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Die Schwingen des Lebens

Als die Schöpfung der Erde beendigt war und der Mensch, von der Dämmerung tiefen Schlummers umfangen, die Freuden des Daseins in seligen Träumen zum erstenmale begrüßte: da traten drei hohe Engel, die dem Schöpfer gefolgt waren, um das Werk seiner Allmacht zu schauen, vor die Lagerstätte des Schlummernden, den Herrn der Erde begrüßend, im Gefühl der Liebe und Freude.

Und als sie sich zu ihm herabbeugten, waren sie überrascht von der Schönheit und der vollendeten Gestalt des Erschaffenen, und sie sprachen zu einander: Wahrlich, der Mensch steht den Engeln sehr nahe, wenn seine Seele der Reinheit und Hoheit seiner Züge entspricht!

»Aber,« begann der eine, dessen Stirn ernster und höher strahlte, als die der übrigen, »ein Schmuck der Himmelsbewohner wurde dennoch dem Sohne der Erde versagt, siehe, ihm fehlt das Zeichen der Freiheit, das schimmernde Flügelpaar!«

Trauernd sahen die Engel die Entdeckung des ernstern Bruders bestätigt, und sie flüsterten leis: »Wollte der göttliche Meister hierdurch andeuten, daß des Staubes Kind noch nicht würdig sei des freien Aufschwungs und der seligen Freuden im Gebiete des Lichts?«

Da stieg aus dem nahen Gebüsch ein Adler empor und durchschnitt mit breiten Schwingen die Luft und verschwand dann in der sonnigen Höhe. Und die Engel erblickten ihn und begannen von neuem: »Siehe den Vogel des Gebirges! Ist er nicht freier und begünstigter denn der Herr der Erde? Und wird dieser dem Glücklichen ohne Neid nachzublicken vermögen in die sonnigen Regionen?«

»Laßt uns,« rief einer der Engel, dessen Antlitz so mild wie der Himmel und schön wie die Morgenröte leuchtete, »laßt uns vor Jehova treten und für den Menschen bitten, daß er gleich uns das Geschenk der Freiheit erhalte und nicht an den Boden gefesselt sei, gleich den Tieren des Waldes und dem niedern Gewürm!«

»Ja, wir wollen zu dem göttlichen Meister, er wird uns erhören!« rief der Dritte, das selige Auge erhebend, und dahin schwebten die Engel auf den Fittichen des Morgenlichts.

Als aber Jehova der Engel Fürbitte vernommen, ruhte sein göttliches Auge mit Wohlgefallen auf den freundlichen Lichtgestalten, die also in liebender Sorge erglühten für den jungen, unmündigen Menschen. – »Ihr begehrt für den Sohn des Staubes der Lichtbewohner seliges Los,« sprach Jehova, »aber noch liegt der Freiheit Glück außer den Grenzen seiner Kraft! Ihn für dieses zu erziehen, sein Herz für eure Freuden zu bilden, ist die Aufgabe seines Daseins, und die Sehnsucht nach dem ihm noch versagten Glück sei das Band, welches ihn an die Geisterwelt knüpft. Aber wollet ihr, die ihr des Neuerschaffenen mit so sorgender Liebe gedenket, ihm, wenn seine Kraft ermattet, eure Fittiche leihen, so sei es fortan in eure Macht gegeben, des Sterblichen Los zu erleichtern. Gehet hinab und werdet seine Führer auf dem Pfade des Lebens und gebet ihm durch eure Nähe den Vorschmack künftiger Wonnen!«

Und alsobald jauchzten die Engel voll hoher Freude und umschlangen sich inniger und schwebten vereinigt zur Erde hinab und traten vor des Schlummernden Lager. Freudentränen im Auge, legten sie ihre Hände auf des Menschen Brust, wie zu einem stillen Gelübde. »O du, der du jetzt noch in den Armen des Schlummers liegst,« begann der jüngste der Engel, »gedenke, wenn du einst auf deinem Pfade manchem Ungemach, mancher Klippe begegnest, gedenke meines Wortes! Hebe deine Blicke getrost zu mir, und ich werde dir meine Schwingen leihen, denn leicht tragen dich die Fittiche der <g>Hoffnung</g> über die Dornen des Augenblicks und führen dich in lichtere Gefilde.«

»Und wenn einst die Last des Tages zu schwer deinen Nacken darniederbeugt,« begann der Zweite mit mildem Antlitz, »so komm zu mir, ich will deine Bürde erleichtern: der <g>Liebe</g> starke, mutige Schwingen werden dein Leben mit wunderbarer Kraft durchströmen, und unermüdlich wirst du das Gute schaffen und fördern, und weit mehr vollbringen, als die schwache Hand des Sterblichen zu versprechen vermag.«

»Und wenn einst Stunden dir nahen,« so begann der dritte Engel in leuchtender Hoheit, »wo irdischer Schmerz oder selbst verschuldetes Unglück dich im Genusse des Friedens, des Glückes zu stören droht, wenn du dich von Banden eingeengt fühlest, die du nicht zu lösen vermagst, und tiefverirrt in den Labyrinthen des Lebens nach Hilfe und Rettung verlangst, dann nimm, o Sterblicher, getrost deine Zuflucht zu mir: des <g>Glaubens</g> heilige Fittiche überwinden jede Erdengewalt und tragen dich aus Nacht und Dunkel empor zu des ewigen Vaters liebender Brust. Mein Himmel soll in diesem Augenblick der deine, meine selige Kraft die deinige sein, und du wirst geläutert und beruhigt heimkehren zu dem Busen der mütterlichen Erde.«

Also sprachen die Engel und reichten sich die Hände zum dauernden Bunde. Jehova aber blickte mit Liebe auf die Vereinigten und weihte sie zu den Schutzgeistern der Menschen.


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