern ins Freie.
Die Geste war von einer wahrhaft souveränen Impertinenz, eine Verhöhnung vielleicht seiner eigenen Bewegung, mit der er zuvor Ruths Stirne befühlt hatte. Es verschlug ihm den Atem. Er trat einen Schritt zurück, soweit es möglich war in der Enge. Betreten blickte er nach Ruth, die verschlossen und unbeteiligt vor sich hinschaute.
»Lassen Sie uns noch irgendwohin gehen«, sagte er, als sie auf der Regent-Street standen, »bitte! Ich bin Ihnen doch Erklärungen schuldig.«
»Gar nichts sind Sie mir schuldig«, sagte sie mit müder Gereiztheit, »nicht das allergeringste. Ich will schlafen gehen. Und danke für das Konzert. Gute Nacht.«
Er wollte sie noch zurückhalten. Aber sie war um die Ecke von All Souls' Church verschwunden.
Als Ludwig das Verlagshaus der Herren Occam and Son verließ, blickte er noch einmal an dem schmalen, hohen Gebäude aus schwärzlichen Ziegeln hinauf, und hinunter in das Kellergeschoß, das sich gähnend nach der Straße hin öffnete. Man konnte nicht unauffälliger residieren. Von hier also gingen seit hundert Jahren die schön gedruckten Bände hinaus, an denen sich der Buchhandel allenthalben ein Muster nahm. Und in dem engen Privatbureau des Herrn Thomas Occam, aus dem er jetzt kam, hatten schon dessen Großvater und Vater mit den Historikern und Philosophen der victorianischen Ära verhandelt.
Man hatte Ludwig ohne Umstände einen Vertrag angeboten, einen sehr korrekten Vertrag, nichts Außerordentliches. Bei Erscheinen seines Buches wurde ein Geldbetrag fällig, der auf die übliche Honorarquote zu verrechnen sein würde. Das Ganze hatte nur zehn Minuten gedauert. Dann hatte Herr Occam der Audienz ziemlich fürstlich ein Ende gemacht.
Ludwig ging mit raschen Schritten die Bedford-Street hinauf, in der Richtung nach dem Museum, wo Ruth ihn erwartete. Es war ein schöner, warmer Tag, und die ziemlich düsteren Straßen hier zwischen Strand und Long Acre wirkten fast freundlich. Aber irgendein dunkles Gefühl, als habe er etwas versäumt oder vergessen, ließ ihn nicht ganz zur Befriedigung kommen. Da war es! Es fiel ihm ein. Er hatte ja von diesem Verleger eine monatliche Rente erbitten wollen, um gesichert sein Buch zu Ende zu führen. Das war nun versäumt. Er hatte überhaupt nicht an dergleichen gedacht. Ruth würde ihn auslachen. Aber doch nur ein wenig. Sie würde sich freuen. Die bräunliche Wange würde sich tiefer färben vom Blut.
Er lief die vertraute Treppe hinauf, durchmaß Halle und Gang, öffnete eilig die kleine Tür.
Ihr Platz war leer.
Er setzte sich hin und versuchte zu arbeiten. Sicherlich war sie krank! Ihr Aussehen am Vorabend sprach dafür, ihr Unbehagen, das Frösteln. Die Grippe grassierte wieder einmal. Oder hatte sie ihm die Begegnung mit Susanna verübelt, diese freche Geste der fremden Frau, für die sie keine Erklärung gewollt hatte –
Er wartete, bis man schloß. Dann ging er den langen Weg nach Hause zu Fuß, sehr in Unruhe. Denn es gab ja keine Möglichkeit, sie aufzusuchen. Immer hatte sie ihre Wohnung vor ihm verheimlicht, zuerst aus Abwehr, aus scheuem Unabhängigkeitsdrang, dann mehr im Scherz. Es war zuletzt eine Art Spiel zwischen ihnen gewesen, ein Gegenstand harmloser Neckerei.
Der Freund daheim wußte ihm auch keinen Trost. Ludwig verbrachte eine ungute Nacht.
Als man den Saal öffnete, stand er schon an der Tür. Das war eigentlich unsinnig. Sie kam niemals am Morgen. Aber in der ungeheuren Stadt war dies hier der einzige Raum, wo sie überhaupt auftauchen konnte. Er überlas seine Sätze viermal und sechsmal und wußte nicht, was sie enthielten. Er blieb über Mittag. Drei Uhr war ihre Stunde.
Sie kam auch um drei Uhr nicht. Um fünf saß er immer noch da, verloren und ausgehöhlt, ohne sich klar zu machen, daß es Hunger sei, was ihn aushöhlte.
Auf einmal wurde ihm leicht und licht. Es war ja ganz einfach, ihre Adresse zu erfahren! Jeder hatte die seine anzugeben, der sich im Sekretariat eine Karte für den Lesesaal ausstellen ließ.
Er lief hinaus, lief rechts durch die Galerie mit den Büsten der römischen Kaiser. Das bedächtige Fräulein im Sekretariat sah ihn etwas verwundert an.
»Rasch, nur rasch!« sagte er flehend. Sie zog das Blatt aus ihrer Kartothek. Er bedankte sich, als hätte sie ihm das Leben gerettet.
Es war eine Adresse in Kensington, südlich der Themse, ein ärmliches Mietshaus. Er läutete in allen Stockwerken, entschuldigte sich fünfzehnmal, niemand wußte etwas von Ruth. Im Parterre befand sich ein Milchladen, die Inhaberin erklärte sofort, sie habe das Fräulein Wetzlar gekannt. Aber sie sei schon lange verzogen, fünf Monate sei es mindestens her. Dann besann sie sich: »Wetzlar, sagen Sie, wie schreibt man den Namen?« Nein, die sie meinte, hatte Rexman geheißen. Miss Evelyn Rexman, eine Handarbeitslehrerin, sie hatte wöchentlich zweimal Joghurt bezogen.
»Aber gehn Sie doch zum Meldeamt in der Bow-Street!«
Als er ankam, war das Amt schon geschlossen.
Am folgenden Morgen gab es gar keine Schwierigkeit. Der Beamte fand den Namen beim ersten Griff: Ruth Wetzlar, Culworth-Street. Culworth-Street? Ludwig war doch, als habe er solch ein Straßenschild einmal gelesen.
Unterwegs fielen ihm die Augen zu. Er hatte zwei Nächte fast nicht geschlafen. Mit einem Ruck hielt das Taxi. Er stieg aus und blickte sich um.
Es war seine eigene Gegend. Nicht eine Minute entfernt hauste er selber mit Steiger. Man brauchte nur einfach um die Ecke zu gehen. Hierher war sie immer gefahren in ihrem Autobus mit der mystischen Nummer. Was für einen Umweg hatte ihn das gekostet – einen seltsamen, ziemlich qualvollen Umweg.
Sie wohnte auch seltsam. Ein langer, flacher Giebel vereinigte da unter sich viele schmale Häuschen, jedes mit einer niedrigen Tür und zwei Fenstern Front. Verwahrlost alles, verkommen, viele Scheiben zerbrochen, wie eben an einem Komplex, den man abreißen will. Denn die zerstörende Arbeit war schon begonnen, von der Ecke unten am Park kam der regelmäßige Schlag der Spitzhacke.
Er schellte. Er schellte dreimal. Neue Angst befiel ihn. War auch dies Haus schon geräumt, sie selber wieder verzogen? Aber nein, hier wohnten noch Menschen. Das Fenster neben der Tür hatte noch einen Vorhang, und ein vertrocknetes Blumentöpfchen stand da.
Dann wurde geöffnet. Eine sehr alte Frau, mit einem gestickten rosa Schal um die Schultern, hielt ihre Hand ans Ohr.
»Miss Wetzlar, bitte!«
Sie schüttelte fragend den Kopf.
»Ruth Wetzlar!« rief er so laut, daß es widerschallte von der Wand gegenüber.
»Krank. Sie ist krank. Kann ihretwegen nicht ausziehen!« Und sie wies mit dem Knochenarm hinunter zur Park-Ecke, wo der Mörtelstaub flog.
Ruth lag in einem jämmerlich schmalen Bett. Sie sah ihm gerade und ernsthaft entgegen und hob nicht den Kopf.
»Was ist denn mit Ihnen, um Gotteswillen!«
»Bißchen Halsweh«, sagte sie mühsam.
»Und ziemlich viel Fieber vielleicht. Haben Sie sich gemessen?«
Aber so zu fragen war müßig. Ihre Augen leuchteten recht beängstigend, und die vollen Lippen waren zersprungen. Sie schien geradezu Hitze auszustrahlen.
»Es sind nur die Mandeln.«
»So – nur!«
Er streckte die Hand aus und berührte seitlich ganz zart ihren Hals. Die Drüsen waren hoch aufgeschwollen. Sie gab einen Wehlaut von sich unter der leichten Berührung.
»Ich hol einen Arzt.«
Im Gehen umfaßte er das Zimmerchen mit dem Blick. Es war ein schmaler Schlauch, trübfarben und leer. Auf dem Tisch stand in einem Silberrahmen eine große Photographie von Jacques Wetzlar. »Meinem neuen Augenlicht«, stand in taumelnden Buchstaben darunter.
Es wohnten mehrere Ärzte in dem eleganten Häuserblock vorne. Einer war auch zu Haus. Als er Ruths Zimmer betrat, sah er sich mit demselben Ausdruck um wie damals in Brüssel der Doktor Bruneel.
Es fiel ihr entsetzlich schwer, den Mund zu öffnen. Der Arzt kniete vor ihr und suchte hineinzublicken. Dann stand er auf und staubte sich sorgfältig die Knie ab.
»Tonsilitis, jawohl.« Und er gab die gebräuchlichen Maßregeln.
»Sieht nicht hübsch aus«, sagte er vor der Tür. »Dicker, grauer Belag. Die Mandeln zerklüftet.«
»Aber doch keine Gefahr?«
Er wiegte den Kopf. »Man operiert sonst nicht gern in akutem Zustand. Aber da ist ein Abszeß. Es kann allgemein werden. Ich würde nicht warten.«
»Wird man sie denn betäuben können? Bei Operationen im Hals –«
»Ich glaube, ja.«
Dann hob er, schon beim Straßenausgang, mit diskreter Geste einen Finger in die Höhe. Ludwig begriff und bezahlte ein Pfund. Es blieb ihm ein wenig Silber in seiner Tasche.
Ruth unterdrückte ihr Stöhnen, als er wieder ins Zimmer trat.
»Also, das geht hier nicht! Sie müssen in ordentliche Pflege.«
Sie leistete auch keinen Widerstand. Sie ließ es geschehen, daß er ein wenig Wäsche und ihre Toilettengegenstände zusammenpackte. Es waren noch eine Bürste und ein Handspiegel aus schönem, blondem Schildplatt darunter. Er fühlte eine unsagbare Zärtlichkeit, während er die Sachen berührte.
Dann half er ihr beim Ankleiden. Ihr Körper brannte durch die dünnen Hüllen hindurch. Die Alte war ins Zimmer gekommen und schaute mißbilligend zu.
»Sind Sie bezahlt?« fragte Ludwig.
Das hörte sie sofort. »Bei mir wird vorausbezahlt, Herr. Aber ein Glas wurde gestern zerbrochen. Acht Pence!«
»Ich hole die übrigen Sachen ab. Jetzt können Sie ausziehen!«
»S' war Zeit«, sagte das Gespenst im rosa Schal.
Als ein Auto herbeigeholt war, und er Ruth hinausführen wollte, blieb sie im Türrahmen stehen.
»Etwas vergessen?«
Sie gab keine Antwort, sondern ging wankend zurück und kam wieder, mit dem Bilde des Vaters in ihrer Hand.
Die Klinik war ein aseptischer Himmel, makellos weiß alles und nickelblitzend. Auf gummiräderigen Wagen wurde in silbernen Schüsseln das Essen durch die Gänge gefahren, denn eben war Lunchzeit. Eine junge Schwester, grünäugig, mit rötlichem Haar, ein pikanter Engel, bettete Ruth in einem höchst komfortablen Zimmer. Es erschien der Aufsichtsarzt, nahm die Temperatur, die erschreckend war.
Dann bat man Ludwig in das Bureau. »Es kostet zwölf Pfund wöchentlich«, sagte eine hoheitsvolle Hausdame. »Wünschen Sie für eine Woche zu bezahlen oder für zwei?«
»Ganz einerlei«, sagte Ludwig. Es war auch wirklich ganz einerlei, da er genau neun Schilling besaß.
Er erklärte, am Abend bezahlen zu wollen.
»Sie können mir einen Scheck geben.«
»Sie werden sich freundlichst gedulden. Wer ist in London der beste Halsoperateur? Der durchaus allerbeste.«
»Sir Rufus Trevenna, hier ganz nahe, Devonshire-Street. Aber billig wird er nicht sein.«
»Er soll nicht billig sein. Er soll ausgezeichnet sein. Guten Tag.«
Die Hausdame verbeugte sich vor diesem jungen Herrn, der nach Trevennas Preisen den Teufel fragte. Unter hundert Pfund rührte Sir Rufus kein Messer an, soviel war bekannt.
Ludwig fuhr nach Haus zu Steiger. Steiger sollte an Ruths Krankenbett sitzen, während er selbst auf die Jagd nach dem Geld ging. Weshalb nur, um Gottvaters willen, hatte er diesen Verleger nicht um Vorschuß gebeten! Der würde erstaunt sein über den neuen Autor, der jetzt, zwei Tage später, mit solch einem Anliegen wiederkam. Übrigens würde kein Vorschuß ausreichen. Er mußte herumfahren und bei seinen sämtlichen Schülern um Zahlung bitten. James Einstein besonders bot eine Chance. James Einstein war gutmütig. James Einstein war reich. Aber der saß in seinem Kontor in der City.
Zu Hause las Steiger friedlich am Fenster.
»Gefunden?« fragte er, als Ludwig hereinstürmte. »Lieber Himmel, in welchem Zustand –«
Er war aufgestanden, strich mit seiner Hand Ludwig das Haar zurecht, rückte die verschobene Halsbinde an ihren Platz.
»Sie müssen gleich hin zu ihr!« Er berichtete fliegend. »Ich will nicht, daß sie allein ist. Was mache ich bloß, wenn sich dieser Occam nicht sprechen läßt! Geld für Taxis habe ich auch nicht. Und alles andre dauert zu lang!«
Steiger sah ihn an. »Jetzt ist es Zeit«, sagte er feierlich.
»Zeit – wofür?«
Steiger kniete nieder, schloß an Mrs. Carpenters geschmackloser Kommode die unterste Schublade auf, räumte Wäschestücke beiseite, und bot Ludwig, noch auf den Knien, auf seiner flachen Hand das grünleuchtende Kleinod hin, den Smaragd seines Hauses.
Ludwig stieß einen Erlösungsschrei aus. Er hatte an diesen Besitz nie mehr gedacht, das Schmuckstück nicht mehr getragen, es völlig vergessen gehabt.
Steiger war noch immer nicht aufgestanden. Und Ludwig bemerkte zum ersten Mal, daß er ganz weißes Haar hatte, daß dies ein alter Mann war. Und er wußte, daß er ihn niemals verlassen würde.
Er eilte fort.
Auf einer Glastür in einer der Seitenstraßen von Bond-Street stand zu lesen: »Deveroux. Jeweller to the Royal Family. By Appointment.« Darüber, ganz klein, war das Wappen. Er klinkte auf.
Die Verkaufsräume waren weit, mit Samt ausgeschlagen, umstellt mit antiken Vitrinen, darin die Schätze glänzten, gruftstill. Ein feines Fräulein in schwarzem Kleid mit weißem Umschlagkragen frug ihn nach seinen Wünschen. Sie sprach Englisch mit französischem Akzent.
»Ich habe etwas zu verkaufen.«
Sie drückte auf einen Klingelknopf. Ein zugleich billig und würdevoll angezogener junger Herr erschien, der sich abwartend verbeugte.
»Ich will diesen Smaragd hier verkaufen«, sagte Ludwig wieder und brachte aus seiner Hosentasche das nackte Kleinod zum Vorschein.
Der Verkäufer machte erschrockene Augen.
»Eine Sekunde bitte!«
Er verschwand und kehrte sofort mit einem spießig angezogenen Sechziger zurück, dem das Wort »subaltern« auf der faltigen Stirne geschrieben stand. Beide beugten sich über den Stein, wendeten ihn hin und her, murmelten miteinander.
»Ich wäre Ihnen dankbar«, sagte Ludwig gereizt, »wenn Sie das Zeremoniell abkürzen wollten. Sagen Sie mir, was Sie bezahlen können. Wir werden schnell einig sein.«
»Das ist kein Geschäft, das sich im Handumdrehn abschließen läßt«, antwortete mit grauer Stimme der Subalterne. »Herr Deveroux ist im Augenblick abwesend –«
»Wo?«
»Im Hotel Claridge, beim Lunch«, sagte der Jüngere in einem Ton, als müsse dieser Name Ludwig von der Unschicklichkeit seines Drängens überzeugen.
»Das ist nicht weit. Telephonieren Sie ihm!«
Er begann in den feinen Verkaufsräumen auf und ab zu wandern, wobei der dicke Bodenbelag das Geräusch seiner Schritte völlig verschluckte. Er war rasend vor Ungeduld. Eine krasse Vorstellung verfolgte ihn, von dem, was Ruth da bedrohte. Er sah das Gewebe in ihrem armen Halse vollgesogen mit Gift. Er sah die überfüllten Herde nach innen aufbrechen, die Giftträger ausschwärmen durch die Blutbahn, Ruths ganzen geliebten Leib überschwemmen. Sepsis! Dann war vielleicht nichts mehr zu retten. Und alles, weil dieser Deveroux mit Kaffee und Cognac kein Ende fand.
Die beiden Angestellten hatten sich in den Hintergrund zurückgezogen, jeder nach einer andern Ecke, und beobachteten von dort den seltsamen Kunden. Sie wußten, was sie zu denken hatten. Auch das französische Fräulein äugte über ihr Pult zu ihm hin. Der Smaragd lag tief schimmernd auf dem Mahagonitisch in der Mitte.
Endlich betrat Herr Deveroux sein Lokal.
Er war ein alter Herr, bedächtig und zart, im Verkehr mit Hof und Gesellschaft sehr leise geworden. Er entnahm einem Samtfutteral seine Brille, putzte sie, ergriff die Lupe und begann durch das Doppelglas seine Prüfung. Die Verkäufer hatten sich auf gemessene Distanz genähert, wie Adjutanten dem Feldherrn.
»Das ist der Regius«, sagte Herr Deveroux erschüttert.
»Was bitte?«
»Der Regius! Sie werden als sein Besitzer doch wissen, wie dieser Stein heißt.«
»Ich wußte bis jetzt überhaupt nicht, daß Steine ›heißen‹.«
»Sie können sein Bild und sein Signalement in meinem Handbuch sehn, wenn Sie Wert darauf legen. Dieser Smaragd stammt von Maria da Gloria –«
»Königin von Portugal. Geboren 1819 in Rio, verheiratet 1836 mit Ferdinand von Sachsen. Die Dame war meine Urgroßmutter.«
Und dann sagte er mit getragener Deutlichkeit seinen eigenen Namen und seine Titel auf. Es klang ihm selber ganz fremd, so als erzählte er Herrn Deveroux eine Lüge.
»Hören Sie«, sagte er dann, »ich brauche sofort Geld. Sie können mir Ihre Herren nach Hause mitgeben, um meinen Paß einzusehen. Sie können mir auch einen Schutzmann mitgeben, ganz Scotland Yard, wenn Sie wollen. Aber schnell muß es gehen.«
Deveroux verneigte sich, überzeugt. Die Adjutanten standen mit offenen Mündern. Das Fräulein dort hinten hatte die Hand an ihr kleines Ohr gelegt, um ja kein Wort zu verlieren.
»Ein Objekt wie dieses«, sagte der Juwelier, »findet nicht leicht einen Käufer. Es kann Jahre lang liegen. Ich sage es Ihnen ganz offen: was ich anbieten kann, ist nur ein Drittel des wirklichen Werts.«
»Zweitausend Pfund.«
»In Ordnung«, sagte Ludwig. Er vergegenwärtigte sich keineswegs, was die Summe bedeutete. Er wußte nur, daß es Geld genug war, um jeden Sir Rufus in der Welt zu bezahlen.
»Ich gehe, Hoheit, und schreibe den Scheck aus.«
»Scheck? Ganz unmöglich.«
»Pardon. Einen solchen Betrag hat niemand in bar liegen. Ich könnte dreihundert Pfund –«
»In Ordnung«, sagte Ludwig noch einmal. Herr Deveroux ging.
Ludwig nahm den Smaragd vom Tische auf und betrachtete ihn. Er betrachtete das Wappen, die Krone, die Türme, die Türchen. Er nahm Abschied von ihm. Er gedachte auch seiner Mutter dabei. Sie hätte gebilligt, was er da tat; ja ihm war, als hätte sie ihm in genau dieser Absicht das Kleinod einst um seinen Knabenhals gehängt.
Der Juwelier kam zurück, mit dem Geld und der Anweisung über den Rest. Er zählte die großen, weißen Banknoten auf. Unordentlich faltete Ludwig sie zusammen, steckte sie in die Tasche und war aus der Tür.
Er hatte schon seinen Fuß auf dem Trittbrett des Autos, als ihn jemand am Arm berührte.
»Monsieur!«
Es war das Fräulein. In ihrem Gesicht stand die summierte Mißbilligung von Generationen französischer Kleinrentner zu lesen.
»Sie haben Ihren Scheck vergessen«, sagte sie und schwenkte leicht das Papier.
In der Klinik lag Ruth mit weitoffenen, starren Augen, Steiger reglos an ihrem Bett. Der irische Engel hantierte schwebend im Zimmer. Ein Lächeln ging über Ruths Gesicht, das sogleich wieder verlosch.
»Um sechs«, sagte Ludwig leise zu Steiger.
Um sechs Uhr warteten die Ärzte im Vorraum des Operationssaals, Sir Rufus Trevenna, eine hohe Figur ganz in Weiß, mit einer weißen Binde vor seinem Mund, und der Spezialarzt für die Betäubung.
Ruth tastete nach Ludwigs Hand. Der Spezialarzt hielt ihr die Maske vor.
»Bitte langsam zu zählen«, sagte Sir Rufus. Er hielt ihre andere Hand und kontrollierte den Puls.
Sie begann mit ihren zersprungenen Lippen die Zahlen zu flüstern. Sie kam bis neun.
»Ludwig!« Es war nur ein Hauch.
Er beugte sich zu ihr hinunter.
»Wer war die Frau, Ludwig?«
»Niemand«, wisperte er an ihrem Ohr, »niemand mehr. Vorüber. Vergessen. Gewesen.«
Sie lächelte. Sie schwieg. Sie war fort.
Er erwachte und zog den Vorhang auf. Es regnete fein und gleichmäßig auf Mrs. Carpenters kleinen, schäbigen Garten.
Es war eben sieben. Ruths Zug sollte um vier Uhr ankommen. Das waren genau neun Jahrhunderte. Und obendrein war es Sonntag ... Zunächst rasierte er sich ungeheuer sorgfältig und langsam, ohne Geräusch, um den noch schlafenden Steiger nicht aufzuwecken. Aber länger als eine halbe Stunde kann sich niemand rasieren.
Er hatte Ruth seit einem Monat nicht gesehen. Sie hatte sich schwer erholt. Zwar erklärte Sir Rufus schon sehr bald die Wundstellen im Halse für vorbildlich verheilt – »glatt und rein wie polierter Onyx«, sagte er gewählt – und das war auch das Wenigste, was man bei seinen Preisen verlangen konnte. Aber die Nachschmerzen dauerten an, das Gefühl quälender Trockenheit und der Hustenreiz, sie kam auch nur langsam zu Kräften.
Und noch langsamer kehrte ihr Lebensvertrauen zurück. Sie konnte noch immer nicht glauben, daß ihr Gutes bestimmt sei. Ludwig drang nicht in sie. Das Bild mit der Unterschrift »Meinem neuen Augenlicht« stand auf ihrem Tisch in der Klinik. Es würde der Tag kommen, an dem sie den Namen ihres Vaters frei aussprechen konnte. Und das, er fühlte es, würde der Tag sein, an dem sie völlig ins Dasein zurückgekehrt war – in ein Dasein mit ihm.
Er machte ihr Erholungsquartier, nicht weit entfernt, auf der Insel Wight, in einem alten, bequemen Familienhotel, unmittelbar an der See. Sie war allein da hinunter gereist. Er hatte sie auch nicht besucht. Wunden, die sich schließen sollten, berührte man nicht. Zumal solche nicht, die schwieriger heilten als Sir Rufus' exakte Schnitte.
Es war noch immer nicht acht. Nebenan rührte es sich. »Ich gehe weg, Steiger«, rief er hinein. »Bin zum Frühstück zurück.«
Es regnete immer noch. Die Straße war absolut menschenleer. Es fuhr auch kein Wagen. Das Häuschen, in dem er Ruth gefunden hatte, war längst niedergelegt und die Baustelle von hohen Bretterzäunen umgeben. Aber ein paar Schritte weiter lag der moderne Block, in dem sie jetzt wohnen sollte.
Er ließ sich zum obersten Stockwerk hinauffahren. Das Zimmer war herrlich hell, es blickte über den Park. Seine Blumen waren gekommen. Kritisch sah er sich um. Er rückte an einer mit Chintz bespannten Couch, die ohnehin ganz gut stand, warf auch einen Blick in das Badezimmer, und ging langsam die sechs Treppen hinunter. Die Inspektion hatte leider nur zehn Minuten gedauert.
Er schlenderte hinüber zur Station der Untergrundbahn und kaufte sich sämtliche dicken Sonntagsblätter, die da feil lagen, sechs oder sieben davon, einen ungeheuern Stapel Papier. Da an Arbeit doch nicht zu denken war, würde er einmal gründlich Zeitung lesen, er tat es ohnedies nie.
Nach dem Frühstück machte er sich's bequem und begann. Er las unmethodisch und unruhig, vertauschte den ›Observer‹ mit dem ›Sunday Express‹ und ›Weekly Dispatch‹ mit ›The People‹. Er las eine Biographie von Leon Blum, der soeben in Frankreich Ministerpräsident geworden, und eine des jungen Fliegers Charles Melrose, der in Australien abgestürzt war. Er las, daß in Palästina die Engländer notgedrungen Maschinengewehre gegen die verhetzten Araber hatten auffahren lassen, und einen letzten Hilferuf des Kaisers von Abessinien an den Völkerbundsrat. Er las von einem Pakt, den Herr Adolf Hitler mit Österreich abgeschlossen hatte und in dem er dem tapfern kleinen Land die Unabhängigkeit garantierte: einem jener Pakte, von denen die Welt wußte, daß sie nur geschlossen wurden, um beim ersten Belieben gebrochen zu werden, und zu denen sie dennoch unverdrossen ein gläubig-ernstes Gesicht schnitt. Er las Aufsätze über Musik und über Mr. Baldwin, über neue Bücher und über Cricket, er las in den ›Sunday Times‹ eine ungeheuer witzige Kritik über ein offenbar ungeheuer dummes Stück und verzog keine Miene dabei – denn es glitt ihm alles nur so am Auge vorüber. Als er danach auf seine Uhr sah – er hatte jetzt eine aus schwarzem Stahl – war es noch nicht einmal elf.
Er bemerkte, daß Steiger, der ebenfalls ein Blatt in der Hand hielt, ihn anblickte.
»Hier steht etwas, was doch gelesen werden muß«, sagte er in seinem seltsamen Stil, der die Anrede umging.
Ludwig nahm das Blatt. Unter der Rubrik »Obituary« las er da:
»Tod eines deutschen Gelehrten.
Herr Johannes Rotteck, der berühmte Kunsthistoriker, starb gestern, 57 Jahre alt, auf der Überfahrt nach New York.
Rotteck galt als ein führender Mann in seiner Wissenschaft. Er hat auch in unserem Lande mehrfach Ehrungen empfangen. Er war Mitglied der British Academy und, seit 1925, ein Ehrendoktor von Oxford. Nach der Veränderung der Verhältnisse in Deutschland verlor er sein Lehramt und lebte als Privatgelehrter in Prag.
Im April dieses Jahres erhielt er von dem Flexner-Institut in Princeton, das sich schon mehrfach Verdienste solcher Art erworben hat, einen Ruf nach Amerika. Eine Lehrtätigkeit war nicht beabsichtigt, vielmehr sollte der Gelehrte in Stand gesetzt werden, sein auf sieben Bände berechnetes Werk ›Geschichte des Portraits in Europa‹, unter gesicherten Umständen abzuschließen.
Rotteck verließ letzten Dienstag Cherbourg mit der ›Ile de France‹. Am ersten Reisetag litt er ungewöhnlich stark unter Seekrankheit. Die folgenden Tage hielt er sich meist lesend an Deck auf. Die Nacht zum Samstag scheint er ebenfalls im Freien zugebracht zu haben. Denn als frühmorgens das Personal erschien, fand man Professor Rotteck in Decken eingehüllt tot auf seinem Liegestuhl. Ein Schlaganfall scheint sein Leben beendet zu haben.
Das Flexner-Institut hat die Verpflichtung übernommen, Rottecks Hauptwerk, das bis zu den Malern des 18. Jahrhunderts fortgeführt ist, neu herauszugeben. Es werden gleichzeitig eine englische und eine deutsche Ausgabe erscheinen.«
Als Ludwig das gelesen hatte, fühlte er zunächst keine Trauer. Dieses Ende des einsamen Arbeiters erschien so folgerichtig, geheimnisvoll logisch. Ohne Qual war er abgeschieden in dem Augenblick, da er die Welt verließ, zu der er gehört hatte, seine alte europäische Welt. Ludwig sah ihn vor sich auf seinem Deckstuhl, unterm Sternenhimmel der Sommernacht, die Augen dem Lande der Zuflucht zugekehrt, das ihm nicht bestimmt war. Er nahm den Trost hinüber in seinen Schlaf, daß sein Werk leben würde.
Auf einmal spürte Ludwig, daß ihm die Tränen kamen. Er wandte sich ab und lehnte zum Fenster hinaus. Steiger war nahe zu ihm getreten. Draußen hatte der Regen aufgehört, und Mrs. Carpenters Gärtchen lag in tropfender Frische. An dem einen Baum, der vorhanden war, einem verbogenen Ahorn, saß ein niedlicher Specht mit rotem Scheitel und hackte aus Leibeskräften auf die Rinde los. Immer nach zwei Schnabelhieben schickte er seine spitzige Zunge in die Öffnung hinein, um Insekten hervorzuholen.
»Macht er denn den Baum nicht kaputt«, fragte Ludwig, um der Tränen Herr zu werden.
»Nein«, sagte Steiger sofort, »ein Specht hackt nie gesunde Stellen an. Der alte Ahorn ist morsch.«
Es war viel zu früh, als Ludwig zur Bahn fuhr. Im Autobus war kein Mensch. Er kletterte zur Imperiale hinauf, setzte sich an das Vorderfenster und schaute vom hohen Ausguck auf die ausgestorbenen Straßen. London war an diesem Julinachmittag leer wie eine Ruinenstadt. Immer wieder kamen kleine Regenschauer, dazwischen blitzte die Sonne, runde Tropfen liefen über das Glas.
Die riesigen Hallen von Victoria-Station lagen fast ohne Geräusch. Selten rollte ein Zug ein. Die Millionen waren aufs Land gefahren oder hielten Nachmittagsschlaf.
Ludwig wanderte den Bahnsteig auf und nieder. Zweimal erkundigte er sich bei dem einzigen Beamten, ob dieser Vieruhrzug auch wirklich hier anlange, nicht etwa auf Waterloo-Station.
Aber an die Stelle seiner Erregung und Ungeduld war ein stillerer Zustand getreten, schwebend zwischen Wehmut und Glücksbereitschaft.
Gerade als er nicht auf ihn wartete, fuhr unvermutet der Zug ein.
Beinahe niemand stieg aus. Aber da stand Ruth in der offenen Waggontür. Sie winkte nicht, sie nickte nur ein wenig. Schlank und hoch stand sie da, und ihr bräunliches Gesicht hatte die Gesundheit jungen Lebens. Ein Regencape aus dunkelblauem, glattem Stoff fiel ihr gerade und lang von den Schultern, dazu trug sie eine stahlblaue Seidenkappe, die ihr reizend stand.
Er hob sie herunter, ergriff ihr Köfferchen, sie nahm seinen Arm. Sie verließen den Bahnhof und, beinahe ohne zu reden, gingen sie auf der rechten Seite die breite, gerade, leere Victoria-Street hinunter. Das Trottoir glänzte vor Nässe. Der Asphalt roch fast waldfrisch.
»Wo gehen wir eigentlich hin«, fragte sie und lachte ein leises, klingendes Lachen. Aber sie gingen weiter. Er faßte im Gehen nach ihrer Hand. Es war ihm taumelig vor Glück.
Victoria-Street war von einer nicht überbietbaren Ödigkeit. Sogar die Schaufenster waren verhängt oder ausgeräumt. An dem großen Kaufhaus, das »Army and Navy Stores« heißt, war nur ein einziges unverhüllt. Davor blieben sie stehen.
Es war ein koloniales Fenster. Sein Mittelstück bildete die Figur einer Dame in gestärkter Hemdbluse, scharf gefälteltem weißem Rock, hohen Stiefeln, und den Tropenhelm kokett auf dem Holzkopf. Sie sahen hin und sie lachten. Auf einmal wurden sie ernst.
Sie blickten einander an, mit großen, weitoffenen Augen. Sie waren so allein in dieser sommerlichen Straße wie irgendwo draußen im Weltenraum. Nur oben an der Ecke von Palace-Street stand ein einsamer Schutzmann. Er kehrte ihnen den Rücken zu.
Ludwig stellte das Köfferchen auf den Boden. Sie hoben gleichzeitig die Arme und umschlangen einander.
»Dich hätte der Vater auch lieb gehabt, Ludwig«, sagte Ruth.